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Zweites Buch

1

»Und immer noch keine Antwort?«

»Immer noch keine. «

»Wie oft denn hast du geschrieben?«

»Viermal. Sechsmal. Ich weiß es kaum mehr.«

»Er ist immer umhergezogen und hat Krieg geführt. Aber jetzt ist er daheim in Berlin. Jetzt wird er antworten. «

»Nein, Bruder, er wird nicht antworten. Er will nicht gerecht sein. Ohne Verhör, ohne Urteil hat er mich eingesperrt, nun mag er's nicht zugeben, nun mag er an sein Unrecht nicht rühren. O Bruder, Bruder, was für ein elendes Geschöpf ist der Untertan!«

»Das weiß ich so gut wie du, Trenck«, sagte der andere. Er seufzte auf und trank von dem Rheinwein.

Er war ein paar Jahre älter als Trenck, ein kleiner, behender Mensch mit gutmütigen, schwachen Gesichtszügen, der Schwäbisch sprach. Gefangen war er offenbar nicht, er trug seine Waffen. Er war der Leutnant Alexander von Schell, von der Glatzer Besatzung.

»Ist denn mir vielleicht recht geschehen, sag selber! Ein schöner Esel war ich, daß ich aus Württemberg fort bin. Daheim beim Herzog war ich etwas, und jetzt sitze ich da heroben bei lauter Lumpenpack und halben Invaliden. Warum – weil ich ein bißchen gespielt habe und zwei Kinder gemacht. Das ist ein Land!« Er trank. Er trank so stark, daß seine Melancholie in Minutenfrist spürbar zunahm. Zwei Flaschen standen schon leer beiseite.

»Freilich, allerdings, wer bin denn ich? Ein Lump wie die andern, es ist ja wahr. Aber du!« Er blickte Trenck mit Schwärmeraugen an. »Du bist ein Held, ein Held bist du wie Epaminondas, wie Hannibal, den Pour le mérite hat er dir geben müssen, und jetzt auf einmal: her zu uns auf den Berg und nicht einmal eine Antwort – Bruder!« Er schluchzte beinahe und kehrte die dritte Flasche um, damit der letzte Tropfen ins Glas laufe.

»Hast du noch eine?«

Trenck nickte und griff hinter sich. Der Schwabe öffnete die neue Flasche mit einer Gewandtheit, die bei seinem vorgeschrittenen Zustand wundernehmen durfte.

»Mir nicht mehr!« Trenck hielt die Hand über sein Glas und ließ jenen allein weitertrinken. Er stand auf, trat ans Fenster und blickte über die Aussicht hin, die schön war, aber ihm nun schon bis zum Widerwillen vertraut. Hoch von der Zitadelle ging der Blick über Stadt und Fluß und Fluren zum nicht sehr entfernten Gebirge. Dort war Böhmen, dort war die Grenze.

Er wandte sich ab und begann im Zimmer auf und ab zu wandeln. Es war ein wohnlicher Raum, einem Gefängnis unähnlich, ein Bett, für Soldatenbegriffe beinahe weichlich, stand hinter Vorhängen halb verborgen, zwei kleine Teppiche waren da, Bilder sogar, welche antike Landschaften zeigten, und in dem geräumigen weißen Rundofen brannte ohne Sparsamkeit ein starkes Feuer, denn man schrieb November. Trenck warf Buchenklötze hinzu. Minuten vergingen.

Endlich besann sich Schell, daß es unhöflich sei, so wortlos allein den guten Wein zu schlucken. Er hob sein Glas.

»Auf unsere Damen«, sagte er, nicht ohne geistige Anspannung. Trenck brummte etwas. »An meine denke ich dabei weniger«, fuhr der Schwabe tiefsinnig fort. »Meine letzte war eine Fleischerstochter drunten vom Roßmarkt und etwas pockig, und die anderen vorher hab' ich vergessen. Auf eine Dame also ganz allein, auf deine, Trenck!« Er verbeugte sich.

»Schönen Dank«, antwortete Trenck, recht unverbindlich.

»Aufs hohe Wohl deiner Dame! Du bist historisch, Bruder, ja das bist du. Du gehörst der Geschichte des preußischen Königshauses an. Werde nicht rot. So jung bist du und schon historisch. Dein Wohl, Trenck, dein ewiges Wohl!«

»Ich meine«, sagte Trenck, »du gehst jetzt schlafen.«

»Bald geh' ich schlafen, jawohl. Nur noch ein Schlückchen, ein sehr kleines Schlückchen, dann geh' ich ins Bett. Eine andere Flasche hast du wahrscheinlich nicht mehr?«

»Nein.«

Er hatte schon völlig genug von Schells Gesellschaft. Er hatte genug von der Gesellschaft all der abgetakelten Offiziere, die ihm in den langen Wochen seiner Haft tagaus, tagein auf der Stube lagen und denen er freien Tisch hielt.

Menschenkenntnis war keine Eigenschaft seiner Jahre, und Mißtrauen lag nicht in seiner Art. Die Sorge jedoch, die als Besetzungsstab sich hier der Beobachtung darbot, war allzu leicht durchschaubar, es war kaum ein ordentlicher Mensch darunter. Garnisonsregiment hieß nicht viel anderes als Strafregiment. Wegen Unfähigkeit oder wegen schlechter Streiche wurde man aus den Feldformationen hierher versetzt. Die moralische Atmosphäre war zum Ersticken. Und was Trenck, der mit seinen reichlichen Mitteln für jeden ein willkommener Gegenstand der Ausnützung war, am peinvollsten drückte: allen diesen Menschen galt er wirklich als ein Verräter, für fast alle war das Geld, das er so freigebig spendete, Pandurengeld. Anstoß nahm keiner daran, sie fanden es ganz in der Ordnung. Die meisten von ihnen waren Ausländer, Italiener, Dänen, Iren und was noch alles, der Staat Preußen galt ihnen nichts, und am wenigsten galt ihnen dieser König, der sie zum Abhub geworfen hatte.

Trenck war zwanzig Jahre alt, hergeschleudert auf diesen Gefängnisberg, verdammt ohne Urteil, ganz im dunkeln über sein Schicksal. Er hatte keinen Freund von Vernunft. Der hier, Schell, der mit stieren Augen dasaß und von einer neuen Flasche träumte, war noch der beste, er war gutmütig.

Trenck schaute noch einmal nach den böhmischen Bergen, um die schon beginnendes Dunkel war.

»Eines Tages gehe ich einfach davon«, sagte er verbissen.

»Einfach«, sagte Schell mit leichtem Lallen, »einfach ist das aber gar nicht. Schildwachen sind da.«

»Natürlich sind Schildwachen da vor einem Gefängnis. Mit denen wird man fertig.«

»So, meinst du?« Schell schluckte ein paarmal und sammelte sich. Seine Instruktion als Festungsoffizier bahnte sich durch den Weinnebel in seinem Kopf den Weg.

»Du weißt gar nicht, Trenck, wie du hier bewacht bist. Ringsherum stehen die Posten so dicht, daß jeder immer die Nachbarn sehen kann, und die zwei, zwischen denen ein Ausreißer durchkommt, müssen Spießruten laufen. Die passen auf, Freundchen! Unsere Alarmkanone hast du vielleicht auch gesehen?«

»Sie ist ja groß genug.«

»Aber gehört hast du sie noch nicht.«

»Ich habe schon allerlei Kanonen gehört.«

»Aber die unsere noch nicht. Weißt du, wie die macht: wuuu!« Er brüllte aus Leibeskräften. Er war schwer betrunken.

»Ich kann mir's ja denken«, sagte Trenck, ärgerlich lachend, »die Leute müssen glauben, hier wird einer umgebracht.« Er wandte Schell den Rücken und sah in die verschwimmende Landschaft.

Aber Schell war im Feuer. Wankend stand er auf, trat hin zu Trenck und redete fort.

Er hatte noch einen Zuhörer bekommen. Durch das Kanonengebrüll herbeigezogen, hatte ein Offizier die Tür geöffnet, stand auf der Schwelle und blickte lautlos auf die beiden am Fenster.

»Die Alarmkanone, Bruder, das ist's, da liegt der Hund begraben. Im vorigen Sommer, da wollte auch einer desertieren, ein Füsilier, ein Polacke, ach, der kam nicht weit! In allen Dörfern rundum liegen Reiterkommandos zur Verfolgung, und alle Bauern müssen beim ersten Schuß auch gleich Waffen nehmen und aufpassen. Kriegen sie einen, dann bekommen sie Geld, und kriegen sie einen nicht, dann müssen sie zahlen. Aber ein Bauer, der einem Ausreißer hilft, mit Kleidern oder mit einem Pferd oder auch bloß mit einer Auskunft über den Weg, der wird selber zu den Soldaten gesteckt. Nein, Bruder, nein«, rief er pathetisch, »Böhmen ist nah, und Böhmen ist weit!«

Mit einem Knall wurde die Tür zugeschlagen. Die beiden fuhren herum und starrten ins Dunkel der Stube.

»Wer ist da?« fragte Trenck scharf.

»Major Doo.«

Auf diesen Namen, knapp hervorgestoßen, erwiderte keiner etwas, aber Schell tappte im Finstern nach seinem Hut, vollführte eine Art Honneur vor dem Eingetretenen und verließ augenblicklich das Zimmer.

»Ich werde sofort Licht anzünden, Herr Major«, sagte Trenck. Er ertastete das Feuerzeug und setzte zwei Kerzen in Brand, die in Leuchtern aus Kupferblech staken.

Der Platzmajor Doo trat heran. Er war ein schöner Mensch von südlichem Typus, fünfunddreißig vielleicht, eitel und schlau nach seinem Gesichtsausdruck.

»Sie sollten in Ihrem Umgang wählerischer sein, Trenck«, sagte er und setzte sich. »Ich habe nur wenig mitangehört. Aber was ich gehört habe, gefiel mir nicht.«

Trenck schwieg.

»Sie hören, was ich sage?«

»Jawohl, Herr Major.«

Nächst dem Kommandanten, dem menschenscheuen, stets unsichtbaren Fouqué, war Doo der höchste Vorgesetzte hier oben. Das hinderte nicht, daß er sich von Trenck ziemlich regelmäßig die Dukaten für sein Hasardspiel entlieh. Das hinderte auch nicht, daß jedermann auf der Festung sein Verhältnis zu Fouqués hübscher Tochter kannte. Ein kleiner Sohn, die Frucht dieser Beziehung, wurde angeblich drüben im Böhmischen im Dorfe Slawonow aufgezogen, ein Umstand, den der freche Schell sogar in Reime gebracht hatte. »Im Dorfe Slawonow«, so begann dieses Lied,

Im Dorfe Slawonow,
Da schnullt ein kleiner Doo,
Und der Herr Kommandant
Ist auch mit ihm verwandt.

Durch acht Strophen ging das so weiter und wurde nach einer eigenen Melodie mit Vergnügen gesungen, sowohl hier auf der Zitadelle wie auch drunten in Glatz. Fouqué und Doo kannten den Urheber wohl, ohne doch recht etwas unternehmen zu können. Aber der General kam nun beinahe gar nicht mehr aus seiner Wohnung hervor, die Tochter war immer länger und immer häufiger abwesend, in Breslau bald und bald in Berlin, und zwischen Doo und Schell war giftige Feindschaft.

Dem Schwaben allein hatte auch vorhin Doos barscher Auftritt gegolten. Denn für den Gefangenen Trenck hatte er immer ein deutliches Wohlwollen, ja er neigte ihm gegenüber zu einer gewissen niedrigen Vertraulichkeit.

Dies hatte Ursachen. Seine Beziehung zu der Prinzessin Amalie war nicht geheim geblieben. Wie der betrunkene Schell sich nicht enthielt, unter Deklamationen auf ein gewisses hohes Wohl zu trinken, so war von den Glatzer Offizieren jeder einzelne unterrichtet, offenbar war die hochpikante Tatsache armeebekannt. Man phantasierte, Trenck sei willens gewesen, die Prinzessin zu entführen, beim Feinde Dienst zu nehmen und dort in Osterreich das Leben eines sehr großen Herrn zu beginnen. Die Kaiserin habe ihm, gleich seinem berüchtigten Vetter, an der unteren Donau Ländereien von der Fläche eines Herzogtums angetragen, über die er frei, als ein Souverän hätte schalten sollen. Ein Gegenstand unendlicher Neugier das Ganze, unendlichen Klatsches.

Der Major, immer mit dem Zwinkern eines, der selber auch solch ein Bruder ist, hatte geduldig immer aufs neue versucht, Trenck über den interessanten Gegenstand zum Reden zu bringen. Eigentlich fand der Italiener diesen kleinen Trenck höchst langweilig und steif. Er war innig überzeugt, daß er selbst noch weit rascher und leidenschaftlicher geliebt worden wäre, hätte nur ihn statt des trockenen Preußen das Schicksal der Prinzessin über den Weg geführt. Auch der Umstand, daß diese Liebe den Gefangenen ja offensichtlich nicht sehr gefördert hatte, hinderte Doo nicht, ihn sehr zu beneiden. Unablässig, täglich fast, suchte er seine Nähe, und da er durchaus nichts zu hören bekam, traktierte er den Leutnant wenigstens seinerseits mit der Ausmalung seiner meist billigen und unsauberen Siege.

Er deutete auf die geleerten Flaschen und sagte mit heruntergezogenen Mundwinkeln in seinem fremden, harten Deutsch:

»Natürlich hat er wieder gesoffen, der Schell! Solche Leute sind wie das Vieh.«

Der Piemontese war sehr streng gegen dieses eine Laster, das er nicht hatte.

»Solche Leute sind keine Gesellschaft für Sie«, wiederholte er. »Sie sollten sich zerstreuen. Warum beteiligen Sie sich niemals an unserem Spiel? Sie wären willkommen.«

»Das schickt sich kaum für einen Staatsgefangenen, Herr Major.«

»Ach, gefangen, gefangen. Sie sind doch ein Gefangener von besonderer Art.«

»Ja, nämlich einer ohne Verhör und Spruch. Und außerdem einer, den man vergessen hat.«

»Vergessen, wieso? Ach, Sie meinen den König. Mein Gott, er zieht im Lande herum, wie soll er da antworten.«

»Der König ist in Berlin.«

»Er war in Berlin.«

»War?«

»Hat Ihnen das Ihr erlauchter Schatz nicht geschrieben? Sie sollten das Liebchen zu getreuerer Berichterstattung anhalten.«

Trenck bemeisterte sich. »Wohin ist der König gereist?«

»Nun, seine Route kenne ich nicht. Sicher ist nur, daß es wieder losgeht.«

»Jetzt, mitten im Winter?«

»Ja, es ist unbehaglich.« Und Doo berichtete, nicht ohne eitle Genugtuung, was ihm aus der Post des Generals Fouqué am gleichen Mittag bekannt geworden war.

Der König, in der Hoffnung auf Unterhandlungen und Frieden kaum erst nach Hause zurückgekehrt, hatte von neuen gefährlichen Plänen Kenntnis gewonnen. In drei Heersäulen, so schien beschlossen, wollte der Feind auf Brandenburg, auf Berlin losziehen, man wollte, so wurde formuliert, den Adler in seinem Nest erwürgen. Die Lage erschien dadurch bedrohlich, daß die russische Zarin mit der Entsendung von Hilfsvölkern drohte. In Berlin entstand Panik. Minister und Generale rieten zum sofortigen Frieden um jeden Preis. Aber der König – »natürlich« – wollte davon nichts hören. Vor zwei Tagen war er aufs neue ins Feld aufgebrochen, um den Schlag zu parieren.

Sein »natürlich« sprach Doo mit einem hämischen und angewiderten Gesichtsausdruck, ganz so, als verdrösse es ihn, daß sich der König nicht lieber gedemütigt und die Waffen gestreckt hatte.

»Inzwischen«, fuhr er fort, »scheint es in der Hauptstadt recht ungemütlich zu sein. Ich kann sie mir vorstellen, die guten Berliner, wie sie herumlaufen mit vollen Hosen und jede Stunde erwarten, daß der General Grünne oder der Prinz Karl heranrückt! Es muß possierlich zugehen dort. Vor den Toren wird geschanzt. Die glauben ernstlich, sie könnten mit ihren Zaunpfählen und ihren Mäuerchen ein Kriegsheer abhalten. Übrigens«, fügte er mit einer Grimasse der Besorgnis hinzu, »habe ich Grund, der Residenz ein gnädiges Schicksal zu wünschen.«

»Dazu haben wir alle gleichmäßig Grund.«

»Gewiß, gewiß. Aber außerdem befindet sich in Berlin im Augenblick eine bestimmte, mir ganz besonders liebe Person.«

»So.«

»Ich brauche nicht mehr zu sagen. Ich denke, Trenck, Sie verstehen mich.«

»Zu Befehl, nein, Herr Major.«

»Aber natürlich. Sie haben die Dame oft genug unter Ihrem Fenster gesehen. Wie gefällt sie Ihnen, offen unter Männern? Sie hat Vorzüge, wie? Man sieht ihr gewisse Eigenschaften an, was? Wir jedenfalls sehen ihr solche Eigenschaften an. Übrigens, vertraulich, Trenck, auch noch in anderem Sinne bin ich besorgt. Man redet zuviel über die Sache. Es wäre mir unlieb, wenn sie allzu ruchbar würde, an gewisser Stelle, Sie begreifen. Sie werden sagen: eine Generalstochter ist noch nicht die Tochter eines Königs – zugestanden. Aber immerhin, bei den Anschauungen, die an jener Stelle obwalten, wäre ich schwerlich sehr sicher. Was denken Sie?«

»Ich denke, Herr Major, daß Sie wenig zu fürchten haben.«

Das schien Doo nicht zu befriedigen. Er zog ein Gesicht, als hätte Trenck ihn beleidigt.

»So, meinen Sie? Ich dagegen meine, daß bei jenen Anschauungen, das heißt Anschauungen sind es ja wohl weniger, eher sind es Gefühle, Haßgefühle nämlich, Neidgefühle ...«

»Ich muß gestehen, daß ich von Ihren Worten nichts begreife.«

»Oh! Sie sind wirklich ein loyaler preußischer Offizier. Es ist Ihnen also bis heute völlig entgangen, es ist Ihnen, sage ich, noch niemals der Einfall gekommen, daß die Schärfe, die Strenge, mit der man Ihnen begegnet, persönliche Quellen und Gründe haben könnte?«

Trenck schwieg und schaute ihn an.

»Und auch der weitere Gedanke nicht, daß dieses ganze, unruhvolle Wesen, welches die Welt in Schrecken und Blutdunst einhüllt, das Wesen eines Unglücklichen ist, eines Verzweifelten, eines qualvoll zu kurz Gekommenen?«

»Sprechen Sie vom König, Herr Major?«

»Ich spreche von einem Manne, dem es versagt ist, auf den gleichen Wegen glücklich zu werden wie wir echten Kinder der Natur, und vor dessen mönchischer Ranküne Leute wie Sie und ich uns darum zu hüten haben.«

Trenck, sonderbar angerührt, sah unter zusammengezogenen Brauen an dem Italiener vorbei.

»Sie müssen doch fühlen und zugeben, Trenck, daß um diesen gewaltigen jungen Herrn etwas Unheimliches und Starres ist, etwas der Natur ganz Widersprechendes. Solche Könige sieht man doch sonst nicht in Europa! Das Betragen gegen seine Gemahlin ist ja Weltgespräch. Er vermeidet sie ganz, sie hat strengen Befehl, niemals vor ihn zu kommen, und kann er selber einen Besuch nicht vermeiden, so richtet er doch nicht das Wort an sie, sondern blickt an ihr vorüber wie an etwas Widerwärtigem und Verbotenem.«

»Der König«, sagte Trenck ziemlich finster, »hat diese Dame unter Zwang geheiratet, heute ist er frei und handelt danach. Zu interessanten Vermutungen ist da gar kein Anlaß. Man kennt ja Galanterien von unserm Herrn, die beweisen, daß seine Abneigung jedenfalls nicht dem ganzen Geschlechte gilt.«

»Gerede«, rief Doo, sehr zufrieden offenbar, Trenck wenigstens zum Widerspruch gebracht zu haben, »Gerede, absolut gar nichts weiter als Gerede. Ich weiß das aus sehr guter Quelle«, setzte er hinzu, »aus ganz vortrefflicher, naher, sicherer Quelle weiß ich das!«

Er hielt inne, um einer schmeichelhaften Frage Raum zu lassen. Da sie keineswegs erfolgte, fuhr er fort:

»Es ist sehr möglich, daß dieses Gerede dem König nicht gerade unwillkommen ist, daß er es, sage ich, vielleicht begünstigt, daß er es etwa sogar hervorgerufen hat. Es könnte ganz wohl sein, vertrauen Sie nur meiner Information, Trenck, daß er sich genau zu diesem Zweck auf öffentlichen Bällen mit der oder jener Schönen in ein Kabinett einschließt und dort, nun was denken Sie, eine Limonade mit ihr trinkt! Es ist ihm angenehm, wenn die öffentliche Meinung etwas feurigere Ingredienzien in diese Limonade mischt.«

»Und warum«, fragte Trenck, »sollte dieser bewunderte König Wert darauf legen müssen, daß sich solche Gerüchte verbreiten?«

»Ja, warum wohl, warum«, rief Doo, und auf seinem ordinären, hübschen Gesicht malte sich der Stolz eines Pfauenmännchens, das sein Rad schlägt. »Warum auf der anderen Seite hält er es so außerordentlich streng in diesem Punkt mit der übrigen Menschheit? Warum versteht er weit leichter alle sonstigen Schwächen als gerade diese? Warum bezieht ein Lakai, der es irgendwo mit einer Kammerjungfer hält, mit Sicherheit seine Tracht Prügel und fliegt hinaus aus dem königlichen Dienst? Warum erlaubt er seinen Offizieren nicht, daß sie heiraten, den älteren kaum, in ganz seltenen Fällen nur, und den jüngeren gar nicht? Meinen Sie nicht doch, Trenck, daß er da anderen etwas mißgönnt, was er selber nicht hat und nicht genießt, daß da etwas ist, was ihn demütigt? Sie sollten doch einmal darüber nachdenken, ob das heftige Verfahren gegen Sie nicht mit diesem Mangel in Verbindung zu bringen ist, gegen Sie, Trenck, der sogar in seiner nächsten Nähe, der sogar in seinem eigenen königlichen Blute glücklich gewesen ist!«

»Ich weiß nicht«, sagte Trenck mit Widerwillen und, wider Willen, gleichwohl gefesselt, »warum Sie es für nötig halten, mir diese Ideen vorzutragen.« Er hatte seit Beginn des Gesprächs überhaupt nicht Platz genommen, nun entfernte er sich aus dem Umkreis der Kerzen und lehnte sich im Halbdunkel gegen die Wand.

Doo, ein Bein über das andere geschlagen, sprach gemächlich weiter. Er sagte:

»Ich beschäftige mich nicht wenig mit Ihrem Schicksal, Herr von der Trenck. Es geht mir nahe. Ich versuche mich in Ihre Gemütsstimmung zu versetzen ...«

»Ich zweifle am Erfolg.«

»Ich versuche das, sage ich ja nur. Ich stelle mir vor, daß Sie hier in Ihrer Gefangenenstube mitunter von Schaudern des Vergnügens geschüttelt werden, wenn Sie sich vergegenwärtigen, wie unwiderstehlich Sie in diesen erlauchten Blutskreis eingebrochen sind, wie das streng gesicherte Tor hat aufspringen müssen vor Ihnen, wie so gar nichts jahrhundertealte Regel und hochmütige Absonderung zu bedeuten haben vor der Gewalt eines wirklichen Mannes voller Jugend und Saft. Das zu denken, Leutnant, muß Ihnen doch ein sehr heftiges Vergnügen bereiten.«

Trenck blickte auf ihn hin. Das Gesicht des Italieners, vom Schein der Kerzen scharf getroffen, glänzte von triumphierender Animalität; so sieht ein Bauernbursche aus, der bei den Dorfschönen Hahn im Korbe ist.

Trenck sagte: »Über diesen Gegenstand ist jetzt genug gesprochen, Herr Major. Wenn es in meinem Leben eine Herzensangelegenheit gibt, dann ist sie privat, und niemand, auch kein Vorgesetzter, kann mich nötigen, ein Wachstubengeschwätz daraus zu machen.«

Doo sprang auf. Er packte einen der Leuchter, hielt ihn hoch empor, so daß Trenck in seiner Ecke vom Strahl getroffen wurde, und rief:

»Sie werden frech, kassierter Leutnant Trenck, ich sage Ihnen ...« Aber sofort änderte er seinen Ton und sagte kühl: »Nein, es liegt nicht in meiner Absicht, Sie zu beleidigen. Sie haben keine Waffe.«

»Sie können mir ja eine leihen.«

»Ich denke nicht daran. Leihen lieber Sie mir noch vierzig Louisdors für mein kleines Spiel heute abend.«

Trenck schluckte hinunter. »Ich habe kein Geld mehr«, sagte er kurz.

»Sie werden zum mindesten bald keines mehr haben, wenn Sie sich so ungefällig zeigen. Mir ist die Sendung von tausend Louisdors genau bekannt, die Ihnen vorgestern durch den Forstmeister Hornig in Habelschwerdt zugegangen sind. Ihre Prinzessin ist generös.«

Er schwieg einen Augenblick, lächelte mühelos und fuhr dann fort:

»Es wäre Ihnen gewiß unangenehm, wenn das Eintreffen dieser Summe dem General Fouqué gemeldet würde.«

Der Gefangene ergriff den zweiten Leuchter, öffnete ein Möbel und legte eine in Leinwand gewickelte Rolle vor Doo auf den Tisch. Es war ein runder Betrag, mehr Geld, als der andere verlangt hatte.

»Ich denke, Herr Doo«, sagte er, »daß nun für Sie kein Grund mehr besteht, mich meiner Nachtruhe zu entziehen.«

»Nicht der mindeste«, sagte Doo und ging ruhig zur Tür. »Gesegnete Träume!«

Trenck, hinter ihm, wollte abschließen. Für den Augenblick hatte er vergessen, daß an seiner Tür sich kein Schlüssel und kein Innenriegel befand. Die Schublade, der er das Geld entnommen hatte, stand offen, er trat hinzu und blieb im Anblick der sauber hingeordneten Rollen nachdenkend stehen.

Seit zwei Wochen fehlten ihm ihre Briefe, nur dies Gold hier war ihm noch zugekommen, durch nicht ganz sichere, nicht ganz dichte Kanäle, wie sich soeben gezeigt hatte. Was war ihre Absicht dabei? Wünschte sie einfach, sein Leben als Gefangener milder und bequemer zu gestalten? Oder wollte sie ihn zur Flucht aufrufen, ihm durch Bestechungsmittel zur Flucht verhelfen? Hatte sie Genaueres, hatte sie Hoffnungsloses über das ihm zugedachte Schicksal erfahren?

Er schloß die Lade und setzte sich nahe zum Fenster. Aus den böhmischen Bergen, die nun völlig in Nacht lagen, ging hinter trüber Wolkendecke ein kraftloser Mond auf. Trenck saß und sehnte sich, und er träumte. Oh, davongehen, mit ihr sich vereinigen und, ohne einem Fürsten zu dienen, mit freien Kräften in der unendlichen Welt das Leben erst recht beginnen! Mochten dann Friedrichs Blicke ihn und die Schwester voller Zorn hinter Grenzen suchen, über die sein Arm nicht reichte.

Er nahm das smaragdenbesetzte Medaillon hervor, das die Geliebte zeigte, er blickte nieder auf das jugendlich weiche und holde Gesicht, mit Friedrichs Brauen, Friedrichs Augen, Friedrichs Stirn, er wollte es küssen, wollte es liebkosen wie hundertmal in öden Monaten – er ließ es wieder sinken, von einer Erkenntnis überrascht und verstört.

Ihm kam mit einemmal zum Bewußtsein, wie völlig er sich selber schon als einen Ausgeschiedenen, Ausgestoßenen ansah, wie so gar nicht mehr er im Innern seines Gemüts an Rechtsspruch und ehrenvolle Befreiung glaubte. Und nun gingen seine Gedanken gewohnte Wege, den ausgetretenen Kreisweg um ein starres Warum.

Warum nur hatte ihn der König, der ihn zu lieben schien, durch Machtwort hierher auf diese Festung geschleudert? Warum hatte er ihm kein Verhör verstattet, keine Verteidigung? Warum blieb er jetzt seinem Flehen taub, seinem unablässigen Rufen nach Verantwortung und Gerechtigkeit – er, dessen oberster Grundsatz, dessen oberster königlicher Ehrgeiz Gerechtigkeit war?

Glaubte er ernstlich an Verrat bei Trenck, an Bündelei mit dem Feinde, konnte er daran glauben bei einem jungen Offizier, der, ausgezeichnet und begnadet wie keiner, den glänzendsten Aufstieg in Preußen offen vor sich sah? Es war nicht dies. Es war das andere.

Briefe waren aufgefangen worden. Längst hatte sich Trenck an jenen einen erinnert, der ihm damals befremdlicherweise mit der offenen Feldpost überliefert worden war, statt auf gewohntem Schleichweg. Warum aber diese Plötzlichkeit der Verdammung, warum dieser furchtbare Stoß und Sturz von einer Stunde zur andern? Etwas Neues konnte dort im Lager von Soor der König nicht erfahren haben, schon in Potsdam hatte er seine Vermutungen, nein, seine Gewißheit gehabt, umsonst war damals nicht wochenlanger Arrest über Trenck verhängt worden. Aber dann erst, im Felde erst, hatte er wohl erkannt, daß sein Offizier nicht zur Besinnung zu bringen sei, daß hier Leidenschaft über alle Warnungen, über alle Vernunft und jedes Gesetz triumphiere. So mußte es sein.

Die Art jedoch, die Form, in der gegen ihn verfahren wurde, dies kalte, bösartige Fallenlassen, diese hoffnungsmordende Unerbittlichkeit nach so viel Gnade, nach so viel Gunst – dies war dennoch nicht leicht zu erfassen. Etwas unnennbar Fremdes und Fernes ward hierin sichtbar, ein haßvoll radikaler Wille zu Strafe und Rache. Vermutungen, wie der gemeine Schönling sie zuvor hatte laut werden lassen, schienen hier nicht völlig ohne Sinn, häßliche Ahnungen vom Gram und Neid eines unselig Gezeichneten, vor denen ein junger Mensch besser die Augen schloß, der in Verstörung und Verbitterung dennoch liebend verehrte.

Trenck legte seine Kleider ab, löschte das Licht und streckte sich aus. Der Schlaf kam lange nicht. Als er kam, war er unruhig und voll zerrissener Träume. Ein einziges Trugbild blieb ihm am Morgen klar im Gedächtnis und sogar noch Tage nachher ...

Mit dem König lag er auf einer Anhöhe, und drunten im Tal hielt der Pandur phantastische Parade. Warasdiner, Raizen und Talpatschen exerzierten, angetan mit ihren roten Mänteln, aber mit spitzen preußischen Füsiliermützen närrisch aufgeschmückt. Der König reichte Trenck sein Fernrohr hin – es war aber eigentlich gar kein Fernrohr, sondern eine Rolle gelber Louisdors, die ohne Umhüllung zusammenhielten –, Trenck nahm die Rolle und hielt sie vors Auge.

Da sah er erst, wer hinterm Roßschweif und der tobenden Janitscharenmusik dort eigentlich defilierte. Denn unter den Blechmützen quoll überall das lange blonde Weiberhaar hervor, frech bebten die Hüften, und aus den offenen Pandurenmänteln starrten hoch und fett und weiß die nackten Brüste.

2

Der König kam von Dresden gefahren, wo zwei Tage vorher der Friede geschlossen worden war. Abordnungen der bewahrten, der befreiten Hauptstadt waren ihm entgegengezogen, und als er um Mittag dem Wendischen Tore sich näherte, ritt seinem Wagen ein langes und buntes Geleit voraus.

Es führte das Ganze im Galarock der Chef des preußischen Postwesens, und hundert Postillons folgten ihm, die unablässig mit mächtigem Atemaufwand ihre Hörner bliesen. Innungen reihten sich an, farbig uniformiert eine jede, mit überladenen Tressenhüten, die Jäger und Wildmeister sodann aus der Umgebung Berlins, gekleidet ins Grün ihrer Wälder, das Pagencorps, eine kleine Abteilung der reitenden Garde, und nun erst der König.

Der Kälte des schneelosen Dezembertages zum Trotz saß er im offenen Wagen, der sechsfach bespannt war, zu seiner Linken den Prinzen von Preußen, sich gegenüber den zwanzigjährigen Heinrich; ein wenig gelb und übernächtigt sah er aus und war nicht weiter festlich angezogen. Als man durchs Tor fuhr, als der Präsentiermarsch erklang, Spontons und Fahnen sich senkten, nahm er seinen Hut vom Kopf und setzte ihn nicht wieder auf.

Glockenläuten, Böllerschüsse, Flintensalven und Hochgeschrei erfüllten die frostklare Luft. Die Kompanien der Bürgerwehr bildeten Spalier, und dahinter preßte und schob sich mit Lachen und Zanken das Volk von Berlin, alle Fenster zeigten sich eng besetzt, bis hinein in die Stuben sah man die Bürger gereckten Halses sich auf die Zehen stellen, an vielen Häusern waren auch die Dachziegel abgehoben, und aus dem Sparrenwerk ragten enthusiastische Zuschauer. Blumen und Lorbeergewinde flogen, wo der König sich näherte, und jubelnde, jauchzende Rufe begleiteten ihn. Es schienen immer dieselben zu sein, wenn auch die Worte ununterscheidbar im Festlärm verklangen.

Gleich hinter der Köpenicker Brücke jedoch gab es einen Aufenthalt. Trommler waren hier keine postiert, und die Postillons gönnten sich eine Pause. Hier erst, nun erst, in seinem Leben zum erstenmal, vernahm er den Ruf. Ein wenig erblassend schloß er die Augen. Sie riefen: »Es lebe König Friedrich, es lebe Friedrich der Große!«

Sein sofortiges, sein unmittelbares Gefühl war das des Widerstrebens, etwas wie Übelkeit stieg in ihm auf. Sein Ranggefühl empörte sich. Es kam hinzu, daß er, die Lider hebend, das sehr häßliche und geistvolle Gesicht seines Bruders Heinrich, in dem die großen Augen schielten, mit Spott auf sich gerichtet sah.

»Ein schöner Name, den man Ihnen gibt, lieber Bruder«, sagte zu seiner Linken sanft der Prinz von Preußen.

»Diesen Namen verdanke ich der Angst, die sie ausgestanden haben«, antwortete Friedrich. Man fuhr wieder im Schritt, kaum im Schritt. Aber schon wurde von neuem gehalten, vor dem Köllnischen Gymnasium, dessen Schüler auf der Freitreppe versammelt standen. Stille herrschte plötzlich wiederum, in die nur Glockendröhnen hineinschwang, und sie sangen:

»Vivat vivat Fridericus Rex, vivat Augustus Magnus Magnus Felix Pater Patriae!«

Es klang schön, und es rührte ihn ein wenig. Der Mund der Jugend, der Mund der Zukunft grüßte ihn mit dem hohen Lobwort des Cicero. Ein ganz leichter, erster Schauer des Triumphs wollte ihm an das Herz greifen.

Da erblickte er drüben an der Ecke des Köllnischen Fischmarktes inmitten eines berittenen Bürgertrupps eine sehr große weiße Standarte, bestickt mit einem himbeerrot flammenden Herzen und dieser Umschrift, lateinisch ebenfalls: »Sic ardet pro Rege.«

Dies kam ihm gelegen. An die Überdeutlichkeit und den Ungeschmack des Symbols klammerte er sich, um sich seiner Ergriffenheit zu erwehren. O ja, das wollte er glauben, daß heute ihr Herz für den König brannte, nachdem es ihnen erst so gründlich in die Hosen gefallen war.

Aber das Schreien und Trommeln und Böllerkrachen tobte aufs neue empor, und die Postreiter vorne bliesen mit verdoppelter Lungenkraft, da nun schon ganz nahe durch die Breite Straße hindurch die Schloßfront sich zeigte. Er murmelte: »Ich habe Dummheiten gemacht, beinahe hätte ich alles verdorben, Glück habe ich gehabt, ich will das nicht vergessen, nicht vergessen.«

»Vivat Fridericus Rex Magnus Magnus Magnus, vivat!« Ein Verlangen, allein zu sein, dies nicht mehr zu hören, wurde mächtig in ihm. Gut denn, er hatte es überstanden, da war das Portal.

Friedrich stieg aus dem Wagen, er wandte sich gegen die Menge, sandte rundum den Blick über sie, hob seinen Hut in Augenhöhe und grüßte mit Verströmung all der anmutigen Höflichkeit, die ihm, als ein selten angerührtes Kapital, so reich zu Gebote war. Ein neuer, noch verstärkter, ungeheuer brausender und dröhnender Dankruf erscholl, Glockenschläge mischten sich ein, der Freudenwirbel der angsterlösten Stadt drehte sich um ihn und schlug über seinem Haupte zusammen. Und rasch, außerordentlich rasch durchschritt König Friedrich das Portal seines Hauses, sah das Gesinde nicht an, welches zum Empfang aufgestellt war, erstieg mit seinem Reitergang die steinerne Treppe und verschwand auf der Höhe des ersten Stockwerks allein und unfestlich in sein Appartement.

Hinter einem der hohen Fenster, oben zwischen den Säulen des Haupttors, hatte an der Spitze des Hofes die Königin die Anfahrt erwartet. Als sie nicht begrüßt wurde, kehrte sie in ihre Räume zurück.

Im Arbeitszimmer waren auf Tischen, Konsolen und Stühlen Akten aufgehäuft, hochgeschwollene, sorgsam geschichtete Bündel, sämtlich versehen mit der Kennmarke ›Au Roi‹, der Einlauf seines ganzen Staates, seit Wochen durch Zwang unerledigt. Er warf einen ersten Blick darüber hin, berührte jedoch nichts, sondern setzte sich nahe bei dem brennenden Kamin auf einen Stuhl, den Hut auf dem Kopf, die Hände auf den Knien.

Hier war die Zuflucht vor dem Rausch dieses Tages. Er scheute ihn, er wollte ihn nicht, den Wonnen der Erfüllung gab er sich nicht hin. Er gedachte des Namens nicht, mit dem die Menge ihn erhoben hatte, er verweilte nicht einmal bei dem Umstand, daß jede Gefahr nun wirklich hinter ihm lag, daß er sich Reich und Thron und politische Geltung gerettet hatte, daß die Kaiserin, sie, für deren Vorfahren seine Vorfahren einst kniend das Waschbecken gehalten, ihm den Besitz der geraubten Provinz feierlich hatte garantieren müssen. Wenn die Worte Sieg, Sieger, Triumph sein Denken streiften, dann zog sich abweisend und empfindlich etwas in ihm zusammen.

Von draußen drang wieder das Rufen zu ihm, jenes Beiwort war deutlich zu hören, schon gebrauchten sie es geläufig, und da der kurze Tag sich schon neigte, blitzten durch die grünen Atlasvorhänge die ersten Lichter der Illumination.

Er blickte langsam von einem Aktenbündel zum andern, er las sogar zweimal, dreimal die Aufschrift, die überall gleich war, die unter Fortlassung jeden Titels, jeder Huldigungsformel nichts bezeichnete als seine Stellung, seinen Dienst. Musik schwoll auf, stolz, siegfeiernd, sehr geeignet, das Herz zu weiten. Und der großartige Rhythmus übte doch seine Wirkung, und nicht eben das nüchternste seiner Geschäfte kam ihm zuerst in den Sinn ...

Weltschiffahrt war möglich, Verkehr nach Indien und China. Seit kurzem besaß er Ostfriesland, Emden, die offene See. Der Gedanke einer asiatischen Handelsgesellschaft, früh schon empfangen von ihm, würde verwirklicht nun bald ans Licht treten. Dort lag der Entwurf des Statuts ... Zwischen Brandenburg, dem Sandloch, und Ophir, dem Wunderland, spannen sich Fäden. Er träumte in Erdteilen.

Dies war es nicht, was er brauchte. Es ging um das Kleinste. Sollte an Schiffahrt gedacht werden, nun: dort warteten Rechnungen über den Finow-Kanal, der jetzt Havel und Oder näher verband, und über die Schleuse bei Eberswalde. Sein Gedächtnis arbeitete. Dankbar sah er nach den Faszikeln ...

Das Oderbruch wurde urbar gemacht, sumpfiges Ödland bei Gartz und Damm und Greifenhagen und Gollnow. Kolonisten waren herbeizuziehen!

Kolonisten kamen aus Thüringen. Allzuviel Geld war für Messer und Scheren in das Ausland gegangen. Dort lag der Bericht über den Zuzug der Feinschmiede aus Schmalkalden und Ruhla. Auch nicht genug Seife wurde im Land produziert. Neue Siedereien entstanden; die Berechnung der Rentabilität, angefordert von ihm, dort mußte sie liegen. Die Flachsspinnerei auf den Dörfern war zu heben, Prämien für das haltbarste und feinste Garn waren auszusetzen; der Akt lag dort. Die heimische Wolle taugte nicht viel, eine besondere Widderart mit weichem und vollem Vlies konnte aus Spanien eingeführt werden; dort lagen die Gutachten. Auch Seidenzucht sollte nach Preußen, eine Verordnung über Anlage und Schutz der Maulbeerpflanzungen war erlassen und ausgearbeitet; dort lag sie.

Die Musik riß gar nicht mehr ab. Ein noch stolzerer, froherer Marsch, der wahre Triumphmarsch, ertönte.

Triumph? Jawohl, es war eben Zeit, zu triumphieren! Heute war vielmehr der Tag, gerade jetzt war die rechte Stunde, um zu bedenken, was dieser Triumph das Land gekostet hatte und wie die geschlagenen Wunden rasch und gründlich zu benarben seien. Mit Deklamationen nicht, das stand fest, mit Kalkulationen vielmehr, mit Tabellen, mit kleiner, saurer, langweiliger Arbeit. Jedes gelieferte Quantum Heu oder Stroh oder Korn war nach Taler und Groschen zu vergüten, jedes bei der Armee umgekommene Bauernpferd, jede durch den Feind erpreßte Kontribution. Und genaue Rechnungslegung gefälligst, ihr Herren Dorfschulzen und Landräte, und daß kein vierzehnjähriger, abgetriebener Gaul beiseite bleibe und kein Bund Stroh am falschen Ort gefordert werde! Wehe dem Beamten, der hier lässig oder irgendeines Eigennutzes, irgendeines Unrechts schuldig betroffen würde! Gerechtigkeit, Gerechtigkeit sollte geübt werden – Milde übrigens auch, fügte er sofort bei sich hinzu, von jenem ersten großen Begriff sich hastig abkehrend.

Er stand sogar auf. Im Zimmer war es ganz hell geworden, so lebhaft schien durch den grünen Atlas die Siegesbeleuchtung herein. Mit starken Schritten begann er auf und ab zu wandern. Er überhörte ein Kratzen an der Tür. Schließlich wurde gepocht, unhöfischerweise.

Fredersdorff trat ein, ein Kämmerer, sein Privatkassier, sein Faktotum, sein Vertrauter mitunter beinahe, ein Mann, großgewachsen und schlank, mit Zügen, in denen Verstand und sogar Feinheit zu lesen war, angenehm anzuschauen.

»Es ist wohl soweit?« fragte Friedrich. »Soll ich herumfahren?«

»Der Wagen steht bereit, Euer Majestät.«

»Das sagst du ja sonderbar. Du hast etwas. Was gibt es?«

»Euer Majestät, ich bin der Träger einer betrübenden Nachricht.«

»Nun, geniere dich nicht. Gibt's vielleicht Krieg?«

»Herr Duhan liegt im Sterben.«

»Duhan?«

Der König wandte sich ab. Er trat ans Fenster, raffte den Vorhang etwas beiseite und blickte hinunter. Der Platz war schwarz von Menschen, die Illumination flammte.

Duhan, der Hofmeister seiner Knabenjahre, den Friedrich Wilhelm aus den Laufgräben vor Stralsund dem vierjährigen Prinzlein mit nach Hause gebracht hatte. Duhan, sein erster Lehrer, dem er mehr verdankte als ein bißchen elementares Wissen, den frühesten klaren Blick nämlich, den ersten unverschleierten Blick auf diese wunderlich verworrene Welt. Duhan, der Muntere, Gute, Gescheite, der so viel um ihn ausgestanden hatte, der später, nach jenem Fluchtversuch, verbannt worden war, hinauf ins Memelland zu Füchsen und Wölfen; ohne daß sich ihm eine andere Mitschuld nachsagen ließ als die Liebe zur französischen Literatur. Duhan, dessen Abend er so schön und heiter zu gestalten wünschte, lag im Sterben.

Er ließ den Vorhang fallen. »Mein Gott, Duhan jetzt auch noch«, sagte er zu Fredersdorff. »Ein sauberes Jahr ist das gewesen. Mein redlicher Jordan tot, der so vortrefflich sprach und erzählte, mein liebenswürdiger, kluger Keyserling tot, und jetzt zum Beschlusse noch dies.«

Aber sein Gesicht war ruhig, während er dies sagte. Er bedauerte innig, er trauerte. Aber es war ihm doch zumut, als trete der Tod wie ein heimlich erwarteter Gast in seine Nähe, als sei es in Ordnung, daß der Schmerz und die Vergänglichkeit ihn anrührten gerade an diesem Tag, welcher strahlte und jubilierte.

»Ich fahre sogleich hin.«

»Sogleich? Jetzt?« sagte Fredersdorff betreten. »Die drei Herren Prinzen warten, um Euer Majestät auf der Rundfahrt zu begleiten.«

»Die können mitkommen, das wird keinem schaden.«

Die achtspännige Galakutsche, rund überdacht und sonst offen, stand vor dem Portal. Schreien und Jauchzen erhob sich, als er hervortrat. Der Kronprinz und Prinz Heinrich stiegen wieder mit ihm ein, glänzend uniformiert. In einem zweiten Wagen folgte der kleine Ferdinand mit seinem Erzieher.

Berlin hatte Anstrengungen gemacht. Die Beleuchtung war prächtig. Auf den einzelnen Plätzen flammten in breiten Pfannen offene Freudenfeuer, an allen Häusern waren Kanten und Simse dicht mit Lampen besteckt, hundert Aufschriften, farbig bestrahlt, pathetisch oder scherzhaft, zum Teil durch naive Bilder kommentiert, zeugten vom dankbaren Glück der beschützten Bürger.

Friedrich gab dem Moment das Seinige, er kam in feierlichem Aufzug. Acht Läufer, Stäbe in Händen, befiederte Mützen von verschollener Form auf dem Kopf, schritten paarweise voran, die acht weißen Pferde, altmodisch und prunkvoll geschirrt, trugen Büsche auf ihren nickenden Häuptern, und auch die Pagen, die in Rot und Gold die schmalen Nebentritte der Karosse besetzt hielten, hatten schöne Federhüte. Dieses ganze gefiederte Wesen aber bewegte sich äußerst langsam, ruckweise und stockend durch die Massen der schaulustigen Berliner, die in Pelze und Tücher gemummt sich im Dezemberabend drängten. Vom Schlosse zur Adlergasse benötigt der Fußgänger sechs Minuten. Nach drei Viertelstunden langte der Prunkzug an.

Die enge Gasse, kurz und gebogen, war so verschwenderisch illuminiert, daß geradezu Wärme herrschte. Vor dem Haus Nummer 7, wo Duhan seine Wohnung hatte, war Stroh aufgeschüttet, um den Lärm zu dämpfen; es verfing sich in den Rädern der Kutschen.

Der König ging die gewundene Treppe zum ersten Stockwerk hinauf. Die Brüder folgten. Oben standen alle Türen weit offen, auch die zum Krankenzimmer: von der Straße her war es hell beleuchtet, genauso wie eben noch Friedrichs Arbeitszimmer im Schloß. Herr Duhan starb recht öffentlich und prächtig mitten im hohen Fest seines Zöglings.

An der linken Seitenwand lag er unter einem Betthimmel. Sein Gesicht war abgezehrt, das Auge ganz übermäßig groß, sein Leib, der sich unter den Decken abzeichnete, hoch aufgeschwollen. Er war bei klarem Bewußtsein. Als Friedrich an sein Lager trat, wollte er sich aufrichten, aber Friedrich kam ihm zuvor, er nahm die Hand des Kranken und drückte sie einen Augenblick an seine Brust. Im Hintergrund, gleich bei der Tür, standen die Prinzen – der Prinz von Preußen verlegen, die hohe Gestalt beschämt zusammengebogen, Heinrich kritisch vor sich hin schielend, auf der Schwelle ängstlich der kleine blasse, Ferdinand.

»Mein liebster Duhan«, sagte Friedrich, »ich habe nicht gewußt, daß Sie krank sind. Sie hätten von mir gehört. Hat es Ihnen auch gewiß an nichts gefehlt?«

»An nichts«, sagte Duhan, »nicht einmal völlig an der Gegenwart Eurer Majestät.« Und er wies auf einige Briefe, die zusammengefaltet auf seiner Bettdecke lagen. »Ich habe meinen geliebten Schüler sprechen hören, freilich mit jener Stimme, die er als Knabe gehabt hat.«

Der König nahm den Brief, der zuoberst lag, und sah die Schrift seiner fünfzehn Jahre. Im Schein der Festlampen, die hereinstrahlten, las er, auf französisch:

Mein lieber Duhan, ich verspreche Ihnen, daß, wenn ich mein Geld selber in Händen haben werde, ich Ihnen jährlich 2400 Thaler per Jahr geben will und daß ich Sie stets noch ein wenig lieber haben werde, wenn dies möglich ist.
Friedrich, Kronprinz

»Mein Gott, Duhan«, sagte Friedrich, »was ist das für ein Stil! Jährlich per Jahr! Ein ehrgeiziger Lehrer würde diesen Brief vernichten, er ist ein wenig blamabel.«

Er legte das Papier auf die Bettdecke zurück und strich dabei wie zufällig noch einmal ganz sanft über die abgemagerte Hand des Scheidenden.

Dann war es still. Der Kranke, vielleicht umdämmert jetzt, hatte die Augen geschlossen. Die Prinzen dort hinten verharrten, verstört oder verstockt, aber auf dem König schien all diese Reglosigkeit und Stummheim gar nicht zu lasten. Ihn umgab befreundetes Element, vertraut vom Schlachtfeld, vertrauter aus dunklen und einsamen Nächten. So stand er, am Tag der Lebenshöhe, inmitten seiner begeisterten Hauptstadt.

Endlich, leise, ging er hinweg und stieg in seine Festkarosse. Als alle schon saßen, wandte er noch einen Blick hinauf zu jenem Fenster des ersten Stockwerks. Sein Auge verfinsterte sich, ein deutlicher Ausdruck des Widerwillens, ja des Ekels trat in seine Miene ...

Über der Haustür befand sich zu seinen Ehren ein Bild, gar nicht ungeschickt auf ölgetränkte Leinwand gemalt, die von rückwärts durchleuchtet war. Man sah einen österreichischen General, hinter ihm eine Menge Husaren, und alle ritten auf brandroten Krebsen. In der Ferne war die Silhouette der Hauptstadt erkennbar, und unter dem Ganzen stand in prahlenden Buchstaben: »General Grünne will nach Berlin.«

»Das soll man entfernen!« sagte Friedrich laut, in außerordentlich hartem und gereiztem Ton und wies mit ausgestrecktem Arm nach dem Transparent. »Sogleich!«

Bestürzung zeigte sich. Herr Espagne, der Besitzer des Hauses Nummer 7, der stolz neben der Tür stand, mit dem Bewußtsein, seine Sache vortrefflich gemacht zu haben, begriff nicht im Augenblick. Dann aber stürzte er, andere ihm nach, unter Gepolter in das Sterbehaus, um Leiter und Geräte zu holen. Und bei vollkommenem Schweigen, bei plötzlich vernehmbarem Glockengeläut setzte der Zug sich in Bewegung zur eigentlichen Rundfahrt durch die Illumination, deren Lichter an manchen Stellen schon zu tropfen und zu verlöschen begannen.

Es war zehn Uhr, als der König wieder in sein Arbeitszimmer hinaufstieg. Ein Imbiß stand bereit. Die Kabinettsräte Eichel und Lautensack warteten. Er ließ sich in einen Sessel nieder, nahm langsam bald einen Schluck Wein, bald einen Bissen und hörte den Arbeitsplan für die kommenden Tage. Unbekanntes vernahm er wenig. Bald unterbrach er den Vortrag und befahl, ein Aktenbündel zu entschnüren. Sein Kopf brannte nicht, sein Herz ging ganz ruhig, er war nüchtern, sachlich, still und zufrieden, er war, wenn das Wort hier eine Stätte haben kann, er war glücklich.

Die Tür ging auf. Eine Dame trat ein. Friedrich gab ein Zeichen mit der Hand, und die Sekretäre verschwanden, rückwärts tretend, ins anstoßende Zimmer.

Die Prinzessin Amalie wollte stürmisch heraneilen, sie wollte, der Entschluß war ihr anzukennen, dem König zu Füßen sitzen, seine Knie umklammern, ihr Leid und ihr Flehen in großer Woge vor ihn hingießen. Aber wie er ihr nun unbewegt und mit trockenem Ausdruck entgegensah, sanken ihrem Willen auf halbem Weg die Flügel, sie blieb stehen und verneigte sich.

 

Ohne ihr die Hand zu bieten, sagte Friedrich: »Es ist liebenswürdig, daß du spät noch herkommst, mich zu begrüßen. Meine Absicht war, unserer lieben Mutter und auch dir morgen in Monbijou aufzuwarten. Ich hoffe, ihr befindet euch wohl.«

Sie gab keine Antwort. Ein tiefes Schweigen herrschte, das aber den König wiederum nicht zu berühren schien. Und dann tat Amalie dennoch, was sie sich vorgenommen hatte, nur tat sie es nicht in Ansturm und Leidenschaft, sie tat es still und rührend, tief sank sie auf ein Knie, und ihre grauen Röcke rauschten.

Sie war gedämpft und unjung gekleidet. Ihr Mieder von dunkler Stahlfarbe, mit Silber traurig ausgeschmückt, erhob sich fast unstofflich schmal und zart aus dem Perlgrau der weithingebreiteten Seide.

»Ich komme um Recht, mein Bruder«, sagte sie.

»Um Recht?« antwortete er leicht. »Oh, das ist meine Angelegenheit. Damit werde ich mich jetzt viel abzugeben haben. Es darf mir künftig kein Prozeß mehr länger dauern als ein Jahr. Cocceji glaubt, es sei durchzuführen.«

»Ich komme um Gnade.«

»Um was für eine Gnade? Kann ich für Quedlinburg etwas tun? Aber ihr seid ja reicher als ich.«

»Sie verhöhnen mein Herz«, sagte sie leise. Er änderte Miene und Haltung.

»Steh auf jetzt«, rief er unfreundlich. »Was ist das für ein Unfug, da zu knien! Bin ich ein Theaterkönig?« Und wahrscheinlich, um darzutun, wie wenig er das sei, zog er die Dose und schnupfte, ohne Eleganz und geräuschvoll, wie er es sich jetzt im Felde anzugewöhnen begonnen hatte.

Die Prinzessin gehorchte, nicht ganz ohne Mühe. Sie mußte sich aufstützen, um ihre leichte Gestalt in die Höhe zu heben.

Sie sagte: »Mein Bruder, ich verstehe, daß Sie zornig sind, aber es kann mich nicht schrecken. Bitte vergessen Sie nicht, daß ich Ihre Schwester bin und mich also nicht fürchte.«

»Oh, nur keine leeren Worte gefälligst! Es gehört für eine Dame kein Mut dazu, aufdringlich zu sein.«

»Aufdringlich!«

»Jawohl. Mir fehlt die Zeit, alberne Kniefälle entgegenzunehmen. Zu ruhiger Behandlung privater Geschäfte ist morgen Gelegenheit in Monbijou.«

Sie beschied sich nicht. Sie konnte sich nicht bescheiden. Sie stand, und ihre schönen, weitgeschnittenen Augen füllten sich plötzlich mit Tränen. Sie stürzte auf den Bruder zu und ergriff seine Hand. Er entzog sie ihr eilig, er entriß sie ihr beinahe und wich ein wenig zurück.

»Ich muß erwarten«, sagte er leise und scharf, »daß du dich augenblicklich fortbegibst. Meine Schreiber warten auf mich.«

Aber sie war unfähig, zu gehorchen. Ging sie jetzt, dann schien ihr alles verloren und aufgegeben. Und verzweifelt klammerte sie sich an den Vorteil der Gegenwart, der doch offenkundig keiner mehr war.

Friedrich blickte sie an, auf ihren Gehorsam wartend. Sie sah ergreifend aus, und da er sich keineswegs ergreifen lassen wollte, so schaute er schnell wieder fort. Aber nun traf sein Blick den großen Spiegel, deckenhohes Kristall, das Lüster und Armleuchter mit einer Flut von weißem Licht bestrahlten. Dort drinnen sah er sie, und sah auch sich selbst.

Beide erschienen sie im Profil, ihre Häupter waren einander zugekehrt. Ein scharfes Weh, ein Mitleid voller Erkenntnis, griff ihm ans Herz.

Sie waren einander sehr ähnlich geworden, er selbst und die junge schöne Schwester, schön immer noch, obgleich ihre Frische gelitten hatte. Die früher so weichen Züge hatten Schärfe bekommen in diesem einen kurzen Jahr ihrer Jugend, ihr Auge schien sich weiter vorzuwölben als ehedem und glich so vollends dem seinen, und vom Flügel der Nase lief, am schmaler gewordenen Mund vorbei, zum nicht mehr so blühenden Kinn die erste leichte Hinzeichnung der gleichen Furche, die bei ihm selber so bitter sich ausprägte – ein Griffelzug des Leidens, der Enttäuschung und Entbehrung, von der gleichen Faust ihr eingegraben, o ja von der gleichen, die auch an seinem Antlitz so gnadenlos arbeitete.

»Geh«, sagte er gedämpft und hastig. »Ich gebe ihn frei.«

Aber an diesem gleichen Abend war der unberatene Trenck aus seinem Gefängnis entflohen.

3

Die Offiziere versammelten sich zum Festmahl beim Kommandanten. Trenck, allein in seiner Stube, hatte die helle Fensterfront sich seitlich gegenüber, er hörte die Stimmen und erstes Klirren der Gläser.

Ihm war bitter zumute, wie es dem jungen Soldaten wohl sein muß, der bei ungebrochenem Lauf der Dinge eben jetzt seinen vollen Anteil an Ehre und Freude geerntet haben würde und der statt dessen ausgeschlossen und verfemt in Gewahrsam sitzt, elend, mit verloschener Hoffnung.

Wie er am gleichen Mittag vernahm, ein Kurier mit der Friedensnachricht sei eingeritten, da schien es ihm plötzlich gewiß, daß der auch für ihn komme, als ein Herold der königlichen Gnade. Er glaubte, er zweifelte, er verzweifelte. Ein Foltertag lag hinter ihm. Stumpf und ausgebrannt saß er nun da.

Waffengeräusch an der Tür; im Rahmen zeigte sich Doo, ein Unteroffizier hinter ihm, der eine Stocklaterne trug, und zwei Gemeine.

Seit jenem Abend hatte der Platzmajor sich nicht mehr sehen lassen. Er kam auch jetzt nicht freiwillig, er vollführte nur heute, am Tag der gefährdeten Ordnung, persönlich die kontrollierende Ronde, auf Befehl des Generals. Trenck aber, ganz eingesponnen in sein Schicksal, von neuer Gewißheit entzückt und berückt, uneingedenk alles Gewesenen, den Lichtschein dort vor sich wie eine Gloriole der Gnade, war aufgesprungen, lief auf den Italiener zu und rief:

»Herr Major, Sie bringen mir meine Freiheit, ist es so? Reden Sie schnell!«

Der Italiener war ins Zimmer hereingetreten, die Mannschaft mit ihm. Der Schein der Laterne, die der Unteroffizier nicht ruhig hielt, zuckte an den Wänden umher. Doo gab erst keine Antwort, blickte den Gefangenen genießend an und artikulierte dann langsam, gestelzt diese Worte:

»Freiheit? Davon ist durchaus keine Rede. Wie verfallen Sie nur darauf?«

»Sie haben keine Nachricht für mich?«

»Nachricht? Ich wüßte gar nicht, welche. Wer ein Verbrechen begangen hat, mag sich darein finden, es auch zu sühnen.«

»Was reden Sie denn, was fällt Ihnen ein!«

»Ein Verräter«, fuhr Doo noch langsamer und noch bösartiger fort, »ein Verräter an seinem Vaterland und König, der mit dem Feinde korrespondiert, hat auf günstige Neuigkeiten kaum zu warten. Gnade gibt es für ihn nicht.«

Aber die letzten Worte sprach er nicht deutlich mehr aus. Trenck, außer sich vor Wut und grausam getroffen, denn er glaubte nicht anders, als jener spreche aus neuer genauer Kenntnis, Trenck stürzte auf den Höhnenden zu, packte ihn würgend am Halse und riß ihm mit der anderen Faust den Degen vom Leib. Er schleuderte Doo an die Wand und sprang selbst zurück.

In der Minute vorher hat er an Flucht nicht gedacht, nun ist sie Notwendigkeit, ist selbstverständlich. So wie er dasteht in seinem roten Rock, den bloßen Stahl in der Faust, ohne Hut, so muß er fliehen.

Zu seiner Linken liegt auf dem Tisch das Smaragdmedaillon der Geliebten, auf der anderen Seite, etwas weiter entfernt, steht das Schränkchen, dessen Lade sein Gold birgt, die bedeutende Summe, dem Fliehenden so nützlich, so unentbehrlich. Sich beides zu sichern, ist nicht mehr möglich, gleich werden sie losdringen auf ihn, voran der Major, ihm die Waffe zu entreißen, deren Verlust infamiert. So ergreift er das Kleinod, bringt es sicher unter in seiner Hand, und unerwartet, mit einem mächtigen Satz, geht er aufs neue zum Angriff über. Mit eben der Faust, die das Bildnis umschließt, haut er den Major vor die Stirn, er schwingt den Degen gegen die anderen drei, die eilig zurückweichen, nicht willens, sich hier im Quartier am Friedenstag von einem ganz offenbar Verrückten das Eisen durch den Leib rennen zu lassen. Der Unteroffizier, mit seiner Laterne zum Kampf als der letzte geeignet, ermannt sich noch und vertritt ihm den Weg, er fliegt zur Seite, die Laterne entfällt ihm, verlöscht, und Trenck rast draußen davon.

Die Festungshöfe und -gassen sind leer an diesem Festabend, die Rufe der Nachsetzenden finden nicht sogleich ein Echo. Trenck läuft kreuz und quer, es ist beinahe finster, die Stunde ist günstig. Wie er beim Zeughaus um die Ecke biegt, stößt er auf einen Offizier, heute ist jeder sein Feind, er holt aus, ihn hinzustrecken. Der fällt ihm in den Arm, es ist Schell, der in Schärpe und Ringkragen sich zum Friedensmahl begibt.

»Ich fliehe«, ruft Trenck, »leb du wohl«, und will weiter.

»Wo du bist, bin ich!«

»Bruder, bedenk dir's!«

Aber schon ist nichts mehr zu bedenken, schon ist Alarm in der Festung, schon hört man die Trommel, schon stürzt aus den Häusern Mannschaft und Führer, barhaupt, vom Tisch weggerissen. Sie stehen, die beiden, am Wall. Kein Ausweg bleibt mehr, die Tore sind weit und keinerlei Hoffnung, dort zu passieren.

»Hinauf!« schreit Schell, und als der erste ersteigt er die Brustwehr. Eine Minute zuvor ist er noch ein Offizier gewesen, der sich nach getanem Dienst in Parademontur zum Festakt begibt. »Hinauf!« schreit er jetzt und steht oben. Trenck folgt ihm. Die Häscher sind nahe. Da springen sie.

Der Wall ist an dieser Stelle nicht hoch, und Trenck kommt auch glücklich hinunter. Wohlbehalten steht er im untern Gang vor den Palisaden. Da hört er es wimmern:

»Mein Fuß, Trenck, mein Fuß!«

»Was ist's denn? Gebrochen?«

»Ja, gebrochen.«

Aber gebrochen oder nur verstaucht war gleichviel im Augenblick. »Bruder«, rief Schell, »du kannst hier nicht stehen. Nimm deinen Degen, durchstich mich! Leb wohl!«

Da lachte Trenck, dröhnend und fest, und in sein Lachen krachte mächtig, ganz nahe über ihnen, die Alarmkanone hinein.

»Wo ist denn dein Hut, Schell?« rief er laut, und das war ein klarer Bescheid auf den heroischen Vorschlag.

»Beim Springen verloren«, stammelte Schell.

»Ja, da mußt du jetzt ohne Hut übern Zaun.«

»Und wenn wir drüben sind?«

»Dann bring' ich dich um!« Trenck lachte noch einmal, brach aber plötzlich ab, besann sich und sagte trocken:

»Hör, Schell, kannst du nicht sagen, du seist mir nachgesprungen, um mich zu fangen? Dann pflegen sie dich und befördern dich noch. Versprich mir, daß du es sagst, und bleibe zurück!«

»Sie glauben mir's nicht«, murmelte Schell, »der Doo glaubt mir's nicht.«

Trenck nickte. An Doo hatte er nicht mehr gedacht. Und so half er denn unter Kanonengekrach und Verfolgergeschrei dem Verletzten über die hohen und spitzen Pfähle hinweg. Er folgte und zerriß sich die Hose dabei. Freies Feld lag vor ihnen. Die Luft war neblig, es herrschte Glatteis.

»So«, sagte Trenck, »jetzt haben wir Zeit. Die anderen müssen ja außen herum durch die Stadt. Da hast du mir immer Angst gemacht mit eurer Donnerkanone! Was hilft sie jetzt. Komm!«

Und er packte sich Schell auf den Rücken. So dunkel war es und so dunstig, daß nach zweihundert Schritten von der Festung nichts mehr zu sehen war, und also sah auch sie keiner mehr.

»Mir siedet das Blut im Gehirn«, sagte Trenck. »Wo sind wir, Schell? Wo liegt Böhmen, wo fließt die Neiße?«

Schell wies trostlos zur Seite.

»Dort müssen wir durch«, sagte Trenck, »die Husaren und Bauern sind alle schon auf und wollen ihre Prämie verdienen.«

Und als hätte er selbst das Signal gegeben und die Meute entkettet, hörten sie im gleichen Augenblick in den Dörfern Sturm läuten und hörten die alarmierten Bauern brüllen und blasen.

Trenck stapfte seitwärts davon, gestützt auf den Stahl des Majors, der sich bog, er stolperte, er glitt aus, er krachte ein in die dünne Eisdecke sumpfiger Stellen und schleppte den Freund mit sich hin, der so unerbeten die tolle Flucht teilte und sie zu vereiteln drohte.

Der Fluß war nur leicht gefroren, Trenck tappte hinein. Ihn durchdrang tödliche Kälte, sein Atem blieb aus, gelbes und blaues Licht schoß ihm umher vor den Augen.

»Halt dich an meinem Zopf fest, Schell« – seine Stimme versagte, denn plötzlich hier in der Mitte hatte er den Boden verloren. Die Strömung war stark, aber verzweifelte Schwimmstöße, bei denen ihre Gliedmaßen einander hinderten und Schell zweimal gellend aufschrie, brachten sie fort über die Stelle, mit genauer Not noch faßten sie Grund und krochen und sanken ans Ufer.

Da lagen sie, schaurig durcheist, und meinten nicht länger zu leben. Der Nebel wich, Mondlicht trat hervor. Aber fürs erste waren sie doch geborgen, denn alle konnten sie nur auf dem Weg nach Böhmen vermuten, niemand hier.

Lange Rast war verboten. Trenck belud sich aufs neue und wanderte am Wasser entlang. Hier ging kein Pfad. Es schien immer kälter zu werden, der unbeweglich hängende Schell litt zu den Schmerzen in seinem Fuß alle Höllenpein der Erstarrung. Mehrmals nahm ihn Trenck herunter, setzte ihn vor sich auf den Boden, ohne ein Wort, und rieb ihm gewaltig den Rücken, die gesunden Glieder und das Gesicht. Ein Stück weiter oberhalb fanden sie einen Kahn, sie zerrten und rissen ihn los, sie fuhren hinüber und gewannen in kurzer Frist das hier ganz nahe Gebirge.

Schneetreiben hatte eingesetzt. Schnee lag tief hier und lag schon lange, seine harte Rinde brach ein bei jedem Tritt. Kein Erkennen der Richtung war möglich. So wanderten sie. Trenck hatte für den Begleiter einen Buchenstock geschnitten, daran half der sich vorwärts auf kurze Strecken, um dem Gesunden Erholung zu gönnen. Sonst aber schleppte ihn Trenck, bis zum Knie, ja bis zum Gürtel wühlte er kämpfend im Schnee, der Sturm blies ihnen durch das vom Eise steife Gewand, vom scharfen Gestöber waren sie blind. Die Nacht hatte kaum erst begonnen. Jetzt kam sie erst recht. Jetzt war sie erst da. Nie würde sie enden.

Aber ein geisterhaft heilloses Vorlicht brach an, sie meinten weit, weit gegangen zu sein, längst schon über die Grenze. Und da hörten sie, mit dem Schreck der Verdammten, ganz nahe die Glatzer Uhr schlagen.

4

Sie entkamen. In Braunau, der preußischen Grenze zunächst, fanden sie Zuflucht. Hier heilte Schell seinen Fuß, Trenck schrieb an die Freundin, an seine Mutter, seine Schwester, an Kameraden. Kein Brief schien anzukommen, jedenfalls kam keinerlei Antwort zurück.

Nach drei Wochen zogen sie fort, mitten im Winter. Sie waren heimatlos; im Weltraum, so schien es Trenck, irrend zwischen Planeten, hätten sie nicht einsamer sein können. Sie umwanderten die Grenzen von Friedrichs Monarchie, um durch Böhmen, Mähren, Polen jenes brandenburgische Randgebiet zu erreichen, wo die Trenckische Familie begütert war.

Ärmer als ein Bettler, zerlumpt wie ein Strauchdieb, wanderte der Liebling des Königs von Preußen durch das armselige Grenzland. Schell hatte Schärpe und Ringkragen verkauft, und er selbst seine Uhr, seinen Erbring und ein paar Smaragde aus seinem Medaillon. Er hätte alle verkauft, aber niemand wollte sie haben. Hin und wieder zeigten sich preußische Werber auf ihrem Weg, sie liefen dem stattlichen Trenck nach und setzten ihm zu, sie stellten ihm lärmend das Glück vor, das er in Friedrichs Armee noch machen könne, selbst bis zum Korporal werde er's bringen; sie nötigten die zwei Vagabunden in eine Kneipe und ließen Bier und Schnaps auffahren, um die Betrunkenen leichter zu überrumpeln. Das waren gute Tage für Trenck und Schell, denn auf solche Art kamen sie mitunter zu warmen Bissen. Jede sinkende Nacht aber bedeutete ein häßliches Abenteuer, erträglich war sie noch, wenn sie auf dampfendem Strohlager unter hannakischen und polnischen Fuhrleuten verbracht wurde.

Phantastisch, unglaubhaft kamen sie daher auf den löcherigen, verschneiten Straßen, der Hochgewachsene, Kräftige mit einem Fuhrmannskittel am Leibe, denn der rote Garderock war lange verkauft, an der Seite den Pallasch, zwei Pistolen im Gürtel; daneben der Kleine, bleich und schlotterig wie ein Gespenst, in einem geflickten Zigeunerwams. So zogen sie, mit Widerwillen angestaunt, durch Dörfer und Städtchen, trübseliger eins als das andere: durch Politz und Leipnik und Bobrak und Janow und Dankow und Zduny und Punitz und Storchnest und Schmiegel und Bentschen und Lettel – lauter Namen, aus deren ödem Klang schon das Elend zu husten schien. In dunkler Nacht klopfte Trenck an das Tor seiner Schwester. Das Schloß, darin sie mit ihrem Gatten lebte, stand nahe der polnischen Grenze; der Ort hieß Hammer.

Man ließ sie draußen stehen. Schneetreiben herrschte, wie einst in der Fluchtnacht. Endlich kam der Bediente zurück, drückte Trenck eine Anzahl Goldstücke in die Hand und schlug das Tor wieder zu. Trenck, außer sich, warf das Geld in den Schnee, er wollte eindringen, wollte die unnatürliche Schwester stellen, wollte sie strafen, wollte sie töten. Schell, aus Leibeskräften, umklammerte ihn, hielt ihn zurück, schrie ihm, den Sturm übertönend, Worte der Besinnung, der Mahnung zu. Dann kniete er nieder und grub mit erstarrenden Fingern die hingeschleuderten Dukaten aus dem Schnee.

Sie sprachen kein Wort mehr. Sie tappten durch den nächtlichen Wald nach Polen zurück.

Im Orte Lettel blieben sie, sie schliefen und aßen, sie lebten vom Almosen der Schwester. Ein letzter Bote war abgefertigt an die Mutter in Breslau, ununterscheidbar verschlichen die Tage, sie aßen und schliefen, schon dachten sie und hofften nicht mehr. Da kam Hilfe. Frau von Lostange schickte mit einem sicheren Mann fünfhundert Louisdors und ein diamantenes Halskreuz. Keinen Gruß, keine Zeile.

Am gleichen Abend saß in der Gaststube unten an ihrem Tisch ein reisender Kaufmann, neben ihm hing sein langer, rauher, polnischer Pelz. Der Mann hatte Zeitungen vor sich ausgebreitet, fettiges Papier, in verschiedenen Sprachen bedruckt, und essend las er. Trenck, der viele Wochen aus der Welt nichts Rechtes erfahren, bat sie sich aus und bekam ein Druck-Erzeugnis in die Hand, schon älteren Datums, sechs Löschpapierseiten allerkleinsten Quartformats, das ›Wienerische Diarium‹.

Das Blättchen enthielt, zurechtgestutzt offenbar von einer pedantischen Zensur, Nachrichten aus Ungarn, aus den Niederlanden, aus Frankreich; diesem politischen Teil schloß sich ein Verzeichnis der neuerdings in Wien Verstorbenen an, wobei in keinem einzigen Fall eine andere Todesursache angegeben war als das sogenannte hitzige Fieber; und höchst langatmig, beinahe zwei Seiten bedeckend, folgte ein Bericht über die Festlichkeiten bei der Vermählung eines Grafen Wassin mit einem Hoffräulein Comtesse Lamberg: Trauungszeremonien, Gratulationscour, Festtafeln, Bälle, Schlittenfahrten, Galareiten, Feuerwerke. Aber die letzte, die sechste Seite des Diariums brachte Anzeigen öffentlicher und privater Natur.

Hier stutzte Trenck. Er las, las noch einmal, er hatte die Ellbogen auf den benäßten Wirtshaustisch gestemmt und hielt sich mit beiden Händen das Blättchen nahe vors Auge.

»Jajaja«, sagte er vor sich hin, »dasselbe hier, dasselbe dort.«

»Was ist dasselbe dort?« fragte ihm gegenüber Schell mit vollem Mund und griff nach der Zeitung. Da aber Trenck nicht losließ und wortlos weiter darauf niederstarrte, kam er kauend um den langen Tisch herum und blickte ihm über die Schulter. Er sah es sogleich. Stark umrandet, auffällig gedruckt, nahm der Aufruf die Mitte der kleinen Seite ein.

Er war unterzeichnet von dem Grafen Löwenwalde, General der Kavallerie und Präsidenten des Inquisitionskriegsgerichts, und forderte alle Welt zum Zeugnis auf wider den Oberst der Panduren Franz Freiherr von der Trenck. Es handle sich, hieß es, einmal um die bereits bekannten Verbrechen, Unterschlagung nämlich von Staatsgeldern, Brandschatzung der eigenen und der feindlichen Länder, Mißhandlung Untergebener, Notzucht, Atheisterei, Kirchenraub, Schändung heiliger Gefäße. Sodann aber sei jetzt ein weiterer Punkt hinzugekommen: der Oberst habe, so werde bezeugt, im letzten Kriege am Tag der Schlacht bei Soor den preußischen König Friedrich im Bette liegend überrascht, er habe ihn gefangengenommen und dann, trotz Pflicht und Eid, gegen ein Lösegeld wieder freigegeben. Jedermann, der hierüber etwas vorzubringen habe, werde dringlich eingeladen, sich nach Wien zu begeben, Vergütung der Kosten war versprochen und ein Tagegeld von einem Dukaten.

»Liest du das, Schell?« fragte Trenck und deutete auf die Stelle. »Im Bett gefangen hat er ihn! Und dabei bin ich selber vom frühen Morgen an mit dem König im Feld umhergeritten, und wie der Pandur ins Lager fiel, war niemand mehr drin als ein paar Kranke und Knechte. Aber so treiben sie's mit uns, Schell, da kannst du's nun sehen!«

Der Schwabe war an seinen Platz zurückgekehrt.

»Ja«, sagte er, »das ist halt ein Schwindel. Aber er hat ja genug auf dem Kerbholz, dein Herr Pandurenvetter. Wenn sie ihn hängen, geschieht's ihm sicher recht.«

»Hängen! Einen von uns! Paß auf, was du redest, kann ich dir sagen!«

In der Wirtsstube war man aufmerksam geworden. Niemand sprach mehr.

Gedämpft sagte Schell: »Aber hör einmal, worüber regst du dich auf? Du bist doch selber ausgeritten, um diesen Vetter umzubringen, dann hat er dir deinen Freund weggeschossen, nichts als Elend hast du gehabt durch ihn, noch vor ein paar Tagen, nachts in Kobylin im Stroh, hast du gesagt, das sei dein feurigster Wunsch, diesem Panduren einmal so richtig durch seinen roten Mantel zu stechen, und zwar oben links in die Brust, und jetzt fährst du mich an wegen des Menschen!«

»Komm hinauf zu uns«, sagte Trenck statt aller Antwort.

»Ich muß hin«, sagte er in der Schlafkammer, als das Talglicht brannte. »Sofort muß ich hin, morgen mit dem Frühesten.«

»Nach Wien mußt du«, schrie Schell. »Ja, Heilandskreuz, was geht denn dich die ganze Scheiße an! Dein sauberer Vetter ist vielleicht auch nach Preußen gekommen, um dir zu helfen?«

»Das verstehst du nicht.«

»Aber das versteh' ich, daß du nie mehr zurück kannst in dein eigenes Land, daß der König dann wirklich glauben muß, du seist ein Verräter!«

»Zurück darf ich doch nicht mehr.«

»Komm jetzt nur mit nach Warschau, Trenck, dort sehen wir weiter. Vielleicht gehen wir wirklich für ein paar Jährchen nach Indien oder nach Rußland. Bloß nach Wien geh nicht, Trenck, dann bist du gestempelt, und glaub doch nicht, daß ein Halunke wie dein Vetter dir's danken wird!«

»Beschimpfe ihn nicht, er ist unglücklich.«

»Ach, unglücklich! Zu bunt wird er's halt getrieben haben. Im diesjährigen Kalender kannst du schon lesen, wie er's in Bayern gemacht hat, in Vilshofen einmal hat er drei kleinen Kindern nacheinander Nase und Ohren abgeschnitten, weil die Eltern nicht haben sagen wollen, wo das Geld war. Was willst du denn für so einen riskieren, Trenck, sei doch kein Narr!«

»Das kann alles Verleumdung sein, so gut wie das Märchen von dem König von Preußen. Und kurz und gut, ich geh' jetzt hinunter und frage den Wirt um Pferde.«

»Trenck, laß dich bitten. Ich weiß schon, daß du nichts auf mich gibst, aber diesmal hab' ich das kältere Blut. Komm nach Indien, Trenck! Wir machen unser Glück, und lustig ist's auch für zwei junge Kerle. Paß auf, ich mach' alles für dich, ich putz' dir den Gaul, ich schmier' dir die Stiefel, ich schlaf nachts vor der Tür, wenn die Schlangen kommen ...«

»Schell«, sagte Trenck und legte ihm die Hand auf den Arm, »denk dich an meine Stelle! Soll ich so an ihm handeln wie meine Schwester an mir? Der Oberst ist ein tapferer Soldat, er hat für seine Monarchin viel getan, jetzt sitzt er im Gefängnis. Ich bin der Nächste dazu, um den bösesten Klagepunkt aufzuklären. Sein Verwandter bin ich, sein Leidensbruder bin ich auch ...«

»Und sein nächster Erbe auch, Trenck, und bloß davon werden die Leute reden. Es wird heißen, du wollest nur nicht, daß sein Vermögen konfisziert wird.«

»Dann soll es so heißen.«

»Ach, Trenck, Trenck, warum hab' ich bloß keine Röcke und kein langes Haar! Auf deine Freundin würdest du hören. Aber gut, ich fahr' mit dir.«

»Nichts da. Du gehst nach Warschau.«

Es geschah so. Am frühen Morgen teilte Trenck seine Barschaft mit dem Schwaben, nahm freundlichen Abschied und reiste mit Eilpferden.

In Krakau gönnte er sich kaum die Zeit, anständige Kleidung zu kaufen. Durch ödes Land rasend, näherte er sich von Nordosten der Hauptstadt, kam gegen Abend über die Donaubrücke, wurde beim Roten Turm visitiert und fuhr ein.

5

Das erste, was ihm auffiel, als er den Kopf durchs Wagenfenster steckte, waren die Laternenanzünder, die sich mit ihren langen Lichtstangen durch die dämmernden Gassen bewegten, ihre Uniform war braun mit Rot, und sie trugen einen Säbel; das machte einen sonderbaren Eindruck auf ihn.

Sein Gasthof stand am Neuen Markt. Er bekam in dem uralten Haus eine Stube im ersten Stockwerk, bestellte ein wenig Essen und trat wartend ans offene Fenster.

Der Februarabend war mild wie ein Abend im Frühling, volkreiches Treiben herrschte.

Mitten auf dem Platz war ein fliegendes Marionettentheater aufgeschlagen, er konnte sehen, wie sich in dem beleuchteten Ausschnitt die kleinen Figuren bewegten, die Witze des Hanswursts, seine Pritschenschläge und das Lachen der Zuschauer schallten herauf. Nicht weit dahinter, ebenfalls unter freiem Himmel, stand eine Garküche, aus der mit dem Klappern des Geschirrs Speisengeruch und so dichte Qualmwolken hervordrangen, daß die Kirche zur Rechten und ihr gegenüber das stattliche Haus mit den vorgebauten Arkaden zuweilen fast eingehüllt wurden.

Kutschen und Sänften langten hier an, die Sänften getragen von Bedienten in langen roten Röcken, schon der zweiten Uniform, die Trenck hier in Wien befremdete und die ihn, freilich als niedriges Abbild, an seinen roten preußischen Garderock erinnerte. Verhüllte Gäste stiegen unter den Arkaden aus. Die ganze Front war strahlend erhellt, Musik klang herüber, und hinter den hohen Fenstern sah man schattenhaft die Tanzenden sich bewegen.

Der Aufwärter trat mit den Speisen ein, hinter ihm der Wirt, um seinen Gast zu begrüßen. Von ihm erfuhr Trenck, daß jenes Haus die berühmte Mehlgrube sei, Schauplatz aller vornehmen Maskenbälle im Karneval. Denn freilich, es war Karneval, ein Karneval, den er bis jetzt auf mährischen und polnischen Landstraßen zugebracht hatte.

Maskenball! Der Wirt, diensteifrig, erklärte sich bereit, das nötige Kostüm zu beschaffen, und kam nach zehn Minuten zurück, überm Arm einen weißseidenen Domino, der nicht völlig sauber war, und in der Hand eine weiße Larve.

Nun gebe es freilich noch eine Voraussetzung für den Zutritt, sagte er zögernd. – Was für eine Voraussetzung? Das Eintrittsgeld vielleicht? – Nein, die Standesfrage, es sei ein streng adeliger Ball. – Da möge der Wirt sich beruhigen.

Und vermummt, als eine weiße, riesengroße Erscheinung, überschritt er den Platz und trat unter den Arkaden in das Tanzhaus zur Mehlgrube ein.

Im Untergeschoß hatte ein Kommissär seinen Stand, ein früherer Hofbedienter, dem die meisten Herrschaften lange bekannt waren. Wie er den großen Herrn im Domino vor sich stehend sah, sagte er vertraulich, aufs Geratewohl:

»Der erlauchte Herr Graf von Martiniz, net wahr?«

»Nein, der Baron Trenck.«

»Jesus Maria«, rief der Kommissär und hätte sich beinahe bekreuzigt, »san denn Euer Gnaden schon wieder auskumma?«

»Ich bin nicht der Oberst«, sagte Trenck und schob flüchtig seine Larve zur Seite, »ich bin sein Vetter aus Preußen.« Er bezahlte seinen Dukaten und stieg die flachen Treppen zum Saal hinauf, vom Kopfschütteln und Gemurmel des Kommissärs gefolgt.

Der Saal war einfach, ein schmuckloses Rechteck mit umlaufender Galerie, an deren einem Schmalende das vielköpfige Orchester postiert war. Man tanzte hier noch die alten, ursprünglich steif gemessenen Figurentänze, aber man tanzte sie gelöst, ja ausgelassen, mit der ganzen Ungezwungenheit von Leuten, die unter sich sind. Die Kaiserin selber, lebenslustig bei all ihrer Frömmigkeit, besuchte mitunter die Bälle in diesem Haus.

Man war fast allgemein maskiert, dennoch wurde Trenck sich sofort bewußt, daß er noch niemals in seinem Leben eine solche Menge von schönen Frauen beisammen gesehen hatte. Weiche, mildgeformte Gestalten neigten und versagten sich, Arme, Dekolletés und Schultern schimmerten sehnsuchterweckend, und als der Fremdling zur Galerie hinaufgestiegen war und sich übers Geländer beugte, empfing er wie eine Woge von köstlichem Duft das Lachen und Rufen, das volle Schwirren einer gepflegten Freude. Schlafend hierhergebracht, hätte er beim ersten Laut gewußt, daß er nicht mehr in Preußen sei, so anders tönte das hier, so warm, so unbekümmert, so sinnlich gelöst. Ein Reiz des Exotisch-Internationalen mischte sich ein. Zwar, der Neuling hätte schwerlich Namen zu nennen gewußt, aber was an solchen Abenden in diesem Festhaus sich heiter und üppig dort unten bewegte, das war der Adel eines Weltreichs, aus vielen Himmelsgegenden herversammelt in den Strahlenkreis der römischen Krone, das waren die Schwarzenberg, Lichtenstein, Schönborn, Paar, Khevenhüller, Herberstein, die Palffy, Banffy, Erdödy, Batthiany und Esterhazy, das waren die Kolowrat, Chotek, Kinsky, Clam-Gallas und Lobkowitz, die Clary, Colloredo, Collalto, Castelbarco, Sylva-Tarouca.

Traumwandelnde Fremdheit umfing ihn, hier auf der fast leeren Galerie. Das einzige Band, das ihn mit dieser unbekannten Welt verknüpfte, lief über seinen Vetter, den Kriegshäuptling, und der saß im Gefängnis, ein Auswurf gewiß für alle diese da unten. Schulerinnerungen kamen herauf. Er sah sein Trenckisches Haus als ein Tantalidengeschlecht, gezeichnet, wütend gegen sich selbst, rachsüchtig verfolgt von den Herren des Himmels, verbannt aus Frieden und Glück. Vom Stolz der Einsamkeit, von empörerischem Mut schwoll ihm das Herz ... Durch die Seide des Dominos fühlte er sich leicht an der Hand berührt.

In der Sekunde, ehe er sich umwandte, blieb ihm Zeit, sich an einen anderen Ball zu erinnern, da war ihm, vor undenklicher Zeit, geradeso die Hand berührt worden, und als er sich umwandte, war niemand mehr da.

Jetzt stand jemand hinter ihm, ein Herr in schwarzer Seide, unverlarvt, der sich verneigte.

»Ich bin der Baron Rocco Lopresti. Der Kommissär hat Sie mir beschrieben. Er weiß, daß ich ein Freund Ihres Vetters bin.«

Er war von extrem südlichem Typus, mit glänzendem Haupthaar, Schnurrbart und Kinnbart. Er wirkte militärisch, etwas einfältig und bei ziemlicher Brutalität des Ausdrucks doch vertrauenswürdig.

Trenck demaskierte sich und sagte: »Es ist eine Fügung, daß wir uns an meinem ersten Abend in Wien begegnen. Ich wußte durchaus nicht, wo ich mich nach meinem Vetter erkundigen sollte.«

»Erkundigen? Dazu hätten Sie mich nicht nötig. Er sorgt schon dafür, daß ganz Wien über ihn Bescheid weiß!«

»Ich aber weiß gar nichts. In einem polnischen Dorf ist mir eine Zeitung vor Augen gekommen mit dem Aufruf seines Richters.«

»Der Lump, der Löwenwalde, wenn er bloß den nicht so beleidigt hätte ...«

»Herr von Lopresti«, sagte Trenck, »haben Sie die Güte, mir der Reihe nach zu berichten, vielleicht kann ich meinem Vetter nützlich sein. Nur deswegen bin ich nach Wien gekommen.«

»Das ist schön«, rief Lopresti, »bravo! Das ist so, wie es sich für einen Kriegsmann schickt. Sie sind doch natürlich Soldat?«

»Ich war Soldat«, sagte Trenck und wurde blutrot.

»So. Also gehen wir dorthin unters Zelt. Da ist niemals ein Mensch.«

Am Ende der Galerie, vom Orchester durch die ganze Saallänge getrennt, war aus Purpurstoff eine Art türkisches Zelt aufgeschlagen. Bedienung konnte herbeigerufen werden. Aber alle Welt vergnügte sich unten im Saal.

Der andere begann zu erzählen. Allein, er vergaß immer wieder, daß bei dem jungen Preußen keinerlei Kenntnis vorauszusetzen sei; auch versagte sich ihm des öfteren die deutsche Sprache, er sprang ins Französische, das er aber noch weniger meisterte, und mischte sizilianische und auch slawische Wendungen ein.

Die Wurzel des Unglücks war nach Lopresti, daß der Oberst während des Feldzugs mit großer Rauheit eine Anzahl unfähiger Offiziere aus seinem Dienst weggejagt hatte. Die haßten ihn nun, und ihrer bediente sich der Ankläger, Graf Löwenwalde, als gefügiger Werkzeuge. Dieser Löwenwalde aber kannte, nach Lopresti, auf der Welt kein anderes Ziel, als den Panduren zu stürzen und zu verderben, denn vor Jahresfrist hatte der ihm in Gegenwart seiner Hoheit des Prinzen Karl einen furchtbaren Tritt in den Hintern versetzt – ja, so war das gewesen.

Der Zuhörer unterbrach. »Was mich vor allem beschäftigt«, sagte er, »ist, ob die Anklagen gegen meinen Vetter begründet sind.«

»Begründet!« rief der Italiener. »Wenn Sie die Vorsteherin eines Fräuleinstiftes fragen, dann wird sie sagen, sie seien begründet. Man kann den Feind nicht immer mit Eau admirable bespritzen.«

»Und was sagt er denn nun vor Gericht?«

»Was soll er sagen! Einen Anschwärzer nach dem anderen stellen die ihm gegenüber, vom Hauptmann herunter bis zum letzten Troßbuben, und jeder, der in seinem Dienst Schandtaten begangen hat, wirft sie ihm jetzt vor.«

»Also Schandtaten sind begangen worden?«

»Herr«, schrie Lopresti, »wenn Sie vielleicht als Spitzel hier sind ...«

Trenck bezwang sich und sagte:

»Ich habe Ihnen zu danken für die Leidenschaft, mit der Sie meinen Cousin verteidigen. Ich wollte fragen: was sind eigentlich die gefährlichsten Anklagepunkte?«

»Blödsinn sind sie, Unfug, lauter Wind.« Er schlug auf das Tischchen. »Das sag' nicht ich allein. Der Feldmarschall Cordua, der würdige alte Herr, hat ein Gutachten ausgearbeitet, das unseren Freund entschuldigt. Alles war schon auf guten Wegen. Und da hat der Trenck den Wahnsinn in der Komödie gemacht.«

»In der Komödie?«

»Ja natürlich. Sie wissen aber auch gar nichts. Der Trenck hatte Hausarrest von der Kaiserin für die Dauer seines Prozesses, ganz gelinden; in seinem schönen Palais saß er mit aller Dienerschaft, konnte empfangen, wen er wollte, Weiber, so viel er wollte, und ein paar Wochen hielt er's auch aus. Aber eines Abends packt ihn der Teufel, er läßt seine schönste Equipage anspannen und fährt ins Theater drüben beim Kärntnertor – gerade weil er weiß, daß die Kaiserin da ist. Verstehen Sie das?«

»O ja«, sagte Trenck.

»Sie geben irgendein Zauberstück, irgendwas Dummes, der Kurz singt, und der Prehauser macht den Wurstl, und alles ist vergnügt. Da sieht der Trenck in einer Loge einen von seinen Widersachern, den, der im Prozeß am wütigsten gegen ihn aussagt – Gossau heißt er, ein Hauptmann –, und während der Vorhang auf ist und die da oben spielen und singen, läuft er hinein in die Loge mit Poltern, packt den Gossau am Hals, brüllt und will ihn erwürgen, so, ganz einfach, vor den Augen der Kaiserin. Das Theater läuft zusammen, und mit Gewalt wird er fortgebracht. Aber nicht mehr in sein Palais, sondern ins Arsenal wie ein gemeiner Verbrecher, und seither schaut der Prozeß bös für ihn aus.«

Der Sizilianer schwieg und atmete heftig. Trenck hörte plötzlich die Musik. Es war ein ernster, fast trauriger Tanz im Dreivierteltakt, den sie spielten, eine Chaconne. Er sah vor sich hin. Aus der Erzählung trat ihm der Trenckische Charakter schrecklich vertraut entgegen. Ja, mochte dieser Pandur sonst sein, wie er wollte – diese Ausbrüche, diese Überfälle durch das eigene unbändige Blut, dies Rasen gegen das eigene Schicksal, wie gut kannte er das! Er hob den Kopf.

»Das klingt verzweifelt, Baron Lopresti. Da wird man wenig ausrichten können. Ich bin eigentlich hergefahren, weil ich in jener Schlacht bei Soor Adjutant des Königs von Preußen war ...«

»Was waren Sie?«

»Bei König Friedrich Adjutant. Jenen einen Punkt kann ich bündig widerlegen.«

»Aber das ist ja herrlich, das ist ja wichtig, das kann ja alles entscheiden!« rief Lopresti. Doch dann schüttelte er den Kopf und sank, in der ausdrucksvollen Weise der Südländer, förmlich in sich zusammen. »Nein, nicht mehr, seit heute nicht mehr, warum sind Sie nicht gestern gekommen?«

»Was ist denn heute geschehen?«

»Eben auf diese Affäre von Soor kam heute bei Gericht die Rede, und da haben sie Ihrem Vetter ein Weibsbild gegenübergestellt, die sollte bezeugen ...«

Er sprang auf. Eine Dame hatte das Zelt betreten, sie kam geradewegs auf Lopresti zu und sagte vorwurfsvoll:

»Aber Baron, wo bleiben'S denn? Sie sind schon galant! Erst führen'S mich daher in die Mehlgruben und nachher ...«

Sie verstummte. Ihr Blick war auf Trenck gefallen, durch die Schlitze der schwarzen Seide sah er ihre Augen fragend auf sich gerichtet. Auch war sie errötet, überall am Rand der Larve hatte ihr Gesicht sich purpurn gefärbt.

Nicht er allein sah es. »Baron Trenck«, sagte der andere, »morgen früh spreche ich mit dem Gouverneur vom Arsenal, dann können Sie Ihren Vetter besuchen, sooft Sie es wollen.«

Er empfahl sich mit eifersüchtiger Hast.

Die Dame ging zögernd mit, ungern, man sah es ihren Bewegungen an. Trenck blickte ihr nach, wie sie an Loprestis Arm über die Galerie davonschritt, sehr versucht, sich noch einmal umzuwenden. Ihre Gestalt, ihr Haar schienen ihm denen der Prinzessin zu gleichen. Aber es war wohl nur sein Verlangen, das ihn täuschte. Sein Blut stand plötzlich auf, er war sehr lange ohne Zärtlichkeit gewesen.

Er nahm sein Medaillon hervor. Doch es ging ihm seltsam, er fand, vor ihrem Abbild, die lebendigen Züge der Freundin nicht. Traurig betrachtete er die Umrahmung. Zwei Smaragde waren herausgebrochen, einer zur Rechten, einer zur Linken, Händler in mährischen Nestern hatten sie in ihrer schmutzigen Lade liegen. Die Bruchstellen sahen aus wie zwei leere Augenhöhlen.

Er verließ das Ballhaus.

6

Das Arsenal, nahe bei der Neutorbastei an der Gasse Im Elend gelegen, war voll von Soldaten. Vor dem Gefängnis des Panduren standen zwei in weißen Röcken mit blankem Bajonett. Der führende Korporal schloß umständlich auf. An der linken Seitenwand sah Trenck den Panduren sitzen.

Er hatte einen schönen, bequemen Sessel in dem sonst ganz nackten Raum, einen wahren Thron aus blauem, goldgesticktem Samt, offenbar aus seinem Palais hergeholt. Auf dem saß er, kreuzweise geschlossen. Seine Füße standen unbeschuht auf dem zugehörigen Samtschemel, und von jedem Fuß lief eine Kette zum jenseitigen Handgelenk. Wie ein wildes, unzähmbares Tier hockte er da.

Trenck war an der Tür stehengeblieben, mit erstarrendem Herzen. Der Pandur nahm keine Notiz davon, daß jemand eingetreten war. Er schaute schräg seitwärts vor sich hin, die schwarzen Brandflecken in seinem einst schönen Gesicht beschien stark das einfallende Licht, der lange, dünne Schnurrbart hing fransig herunter, dichte Bartstoppeln waren ihm schon gewachsen. Er trug einen gelben Atlasrock, aber keine Weste und auch kein Halstuch. Das Hemd stand offen über der Bärenbrust. Es war eiskalt im Raum.

Endlich sagte er, und Trenck hatte gar nicht bemerkt, daß er angeblickt und erkannt worden war: »Was ist's? Kommen Sie um die Erbschaft? Ich bin noch nicht tot.«

»Ich komme, um Ihnen zu helfen.«

Der Pandur drehte sich ihm zu. Er lachte mit seinem brandzerfressenen Gesicht. Er rief:

»Das ist lustig. Mein kleiner Vetter kommt aus Preußen hergereist und will mir helfen. Hat Ihr Gamaschenkönig Sie denn fortgelassen?«

»Ich bin entflohen.«

»Was? Desertiert?«

»Aus dem Gefängnis entflohen.«

Der Pandur richtete sich auf, so daß sein ganzes System von Ketten ins Rasseln und Schollern geriet.

»Eingesperrt«, rief er, »dich auch! Ja, mit uns haben sie es! Warum denn nur? Aber es ist ja wahr«, schrie er dann und schlug sich klirrend mit der Faust auf das Knie, »man hat's ja erzählt, du hast seine Schwester ... Komm her, Kleiner, laß dich umarmen!«

Trenck blieb stehen, wo er war.

»Du bist zu brauchen, das seh' ich. Hast du ihn mitgebracht, deinen Bettschatz? Dann zeig ihn mir auch. Wir können uns ja zusammentun, wir drei, und ein Reich gründen irgendwo, ich und du und als unsere Mätresse die Schwester des Königs von Preußen!«

Trenck schwieg. Diesem wüsten Schwall eine ritterliche Verwahrung entgegenzustellen, wäre kindisch gewesen. Er sagte: »Herr Cousin, es ist vernünftiger, wenn wir von Ihren Angelegenheiten reden. Was vor allem die Anklage betrifft, daß Sie bei Soor den König von Preußen ...«

Er kam nicht weiter. Denn der Pandur, rasend vor Wut, war aufgesprungen, in gebückter Haltung stampfte er auf seinem Schemel umher, buchstäblich Schaum vor dem Mund, und er schrie:

»Halt's Maul, halt's Maul, halt's Maul, ich kann das nicht hören, Lumpenschwein, elendes, bist du deshalb gekommen, Hundsschuft, verdammter!«

Trenck rief mit mächtiger Stimme in das Toben hinein und warf alle Kraft auf das eine Wort »nicht«:

»Sie haben es nicht getan, nicht getan, nicht, nicht, nicht! Um das zu bezeugen, bin ich ja hier.«

Der Pandur war auf seinen Sessel zurückgefallen. Ächzend rieb er sich das linke Knie, das ihm in Böhmen von einer Kanonenkugel zerschmettert worden und noch immer nicht völlig geheilt war. Hinter Trenck öffnete sich die Tür, und im Spalt erschien das Gesicht des Korporals, der nachsehen wollte, was der Lärm bedeute. Grinsend verschwand es wieder.

Als Ruhe eingetreten war, sagte Trenck:

»Daß jenes Gerede Verleumdung ist, elende, stinkende Lüge, weiß niemand so sicher wie ich. Aber wie ist es denn möglich, daß etwas so handgreiflich Falsches geglaubt wird, wer kann dergleichen verbreitet haben?«

Da erfuhr er den Sachverhalt. Einer der Beisitzer des Gerichts hatte zur Geliebten ein Mädchen aus Preußen. Die hatte man abgerichtet, zu schwören, sie sei eine Tochter des Feldmarschalls Schwerin, und im Augenblick des Überfalls habe sie bei dem König im Bett geschlafen.

»Bei dem König geschlafen!« schrie Trenck aufgebracht dazwischen. »Im Feld! Im Lager! In der Nacht vor einem Treffen! Aber das alles ist ja viel zu dumm ...«

»Als ich es vorgestern hörte«, gab der Pandur mit angenehmer Stimme zu, ganz so, als hätte er niemals anders gesprochen, »da verlor ich leider auch die Besinnung. Ich hob den Löwenwalde von seinem Präsidentenstuhl auf und beabsichtigte, ihn zum Fenster hinauszuschmeißen. Versorgt wäre er gewesen, denn das Kriegsgericht tagt vier Treppen hoch, leider wurde ich verhindert – und genützt hat es mir auch nicht viel, wie Sie sehen.«

Und er klirrte manierlich ein wenig mit den Handschellen.

Als Trenck eine Viertelstunde später aus dem Arsenaltor in das Freie trat, war ihm taumelig zumut. Plötzlich sah er wie in einem Traumlicht seinen Vetter aus jenem böhmischen Gehölz hervorreiten, in Friedrichs gestohlenem Rock, ein Schuß knallte, Rochow fiel, und mit seiner angenehmen Stimme hörte er den Panduren sagen: »Verlassen Sie diesen König, unter seinem Adler erblüht Ihnen kein Glück!«

Er ging die Gasse hinunter. Alles erschien ihm sonderbar, was er sah, Dinge, auf die er sonst, an einem unbekümmerten Jugendtag, schwerlich geachtet haben würde.

Wien kam ihm vor wie eine Stadt der lang vergangenen, der Ritterzeit, das Straßentreiben ganz anders, als er's von Preußen her kannte, bunter und doch strenger, gebundener; alte Kleiderordnungen mußten hier noch in Kraft sein, mit einer Art von traummäßiger Umsicht nahm er wahr, daß alle Bäcker grau angezogen gingen, alle Fleischer in Rotbraun, die Schneider blau; stutzend blieb er vor alten Hausschildern stehen, die ihm unglaublich und beinahe närrisch erschienen: Zum Roten Igel hieß da ein Haus und eins Zum Küßdenpfennig, eins Wo der Wolf den Gänsen predigt und eins Wo der Hahn in den Spiegel schaut. Fremde Nationaltrachten kamen einher, polnische, ungarische, orientalische. Eine Menge hübscher Frauen waren da mit goldbestickten Hauben, die in ihrer Form beinahe griechischen Helmen glichen, aber nicht eine ging allein, ohne recht deutlich ihren Rosenkranz in der Hand zu tragen. Ja, das war eine fromme Stadt, und übel war sein verwegener Vetter daran, dem die Geistlichkeit Schuld gab, er habe auf seinen Kriegszügen mit Vorliebe die heiligen Kelche zu unanständigen Zwecken benutzt. Er sah die zahllosen Mönche und Priester. Er sah die Menge der Kirchen.

In einer engen Gasse, die er passierte, entstand plötzlich Lärm. Atemlos rennend erschienen Trabanten, barhaupt, altertümliche Hellebarden in den Händen, ein Reiter dahinter, und dann, laut rasselnd auf dem abscheulichen Pflaster, eine vierspännige Kutsche, hoch, geschlossen, oben bekrönt. Der Kaiser hieß es, der Kaiser!

Aber es war die Kaiserin. Der Zug kam zum Stehen. Unmittelbar neben Trenck rissen die gelblivrierten Bereiter ihre Pferde zurück, denn dem Gefährt entgegen wandelte im Ornat ein Priester mit dem Allerheiligsten, vor ihm ein Ministrant, das Glöcklein läutend. Eine Handbreit vor Trenck zügelte der kaiserliche Kavalier sein Pferd, Trenck sah mit flüchtigem Erstaunen seinen rot bestrumpften Fuß im Bügel, der nach der Sitte ohne Stiefel war.

Was nun geschah, schien niemand zu verwundern, nur der preußische Protestant begriff zuerst nicht. Denn augenblicklich hatte sich Maria Theresia von ihrem Sitz erhoben, sie stieg aus, sie kniete nieder vor dem Sanctum und folgte sodann, das Hoffräulein hinter sich, dem Priester zur nahen Kirche. Nach einigen Minuten kam sie zurück, versehen mit dem Segen ganz ohne Zweifel, und rasselnd und schwankend, sturmschnell ging die Fahrt wieder weiter. Die angesammelten Menschen verliefen sich, und alles war wie zuvor.

Trenck gelangte zu jener Kirche, und so, als hätte er eine weite Wanderung vollbracht, ließ er sich zur Rast auf die Stufen nieder. Er saß da in seinem Kavaliersrock und blickte über den kleinen Kirchplatz hin.

Er sah sie, hochgewachsen und frauenhaft stattlich – sie hatte ja ihrem Gemahl schon mehrere Kinder geboren. Prächtig war ihre Haltung, prächtig ihr Haupt, majestätisch zugleich und volksmäßig derb, in langen Locken wallte ihr helles Haar auf die schönen Schultern hernieder, stolz und naiv war ihr Ausdruck. Wie der Inbegriff alles Weiblichen erschien sie Trenck, stark, unangefochten, lebensvoll schritt sie an ihm vorbei zur Stätte des einfachen Glaubens, an dem sie hing mit der ungebrochenen Zuversicht eines Kindes. Sie war die junge Mutter eines Fürstenstamms, einer Stadt, eines Reiches.

Und vor Trenck stand ihr Widersacher auf, der Verschlossene, Vereinzelte, in seiner schwer deutbaren Männlichkeit, er, unbehaglich abweichend vom Gewohnten, glaubenslos, leidgezeichnet, er, der die Hand seiner Gattin nicht anrührte, das unzugängliche Gegenbild alles froh einfachen, unbekümmert glücklichen Daseins.

Er hatte Krieg geführt mit dieser jungen Monarchin, er hatte ihr brutal, fast ohne Vorwand, eine Provinz aus den mütterlichen Händen gerissen; darüber hatte Trenck, wie es einem Offizier eben zukam, niemals recht nachgedacht. Aber nun wollte ihm scheinen, als sei da mehr im Werke gewesen als nur ein Machtspiel der Politik, als sei es notwendig und selbstverständlich, daß diese Fürstin und dieser Fürst sich haßten und schlugen.

Ihm fiel ein, was er in Königsberg seinen Großvater Derschau hatte erzählen hören: wie einst, als Friedrich und Theresia noch kleine Kinder waren, der Gedanke entstanden sei, sie zu verloben. Der alte kluge Prinz Eugen war der Urheber dieses Planes gewesen, und immer und immer wieder hatte er darauf hingedeutet, auf diese Vermählung des brandenburgischen und des Erzhauses, als auf den Weg zur Befriedung der deutschen Länder und zum Segen Europas.

Dem Preußen Trenck hier auf seiner Kirchenstufe wollte es scheinen, als habe es nie auf Erden ein gleich seltsames, ein gleich phantastisches Projekt gegeben. Er sann darüber nach, aber seine Gedanken verdunkelten sich – und womit eigentlich gab er sich ab? Dieser König hatte ihn ins Gefängnis gesperrt und diese Kaiserin seinen Verwandten. Höchst wirkliche, praktische Schritte lagen vor ihm, mühsame Tätigkeit; er wollte nicht zögern, sie zu beginnen.

7

Sein Unternehmen spann ihn bald völlig ein. Es reizte seinen Ehrgeiz, gegen den Willen einer mächtigen Partei und gegen wirklich belastende Fakten die Befreiung des Panduren durchzusetzen. Es sprach mit, daß er in dieser Tätigkeit eine Art von vorläufiger Heimat fand, denn was später mit ihm geschehen sollte, das blieb finster undeutlich.

An eine Rückkehr nach Preußen war nicht zu denken. Nach Wochen des Wartens hatte ihn endlich ein Brief der Prinzessin erreicht; er nahm ihm völlig die Hoffnung. Es war ein langer, wild zärtlicher, wild desperater Brief, und er bestätigte alles, was in jener polnischen Kneipe der gute Schell so lebhaft vorausgeahnt hatte.

Daß Trenck sich jetzt, nach eben geschlossenem Frieden, sofort in die Residenz der kaiserlichen Feindin begeben hatte, »vermutlich um sich dort als ein Märtyrer feiern zu lassen und dem Panduren, mit dem er immer gezettelt, lumpenbrüderlich beizustehen«, das konnte ihm nicht verziehen werden. Auch nicht dem Namen nach wollte ihn der König zukünftig mehr kennen. Sie schrieb ihm das alles mit der Offenheit der Verzweiflung. Sie berichtete auch, und hier entsank ihm das Blatt, von der bereits erlangt gewesenen Gnade. Ach, kein Engel hatte ihm zugeflüstert, wenigstens drei Tage noch zu warten mit seiner törichten Flucht, drei Tage, die sein Schicksal zum Guten und Friedlichen gewendet haben würden. Dies war ihm nicht bestimmt. Ihm war der Kampf bestimmt, das Irren, das Abenteuer im Elend – und eine männliche Bereitschaft zum Schicksal meldete sich in seiner Brust, eine trotzige Lust am Schicksal, Geschenk seiner Jugend und seiner starken Natur.

Dies war ein Augenblick. Denn aus Worten, die alle wie Schreie klangen, vernahm er es nun, daß sie nicht hoffte, ihn jemals wiederzusehen. Ihr Leben sei zu Ende, schrieb sie, wenn sie am Morgen die Augen aufschlage, so wisse sie, daß dieser neue Tag nichts Besseres bringen könne als ihren Tod. Fünf Schuh Erde über sich, anderes sei für sie nicht zu wünschen, und mit Zufriedenheit sehe sie, daß ihr auch wirklich jeder Tag etwas von ihrer Leibeskraft nehme und vom letzten Rest dessen, was er einmal ihre Schönheit genannt habe. Ihn zu entbehren sei mehr, als sie ertragen könne, sie spüre, von Stunde zu Stunde beinahe, wie die Quellen ihres Lebens versiegten, oft sei sie zu matt und besinne sich lang, auch nur die Hand zu heben, um an ihrem Kleid eine Spange zu richten. Sie müsse eigentlich froh sein, daß Trenck ihr nun nicht mehr begegne, so häßlich sehe sie aus. Die Augen, von denen er einst gesagt habe, sie strahlten so sanft wie der nächtliche Mond, seien hart und ohne Glanz vom Weinen, auch ihre Sehkraft lasse täglich nach, und das schmerze sie wiederum nicht, denn was in aller Welt könnten sie an Schönem und Liebenswertem noch jemals widerspiegeln ...

So ging das Seite auf Seite fort, und als Trenck es zu Ende gelesen hatte, da hielt kein Trotz und kein Schicksalsmut stand, er warf sich am hellen Tag auf sein Gasthofsbett und trauerte wild und grub es sich mit sengender Schärfe ins Herz, wie er nun zu keinem Geschöpf auf Erden mehr gehöre als zu dem einen, den er immer verabscheut hatte.

Dann stand er auf und tat seinen nächsten Gang für die Rettung des Panduren.

Der hatte seinem jungen Vetter alle nützlichen Wege mit großer Umsicht vorgeschrieben. Trenck hatte lange Konferenzen mit Lopresti, der sich freundschaftlich betrug und seine eifersüchtige Anwandlung vergessen zu haben schien; mit dem Advokaten Gerhauer, einem still bedächtigen, überaus zähen Junggesellen; mit Herrn von Leber, dem Trenckischen Intendanten, welcher leidenschaftlichen Gemütes war und das Millionenvermögen des Gefangenen bereits völlig verloren sah. »80 000 Gulden sind schon draufgegangen im Prozeß«, rief er, »und das soll meinem Herrn passieren, der so genau ist, so genau« – und in der Tat war der Pandur nicht bloß genau, sondern so geizig, so krankhaft schmutzig von Charakter, daß er zum Beispiel seinen Bedienten niemals erlaubte, in ihren Kammern Licht zu brennen.

Trenck erwirkte sich Audienz bei dem Feldmarschall Cordua, bei dem Präsidenten des Hofkriegsrats, auch beim Grafen Königsegg, Gouverneur der Stadt Wien, einem sehr alten Herrn, der den schönen Menschen liebreich empfing, ihm aber an Stelle aller Ratschläge nur den einen gab, er möge der Sache seines gewalttätigen Vetters baldigst entsagen, und der ihn mit Tränen in den Augen entließ. Trenck gehorchte ihm nicht, er suchte sogar, nicht ohne Kühnheit, den Hauptfeind des Panduren auf, Löwenwalde, einen feinen, dünnen Hofmann, mit Gesichtszügen wie aus Schnüren gedreht: eine Stunde lang unterhielt der den Besucher, formvoll plaudernd mit seiner Fistelstimme, und brachte es glücklich zuwege, daß von der Sache überhaupt nicht die Rede war. Wenige Tage darauf aber fand Trenck an gebietender Stelle Gehör, bei Maria Theresias Gemahl Franz von Lothringen selbst, dem römischen Kaiser.

Für Audienzen bei Hofe war noch die alte Tracht vorgeschrieben, die aus Spanien kam: kurzer schwarzer Mantel, spitzenbesetzt, schwarzes Untergewand, rote Strümpfe und Schuhe. Allein Trencks Barschaft ging zu Rande, er war genötigt, sich sein Mantelkleid aus schwarzer Wolle anfertigen zu lassen statt aus Seide. Er war noch jung – es schmerzte ihn ein wenig.

An einem Nachmittag im Frühling betrat er die Hofburg, die mit ihren dicken, plumpen Mauern, ihren finster schmucklosen Treppen, ihren Fußböden aus gemeinem Tannenholz unfreundlich anmutete. So einfach war alles, so kalt, so mittelalterlich, als wäre es für Mönche erbaut. Im Vorzimmer des Kaisers saßen die Pagen auf Holzbänken.

Kaiser Franz empfing ihn bedeckten Hauptes, neben einem Thronsessel stehend, sich zu Häupten einen Baldachin. Trenck vollführte den dreimaligen Kniefall, küßte die dargebotene Hand und zog sich in angemessene Entfernung zurück. Wie erstaunte er aber, als nach diesem feierlichen Anfang Franz von Lothringen seinen Standort verließ und kreuz und quer durchs Zimmer zu wandern begann, etwas krummrückig und dick, wie er war, sein rotes, volles, fast viereckiges Gesicht in freundlich grimassierender Bewegung. Auf seiner Brust tanzte die goldene Kette mit dem Vlies fortwährend auf und ab.

Die Audienz bestand im wesentlichen darin, daß der Kaiser sprach, und zwar in einem geläufig ungezwungenen, nicht sehr eleganten Französisch. Er verstand wenig Deutsch, dennoch hatte sein Tonfall etwas Wienerisches angenommen.

»Sie kommen aus Preußen«, fing er an, »ich weiß schon, ich weiß schon. Ja, ihr habt uns mitgespielt! Ich war selber auch einmal in Preußen, das ist jetzt fünfzehn Jahre her, da war der König noch Kronprinz, einmal hat er mir einen Rheinlachs als Geschenk geschickt. Damals hätte man sich nichts träumen lassen. Ein gewaltiger Herr ist das geworden, und den soll also der Trenck im Bett gefangen haben, aber es ist nicht wahr, ich weiß es schon, und darum sind Sie hier. Ja, der Löwenwalde, das ist ein Scharfer! Aber schließlich denke ich doch, der Pandur hat sich verdient gemacht und ist ein wichtiger Kriegsmann, und wenn alles so ist, wie Sie's dem Cordua und dem Königsegg erzählt haben ...«

Er hielt inne, blickte Trenck mit einem ungemein sympathischen, fast herzlichen Lächeln an und forderte ihn auf, nochmals zu berichten. Wie manche Leute tun, öffnete er den Mund, um zu hören, er klimperte mit der Kette vor seiner Brust und nickte in rascher Folge öfters mit seinem schweren Haupt zu Trencks Erzählung.

Trenck sprach knapp, einfach, überzeugend, denn in diesem Vortrag hatte er nachgerade Meisterschaft erlangt, und das Ende war, daß Franz von Lothringen verhieß, er werde diese Umstände der Kaiserin vortragen, und er hoffe das Beste.

Und dann geschah das Überraschende, daß sich der Kaiser, seines Zeremoniells plötzlich aufs neue gedenkend, unter den Thronhimmel zurückbegab, sich dort statuarisch postierte und abermals seine Hand zum Kusse hinbot. Und nach dreimal vollführter spanischer Kniebeuge stand Trenck wieder draußen im Vorsaal zwischen den Holzbänken.

Voll freudiger Ungeduld eilte er ins Arsenal.

Auf Befehl des Gouverneurs von Wien, durch Trencks Verdienst also, waren dem Panduren ein paar Tage zuvor die Fußfesseln abgenommen worden. Nun hinkte er mit seinem schlechtgeheilten Knie durch die Haftstube, die aneinandergeschlossenen Hände vor sich her tragend.

Als ihm Trenck, noch atemlos, den Verlauf seiner Audienz berichtete, zeigte er keine Spur von Freude. Er sagte: »Abwarten, dem lothringischen Fuchs muß man wenig glauben«, und er sandte auf seinen jungen Vetter einen Blick, in dem eher Haß als eine lichtere Empfindung zu glimmen schien.

Am anderen Morgen in aller Frühe kratzte es an Trencks Tür im Weißen Schwan, und herein traten zwei Leute in kaiserlicher Livree. Sie machten ihr Kompliment, stellten sich als Lakaien des Oberhofmeisters und des Oberkammerherrn vor und erinnerten an das Trinkgeld, das ihnen am Tage nach einer Audienz von Rechts wegen gebühre. Als sich Trenck verwunderte, wurden sie beinahe frech und erklärten, das sei Sitte in Wien seit den Tagen des Kaisers Maximilian, in einem Ton, der seine Unkenntnis als einen groben Bildungsschnitzer brandmarkte.

Aber Trenck hatte kein Geld mehr. In seiner Tasche fanden sich zwanzig Kreuzer.

»Ihr müßt morgen wiederkommen«, sagte er, »heute habe ich nichts.« Er war jung – er litt in dieser Minute unter den Blicken der betreßten Lümmel.

Er bat im Gefängnis seinen Vetter um Geld.

»Ich kann ja nicht in meinen Hosensack langen«, sagte der Pandur häßlich lachend und wies ihm seine gefesselten Hände.

Trenck blieb höflich. Es handle sich auch nicht, erwiderte er, um einen geringen Betrag, wie man ihn in der Tasche bei sich führe, er ersuche vielmehr um hundert Dukaten, damit er anständig noch einige Wochen in Wien leben und seine Aktion bei den Behörden ungehindert vollends durchführen könne.

»Ich dachte mir's doch«, antwortete der Pandur, »man will seinen Lohn einkassieren! Aber noch bin ich nicht frei. Und wenn ich erst frei bin, dann werde ich mir's auch noch gut überlegen. Sie kommen schon nicht um in Wien, mein Herr Vetter.«

Trenck blickte ihn an. Nicht Geiz allein malte sich in diesem Gesicht. Er sah mehr. Er sah höhnische Sicherheit, die das günstige Ende schon zu halten glaubt und keine Rücksicht mehr notwendig findet. Er sah bösartigen Hochmut, den es wurmt und giftet, Dank schuldig zu sein. Er sah Tücke. Ein Schauer des Widerwillens schüttelte ihm das Herz. Er ging ohne Gruß.

Das Nötige gewährte ihm am nächsten Abend Lopresti. Von ihm erfuhr er auch, daß seine Audienz bereits Frucht getragen habe: Maria Theresia hatte dem Panduren nahelegen lassen, er solle um Gnade bitten, sein ganzer Prozeß sollte dann niedergeschlagen sein, er würde sofort seine Freiheit wiederhaben und keinen Gulden verlieren.

»Und jetzt will er nicht, stellen Sie sich das vor«, rief Lopresti mit Empörung. »Er will nicht bitten! Er trotzt auf sein Recht. Er spielt den gewaltigen Mann.«

»Dann ist er verloren«, sagte Trenck, »weiter gehen sie nicht.«

»Reden doch Sie ihm verständig zu, Baron. Auf Sie wird er hören.«

»Mich sieht er nicht mehr.«

Er ging, und aus Vergeßlichkeit nahm er einen dicken Stoß Prozeßakten wieder mit, die er eigentlich bei Lopresti hatte abliefern wollen.

Das Haus lag an der Freiung. Es war schon Nacht, als er es verließ. Er wandte sich gegen den weiten Platz, der Am Hof genannt wird.

Das Wetter war regnerisch, stille Karzeit herrschte, und so bewegte sich zu der vorgerückten Stunde kaum ein Mensch mehr durch Wien. Er aber wurde verfolgt. Zwei Leute in hochgeschlossenen Röcken gingen hinter ihm her und überholten ihn jetzt.

Sie sprachen laut, es war von hergelaufenen Protestanten die Rede, von preußischem Hungergesindel, und schließlich fiel auch Trencks Name. Einer von den beiden blieb stehen, wartete und rempelte ihn an. Er stieß kräftig zurück, und jener flog seitwärts. Aber im gleichen Augenblick empfing Trenck einen Degenstoß auf die linke Seite der Brust.

Durch eine Fügung blieb er unverletzt. An dieser Stelle trug er die Prozeßakten seines Vetters. Nicht einmal die Haut war ihm durchstochen. Das Ganze spielte sich mitten auf dem Platz ab, unmittelbar vor der Mariensäule mit ihrem Ewigen Licht.

Trenck sprang zurück, und er zog. Der erste der Meuchler hatte bereits den Mut verloren, in großen Sätzen sah Trenck ihn davonlaufen, nach dem Judenplatz zu. Auch der andere verteidigte sich schlecht, fast augenblicklich war er an der rechten Schulter verwundet, das Eisen entfiel ihm, und er sank nieder an der Einfassung des Monuments.

Trenck setzte ihm die Spitze seines Degens aufs Herz. »Antworte mir«, sagte er, »wo nicht« – und er lehnte sich ein wenig auf seine Waffe. »Seid ihr Straßenräuber?«

»Nein.«

»Was denn?«

»Offiziere.«

»Wer hat euch gedungen?«

Keine Antwort. Ein Druck auf den Degenkorb.

Ein Schrei.

»Wer hat euch gedungen?«

»Der Oberst Trenck.«

Er verlor das Bewußtsein. Trenck wollte gehen.

Nach einigen Schritten kehrte er um, beugte sich zu dem Hingesunkenen und zog ihm Rock und Hemd von der Wunde.

Sie war nur im Fleisch, Trenck sah es beim roten Schein der Ewigen Lampe. Er ließ ihn liegen und ging.

Er reiste mit dem frühesten Morgen. Er wandte sich nach Rußland.

8

»Ich sehe Ihr Haus nun zum drittenmal, lieber Bruder, und jedesmal muß ich denken, daß dies nun wirklich ein Ort sorglosen Friedens ist. Ich glaube, Sie haben seinen Namen gut gewählt.«

»Der Name, Amélie, ist keine Behauptung, der Name ist ein Traum und ein Seufzer. «

»Warum, Frédéric? Sie dürfen sich glücklich nennen. Gesichert stehen Sie da in der Welt, Sie sind noch jung, Sie haben, Sie für Ihre Person ganz allein, unserem Hause mehr Geltung verschafft als alle unsere Vorfahren zusammengenommen. Sie beherbergen, mein Bruder, in dieser Villa den Gast, nach dessen Umgang es Sie immer am meisten verlangt hat ... «

»Ja«, sagte er mit einem unbestimmten Lächeln, »den beherberge ich.«

Sie blickte ihn an. »Er kann Sie nicht enttäuscht haben, Frédéric! Auch ich habe in Berlin das Glück gehabt, seine Unterhaltung mehrmals zu genießen und ...«

»Er ist der geistreichste aller Menschen, Amélie, gleich groß als Dichter wie als Philosoph, es hat seit Cicero keinen Mann gegeben, dem so wie ihm das Ohr der Völker gelauscht hat. Aber du, meine Schwester, hast freilich noch besonderen Grund, ihn zu lieben. «

»Oh, ich glaube, ganz kühl zu urteilen. «

»So kühl eine Dame urteilen kann, die vom ersten Geist ihrer Zeit als Venus besungen worden ist.«

»Eine etwas gebrechliche Venus, Frédéric, geben Sie es zu. Die griechische besaß robusteren Reiz.«

Hierauf ging er nicht ein, und sie beeilte sich, abzulenken. »Übrigens haben Sie auch selbst schon strahlender ausgesehen«, sagte sie und nahm ihr Lorgnon vor die kurzsichtigen Augen.

Sie sprach die Wahrheit. Schmalzügig und gelb saß er da, nachlässiger in der Haltung, als man es von einem Kriegsmann in der Blüte des Lebens hätte erwarten sollen. Er zuckte die Achseln.

»Mein Gott, Amélie, man tut am besten, jedes neue Jahr als ein Geschenk freudig zu begrüßen. Als Kronprinz habe ich nie recht geglaubt, daß ich unseren Vater überleben würde. «

»Nun, wer so denkt, erreicht bekanntlich das biblische Alter.«

»Es soll Ausnahmen geben. Seit diesem Schlaganfall im vorigen Jahr ...«

»Aber Frédéric, verzeihen Sie, ein Schlaganfall in der Mitte der Dreißig!«

»Oh, es war ein ganz unzweifelhafter Schlaganfall. Die ganze rechte Seite war gelähmt. Ich hielt an der letzten Station vor dem Styx, und ich hörte den Cerberus bellen ...«

Seit achtzehn Monaten war die Prinzessin nicht hier bei dem Bruder gewesen. Keine andere Dame kam sonst je hierher. Auf offiziellem, auf förmlichem Wege hatte die Königin mehrmals um diese Gunst ersuchen lassen, ihr war mit Schweigen geantwortet worden. Sanssouci war ein Junggesellenheim, einstöckig, mit acht, neun Zimmern und kargen Gelassen für den Dienst; mit vollem Bedacht war die Villa so angelegt worden.

Man befand sich im letzten Gemach der kleinen Wohnung, in der runden, mit Zedernholz getäfelten Bibliothek, wo von hohen Konsolen die Brustbilder der Weisen grüßten und aus den Schränken die Klassiker der Geschichte und der Dichtung. Es waren genau dieselben Bände, die auch unten im Stadtschloß und drüben in Charlottenburg bereitstanden, denn Friedrichs literarischer Geschmack war aufs strengste fixiert. Kein deutsches Wort fand sich zwischen all den roten Maroquindeckeln. Das Deutsche galt dem König als eine kaum erst geformte Sprache, geistigen Aufgaben noch durchaus nicht gewachsen.

Er saß auf einem der niedrigen Taburetts, vorgebeugt, die verschränkten Arme bequem auf den Knien; er trug seinen gewöhnlichen blauen Uniformrock, an dem kaum mehr ein wenig Stickerei zu sehen war, und keine Schuhe, sondern hohe, grobe Stiefel. Amalie war in apfelgrünem Samt und schwarzem, dreieckigem Hütchen, neben ihr lehnte ein Stock mit einer Jaspisbrücke. Sie hatte den Ehrenplatz des kleinen Raumes inne, jene in die Nische eingelassene Seidenbank, von der aus der Blick durch das östliche Fenster hinausgeht auf die Figur der ruhenden Flora, die von Amor liebkost wird. Die Terrasse draußen lag in wohligem Licht, es war ein Septembernachmittag.

Ganz leise wurde an der Tür gekratzt, und es erschien, Schriftstücke in der Hand, ein ältlicher Herr, mit stiller Eleganz gekleidet, weniger ein Sekretär dem Äußeren nach als ein sehr ausgelöschter Hofmann. Es war Eichel.

»Die russische Post, Euer Majestät, dechiffriert.«

Friedrich streckte die Hand aus, nahm die Papiere und ließ den Kabinettsrat wieder gehen, ohne ein Wort. Freundlichkeit gegen Untergebene war nicht die Regel bei ihm.

»In diesen russischen Briefen«, sagte er zu Amalie, »steht immer irgend etwas Sonderbares. Goltz ist zwar ein miserabler Beobachter, er ist überhaupt ein Esel, und der Himmel weiß, wie lange ich mit so einem Gesandten dort noch auskomme. Aber sogar er weiß unglaubliche Geschichten vom dortigen Hof zu berichten.«

»Der junge Peter vermutlich?«

Er nickte. »Ich beglückwünsche mich, daß ich keine von meinen Schwestern diesem Besessenen zur Frau gegeben habe.«

»Ja, die kleine Sophie ist nicht zu beneiden.«

»Sophie? Die heißt schon lange nicht mehr Sophie, meine Liebe. Katharina Alexejewna heißt sie, und sie ist eine perfekte Griechisch-Orthodoxe geworden und spricht wunderbar Russisch, soviel wenigstens Goltz behauptet. Aber ihr Peter führt sich auf wie ein alberner Schuljunge.«

»So sieht er auch aus. Sein Bild erinnert mich ganz an jenen Adolf ...«

»Und so etwas steigt auf den Thron! Eine angenehme Rasse wird sich bald auf diesen Polsterstühlen breit machen. Man kann neugierig sein, wie lange sich die Menschen das noch gefallen lassen.«

»Nichts ist ganz schlecht, Frédéric. Einen Vorzug wenigstens scheint auch dieser Peter zu besitzen: er betet Sie an.«

»Auf seine Weise. In seinen Stuben hat er lange Tische mit Spielsoldaten stehen, die alle preußische Uniform tragen, und wenn er bei Nacht nicht schlafen kann, dann muß die arme kleine Katharina aufstehen und mit ihm spielen. «

»Reizend!«

»Einmal bei solch einer Gelegenheit hängte da am Plafond seines Zimmers eine tote Ratte, und der Herr Thronfolger erklärt, die sei standrechtlich erschossen worden, weil sie zwei Pappsoldaten aufgefressen hat. «

Die Prinzessin lachte. Aber beim Lachen, so gebrechlich war sie jetzt, zitterte sie mit dem Kopf wie eine alte Frau.

»Immer betrunken ist er auch, laut und unanständig, dazu ein unerträglicher Schwätzer. ›Mein Mann ist diskret wie ein Kanonenschuß‹, soll die junge Frau gesagt haben. Er ist von so gemeiner Gemütsart, daß er sogar seine Hunde blutig schlägt.«

Amalie lächelte nur noch, als sie diese letzte und höchste Formel der Verachtung vernahm. Sie kannte ihres Bruders fanatische Vorliebe für diese Geschöpfe. Er verhielt sich weit milder und nachsichtiger gegen seine Windspiele als gegen die Wesen seiner eigenen Gattung.

»Mit einem Wort, Frédéric«, sagte sie in etwas hinterhältigem Ton, »es ist immer noch ein verhältnismäßig angenehmes Geschick, Äbtissin von Quedlinburg zu sein.«

»Bist du nicht zufrieden? Dir fehlt etwas? Reicht wieder das Geld nicht?«

Sie schüttelte den Kopf, sie schwieg, und er fragte nicht weiter.

»Du erlaubst«, sagte er nun, »es stehen in diesen Berichten doch manchmal auch wesentlichere Dinge als über tote Ratten.« Und er begann zu lesen.

Amalie saß und betrachtete ihn aus ihren allzu großen, gewölbten Augen. Es war totenstill in dem kleinen Raum, nur hie und da, beim Umblättern, raschelten die Kanzleibogen. Plötzlich sah sie etwas Erschreckendes. In einer Sekunde nämlich hatte sich das gelbe Gesicht des Königs über und über purpurn gefärbt, krampfhaft fuhr er sich mit der linken Hand nach dem Hals. ›Der Schlaganfall!‹ mußte sie denken und wollte schon auf ihn zu. Aber er gebot ihr mit einer zornigen Geste Einhalt und zwang sich weiterzulesen, wobei seine Lippen sich in verächtlicher und böser Weise bewegten.

»Das ist entzückend«, sagte er endlich, stand auf und warf die Blätter achtlos auf den Schemel, so daß sie auseinanderfielen und mehrere von ihnen weithin über den Fußboden glitten. »Es trifft sich gut, daß ich gerade heute die Ehre deines Besuchs habe. Denn gewiß wird es dich unterhalten, zu hören, wie deine Freunde sich in auswärtigen Staaten benehmen.«

»Meine Freunde?« sagte Amalie leise, und schon standen ihre Augen voll Tränen. Ihr war wohlbekannt, daß Trenck sich in Moskau aufhielt.

»Dein Freund. Im Bett politischer Megären scheint er sich besonders wohl zu fühlen.«

Seine Züge waren entstellt von Haß. »Sie meinen die Kaiserin?« fragte sie ohne Ton.

»Ach nein, nicht die Kaiserin«, rief er mit einem unschönen Lachen, »soweit hat er's noch nicht gebracht. Verwundern dürfte einen ja auch das nicht bei den liederlichen Gewohnheiten dieser fetten Peterstochter und bei seiner eigenen Vergangenheit. Er weicht bekanntlich vor fürstlichem Blut nicht schüchtern zurück.«

»Sie wünschen gewiß, mein Bruder, daß ich mich entferne.«

»Ah, du willst die Prüde spielen? Laß das! Die Jahre der jungfräulichen Scham liegen nachgerade hinter dir. Übrigens ist auch von deiner Person die Rede in diesem Bericht des törichten Goltz.«

»Von mir?«

»Dein Herr Geliebter scheint die Gewohnheit angenommen zu haben, dein Medaillon in der moskowitischen Gesellschaft herumzuzeigen.«

»Das ist nicht wahr!«

»Hat er kein Medaillon von dir?«

»Er ist ein Edelmann.«

»Ein Edelmann? Er ist der Liebhaber der Kanzlerin Bestuschew, meiner ärgsten Feindin dort, der Seele aller russischen Intrigen gegen Preußen.«

»Er ist jung und anziehend«, sagte sie mit zuckendem Mund.

»Dafür ist sie alt und schauderhaft. Aber reich, reich und hat die besten Stellen in Rußland zu vergeben!«

»Es ist nicht edel von Ihnen, Frédéric, einen Abwesenden, der sich nicht entlasten kann, so zu beschimpfen.«

»Oh, ich erhebe in diesem Fall durchaus keinen Anspruch darauf, edel zu sein. Ich ersehne die Gelegenheit, meine liebe Schwester, mich an diesem Trenck außerordentlich unedel zu erweisen.«

»Aber mein Gott, Frédéric, bedenken Sie doch: wer sind Sie und wer ist er!«

»Oh, immerhin mein Schwager gewissermaßen.«

Sie rang die Hände. Er sah, daß sie am ganzen Leibe zitterte. Aber sein Zorn, aus gefährlichen Tiefen stammend, war durch kein Mitgefühl einzudämmen. Er nahm, aufs Geratewohl, einige von den Kanzleiblättern auf. Schlagartig warf er ihr die Sätze ins Gesicht.

»Zum Krönungstag der Zarin hat er eine Ode gemacht. Er schämt sich nicht, diese stumpfsinnige, fette Hure anzudichten. Schöne Verse werden das gewesen sein! Aber er hat einen goldenen Degen von ihr gekriegt.«

»Frédéric – in Preußen darf er nicht mehr sein. Warum sollte er nicht an fremden Höfen sein Glück suchen?«

»Überall tritt er auf als der Millionenerbe seines Cousins, des Panduren, des Mordbrenners.«

»Das kann Verleumdung sein.«

»Natürlich!«

»Und übrigens setzt man sich in so barbarischen Verhältnissen nur mit einem großartigen Auftreten durch.«

»Oh, keine Allgemeinheiten, wenn ich bitten darf, keine Völkerkunde! In der Kanzlei meines Feindes Bestuschew geht er ein und aus, ein Posten dort steht ihm in Aussicht.«

»Frédéric, es ehrt ihn, wenn der erste Beamte eines großen Reiches ...«

»Weißt du, wer dieser Bestuschew ist? Ein käufliches, bösartiges Stück Vieh, zu schwachköpfig dabei, um auch nur eine Poststation zu leiten.«

»Sie können daraus ihm keinen Vorwurf machen.«

»Du findest das wohl reinlich: dem Kanzler dienen und der Kanzlerin ...«

»Er wird sie lieben«, sagte sie sanft, ohne Ton in der Stimme.

»Ja, lieben wird er sie mit ihren vierzig Jahren und ihrer Pockenhaut. Er wird auf ihren Kissen mehr daran denken, mich zu verraten, als ... Die fremden Gesandten sind sein täglicher Umgang, und eben die, die es so außerordentlich redlich mit Preußen meinen! Bei Bernes, der die Wiener Betschwester vertritt, speist er alle paar Tage zu Abend. Mit dem Sachsen Funk hat er die Schweine gehütet. Er wird weiß Gott wie hoch steigen in diesem asiatischen Narrenstaat.«

»So lassen Sie ihn doch, Frédéric, lassen Sie ihn doch steigen! Er ist fern, jedermann hat resigniert (sie sagte ›jedermann‹, nicht ›ich‹, und das war rührend, aber Friedrich war nicht in der Laune, sich rühren zu lassen) und schließlich – was hat er Ihnen denn zugefügt?«

»Ich, ich werde ihm etwas zufügen, meine teure Schwester. Ich gestehe dir offen, es liegt nicht an mir, es liegt an meinem untauglichen Werkzeug, wenn das bis heute nicht geschehen ist.«

»Ich verstehe Sie nicht.«

»Goltz ist zu dumm«, versetzte er laut und scharf. »Er hat ausdrücklichen Befehl, zu verhindern, daß dieser Mensch in Rußland sein Glück macht.«

»Frédéric«, sagte sie flehend, »Sie, der Sie königlich die Gerechtigkeit erstreben, Sie sollten nicht einen Geschlagenen und Vertriebenen auf solche Art verfolgen.«

»Ich soll wohl noch Elegien dichten auf ihn? Amélie, ich sage dir, er als der erste hat mich bedauern lehren, daß die souveräne Gewalt eines Fürsten an den Grenzen seines Landes endet.«

Eine winzige Standuhr schlug vom Kamin her fünfmal. Im gleichen Augenblick erschien der Kammerhusar und meldete, daß Herr von Voltaire sich für den Gang im Garten zur Verfügung halte.

»Ich dachte, Amélie, du werdest ihn gerne sehen«, sagte der König im Ton einer Liebenswürdigkeit, zu der er sich nicht ganz leicht zurückfand. »Draußen ist es noch schön um diese Stunde. Aber nimm jedenfalls deine Contouche um!«

Sie blickte ihn an. Genau dieselben Worte hatte er zu ihr gesprochen, als er sie an jenem Nachmittag in Monbijou zum Spaziergang im Park befahl. Da sie eine Frau war, erinnerte sie sich sogleich mit ungemeiner Deutlichkeit an Schnitt und Farbe des Kleidungsstücks, das sie damals getragen hatte.

Der Husar brachte die Contouche, auf einen Wink legte er sie über ein Taburett. Die Prinzessin sah ihren Mantel an. Er war weniger elegant als der von damals, er war gleichgültiger ausgewählt.

»Müssen wir nicht gehen?« sagte sie und griff nach ihrem Stock, um sich in die Höhe zu stützen.

»Er soll nur ein wenig warten. Erziehung kann ihm nicht schaden. «

»Erziehung, Frédéric, für Voltaire? Sie denken nicht mehr so über ihn wie ehedem?«

»Ich vergesse nicht, wer er ist, liebe Schwester. Ein unvergleichlicher Kopf. Niemals vor ihm hat ein Autor diesen feinen Takt gehabt, diesen sicheren, erlesenen Geschmack. Er wäre vollkommen, Amélie, wenn er kein Mensch wäre.«

»Er hat Sie enttäuscht!«

»Er ist ein Unruhestifter, ein Mann der Konflikte, nun, das kommt vom lebendigeren Umlauf seines Blutes, es sei ihm verziehen. Aber er ist von so schmählicher Habsucht. Du erinnerst dich an die Aufführung von ›Caesars Tod‹, Amélie, die wir im vorigen Jahr gehabt haben?«

»Es war wundervoll, er selber hinreißend in der Rolle des Cicero. Nur ein wenig zu viel Brillanten trug er auf seinem Rock.«

»Nun, die gehörten ihm nicht. Er hatte sie sich von einem Wechsler namens Herschel entliehen, und mit diesem Herschel hat er in der Folge dann Geldgeschäfte gemacht, die ihn abscheulich kompromittieren. «

»Ich erinnere mich. Sogar in der Zeitung ist davon die Rede gewesen. «

»Es ist, um melancholisch zu werden! Der schönste Geist, den das Jahrhundert hervorgebracht hat, und ein so unsauberes Gefäß.«

»Ich glaube, mein Bruder, Sie sehen da eine Ausnahme, wo eine Regel ist.«

»Wie meinst du das?«

»Könnte man die großen Männer nachprüfen, so würde man überall solche Widersprüche entdecken. Cicero, den Sie stets mit Auszeichnung nennen, soll krankhaft eitel gewesen sein, aus der Jugendzeit des Prinzen Eugen habe ich Dinge gelesen, die ich nicht wiederholen kann, und ...« Sie stockte.

»Und?« sagte Friedrich, der wohl fühlte, dies sei eine unbeträchtliche Einleitung gewesen.

»Ich darf Sie an den Lauf unseres Gesprächs erinnern.«

»Wieso?«

»Ah, Frédéric, Gerechtigkeit ist der Polarstern aller Ihrer Gedanken. Und haben Sie nicht dennoch die Absicht geäußert ...«

Er unterbrach sie mit einer Geste. Doch zornig war er nicht, er lächelte sogar.

»Komm nun, du kluge Schwester«, sagte er, »länger wollen wir ihn doch nicht warten lassen. Er ist ein geiziger Skandalmacher, aber er hat Werke geschaffen, die länger stehen bleiben werden als die Pyramiden und als Sankt Peter in Rom.«

»Und sagen Sie solche Dinge auch ihm selbst?«

»Ich sage ihm dies und sage ihm das andere. Ein Vorrecht will man doch von seiner königlichen Geburt haben: Freimut.«

Sie verließen den Raum durch die Galerie, die hinter der Wohnung des Königs entlanglief, sie betraten die Zimmerflucht erst wieder im mittleren, gekuppelten Saal, und hier fanden sie den Schriftsteller, wie er unter der Gartentür sich wartend bereithielt zum Spaziergang.

9

Klein, schmächtig und zart, gegen die Männersitte der Zeit in einen Mantel gehüllt, stand er dort, in der Hand einen Muff, eine schwarze Samtmütze über der kunstvoll gelegten Perücke. Das Gesicht war bedeutend, die schöne Stirn schien vom Geist, die heftig gebuckelte Nase vom Willen geformt, die nachtdunklen Augen strahlten und herrschten, vieldeutig, anziehend zugleich und beunruhigend krümmten sich die Lippen des großer Mundes. Er nahm seine Kopfbedeckung ab und verneigte sich. Es war nur Höflichkeit und Freundlichkeit in seiner Haltung, keinerlei Devotion. Er kannte seinen Rang.

»Mein Gott, Voltaire«, sagte Friedrich – er hatte die gerade bei ihm verwunderliche Gewohnheit, den höchsten Namen sehr häufig als Redensart im Munde zu führen – »mein Gott, Voltaire, Sie sind ausgerüstet wie zu einer Expedition nach Sibirien. Und die Sonne scheint doch so prächtig in unseren Garten.«

»Majestät – Hoheit, ich bin mein Leben lang schrecklich verfroren gewesen. Als ich ein Knabe war, mußten wir in der Freistunde stets auf den Schulhof hinunter, außer wenn in der Kapelle das Weihwasser gefroren war. Nun, ich versäumte niemals, heimlich Eis in den Kessel zu legen.«

»Sie scheinen schon damals nicht den wahren Respekt vor den göttlichen Dingen gehabt zu haben«, sagte Friedrich. »Warum haben Sie übrigens heute nicht mit mir gegessen? Sie waren gebeten.«

»Seien Sie mir nicht böse, Majestät, mittags sind mir immer zu viel Prinzen und Generale bei Tisch. Da fühlt sich der Zivilist und der Bürger nicht wohl.«

Friedrich lachte. »Nun, ich hoffe, es vertreibt Ihnen nicht den Schlaf, daß in Ihrem Zimmer vor Ihnen der Marschall von Sachsen gewohnt hat!«

»Herr von Voltaire wird sich unter lauter Soldaten ganz einfach langweilen«, sagte Amalie, »er kann Kriegstaten und Gespräche darüber unmöglich schätzen. «

»Wenn es das ist, Amélie, so muß ich schweigen. Was sind Taten! Taten vergehen, Werke bleiben. Auch ich möchte lieber ›Caesars Tod‹ geschrieben haben als, wie Caesar, Gallien erobert.«

»Was nicht ausschließt«, sagte Voltaire, »daß kein Vers davon hätte entstehen können, wenn nicht Caesar zuvor Gallien römisch gemacht hätte.«

»Aber ›Caesars Tod‹ und Ihre anderen Werke werden noch geliebt, gelesen und aufgeführt werden, wenn es dereinst kein Frankreich und kein Preußen mehr gibt. Man wird nicht mehr Französisch sprechen, und diese Dichtungen werden noch in die Sprache übersetzt werden, die der französischen folgt. «

Voltaire nahm das in guter Haltung auf. Er dankte nicht, er wehrte nicht ab, er sagte auch nichts, was zu ferneren Lobreden hätte anreizen können, ihm schien das Vernommene einfach die Wahrheit zu sein, die jedermann aussprechen, jedermann anhören darf. Langsam spazierten sie auf der Terrasse hin und wieder, die sich breit vor der gelben Villa erstreckte, Friedrich in der Mitte, die Prinzessin an ihrem Jaspisstock zu seiner Rechten. Es war ländlich still, rauschend und grün dehnte sich unter ihnen der Park bis gegen die Havel. Weithin war keine Seele zu spüren. Eines der Windspiele hatte sich zu der Gruppe gefunden, ein höchst zierliches, champagnerfarbenes Geschöpf, manierlich und ruhig wandelte es mit den dreien auf dem Sandweg auf und ab.

»Einen Umstand jedenfalls weiß ich«, sagte Amalie, »den der Dichterruhm vor dem Kriegsruhm voraus hat. Um jenen zu erwerben, wird ein wenig Tinte verspritzt, aber für diesen Tonnen von Blut.«

Friedrich sah seine Schwester von der Seite her an. »Da bist du weichherziger, als man es sonst von den Damen unseres Hauses gewohnt war. Wenn nur ihren Gatten und Brüdern nichts geschah, so war ihnen das Blutvergießen stets gleichgültig. Ich aber gebe dir recht.«

»Sie geben der Prinzessin recht, Majestät, nachdem Sie Schlesien endgültig gewonnen haben.«

»Endgültig? Hoffen wir es! Jedenfalls, Voltaire, gehen Sie hier mit einem Manne spazieren, der entschlossen ist, freiwillig keine Katze mehr anzugreifen. Der Ruhm des Soldaten macht sich aus der Ferne recht schön, aber durch wieviel Jammer und Elend wird er erworben, in Not und Mühsal, in Hitze und Kälte, in Hunger, Schmutz und zerrissenen Stiefeln. Ein empfindender Mensch, der das einmal mitgemacht hat, urteilt ein wenig anders darüber.«

»Und das Seltsame bleibt, mein König, daß die Völker immer nur ihre Kriegshelden im Gedächtnis behalten, nie aber die milden Fürsten, die ihnen in Frieden Gutes erwiesen haben.«

»Die Kriegshelden, Voltaire! Warum nicht auch die Straßenräuber? Wo ist der Unterschied? Mut und List beweisen sie beide. Nur ist der Eroberer ein vornehmer Räuber mit einem tönenden Namen, und der andere ist ein unbekannter Räuber und arm. Lorbeerzweige für den einen, der Strick für den andern, ist es eigentlich gerecht?«

»Dergleichen, lieber Bruder, hätte Ihnen gewiß niemand sagen dürfen, als Sie gleich nach Ihrem Regierungsantritt auszogen, um die neue Provinz zu erobern.« Er lächelte, und er antwortete nicht.

»Nun, es war immerhin nicht die erste Tat des Königs«, erwiderte Voltaire an seiner Statt.

»Es war vielleicht doch meine erste.«

»Wie denn, Majestät – und die Aufhebung der Tortur? Das Gesetz, das Ihre Bauern von der Jagdplage erlöste? Das Edikt über die Freiheit der Presse? Die Heimrufung vertriebener Denker? Das alles sind Taten aus Ihren ersten Stunden als König.«

»Ja, aber waren es meine Taten?«

»Sie sind in diesem Lande der absolute Fürst.« Amalie sagte still: »Ich glaube zu verstehen, was der König andeutet. Ihnen weist er das Verdienst zu, Herr von Voltaire. Im Geiste des Mannes, den er ehrt, hat mein Bruder jene großen Schritte getan.«

»Das wollte ich vielleicht andeuten, Amélie – obschon es mir ungewohnt ist, daß ein anderer für mich eintritt und spricht. Ich bin nicht Moses, der einen Aaron nötig hat.«

Voltaire erhob rasch seine Stimme. »Eines ist gewiß: der Federstrich, der die Folter in Preußen verbot, wiegt an Wert das Werk von hundert Dichtern und Philosophen auf. Das Leiden in der Welt zu vermindern – darauf kommt es an.«

»Die Folter ist ein schändlicher Brauch«, sagte Friedrich, »schändlich und dumm. Ich liebe das langweilige England nicht, aber wenn ich bedenke, daß dort schon seit hundert Jahren kein Mensch mehr unter Qualen inquiriert wird, dann wünschte ich es zu lieben. Aus Körperqual wird das Recht nicht geboren. Oh, das Recht, das Recht – unabsehbares Feld, unendliche Aufgabe!«

»Eure Majestät sind noch jung«, sagte Voltaire mit echter Wärme in seiner Stimme. »Es wird viel getan werden in Ihrer Regierungszeit. «

»Es soll viel getan werden, das ist mein Wille. Ich danke meinem Schicksal, daß es mir Cocceji gegeben hat. Er ist ein höchst redlicher und reiner Mann, klug, gelehrt und ein Menschenfreund, ein zweiter Tribonian. Aber er ist nahe an Siebzig. Man müßte Mittel finden, um die Tage eines solchen Mannes über das gemeine Maß zu verlängern – damit Gerechtigkeit werde!«

Sie waren alle bewegt. Amalie erinnerte sich jetzt nicht mehr an das Gespräch in der Bibliothek, sie vergaß auch die Rüge, auf die hin sie verstummt war. Sie sagte:

»Ich muß an einen Einfall unseres verstorbenen Vaters denken, Frédéric. Du weißt, seine Einfälle waren manchmal höchst seltsam. Ulrike und ich – wir waren beide noch kleine Mädchen, da nahm er uns eines Tages mit in das Kammergericht. Es wurde gerade keine Sitzung gehalten, der Saal war leer, aber der Vater wollte uns auch nur ein Gemälde zeigen, das dort hing. Ein Holländer hatte es gemalt. Es war ein furchtbares Bild. Es zeigte den König Kambyses, wie er eben einen ungerechten Richter gestraft hat, er hat ihn nämlich lebendig schinden lassen, und nun wird die abgezogene Haut über den Richterstuhl gespannt, und der Sohn des Bösen muß darauf niedersitzen und hier nun Recht sprechen. Wir wußten damals wenig daraus zu machen, wir kleinen Mädchen, aber dann habe ich lange davon geträumt und es nie vergessen. Doch verzeihen Sie, Frédéric«, sagte sie plötzlich und schien zu wanken, »Sie wissen, meine Gesundheit ist nicht recht fest, ich kann nicht so lange gehen, es tut mir leid ...«

Man befand sich in der Nähe jener Gruppe der ruhenden Flora, eine Marmorbank stand dahinter, zwischen cäsarischen Büsten, hier nahm man Platz. In zierlicher Pose legte sich das Windspiel auf einen der flachen Steine, die neben dem Sockel in den Boden eingelassen waren und auf die warm die Sonne schien.

»Wo liegst du denn, Phyllis, mein Liebling? Was für einen Platz hast du dir ausgesucht!« Aber Phyllis wandte nur ihren schmalen Kopf ein wenig nach dem Frager um, blinzelte wie im Einverständnis und blieb liegen.

»Du solltest eine Badekur machen, Amélie«, sagte er nun, »es ist doch nicht in Ordnung, daß eine so junge Dame von einigen Spazierschritten derartig angegriffen wird.«

»Ich glaube nicht, daß irgendeine Badekur helfen wird, lieber Bruder.« Sie hatte ganz leise gesprochen.

Voltaire sagte: »Es fehlt der Prinzessin vielleicht weniger an Gesundheit als an Heiterkeit. Der Körper hält sich nur frisch und kräftig, wenn der Geist an jedem Morgen beim Erwachen eine freundliche Aussicht vorfindet.«

»Das ist ein Rezept, Herr von Voltaire, mit dem man nicht in die Apotheke laufen kann.«

»Hoheit – es kommt darauf an. Lebensfreude, Glück führt man sich zu, indem man Ziele ins Auge faßt, die zu erreichen sind.«

»So mag Voltaire sprechen, für den es hundert Ziele gibt in der Welt und der mit so einzigen Kräften begabt ist. Aber eine alternde Prinzessin, mein Herr, ist ein ziemlich unnützes Geschöpf.«

»Ah, nun ist es genug der Melancholie«, rief Friedrich mit einem deutlichen Klang von Gereiztheit. »Das dient zu gar nichts. Glück, Lebensfreude! Wer ist denn glücklich? Glück ist ein ganz imaginärer Begriff, tapfer zu leben und das Mögliche zu tun ist alles, was wir erstreben können. Ich bitte zu verzeihen«, sagte er mit einer halb scherzhaften Verneigung gegen Voltaire, »daß ich meiner kleinen Schwester hier Moralunterricht aus der Fibel erteile.«

»Glück«, nahm Voltaire das Wort auf. »Ich habe sehr wenig Glückliche gesehen. Wohl aber so Unglückliche, daß, an ihrem Dasein gemessen, fast jeder andere glücklich scheint. Seitdem ich im Mittelländischen Meer ein Kriegsschiff mit Galeerensträflingen sah, kann ich, so dünkt mir, kaum mehr ganz unglücklich werden.«

»Das sind Verbrecher«, sagte Amalie, »gemeine Räuber, Mörder. Sie geben keinen Maßstab ab.«

»Vergebung, Hoheit! Ich kenne einen Mann, Espinas heißt er, der saß 23 Jahre hindurch auf der Galeere, weil er einem protestantischen Pfarrer ein Nachtessen und eine Unterkunft gewährt hatte.«

»Er saß, sagen Sie, Herr von Voltaire? Man hat ihn also befreit.«

»Wer hat ihn befreit?« fragte der König.

»Ich«, sagte Voltaire flüchtig und wirkungsvoll, um sogleich in veränderter Stimmlage fortzufahren: »Gewöhnlich ist diese Strafe lebenslänglich, weil die Regierung auf solche Art die Flotte umsonst bemannt. Festgeschmiedet, nackt bis zum Gürtel, hocken die Armen da beieinander, auf einem Schiff dreihundert, Winter und Sommer, Tag und Nacht. In Ketten essen und schlafen sie. Der Aufseher geht mit der Peitsche umher. Greise mit weißem Bart sind darunter. Stirbt einer, wird er ins Wasser geworfen. Ja, dies existiert.«

»Es ist also wohl ein rechtes Glück für ein Land«, sagte Friedrich, er hielt dabei die Augen geschlossen, »wenn sein König keine Kriegsflotte hat.«

»Es gibt Könige, Majestät, für die auch das keine Verführung wäre.«

»Ah, glauben Sie?«

»Ja, das glaube ich. Ich höre zum Beispiel, wie früher in Preußen die Kindsmörderinnen bestraft wurden. Man ließ sie mit eigenen Händen den ledernen Sack nähen, in dem man sie dann ertränkte. Ich höre aber auch, daß König Friedrich diese Sitte abgeschafft hat.«

»Oh«, sagte Friedrich mit einem starren Lächeln und jetzt mehr zu Amalie als zu Voltaire gewendet, »das kann zutreffen. Aber gegen solche arme Personen wird ja auch kein König ein Zorngefühl im Herzen nähren.«

Ein Schweigen trat ein. Voltaire blickte langsam von einem zum anderen, wohl spürend, daß hier ein lebendiger, ihm nicht bekannter Umstand sich hinter den Worten verberge. Endlich sagte er in abstraktem Ton:

»Es bleibt so – die absolute Monarchie ist die schlechteste oder die beste aller Regierungsformen, je nachdem sie gehandhabt wird.«

»Häufiger wohl die schlechteste«, sagte Friedrich. Er schien auf Zustimmung zu warten, da sie nicht kam und auch wohl nicht kommen konnte, fuhr er fort: »Das Allervernünftigste ist ganz gewiß die Republik. Man durchblättere die Geschichte: Republiken blühen schneller empor und behaupten sich länger auf der Höhe als monarchische Staaten. Warum? Die guten Könige sind sterblich, die weisen Gesetze aber unsterblich.«

Er besann sich einen Augenblick. »Es muß sogar auffallen«, sagte er dann, »wie selten unter Königen der Nachfolger dem Vorgänger gleicht. Immer kommt da nach dem Ehrgeizigen der Faule, nach dem Krieger der Betbruder, nach dem Gelehrten der plumpe Verschwender. Es ist nicht so wie bei euch, mein Liebling«, wandte er sich zu dem Windspiel, das auf seinem Stein sich den letzten schrägen Sonnenstrahlen zugebettet hatte, »dein Enkelchen wird gerade so aussehen wie du und auch die gleichen Windspielgedanken haben. Darum liegst du auch so seelenruhig auf diesem Stein und sonnst dich.«

»Wie meinen Sie das, Frédéric?«

»Oh, betrachte die drei Steine da nur genauer. Sehen sie nicht aus wie kleine Leichensteine? Es sind auch welche. Thisbe, Diana und Pax – kannst du es nicht lesen?«

»Sie begraben Ihre Hunde hier?« fragte Amalie und sah den Bruder ein wenig furchtsam an.

»Warum sollte es der König nicht tun! Die Ägypter taten es auch mit ihren Tieren. Auch diese Wesen wurden geboren, gesäugt und liebten das Licht und die Freude wie wir.«

»Wie wir«, sagte Friedrich. »Phyllis liegt auf dem Grabstein und freut sich an der Sonne, und unsereiner freut sich, daß er zur rechten Stunde lebt, um Voltaires Zeitgenosse zu sein ...«

Voltaire neigte das Haupt.

»... des seltsamsten Menschen wahrscheinlich, der je auf der Erde war. Eines Genies, wie es dieser Ball nicht getragen hat und eines kleinen, kleinen Geschöpfs, das ewig schmäht und verleumdet und die Wahrheit verdreht. Eines Herzens, übervoll von Mitleid und Menschenliebe – das sich in Rachsucht und kleiner Tücke verliert. Einer Seele, die in Jahrtausenden dichtet und lebt – und die betrügt und geizt und schlechtes Papiergeld aufkaufen läßt, um ein paar elende Louisdors zu ergattern.«

Voltaire war rot geworden bis unter die Locken seiner Perücke. Er wollte aufstehen. »Es wird abendlich kühl, Majestät«, sagte er, »ich ziehe mich zurück.«

»Es wird gleich wieder wärmer werden, Voltaire. Hören Sie doch zu Ende! Was will ich sagen? Dies geschieht am ersten Mann des Jahrhunderts, will ich sagen, was wird es mit uns anderen sein!«

»Mein Bruder will andeuten, Herr von Voltaire, daß in keines Menschen Brust die Rechnung aufgeht. Widerspruch, will er sagen, ist das Element, aus dem der Mensch bereitet ist.«

Friedrich warf ihr einen Blick zu. Dann bog er sein Haupt zurück und legte hinter sich die Arme ausgebreitet auf die Marmorlehne. So sah er zum Himmel auf, dessen Septemberblau langsam verblaßte. Er sprach:

»Es ist so. Wir kennen uns selbst nicht, wir dürfen kaum wünschen, uns selbst zu kennen. Die Taten unseres Lebens steigen aus Tiefen in unserer Brust, in die wir selbst nicht hineinzuleuchten wagen. Wahrscheinlich muß ein Mensch zänkisch und rachsüchtig sein und häßliche Geldgeschäfte unternehmen, damit er das Gute wollen und zur Fackel seines Jahrhunderts werden kann. Wir wissen so wenig. Sie haben vorhin geäußert, Voltaire, ich haßte den Krieg und seine Schrecken erst, seitdem Schlesien mein sei. So ist es nicht. Ich habe das Blutvergießen immer gehaßt und habe die frohe Muße geliebt, die Literatur, die Musik, die sanfte Gesittung – und dann habe ich die Kaiserin angegriffen und habe jene Provinz geraubt, aus Begierden und Gedanken, die ich zuvor an mir selber gar nicht gekannt hatte. Auf einmal war mein Leben ein Kriegsleben, und mir ahnt, daß es bei dem verspritzten Blut noch nicht bleiben wird. So aber, Voltaire, und du, liebe Schwester, ist es mit allem! Nicht Euch allein wallt das Herz, wenn von Galeeren die Rede ist, wo Greise auf der Ruderbank keuchen. Ich hasse die Grausamkeit und das Unrecht. Es gibt in meinen Staaten keine Folter mehr, es wird auch nicht mehr gevierteilt, gepfählt und verbrannt, man darf bei mir kein armes Dienstmädchen hängen, weil es ein paar Servietten gestohlen hat, ein neues Gesetzbuch kommt, das meine Richter an Vernunft und Billigkeit bindet – denn als das Niederträchtigste von der Welt ist mir immer die Willkür der Mächtigen erschienen, die sich nicht an das Recht hält, die ohne Verhandlung und Spruch, aus dem Dunkel des Kabinetts heraus, durch bloße Siegelkraft ein menschliches Dasein vernichtet. Und doch könnte ich mir denken, meine liebe Schwester, und Sie, Voltaire, daß ich eines Tages selber so die Gewalt mißbrauchte, daß ich es täte mit Überlegung und Lust, daß mir keine Galeerenkette zu schwer erschiene für einen, den ich schlagen will, daß es mir leid täte, bitter leid, keinen solch vortrefflichen Ruderplatz für ihn zu wissen, daß ich nach diesem Menschen umhergriffe auf der ganzen Welt und daß er, einmal in meiner Gewalt, mir nicht mehr entkäme. Das könnte ich mir denken, recht wohl, recht wohl.«

Er schwieg. Er verharrte noch in der gleichen Stellung, das Haupt zurückgelegt und hinter sich die Arme weit ausgebreitet auf der Marmorlehne. Nur die zuvor offenen Hände hatte er jetzt geballt.

Die Sonne war fort. Man ging ins Haus.

10

Trenck, der Pandur, hatte sich auf dem Spielberg bei Brünn als Gefangener selber getötet.

Durch seinen Starrsinn, seine böse Narrheit war endlich jede Aussicht auf Befreiung und Ehre zerstört, und nun faßte er, höhnischer Freigeist, der er war, den Gedanken, ein Leben von wüstester Weltlichkeit mit einer heiligen Komödie auffällig abzuschließen. Der neapolitanische Gifttrank, der ganz ohne Schmerz, Entzündung und Fieber langsam den Tod gibt, Aqua Toffana genannt, war lange in seinem Gepäck; er rief die Offiziere der Festung zusammen, ließ in ihrer Gegenwart sich als Mönch tonsurieren und kleiden, beichtete laut, umarmte die Nächsten, sprach lächelnd von der Nichtigkeit aller Güter auf Erden, nahm sodann seine Uhr in die Hand und sprach: »Gott sei gelobt, die letzte Stunde naht!« Gelächter antwortete ihm. Aber da sah man, daß sein Gesicht auf der linken Seite weiß geworden war. Er setzte sich an den Tisch, betete, schloß seine Augen und blieb still. Man redete ihn an, er war tot.

Im Leben hatten ihn alle gefürchtet; er wünschte im Grabe verehrt zu werden. In den abergläubisch frommen Erblanden Habsburgs gelang ihm das, ihm, dem Räuber, dem Mordbrenner, dem Besudler des Heiligsten.

Der Lärm von der Sache ging durch Europa, er erreichte auch Trenck in seinem Norden, und bald folgte die Nachricht, er sei von dem so theatralisch Geschiedenen, der ihn einst hatte ermorden lassen wollen, nochmals und endgültig zum Erben eingesetzt worden. Zweierlei werde jedoch im Testament von dem Bedachten verlangt: er müsse, hieß es, sogleich den katholischen Glauben annehmen und müsse sich ferner bindend verpflichten, keinem anderen Herrn mehr als dem Hause Österreich zu dienen.

Trenck wollte nichts wissen davon. Erfüllte er die Bedingungen nicht, so konnte er schwerlich hoffen, viel zu erlangen, kaum jene Güter, die der Pandur selber ererbt hatte und die Trenck nach Familiengesetz zukamen. Aber ein starker Rest von Treue gegen seinen einstigen Herrn war noch lebendig in ihm, habsburgischer Dienst schien ihm mit solcher Empfindung nicht wohl zu vereinen. In Bestuschews Kanzlei hatte er Einblick getan in die geheimen Gänge der europäischen Politik, ihm war sicher, daß das letzte Wort zwischen Theresia und Friedrich noch nicht gesprochen sei, er wollte nicht in den Fall kommen, eines Tages gegen den König das Schwert zu tragen.

Ob ihm das in russischen Diensten erspart bleiben würde, schien freilich auch nicht gewiß. Aber noch war kein Bund gegen Preußen geschlossen, noch herrschte Einvernehmen zwischen den Höfen von Potsdam und Moskau. Zwar wußte man, daß Friedrich, in seltsamer Verleugnung aller politischer Klugheit, fortfuhr, seine satirischen Pfeile nach der Zarin abzuschießen. Ihr bloßes Dasein, träge und wollüstig, reizte ihn wohl, vielleicht auch vertrug er es nicht, daß nun auf allen höchsten Sitzen Europas Weiber aufragten. Aber noch schienen jene Pfeile von fürsorgender Hand mitten im Fluge aufgefangen zu werden, Trenck selber wußte davon, und jedenfalls war er noch kürzlich dabei gewesen, wie ein erlesener Zobelpelz, der mit silbernen Schnüren besetzt war, verpackt und als Geschenk Elisabeths nach Potsdam abgesandt wurde. Er konnte hoffen, in Rußland verharren zu dürfen und hier ungehindert in Ehren zu steigen.

Aber der König ließ nicht ab von ihm. Der törichte Goltz verlor fast den Schlaf, so hart setzte das Problem ihm zu, wie er Trencks Laufbahn abschneiden könne. Und eines Abends, der Hof befand sich in Petersburg, ließ er sich zu später Stunde noch bei Bestuschew melden, in der Hand einen Plan des Hafens von Kronstadt, mit dessen Hilfe er Trenck zu verderben gedachte. Diesen Plan, so erklärte er entrüstet, habe der Abenteurer offenbar im Kabinett des Kanzlers kopiert und ihm, dem preußischen Gesandten, habe er ihn für zweihundert Dukaten verkauft. Aus Klugheit sei er, der Gesandte, auf den schmählichen Handel eingegangen, da es ihm freundschaftlich darauf ankomme, der Exzellenz zu zeigen, wie sie bedient sei. Der Kanzler war ebenfalls dumpfen, langsamen Geistes, aber es fehlte ihm doch nicht ganz an einer derben und niedrigen Logik. »Mich nimmt das wunder«, sagte er zu Goltz, »solche Pläne kann man ja in den Läden von Petersburg öffentlich für fünfzig Kopeken kaufen.« Und als hierauf der vor den Kopf geschlagene Herr, im wirren Bemühen, doch irgend etwas auszurichten, unzart von der vertrauten Stellung sprach, die der verdächtige Preuße bei der Gattin des Kanzlers genieße, da fehlte nicht viel und Bestuschew hätte ihn durch seine bärtigen Knechte zum Hause hinaus und in die vorbeiströmende Newa werfen lassen.

Der Haken saß dennoch im Fleisch. Geschicktere Zwischenträger fanden Gelegenheit, dem Vaterlandslosen zu schaden. Es wäre kein Wunder gewesen, wenn in seinem Herzen ein wirklicher Haß Wurzel geschlagen hätte. Das Gefühl der Pflicht jedenfalls schwand und mußte wohl schwinden, und als die Verlockungen aus Wien dringlicher wurden, als Maria Theresias Bevollmächtigter, Bernes, zur Hinreise riet, als endlich die Kanzlerin selbst, seine Freundin, ihn nicht mehr zu halten sich unterstand, gab er nach.

In Wien geriet er in das wüste Getriebe der Prozesse, die um die Verlassenschaft des toten Kriegshäuptlings entbrannt waren. Aber da er von Anfang an sich beschied und nichts weiter anstrebte als jenes mäßige Großvater-Erbe, so gelangte er dennoch zum Ziel. Ihm wurde genug, um in der Welt ohne Sorge dazustehen, genug, um etwa ein Landgut zu kaufen und dort, nach Enttäuschungen und empfangenen Wunden, ruhig sein Leben hinzubringen. Der Wiener Hof verhielt sich freundlich zu ihm, Maria Theresia ernannte ihn zu ihrem Offizier, er hätte nichts weiter nötig gehabt als jenen Übertritt zur alten Kirche, um auch hier wieder als ein glänzender Ruhmesanwärter zu gelten. Allein, er glaubte nicht mehr und wünschte nichts mehr. Im menschenwürdigen Dasein des Gutsherrn resigniert, aber frei sich selber zu leben, schien ihm das Rechte, sein Gemüt war empfänglich für alle Reize der Musen und ritterlichen Lebensgenusses, eine angenehme Gefährtin, so dachte er, würde sich finden, da ihm die, die er liebte, unerreichlicher war als eine indische Schönheit. Er glaubte seine Straße zu kennen.

Da starb im Juni des Jahres 1754 in Preußen seine Mutter. Er reiste nach Danzig, um sich mit seinen Geschwistern zu bereden. Hier traf er auch, und der Augenblick war beklemmend, mit jener Schwester zusammen, vor deren Schloßtor er in eisiger Nacht als abgewiesener Bettler hatte umkehren müssen. Weinend umfing sie ihn, schwor, daß ihr Gatte und nicht ihr eigenes Herz sich vergangen habe; er blickte sie an und verzieh.

Danzig war eine Freie Stadt, es stand zudem unter dem Schutz des Königs von Polen. Trenck durfte sich doppelt sicher hier glauben.

Aber in Danzig fiel Friedrichs Faust auf ihn nieder.

11

Drei Wochen hatte man miteinander verbracht. Dann reisten Trencks Geschwister nach Hause. Seine eigene Abfahrt war auf den folgenden Morgen bestimmt, der Wagen bestellt, das Gepäck schon gerichtet, der Bediente frühzeitig schlafen gegangen.

Der Gasthof lag mitten in der Rechtstadt, an der Brotbänkengasse. Das Fenster des geräumigen Zimmers war offen geblieben gegen die laue Sommernacht, Trenck, im Bett ausgestreckt, las. Geräusch drang herauf zu ihm, Räderrollen, dann Stimmen und Schritte, die sich plötzlich dämpften wie auf Kommando. Er las weiter.

Seine Tür wurde aufgerissen, er pflegte sie niemals zu verschließen, rasch war das Zimmer voll von Menschen, er erkannte den Geschäftsträger des Königs von Preußen, Reimer; Mannschaften im Rock der Danziger Stadtmiliz waren in seiner Begleitung und ein Herr in Zivil. Der im Hemde Ruhende sah Pistolen und sah blankes Eisen auf sich gerichtet.

Wie es dem Menschen an großen Wendepunkten zu gehen pflegt, blieb er gefaßt. Dieser Fassung galt sogar sein erster Gedanke, er verglich mit ihr die unangemessene Erregung, die ihn wenige Wochen zuvor überfallen hatte, als ihm auf einem Spazierritt im Wiener Augarten durch Schuld seines Reitknechts ein Sattelgurt gerissen war. Damals hatte er gerast ...

Der Mann in Zivil nahm das Wort. »Herr von der Trenck«, sagte er, »der Magistrat von Danzig sieht sich genötigt, Sie als einen Arrestanten dem König von Preußen auszuliefern.«

»Ich habe geglaubt«, sagte Trenck, »Danzig sei eine Freie Stadt.«

»Nicht frei genug«, sagte der preußische Resident, »um überführte Verbrecher zu bewahren.«

»Ich habe geglaubt«, sagte Trenck, immer zu dem Stadtbeamten gewendet, »über Danzig halte der König von Polen seine schützende Hand.«

»Ihnen wird kaum Zeit bleiben«, sagte Reimer, »diesen Schutz anzurufen. Und kurz und gut, Sie kleiden sich an und folgen!«

Trenck griff neben sich auf das Tischchen, darauf die Kerze stand. Die Soldaten umringten eilig sein Bett.

»Macht, daß Ihr wegkommt«, rief er, »Gesindel! Ich will nicht schießen. Ich will meinen Paß präsentieren.«

»Unnütz«, sagte Reimer.

»Halten Sie Ihr Maul auf fremdem Gebiet, Herr! Ich präsentiere die Pässe des Hofkriegsrats und der Staatskanzlei in Wien. Ich bin Untertan der Königin von Ungarn und ihr Offizier.«

»Die Königin von Ungarn, Herr Untertan, wird Ihretwegen keinen neuen Krieg anfangen.«

»Man schaffe den Vertreter des Wiener Hofes zur Stelle! An ihn appelliere ich.«

»Der Vertreter des Wiener Hofes schläft bereits und wünscht nicht gestört zu werden.«

»Ich appelliere an die Ehre der Stadt Danzig, mein Herr Kommissar.«

»Der König von Preußen ist ein mächtiger Nachbar«, sagte der Danziger leise. »Herr Resident, ich übergebe Ihnen den Mann.« Er verließ das Zimmer.

Kaum hatte die Tür sich geschlossen, so warfen sich vier der Soldaten auf Trenck und hielten ihn fest. Die übrigen plünderten. Man riß ihm die Ringe vom Finger, man fand seine Uhr, seine Tabatière, zuletzt auch das Medaillon, an dem die Lücken durch neue Smaragde ergänzt waren. Dies ließ der Bevollmächtigte sich einhändigen.

»Ich bin unter Räuber gefallen«, rief Trenck. »Sie treiben ein sauberes Handwerk, Herr Reimer!«

Man zwang ihn zu eiligem Ankleiden, kein Mitnehmen seines Gepäcks ward gestattet, der Wunsch, seinen Bedienten zu verständigen, mit Höhnen verworfen, man trieb ihn die Treppe hinunter, man setzte ihn in den Wagen, am Platz bei der Marienkirche umringte ihn ein berittenes Kommando, die nächste Stadtpforte, das Hohe Tor, tat sich trotz der späten Stunde ganz ohne Anruf und Paßwort lautlos vor ihnen auf, und fort ging es die Straße nach Preußen. Mondlicht schien.

Im Morgengrauen wurde der Vorspann erneut. Die Danziger Grenze mußte lange passiert sein. Sie fuhren, Trenck wußte es, durch polnisches Gebiet. Aber er war nicht der Knabe, an Völkerrecht noch zu denken. ›Der König von Preußen ist ein mächtiger Nachbar‹, wiederholte er bei sich und lehnte den Kopf gegen das harte Polster zurück, um in der holpernden, stoßenden Kutsche ein wenig vom versäumten Schlaf noch nachzuholen. Wenn er die Augen öffnete, sah er die Acker und Weiden von Pommerellen in flirrender Sommerhitze. Am Abend ward vor einem Schlagbaum gehalten. Dies mußte der erste preußische Ort sein, denn eine Husarenbedeckung übernahm ihn hier, deren Uniform er erkannte: es waren Leute vom weiß-dunkelblauen Regiment Wartenburg.

Die Fahrt ging fort in einiger Nähe der See, er sah sie niemals, doch er spürte ihren Wind. Die Eskorten wechselten. Nie sprach jemand mit ihm. So gelangte er bis in das pommersche Landstädtchen, welches Treptow heißt. Hier riß noch einmal der dichtverhängte Himmel über Trenck, ein letzter starker Strahl fiel voll auf ihn.

Der Wagen hielt im weiten Hof eines Gutshauses, dem allein Sauberkeit und Pflege etwas Herrschaftliches gaben. Aus dem mittleren Gebäude trat fast augenblicklich ein junger, schlank gewachsener Herr in der Uniform eines Reiterobersten. Jedermann grüßte, der Eskortführer tat seine Meldung.

Der Oberst dankte. »Sie sind heute mein Gast, Herr von der Trenck«, sagte er auf französisch, mit stark süddeutschem Tonfall. Und er geleitete den Gefangenen ins Haus.

In einem Zimmer des oberen Stockwerkes stand alles bereit zur Erfrischung nach weiter Reise, hier erfuhr Trenck von einem Lakaien, wer ihn beherberge.

Der junge Friedrich Eugen von Württemberg, seit kurzem vermählt mit einer Dame aus dem Hause Brandenburg-Schwedt, einer Nichte des Königs, kommandierte in dieser Gegend ein preußisches Dragonerregiment. Trenck dachte zu träumen. Auf alles war er gefaßt, nur nicht auf Freundlichkeit von solcher Seite. Im Augenblick schlugen in seinem Herzen alle Illusionen und Hoffnungen hoch.

Sie entflammten sich heller bei der Abendtafel, die bald begann. Wenige Intime nur waren zugegen. Man speiste zu ebener Erde in einem bäuerlich niedrigen Saal, aber von köstlichem Porzellan aus Ludwigsburg, Gesinde in württembergischer Livree bediente.

Die Herzogin, ganz jung noch, von mildester Anmut, saß Trenck gegenüber. Sie behandelte ihn mit einer besonderen Art von zarter Achtung, mehrmals schaute sie ihn bedeutungsvoll an, so als habe sie vieles zu sagen. Es war noch nicht lange her, zur Zeit ihrer Verlobungsfeierlichkeiten in Berlin, da hatte sie mit der Prinzessin Amalie, die ihr zugetan war wie eine ältere Schwester, ein Brautgespräch über Frauenschicksal und Frauenglück gehabt, ein langes Gespräch mit Stockungen, scheuen Allgemeinheiten und raschem Geflüster, das in einer Umarmung geendet hatte. Trenck wußte nichts davon, aber er mußte an Amalie denken, wenn die Prinzessin ihn anblickte. Sie sah ihr auch ähnlich, ihr, wie sie vordem gewesen war.

Mit keiner Silbe wurde daran erinnert, daß Trenck als ein Gefangener hier saß, auch seines vergangenen Schicksals gedachte niemand, und gerade hieraus konnte er schließen, daß es von jedermann gekannt sei. Man ging soweit, den Namen des Königs nicht zu erwähnen.

Im übrigen war viel von militärischen Dingen die Rede, von den Reitvorschriften für die Kavallerie zum Beispiel, jenen, die Trenck vor Zeiten als ein achtzehnjähriger Garde-du-Corps den schlesischen Regimentern beigebracht hatte und die nun alle wieder ergänzt und abgeändert werden sollten. Auch politische Fragen wurden vorsichtig und nicht ohne Geist gestreift, und dazu war Anlaß, denn elektrische Spannung lag über dem Erdteil, feineren Nerven recht wohl schon verspürbar. Aus seiner Kenntnis russischer und österreichischer Korrespondenzen hätte hier Trenck manches Wissenswerte beibringen können, aber er war lange ein Mann, wenig lag ihm mehr am Staunen einer noch so erlesenen Tafelrunde, und er schwieg.

Bald glitt auch das Gespräch zu unverfänglichen Gegenständen, der süddeutsch freie und heitere Herzog sprach mit freundlicher Ironie über seine prächtige Residenz hier in Hinterpommern, über dies Bauernstädtchen am gewaltigen Strome Rega – wobei ihm seine Gattin ganz ernsthaft verweisend das Wort abnahm und zu hören gab, wie dies Treptow, heute so verschollen und armselig, einst als Handelsstadt geblüht habe, im Warenverkehr mit Dänemark, Schweden und Rußland, und wie damals große Seeschiffe die Rega heraufgefahren seien, um hier ihre Ladung zu löschen. Jetzt freilich sickere der Fluß traurig versandet einher, aber eine gesunkene Königin, die das Schicksal von Brügge und Ravenna teile, dürfe man darum nicht mit Spott beleidigen, Schicksal sei ein Ding, das Ehrfurcht und Neigung erwecken müsse, auch wenn es sich bloß um ein armes pommersches Landstädtchen handle.

Bei solchem Gespräch war man zum Nachtisch gelangt, und so leise, daß der Übergang nicht zu merken war, begann eine Musik zu spielen, nur Flöte und Geige und ein Clavicembalo, und alles lauschte, während man mit behutsamen Fingern, um nicht zu klirren, eine Birne oder einen Pfirsich schälte.

Trenck schlief dann in einem weichen, breiten Bett. Beim Einschlummern dachte er nur Gutes und Tröstliches, und er träumte auch so. Ihn mahnte kein Gesicht.

Als er am Morgen hinunterstieg, fand er sein Frühstück bereit, in einem Raum, der nach rückwärts auf einen Grasgarten hinausging. Es zeigte sich, außer einiger Dienerschaft, keine Seele. Die Herrschaften seien, hieß es, zu einer Jagd ausgeritten, alle Hofleute in ihrer Begleitung. Vor mehreren Stunden sei Rückkunft nicht zu erwarten.

Trenck setzte sich nieder zu speisen, alles war ganz still, die Fenster standen offen gegen die saftige Fläche, es war ein strahlender Tag, mäßig warm. Draußen ging ein Pferd hin und wider, ganz frei spazierte es vor Trencks Fenstern einher und blieb manchmal stehen, um sich ein wenig Gras auszuraufen. Trenck schaute hin, es war ein dunkelbraunes Tier von guter Rasse, fein und doch zur Ausdauer gebaut, es trug Sattel und Zügel, und die Satteltaschen waren gebläht, als seien sie voll Proviant.

Trenck aß und trank, und er verstand nicht. Wohl sah er, wie man ihn beinahe mit Nachdruck allein ließ – und seine Hoffnungen wurden Gewißheit. ›So behandelt man keinen Gefangenen‹, sagte er sich und war fröhlich, ›der Herzog muß seine Weisungen haben, er ist nicht umsonst ein Verwandter.‹ Um seine Augen lag eine Binde.

Nach beendetem Frühstück trat er hinaus auf die kleine Wiese, ging hin zu dem Pferd, gab ihm Zucker und klopfte ihm den Hals. Dem Pferd schien das zu gefallen, sanft stoßend legte es den Kopf an seine Schulter wie zur Aufmunterung. Aber er ließ seine Hand sinken und stand in Gedanken.

›Bald nun werde ich endlich den König sprechen‹, sagte er zu sich, ›und spreche ich ihn erst, so ist alles auch gut. Was im Grunde habe ich denn begangen? Er wird mich aufnehmen, er wird Soldaten brauchen können, bald, bald. Aber er wird mehr von mir wollen, ich kann es mir denken, er weiß ja, wo ich gewesen bin. Trotz russischem Staatsdienst, trotz österreichischem Rittmeisterpatent betrachtet er mich heute noch als seinen Offizier. Und bin ich's denn nicht? In Danzig hat er mich einfangen lassen, brutal und gegen das Völkerrecht – das hat er getan, damit jedermann sehe, ich handle unter Zwang. Für mich hat er gedacht, zu meinem Nutzen! Wer weiß, viel Zeit ist vergangen, er wird milder gesinnt sein in vielen Stücken. Amalie ...‹

Er verlor sich weit. Er stand am höchsten, entscheidenden Punkt, er hielt, so mochte es scheinen, sein Schicksal frei in der Hand, alles sprach zu ihm, sprach auf ihn ein. Das Pferd stand immer dicht vor ihm, er streichelte die glänzende braune Mähne, er hätte nur müssen eine der Satteltaschen öffnen und hineinsehen, und er hätte alles gewußt. Aber schon war er so sicher, der Getriebene, der heimlich nach seinem Schicksal Verlangende, daß er mit Ungeduld auf die Heimkunft des Herzogs wartete, um nur ja ohne Verzug nach Potsdam weiterreisen zu können. Dort wartete der König auf ihn und die Freundin ...

Die württembergischen Herrschaften kamen zurück vom Jagdritt, aber er sah sie nicht mehr. Sie verbargen sich vor dem verblendeten Mann. Soldaten holten ihn ein. Am vorderen Tor stand die Kutsche, schweigsam hielt ein starker Beritt um sie her, ihm ward nicht mehr geantwortet, eilig ging es davon. Als man die Rega passierte, den kleinen Fluß, von dem gestern bei Tafel so melancholisch-liebreich die Rede gewesen, fuhr wie ein Blitzstrahl die Wahrheit in Trencks Gehirn.

Noch nicht die ganze. Man führte ihn weit durch Preußen, aber Potsdam blieb liegen. Und als er, das Feld von Fehrbellin überquerend, zum zwanzigstenmal fragte, was nun sein Ziel sei, wurde ihm der rauhe Bescheid: Magdeburg!

In Magdeburg stand sein Kerker bereit. In der Sternschanze zwischen den Wällen war er eigens aufgemauert, ein Käfig, ein Steinwürfel, nur von der Kasematte her betretbar. Kaum war Trenck zur Stelle, so traten Handwerker herein, mit Ketten, einer Glutpfanne und Hämmern und schmiedeten ihn fest. Dann blieb er allein.

Es war zu drei Vierteln dunkel im naßkühlen Raum. Aber genau zu seinen Füßen sah Trenck eine viereckige Platte. Er bückte sich nieder. Sein Name war eingemeißelt, mit Totenkopf und Totengebein. Aus den Ketten, der Wille des Königs war deutlich, sollte Trenck, ohne je mehr zu leben, hier in sein Grab fallen.


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