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Zwölftes Capitel.

Mutter und Sohn.

Das war ein saures Mahl, meine Freunde! Bei dem Toast, den ich auf Seine Majestät den König ausbrachte, blieb ich stecken; jede Redensart, die ich Anstands halber wechselte, verfing sich in meiner Kehle mit dem Ja, das ich nicht auszusprechen vermochte und doch nicht unausgesprochen lassen wollte. Ein Glück, daß man an die Feste auf der Reckenburg keinen Anspruch, als den der vornehmen Langeweile zu stellen gewohnt war.

Nach der Tafel zerstreute sich die Gesellschaft im Garten. Ich war allein mit dem Grafen auf der Terrasse geblieben. Er hatte mir schon vor dem Essen gesagt, daß seine Ernennung eingetroffen, eine Entscheidung demnach nicht länger zu verzögern sei. Ich hatte den letzten Kampf bestanden, ein einleitendes Wort tapfer herausgepreßt, und eben wollte ich meine Hand in die seine legen, als ich eine bierbässige Stimme zu meinen Füßen den Namen »Hardine« rufen hörte. Ihr seid, wenn auch in früher Jugend, Zeugen der nun folgenden Scene gewesen, meine Freunde, habt sie ohne Zweifel späterhin manchmal recapituliren hören. Ich brauche Euch also nur über die Vorgänge in meinem Innern, die eine so verdächtigende Wirkung hervorbrachten, aufzuklären.

Im entscheidenden Momente unterbrochen, blickte ich auf und gewahrte einen jungen, rüstigen Mann, die Gluth des Trunkenbolds auf dem Gesicht; zu jeder Zeit mir die widerwärtigste Begegnung, bei dieser Gelegenheit aber doppelt ein Gräuel. Unter wüsten, mir kaum verständlichen Reden stieg er die Stufen heran, ein Fuseldunst quoll mir entgegen; mit der Hand, die ich eben zu einem Verlöbnis; ausgestreckt hatte, wehrte ich den dreisten Gesellen von mir ab. Er taumelte, stürzte, und eine Blutspur am Boden trieb mich an, ihn genauer in's Auge zu fassen. Jetzt erst bemerkte ich die verwitterte Uniform, das kriegerische Zeichen des Legionairs, den verkrüppelten Arm; ich starrte in die narbigen Züge, und eine erschütternde Ahnung überkam mich.

Wie er nun aber, plötzlich ernüchtert, mir mit geballter Faust und drohendem Trotze gegenübertrat, da weckte das stolze Zurückwerfen des Kopfes, der zornig stammende Blick des blauen Auges in meiner Erinnerung ein lange schlummerndes Bild; seltsamer Weise aber nicht zuerst das des Sohnes, der sich einen Tod auf dem Schlachtfelde gewünscht, sondern das des Vaters, der ihn so früh auf demselben gefunden hatte. Prinz August, nicht August Müller, war plötzlich vor mir lebendig geworden. Die Vision währte nur einen Augenblick. Bei den ersten Worten von Vater und Kind hatte ich mir ihre seltsame Begriffsverwirrung erklärt; durfte ich aber, konnte ich vor dieser gaffenden Gesellschaft den Irrthum lösen? Ehe ich noch einen Entschluß gefaßt, hatte sich der Mann zum Gehen gewendet; ich sah einen aschfarbigen Schatten über seine Züge fliegen, ihn sich zitternd an das Laubengitter klammern; ich winkte dem Prediger, ihn zu unterstützen, auch der Graf eilte ihm nach in merklicher Verblüffung, bald waren sie in dem Laubengange verschwunden.

Ich war nicht in der Stimmung, mich mit meinen Gästen in Erläuterungen einzulassen; wir beknixten uns wohl noch später im Schlosse, und entfernten sie sich ohne Abschied: desto besser. Daß einer von ihnen im Ernst an die Bezüchtigungen des Fremden glauben könne, kam mir nicht in den Sinn. Ich suchte die Stille meines Zimmers.

In Wahrheit, ich fühlte mich tief bewegt. War doch, wie durch einen Zauber, ein lange vergangenes, vergessenes Leben vor mir aufgerüttelt, in dem Augenblick, wo ich über den Nest desselben zu verfügen im Begriffe stand! Dazu der verwahrloste Zustand des Mannes und seines Kindes, die Täuschung, der er sich hingegeben, und deren Berechtigung sein und mein alter Freund mir warnend vorausgekündigt hatte. So sollte ich diesem Freunde nach einem Menschenalter doch noch seine vielverspottete Fürsorge danken lernen.

Während ich nach August Müller's Taufzeugniß in meinen Papieren kramte, zweifelte ich nicht an meinem Recht, den bethörten Mann über seine Herkunft aufzuklären. Ich zeigte ihm, so meinte ich, das Attest, verschwieg den Namen des Vaters, wie das fernere Schicksal der Mutter, und wenn ich für ein schickliches Unterkommen von Vater wie Tochter Sorge trug und ihre Zukunft sicher stellte, war der Handel abgemacht.

Eben hatte ich nach langem Suchen das Zeugniß gefunden, als der Prediger mit dem Grafen bei mir eintrat. Der letztere in einer Aufregung, die mich an dem gehaltenen Manne unangenehm befremdete. »Er liegt im Wirthshause und simulirt eine Krankheit,« rief er mir hastig entgegen.

»Er ist krank, Herr Graf,« – widersprach der Prediger, – »das Fieber schüttelt ihn.« –

»Ein Katzenjammer, wenn nicht das Delirium des Trunkenbolds!« entgegnete der Graf. »Ein Glück, daß ich heute noch Landrath des Kreises heiße und ihm seine Papiere abnehmen durfte. Lesen Sie, Fräulein von Reckenburg!«

Er übergab mir bei diesen Worten jene mehrerwähnten schriftlichen Kindheitserinnerungen August Müller's, und erging sich, während ich die Blätter überflog, mit zornigen Worten über das Wirrsal von Verleumdungen, welche sich seit dem Morgen in der Gemeinde verbreitet hatten und über Nacht in der Umgegend verbreiten mußten. »Ich werde,« so schloß er, »den Vagabonden unverweilt in das städtische Krankenhaus und nach seiner Herstellung, mittelst Zwangspasses, über die Grenze transportiren lassen. Der kürzeste Weg, das Gerede abzuschneiden. Der Mensch ist verrückt, oder ein Betrüger erster Sorte.« »Er ist keines von beiden,« versetzte ich ruhig, indem ich die Handschrift nebst den beiliegenden Attesten in meinem Schreibtische verschloß. »August Müller's Erinnerungen sind richtig, und der Schluß, den er irrthümlich daraus gezogen hat, mag durch sein Elend entschuldigt werden. Er ist ein Eingeborner von Reckenburg, und wir haben die Pflicht, ihn innerhalb der Gemeinde zu verpflegen.« –

Ich klingelte bei diesen Worten und befahl dem eintretenden Diener, den Hausarzt aufzusuchen und den Kranken im Wirthshause anständig versorgen zu lassen.

»Eine Gnade, die Ihnen bittere Früchte tragen wird,« sagte der Graf, wie mich dünkte, mit Hohn. »Die erste ihrer Art, auf die man sich in Reckenburg wird berufen können.«

Die erste Wohlthat an einem Fremdling in Reckenburg! Die Lehre, so wenig sie in diesem Sinne gemeint war, würde schneidend gewesen sein, hätte ich auf den Ruhm einer barmherzigen Schwester überhaupt etwas gegeben, oder hätte ich wenigstens sie bei ruhigem Blute aufgefaßt. Aber des Grafen Verstimmung hatte mich angesteckt. Ich trug in mir einen wunden Fleck, dessen Berührung ich einst meinem ersten Freunde schwer vergeben hatte, und die ich meinem letzten Freunde nimmer vergeben haben würde. Um drohenden, weiter führenden Auslassungen wenigstens den Zeugen zu ersparen, bat ich den Prediger, mit dem Doctor Rücksprache zu nehmen und, falls er die Verpflegung des Kranken im Wirthshause nicht genügend fände, seine Uebersiedelung nach dem Schlosse anzuordnen.

Sobald ich mit dem Grafen allein war, sagte ich: »Wollen Sie mir, Graf, die bitteren Früchte nicht etwas näher bezeichnen, die mir, nach Ihrem Dafürhalten, aus der Verpflegung eines Fremden erwachsen sollen?« –

»Ja, aber welches Fremden?« rief der Graf, achselzuckend. »Nach seiner öffentlichen Anklage und dem Zugeständniß, welches Sie eben gemacht – –«

»Sie meinen das Zugeständniß, ein verwaistes Kind in einer Anstalt untergebracht zu haben?« – fragte ich.

»Haben Sie ein Zeugniß über den Ursprung dieses Kindes aufzuweisen?« fragte der Graf dagegen.

»Ich denke, mein Wort genügt,« – entgegnete ich, indem ich den Taufschein, den ich noch in der Hand hielt, zerknitterte.

»So sprechen Sie dieses Wort, Nennen Sie den Namen der Eltern, der in dem Anstaltszeugniß so geflissentlich verschwiegen scheint.«

»Und wenn ich ihn ebenso geflissentlich auch fernerhin verschweigen wollte?«

»So würden Sie vor sich selber den Unglimpf eines bis heute makellosen Rufes zu vertreten haben.«

Bis dahin hatte ich meine Sündhaftigkeit behauptet; nun hielt ich mich nicht länger. »Sie sprechen damit aus, daß ich ein eigenes Kind – –«

»Nicht von mir ist die Rede,« unterbrach mich der Graf, jetzt so ruhig, als ich das Gegentheil war. »Die Welt urtheilt nach dem Schein, und mir, als Beamten und Ihrem Freunde steht es zu, diesem bösen Schein entgegenzutreten. Darum frage ich Sie noch einmal: können, wollen Sie mir ein Zeugniß über den Ursprung dieses Mannes geben?«

»Nein!« sagte ich. »Ob ich es nicht geben kann, oder es nicht geben will, gleichviel. Ich bedarf keiner Freunde, die ein fremdes Zeugniß für meine Ehrenhaftigkeit nöthig halten; und von dem Beamten, der das Recht meines Heimathsgenossen nicht gelten lassen will, erwarte ich, daß er den Gast meines Hauses respectiren werde.«

Damit verließ ich ihn. Ich wußte, daß ich die offene Thür meines Hochzeitssaales zugeschlagen hatte, und fühlte es wie einen Stein von meiner Seele fallen.

Bei alledem bebte ich vor innerer Entrüstung, Dorothee lebte, und ich hatte kein Recht ihr Geheimniß preiszugeben. Hätte sie selber aber dieses Geheimniß zu meiner Rechtfertigung enthüllen wollen, ich würde das Wort auf ihren Lippen zurückgehalten haben. Die Leidenschaft hatte meine Auffassung plötzlich geklärt: nicht ich, die Mutter hatte über das Schicksal ihres Sohnes zu entscheiden.

Noch in der Nacht reiste ich mit Courierpferden nach Berlin. Ich reiste ohne Dienerschaft, weil mir, ebenso um der Menschen willen, denen ich zueilte, wie für meine eigene Person, ein Ausspioniren und Ausdeuten meiner Schritte Widerstand.

Bei einbrechendem Abend erreichte ich mein Ziel und begab mich, ohne erst ein Hotel zu suchen, vom Posthause zu Fuße nach der Faber'schen Wohnung, die mir jedes Kind zu bezeichnen wußte. Gelang es mir, Dorothee noch diesen Abend ohne Zeugen zu sprechen, so war meine Aufgabe erledigt und ich reiste unerkannt noch in der Nacht nach Reckenburg zurück. Der Zustand des Kranken beunruhigte mich. Der Arzt, den ich vor meiner Abreise gesprochen, und der eine Uebersiedelung nach dem Schlosse widerrathen, hatte ihn für eine Lungenentzündung erklärt, Folge schlechtgeheilter Brustwunden, und bei der Gewöhnung an starke Getränke doppelt bedrohlich. Auch ahnte ich, nach langem Stillstand, wieder so eine Art Krisis in meinem Leben, die ich jedenfalls auf meinem Posten erwarten wollte.

Wenn man solch' eine Lebensgeschichte durchblättert, in welcher blos die Hauptactionen Schlag auf Schlag in hinlänglicher Breite geschildert werden, während man die dazwischen liegende Ausfüllung, die still umwandelnde Arbeit der Zeit nur oberflächlich streift, da denkt man sich leicht die Personen unverändert in dem innerlichen Verhältniß, in welchem sie bei der letzten Scene zu einander gestanden haben. Und so könntet auch Ihr, junge, lebhafte Menschen, wohl wähnen, daß ich den alten Bekannten mit den alten leidenschaftlichen Empfindungen, oder mit dem Herzklopfen der Schuld entgegenging. Aber siebenundzwanzig Jahre waren vergangen, seit ich Dorotheens Heirath erfuhr, wie manches Menschenleben spinnt sich in diesem Zeitraume ab, von der Wiege bis zum Grabe! Und wenn ich in demselben auch keiner hervortretenden gemüthlichen Wendepunkte zu erwähnen hatte: eine gänzlich veränderte Lebensstellung, eine große, starkempfundene Weltepoche, Nachdenken und umfassende Thätigkeit hatten mich zu einer Anderen, die Menschen von Einst mir zu Fremden gemacht. Ich würde heute Siegmund Faber ohne Verlegenheit gegenüber getreten sein und ihm erforderlichen Falls Rede gestanden, mit Dorotheen aber die Lage der Dinge gelassen, unter Berücksichtigung ihrer Natur und Stellung, besprochen haben. Ja, wie ich so im Abenddunkel die Flucht der Straßen entlang schritt, da kam mir wiederholt der Zweifel, ob meine erste Entscheidung über das Schicksal ihres Sohnes nicht die richtige gewesen sei: ob der Todtgewähnte nicht ein Todter für sie hätte bleiben sollen? Indessen der Affect hatte mich einmal zu dieser Erweckung des Mutterherzens getrieben, und wir sind ja so leicht geneigt, hinter derlei persönlichen Eingebungen eine ahnungsvolle Fügung vorauszusetzen. Jedenfalls konnte die Stimmung für meine Botschaft geprüft und eine fernere Maßregel mir überlassen bleiben.

Als ich mich dem Faber'schen Hause näherte, fand ich das Straßenpflaster mit Stroh belegt, und bemerkte, daß die Vorübergehenden gruppenweise zusammentraten, oder mit Neugier nach dem matterleuchteten ersten Stockwerk deuteten. Auch einige unzusammenhängende Bemerkungen fing ich im Vorübergehen auf. »Hier aus diesem Fenster! – Der Mann kam dazu, der arme Mann!«

Die Hausthür war unverschlossen, die Treppe leer, aber dicht mit Teppichen belegt; alles still. Erst am Ausgange derselben harrte ein zurechtweisender Diener, und im Corridor ließ sich ein leise geschäftiges ängstliches Treiben beobachten.

»Sie ist krank und nicht zu sprechen,« lautete die Antwort auf meine Bitte, der Frau Geheimräthin gemeldet zu werden. »Auch nicht für eine durchreisende alte Bekanntin?«

»Für Niemand.«

»Auch morgen nicht?«

»Auch morgen nicht,« beschied der Diener, erbot sich aber, mich dem Geheimrath zu melden.

Ich schwankte einen Augenblick. Der Zweck meiner Reise war verfehlt, doch hätte ich gerne über den Zustand der Kranken nähere Auskunft gehabt, die mir die sichtlich aufgeregte Dienerschaft nicht geben konnte oder wollte. Ich entschied mich indessen, den Herrn so spät am Tage nicht stören, hingegen morgen noch einmal vorfragen zu wollen, gab meine Karte ab und war im Begriff mich zu entfernen, als ein Thürvorhang mir gegenüber auseinandergeschlagen ward und Siegmund Faber mit rascher Bewegung mir entgegentrat.

Fünfunddreißig Jahre hatte ich ihn nicht gesehen, und ein fremdartiger Ausdruck von Pein und Weh war seinen Zügen aufgeprägt; dennoch würde ich, auch an jedem anderen Orte, ihn auf den ersten Blick erkannt haben. Und auch seine ausgestreckte Hand deutete an, daß er ohne Besinnen in der Matrone, die ihm unerwartet gegenüberstand, das fünfzehnjährige Mädchen wiedergefunden hatte. Der Lauf der Zeit hatte in ihm wie mir keine entfremdenden Spuren zurückgelassen; wir waren, wie man es nennt, organisch alt geworden; ein Vorrecht Derer, die nur schwach mit dem Herzen leben.

Ich folgte seinem stummen Winke in das eigne Zimmer. »Eine jammervolle Stunde, Fräulein Hardine, in der Sie mein Haus zum ersten Male betreten!« sagte er, indem er meine Hand mit tiefer Bewegung drückte.

»Hoffen Sie noch, Faber?« fragte ich, zum Voraus hoffnungslos.

Er aber antwortete: »Hoffen? ja, ich hoffe, aber nicht auf das Leben,« und als ich leise das Wort »Hirnfieber« nannte, da sagte er: »Wenn dem so wäre, Sie würden mich weniger rathlos finden. »Nein, kein Fieber – –«

Ich schnitt seine Erklärung mit einer hastigen Bewegung ab; der Schauder in seinem Blicke hatte meine Ahnung bestätigt. Ich gedachte der Stunde, wo Dorothee mir diesen Ausgang angedeutet hatte. Wir standen eine Weile schweigend und lauschten auf die markerschütternden Töne, die aus dem Nebenzimmer drangen, »Störe ich Sie?« fragte ich endlich.

»Leider nein!« antwortete er. »Nach außen fehlt mir die Ruhe, und da, wo ich Tag und Nacht nicht weichen möchte, darf ich nur ein verstohlener Zeuge sein. Die Unglückliche, so scheint es, sieht in mir nur den Arzt, vor dem sie sich allezeit gescheut, nicht den trostlosen Gatten, dem sie bis zum äußersten ihre Qual liebreich verheimlicht hat.«

»Und wann trat dieses Aeußerste ein?« fragte ich weiter.

»Das Aeußerste erst gestern,« versetzte er. »Seiner Natur nach ist es ein heimtückischer, schleichender Zustand, der vielleicht schon vor unserer Vereinigung begonnen hat. Alles in Allem, ein Räthsel.«

Ich schwieg mit gesenktem Blick. Ich allein hätte ihm ja den Schlüssel zu diesem Räthsel reichen können.

Er lud mich darauf zum Niedersitzen ein, nahm an meiner Seite Platz und schilderte mir jenen erstarrenden Krampf, der seit dem Hochzeitstage von Zeit zu Zeit das blühende Geschöpf überfallen habe. »Bisweilen,« sagte er, »konnte ich die Krise stundenlang voraussehen. Sie war beklemmt, unruhig, trat wiederholt mit über der Brust gekreuzten Händen auf mich zu, eine Geberde, durch welche sie schon als Kind eine Bitte so unwiderstehlich auszudrücken verstand; sie sah mit einem herzzerreißenden Blicke zu mir in die Höhe, vermochte nicht zu reden, und kämpfte so fort, bis sie erstarrt, mit stockendem Puls, aber völligem Bewußtsein zu Boden sank. Da der Zustand jedoch nur selten eintrat, rasch vorüberging und keine gesundheitliche »Störung« hinterließ, nahm ich ihn als eine jener unverfänglichen nervösen Affectionen, denen Frauen in kaum berechenbarer Weise unterworfen sind. Ich suchte seinen Grund in der jahrelangen Spannung des Brautstandes, in dem dann allzu plötzlichen Wechsel aller Lebensverhältnisse, unter denen sie nur allmälig in Ruhe und Stille heimisch werden könne. Ich schonte sie, schonte sie vielleicht zu sehr. Ich verfiel in den Irrthum vieler Aerzte, die das körperliche Leben ihrer Angehörigen nach den bedenklichen Erfahrungen ihres Berufes und das seelische nach ihren eignen Bedürfnissen beurtheilen. Weil, mir nach einem abspannenden Tagewerk eine Pause des Ausruhens Wohlthat war; weil ich nichts verlangte, als das holdselige Geschöpf, still und vergoldend gleich einem Sonnenstrahl, die Schatten meines Berufslebens streifen zu sehen; in meinem selbstsüchtigen Behagen übersah ich ihr unausgefülltes Einerlei, vergaß den Widerspruch mit ihrer ursprünglich bewegsamen Natur, vergaß ihn um so leichter, als sie selber niemals klagte, nach nichts verlangte, immer versicherte wohl zu sein, und keine Spur des Hinwelkens ihre Worte Lügen strafte. Sie war und blieb ein blühendes, liebliches Kind, Fräulein Hardine, ein Engel der Demuth; Dorothee, meine Gottesgabe mein Sonnenstrahl!«

Der Mann verbarg das Gesicht hinter seinen Händen, ich hörte ein krampfhaftes Schluchzen; lange vermochte er nicht weiter zu reden, und als er endlich von Neuem begann, geschah es mehr zu sich selbst als zu mir. »Die unterdrückte Natur rächt sich allemal! – allemal! – wenn ich sie hätte, reisen lassen – ihr Zerstreuung und Umgang gesucht – Licht und Luft um sie geschaffen in der weiten Einöde der Stadt: – nichts, nichts habe ich für sie gethan; mich an ihrem Anblick erquickt, Egoist, der ich war, und nun so grausam gestraft!«

Eine neue Pause folgte. Nachdem er sich gesammelt hatte, fuhr er rasch, gleichsam geschäftsmäßig fort: »Unter den erschütternden Ereignissen des Herbstes 1806 hatte ihr Leiden sich gesteigert. Als ich bei meiner Rückkehr von der Armee unerwartet bei ihr eintrat, umfing ich minutenlang eine Leiche. Der Zustand kehrte seitdem öfter wieder, dauerte länger, man möchte sagen, er wuchs mit den Qualen und Enttäuschungen des Vaterlandes. Im Sommer 1809, als Schlag um Schlag das Scheitern Schill's und Braunschweig's, die Niederlage Österreichs bekannt wurden, schien er seinen Höhepunkt erreicht zu haben. Dann trat eine Pause ein; die Stille der Resignation, um unter den Opfern der Erhebungszeit von Neuem aufzuwachen. Ich war der Armee gefolgt, und hörte später erst von Anderen – niemals von ihr selbst – daß sie sich den Frauenvereinen angeschlossen hatte, die nach den märkischen Schlachten sich des Dienstes in unseren Spitälern unterzogen. Armes, zärtliches Kind, das niemals einen Blutstropfen sehen, von einer Wunde nur reden hören konnte! Tag für Tag trat sie den Gang durch diese Leidensstätten an, ging von Bett zu Bett, starrte angstvoll in jedes Krankenangesicht, als ob sie Einen suche, der nicht zu finden, Einen retten wollte, der nicht zu retten war, und brach dann am Ausgange vernichtet zusammen, um andern Tages den qualvollen Weg von Neuem anzutreten.

»Selbstverständlich würde ich, wenn zur Stelle, dies zwecklose Folter gehindert haben. Als ich aber nach Jahr und Tag aus Frankreich heimkehrte, fand ich die Spitäler geleert und Dorothee fast unverändert die Alte. Erst während der Tage von Ligny und Waterloo, – ich befand mich wieder bei der Blücher'schen Armee, – soll eine kurze Katastrophe eingetreten sein, die mich auf die heutige hätte vorbereiten können. Ich war nicht Zeuge derselben, und tröstete mich wiederum, daß die eindrucksfähige Kindernatur, die Idiosynkrasie gegen alles, was Tod und Leiden heißt, diese gewaltsame Erschütterung hervorgerufen habe. Ihr gegenwärtiger Zustand, ohne jeglichen Anlaß von außen her, spricht jenem Troste Hohn. Ich stehe wie ein Narr vor diesem Räthsel der Natur.

»Sie dürfen denken, Fräulein Hardine, daß da, wo mein ganzes Lebensglück auf dem Spiele stand, ich dem eignen Urtheil nicht allein vertraute. Ich habe den Rath meiner anerkanntesten College« in Nähe und Ferne eingeholt. Einmal aber sträubte sich Dorothee mit einer Heftigkeit, die ihrem sonstigen Wesen völlig fremd war und ihren Zustand steigerte, gegen jede ärztliche Behandlung; dann aber wußte auch kein Einziger eine zweckmäßig scheinende Methode vorzuschlagen. Sie selbst erklärte sich für gesund, und sie schien es zu sein. Ich mußte mich allerseits mit dem Vorwurf hypochondrischer Aengstlichkeit abfertigen lassen. Höchstens daß man das Postulat der Kinderlosigkeit als die Ursache momentaner körperlicher oder gemüthlicher Störungen zu Markte brachte. Ich bin aber zu sehr Arzt, um ein Freund derartiger Postulate zu sein. Unsere Kunst ist eine der Exemtionen. Dorothee war zu zart für ein Martyrium, dem meine Mutter erlag, als sie mir das Leben gab, und lassen Sie mich hinzufügen, Fräulein Hardine, Dorothee war zu sehr Kind für die Kinderzucht, bei welcher der Vater ihr so wenig eine Stütze zu sein vermochte. Sie erkannte das auch wohl selbst. Niemals hat sie eine mütterliche Sehnsucht angedeutet; ja ich sah sie von einem Schauder befallen, als wir auf einer unserer seltenen gemeinsamen Wanderungen durch die Stadt einer Schaar tobender Waisenknaben begegneten. Als ich ihr nach 1806 – nicht zu meiner, nur zu ihrer eigenen Ausfüllung – den Vorschlag machte, eine Soldatenwaise zu adoptiren, da war ein Krampfanfall ihre Antwort, und nachdem die Sprache wieder zurückgekehrt war, sagte sie nichts als mit der flehendsten Geberde: »Bitte, bitte – nein!«

»Man gewöhnt sich an solchen Zustand, Fräulein Hardine. Mein Berufsleben wurde immer absorbirender. Ich war häufig auf Reisen, und wenn in Berlin, oft nur minutenweise in meinem Hause anwesend. Da bemerkte ich es denn kaum, daß sie von Jahr zu Jahr stiller und in sich gekehrter ward, ja daß wohl Tage vergingen, ohne daß ich einen Laut von ihren Lippen vernahm. Das Alter macht naturgemäß schweigsam, und was hätten wir im Grunde uns auch mitzutheilen gehabt? Sie erlebte zu wenig und ich zu viel, aber doch nicht das, was zu häuslichem Austausch sich eignete. Die beängstigenden Zufälle hörten allmählig auf, ich fühlte mich beruhigt, – bis, ja es mögen jetzt drei Monate sein. –

»Da konnte ich mir denn nicht länger verbergen, daß die stumme Apathie in eine seltsame Aufregung umgeschlagen war. Sie ging den ganzen Tag im Zimmer auf und ab und saß die Nächte mit offenen Augen in ihrem Bette, oder ich traf sie wohl auch Nachts leise auf- und niederwandelnd. Mahnte ich sie zur Ruhe, so gehorchte sie ohne Wiederspruch, legte sich und stellte sich schlafend. Sobald ich aber in meine Kammer zurückgekehrt war und sie sich unbeobachtet glaubte, richtete sie sich auf und begann ihre Wandelgänge von Neuem. Sie schlummerte nicht, sie fragte nach nichts und antwortete nur mit stummen, aber deutlichen Geberden; sie nahm nur gezwungen die notdürftigste Nahrung.

»O, daß das arme Hirn in dieser Zersetzung sich leise erschöpft hätte, aber seit gestern – – «

»Seit gestern?« drängte ich gespannt.

»Seit gestern – – «

Ein schriller Schrei aus dem Nebenzimmer unterbrach ihn. Er sprang auf und lauschte hinter dem Vorhang an der sacht geöffneten Thür. »Wer faßt es, Fräulein Hardine,« sagte er darauf, als es drinnen wieder still geworden war, »wer erträgt es, die friedfertigste Creatur enden zu sehen unter den Qualen einer Mörderin, sie mit Gewalt vom Aeußersten abhalten zu müssen, – – o Gott, Gott! gestern in der Dämmerstunde ein unbewachter Moment und – sie würde – –«

Der Mann konnte nicht weiter; auch ich stand erschüttert bis in's Mark. Seit Monden, wo der Sohn, eine Mutter suchend, das Land durchwanderte und gestern, gestern, da er im Wahn seine Hand nach einer andern ausstreckte, – – darf man an solche Sympathien glauben, an eine elektrische Strömung des verwandten Blutes?

»Dürfte ich sie sehen?« fragte ich nach einer langen Stille den unglücklichen Mann. »Sie würde Sie nicht erkennen, schwerlich bemerken. Aber Sie, wie sollten Sie diesen Eindruck ertragen? Fräulein Hardine, – sie rast!«

»Führen Sie mich zu ihr,« sagte ich voranschreitend. Unter der Thür hielt ich an. »Eine Frage noch: ist es eine formlose Beklemmung, oder – –«

»Es ist ein fixirtes Wahnbild,« versetzte Faber flüsternd, »das sinnloseste, – – oder sollte dennoch eine unterdrückte mütterliche Sehnsucht – – sollte ich zum zweiten Male genarrt – –? Doch genug der fruchtlosen Grübeleien. Sie quält sich mit der verzweifelten Idee eine Kindesmörderin zu sein. Nicht aber eines eignen neugebornen Kindes, wie es ein häufiger Wahn irrsinniger Frauen ist; nein, über einen Knaben tobt sie, einen Waisenknaben, den sie, sie selber todtgeschossen haben will. Auf Viertelstunden tritt wohl eine Pause ein; dann formt sie aus Kissen und Tüchern einen Knäuel, preßt ihn an ihr Herz und liebkost ihn wie eine Mutter ihr Kind: bald aber zerreißt sie mit der Kraft der Raserei den Balg in Stücken, schleudert ihn von sich, schreit auf, sieht sich – oder wen? – in einer teuflischen Umgebung, die sie »die Schwarzen« nennt, und kann nur mit Zwangsmitteln zurückgehalten werden, eine gewaltsame Befreiung aus dieser Seelenqual zu suchen. Und dennoch, dennoch, sollten Sie es glauben, Fräulein Hardine? das engelhafte Gemüth hat sich auch in diesem Aeußersten nicht bemeistern lassen. Vor dem trostlosen Gatten möchte sie ihre Folter auch jetzt noch verheimlichen. »Still, still!« flüstert sie, so oft ich mich nahe. Da aber die Angst stärker ist als der Wille, wird sie immer unruhiger, windet sich, bäumt sich, stöhnt, bis ich mich entferne und sie wie erlöst aufathmet, um bald von Neuem von dem gemordeten Knaben und den Schwarzen verfolgt zu werden.«

Wir traten in das Krankenzimmer. Es war tageshell erleuchtet, denn die bedrohenden Gespenster wuchsen in der Dunkelheit. Zwei baumstarke Wärterinnen versahen den Dienst. Dorothee saß im Bett in unzähmbarer Unruhe. Mit der einen Hand stieß sie eine calmirende Arznei zurück, mit der anderen riß sie die Eisblase ab, die man auf dem Kopfe festzuhalten suchte. Das einst goldige Haar hing wie eine Silberwelle, von geschmolzenen Eistropfen überperlt, an den Schläfen herab, das Antlitz glich einer schneeigen Blüthe, und die erweiterten Augen flogen in ruhelosem Flimmer auf und nieder. Das unglückselige Weib, im fünfzigsten Jahre, in den Banden des Wahnsinns, an der Pforte des Grabes, war noch immer schön; ja, mich dünkte, ich hätte es niemals schöner gesehen als in diesem Aufruhr der heimlichsten Natur.

Ich bedeutete die Wärterinnen, ihr fruchtloses Bemühen aufzugeben; sie zogen sich zurück und ich setzte mich auf einen Stuhl am Bette. Der Mann lauschte verborgen im Hintergrunde, kein Athemzug ging durch den Raum.

Eine lange Weile bemerkte sie mich nicht; sie hatte eine ihrer ruhigen Minuten; geschäftig bündelte sie die Eisblase, die sie sich vom Kopf gerissen, in ein Tuch und preßte sie an ihr Herz. »Hu, hu, wie kalt!« murmelte sie schaudernd, »wie kalt!«

Ich trat dicht an sie heran, ergriff ihre beiden Hände und senkte meine Augen fest in die ihren, »Kennst Du mich noch, Dorothee?« fragte ich. Und wunderbar! Kaum, daß sie meine Stimme vernommen und nur einen Moment forschend zu mir aufgeblickt hatte, rief sie: »Hardine! Fräulein Hardine!«

Der lauschende Mann konnte einen Laut der Ueberraschung nicht zurückhalten. Dorothee horchte gespannt. »Still, still!« flüsterte sie, indem sie das Bündel unter ihrer Decke verbarg. Als aber alles wieder ruhig geworden war, zog sie es von Neuem hervor, drückte meine Hand darauf und sagte: »Fühlen Sie, Fräulein Hardine, wie kalt! Es ist todt, hu, so kalt, so kalt, das arme Kind, todt!«

»Es ist kein Kind, Dorothee,« sagte ich, »es ist ein kalter Stein, der lange auf Deinem Herzen gelegen hat. Ich will ihn von Dir nehmen. Siehst Du, nun ist er fort, nun wird Dir leicht werden, Dorothee.« –

Sie ließ es willig geschehen, daß ich das Bündel von ihr nahm; aber sie wimmerte immerzu: »Todt, todt, das arme Kind todt!« Einen Augenblick schwankte ich noch; dann wagte ich es, dem Lauscher zum Trotz, auf alle Gefahr. Ich drückte die Hand der jammernden Mutter an mein Herz und sprach mit erhobener Stimme: – »Das Kind ist nicht todt, Dorothee. Gott ist ein Vater der Waisen, der Knabe lebt!« –

»Er lebt, er lebt!« schrie sie auf. »Wer sagt, daß er lebt? Wer hat es gesehen, daß er lebt?

»Hardine sagt es,« versetzte ich, »Hardine hat ihn gesehen. Der Knabe lebt!«

»Er lebt, er lebt!« rief sie, »Hardine sagt es, Hardine lügt nicht, niemals! Hardine hat ihn gesehen. Er lebt! Wo, wo? Führe mich zu ihm, Hardine!«

»Ja, ich will Dich zu ihm führen, Dorothee. Ich will Dich mit mir nehmen nach Reckenburg. Weißt Du noch? nach Reckenburg, Dorothee,« –

Eine Minute lang saß sie sinnend, rieb sich die Stirn und murmelte: »Reckenburg! Reckenburg!« Endlich hatte sie es gefunden, »In Reckenburg, ja in Reckenburg, da war's. Nicht im Waisenhause, nicht bei den Schwarzen. In Reckenburg lebt er, Fräulein Hardine hat ihn gesehen, Fräulein Hardine nimmt mich mit nach Reckenburg; Fräulein Hardine hält Wort!« Sie klatschte in die Hände wie ein Kind. »Nach Reckenburg!« jubelte sie, »kommen Sie, Fräulein Hardine.«

»Ich bringe Dich nach Reckenburg,« sagte ich; »aber nicht heute; erst mußt Du gesund werden, liebe Dorothee,«

»Ich bin gesund, ganz gesund,« versicherte sie, indem sie Anstalt machte, das Bett zu verlassen.

Ich konnte sie nur mit Mühe darin zurückhalten. »Du bist krank, Dorothee,« sagte ich bestimmt; »Du wirst aber bald gesund werden, wenn Du mir folgst. Nimm diese Tropfen; lege Dich ruhig hin, drücke die Augen zu und schlafe aus. Dann gehst Du mit mir nach Reckenburg,«

»Ich will Ihnen folgen, Fräulein Hardine,« sagte sie und nahm ohne Sträuben den Trank, dem sie sich bisher so gewaltsam widersetzt hatte. Plötzlich wurde sie aber wieder unruhig, spähte ängstlich im Zimmer umher und flüsterte mir in's Ohr: »Er, er! Wenn er nun kommt? wenn er es nun merkt? Er läßt mich nicht fort, Fräulein Hardine.«

»Sei ruhig; ich wache bei Dir,« entgegnete ich laut. »Und er wird Dich mit mir gehen lassen, denn er liebt Dich, Dorothee.« »Fräulein Hardine wacht bei mir,« lispelte sie schon mit schläfrigen Augen, ließ sich darauf, gehorsam wie ein Kind, das durchnäßte Haar von mir abtrocknen, warm einhüllen und betten. Ihre beiden Hände ruhten in den meinen; sie blickte noch einige Male in die Höhe, als sie mich aber ruhig auf dem Bettrande sitzen und meine Augen wachsam auf sie gerichtet sah, schlummerte sie sanft athmend ein.

Nach einer Weile erhob ich mich leise und trat zu dem, welcher diesem Auftritte unbemerkt gelauscht hatte. Thränen, vielleicht die ersten des bewußten Lebens, rannen über seine Wangen. Er drückte meine beiden Hände an sein Herz. »Die Wohlthat einer ersten friedlichen Stunde!« sagte er, »Welch ein Zauber liegt doch in den frühesten Erinnerungen, in den Menschen, welchen wir am frühesten vertrauten. O, des Selbstsüchtigen, Verblendeten, der nur nach dem Pendelschlag der Stunde gerechnet hat! Wenn ich sie vor Jahren Ihnen zugeführt hätte, vor Monaten noch – –«

»Und wenn es noch jetzt nicht zu spät wäre, mein Freund?« fragte ich.

Er aber schüttelte den Kopf und antwortete: »Es ist zu spät«.

Ich versprach ihm darauf, die Nacht bei Dorothee zu wachen, und bat ihn, für einige Stunden die Ruhe zu suchen, deren er so dringend bedürfe.

»Auch ich werde Ihnen folgen,« sagte er und ging nach einem wehmüthigen Blick auf die Schlummernde in sein Zimmer. Von Viertelstunde zu Viertelstunde erschien er indessen lauschend unter der Thür, bis er endlich mit dem Entschlüsse, schlafen zu wollen, in ein paar Stunden ungestörter Ruhe die erschöpften Kräfte wiederfand.

Ich saß allein bei der Kranken, ihre Hände in den meinen, und Gott weiß! in welchem Aufruhr der Gedanken! Was für eine Ironie in dem beglückenden Wahne des getäuschten Mannes! Was für eine Strafe in dem gräßlichen Wahne der täuschenden Frau! Aber sie lag so still, sie athmete so gleichmäßig leise: sollte es wirklich zu spät sein, Wahrheit und Frieden an Stelle der Irrung walten zu lassen?

Nein, ich hoffte noch, hoffte noch, als ich mich beim grauenden Morgen erhob, um die Lampen zu löschen und die Fensterbehänge zurückzuziehen. Als ich aber nach wenigen Minuten auf meinen Platz zurückkehrte, da gewahrte ich jene plötzliche unbeschreibliche Wandlung, welche jede Hoffnung vernichtet.

Ich hätte Siegmund Faber herbeirufen mögen zum letzten Lebewohl. Aber Dorothee schlug jetzt die Augen zu mir auf, nicht mehr im Flimmer des Wahns, nein, die fragenden Kinderaugen aus ihrer schuldlosen Zeit. Sie tastete nach meiner Hand und flüsterte in mein Ohr: »Glaubst Du, daß Gott barmherzig ist, Hardine?«

»Ich glaube es, Dorothee,« antwortete ich, bestimmt.

»Auch gegen Eine, die nicht mehr Vater zu ihm sagen darf?«

»Gegen jedes schwache, irrende Geschöpf, das sich nach seiner Vaterliebe sehnt.«

»Und er lebt, hast Du gesagt, er lebt?«

»Er lebt, und ich werde meine Augen über ihn halten und ihm sagen, daß im Vaterreiche eine liebende Mutter seiner Heimkehr harrt.« Kaum hatte ich diese Worte gesprochen und Dorothee mit letzter Lebenskraft ihre Lippen auf meine Hand gedrückt, als Siegmund Faber in das Zimmer trat und mit einem herzdurchdringenden Schrei an dem Sterbebette niederstürzte. Sie schlug das brechende Auge noch einmal zu ihm auf, ein letztes Beben erschütterte den halberstarrten Leib. »Faber!« röchelte sie. »Barmherzigkeit, Faber! Herr, mein Heiland, Barmherzigkeit!«

Und alles war zu Ende.

Ich entfernte mich unbemerkt. Als ich aber nach etlichen Stunden wiederkehrte, um Abschied von dem Freunde zu nehmen, da fand ich ihn noch auf der nämlichen Stelle, umklammernd die todte Gestalt, die er bis zum Letzten sein Kind und nicht einmal sein Weib genannt hatte. Doch faßte er sich, sobald er mich bemerkte, und begleitete mich aus dem Sterbezimmer, nachdem ich mit einem langen Blicke von dem auch im Tode noch schönsten Weibe Abschied genommen hatte.

»So lange ich lebe, Fräulein Hardine,« sagte er, »werde ich Ihnen diese sanfte Erlösungsstunde danken. Sie war meine Lebensfreude, mein ganzes Glück!«

Ich trennte mich von Siegmund Faber mit dem heiligen Vorsatz, die Erinnerung an seinen Sonnenstrahl rein zu erhalten vor jedem trübenden Hauch.

Meine Seele war erfüllt von dem Schauerbilde einer beleidigten und sich rächenden Natur, aber auch – ich sehe Deine Thränen fließen, mein Kind! – aber auch von einem Versöhnungsglauben, wie ich ihn niemals stärker an einem Sterbebette empfunden habe. Sie hatte den Frevel gegen Gottes ewige Ordnung erkannt und mit allen Qualen eines armen Menschenherzens hienieden gebüßt; der Wahn war dem Leben vorausgeflüchtet, mit dem Flehen, in dem sie geschieden ist, wird sie jenseit begonnen haben und Vater sagen dürfen, den wiedergefundenen Sohn an ihrer Hand.

In dieser Stimmung nahm ich es als eine trostreiche Erfüllung, daß ich bei meiner Heimkehr nach Reckenburg alsobald an ein zweites Sterbebett berufen ward, zu einem Scheiden, so klar und gefaßt, wie das tapfere Herz es sich dereinst, wenn auch in mächtigerer Umgebung, gewünscht hatte.

»Fräulein Hardine,« rief mir August Müller entgegen. »Sie sind nicht meine Mutter, ich weiß es jetzt, denn der Tod macht hell. Vergeben Sie mir die Unehre, welche meine Thorheit über Sie verbreitet hat.«

»Du suchtest eine Mutter und irrtest in gutem Glauben. Du hast mich nicht beleidigt, August,« versetzte ich aufrichtig, indem ich ihm die Hand reichte.

Er drückte sie kräftig, lag eine Weile in Nachdenken versunken und sagte dann: »Eins noch, Fräulein Hardine: jene weiße Frau mit dem gelben Haar, die ich bei der Leiche Ihres Vaters sah. ist sie–?«

»Sie war Deine Mutter, August. Sie ist Dir in Liebe vorangegangen. Ich aber werde an ihrer Statt für Deine Tochter Sorge tragen.«

Einschaltung des Herausgebers

Ja, unser tapferer Invalid' ist todt! Drei Tage, nachdem er Hoffnungsfunken das Waldhaus Muhme Justinens wiedererkannte, ist er dahin, und wohl ihm! rufen wir ihm nach. Wir hätten ihm den Todesstreich von einem Türkensäbel gegönnt; aber zehn Friedensjahre hatten sein Lebensmark aufgezehrt. Nun starb er rasch, wie er gelebt, gut gepflegt, auf heimischen Grund, und sein brechender Blick fiel auf das verwaiste Kind, welches Fräulein Hardine zum Schuh in ihre Reckenburg führte. August Müller endete glücklicher, als seine brave Lisette auf dem Sterbebett geahnet hatte. Wohl ihm!

Und wieder drei Tage später sehen wir Fräulein Hardinen als einzige Leidtragende seinem Sarge folgen zu der Ruhestätte, die ihm an der Seite der »treuesten Dienerin« bereitet worden war. Es war dies eine letzte Ehre, welche die Herrin iedem ihrer Gemeindeglieder erwies, und wir, die wir ihre Bekenntnisse gelesen haben, wissen, welchen Erinnerungen sie durch dieselbe gerecht ward, die Zeitgenossen aber, welche die Wahrheit erst ans diesen Blättern erfahren werden, die schrieen im Chor: »Einem Fremden, einem bettelnden Tagedieb! dem, der die schwerste Bezichtigung gegen sie verbreitet hat?«

So war es denn Fräulein Hardine selbst, die, schweigend und handelnd, dieser Bezüchtigung Vorschub leistete, in einer Weise, daß ihr goldheller Name dauernd dadurch geschwärzt werden sollte. Wir wollen uns nicht dabei aufhalten, wie dem starren Erstaunen die kleinlichsten Spürversuche folgten, wie der verbissene Neid triumphirte, Entrüstung, ja Empörung gegen die langjährige Heuchelei laut und öffentlich zur Schau getragen ward. Das Haus, zu welchem der Eintritt als hohe Gunstbezeigung erstrebt worden war, sah sich scheu vermieden, gleich einem, in welchem ein ansteckendes Fieber ausgebrochen ist; der stolze Bau des Rechtes und der Ehre schien in seinem Fundament erschüttert; keine Hand regte sich, ihn zu stützen, seitdem selber der Graf die Beziehungen zur Reckenburg und alle Zukunftsaussichten aufgab und, schweigend zwar, eben darum aber sprechend genug für die gespannten Lauscher, auf seinen neuen hohen Verwaltungsposten eilte.

Wer hätte nicht in ähnlicher Weise eine wankende Autorität verlassen sehen? Gleichwohl würde der geräuschvolle Eifer bei dieser Katastrophe nicht hinlänglich zu erklären sein, wenn der Zeitpunkt derselben außer Acht gelassen würde. Der übermäßigen Anstrengung aller Lebenskräfte in Noth und Kampf waren zehn Jahre einer apathischen Stille nachgeschlichen; in beschränktem Kreise wieder herstellend und aufbauend, folgte Jeder einem tiefen Ruhebedürfniß. Aller Abzug in weitere Gebiete war unterdrückt, die staatsbürgerlichen Interessen schwiegen, selber unsere jüngsten großen Erinnerungen schienen wie mit dem Schwämme ausgelöscht. Mit dem patriarchalischen Behagen verbreitete sich patriarchalische Kleinsucht und Fraubaserei. Ein weniger bemerkenswerthes Ereigniß, als der Sturz von Fräulein Hardinens Ehrenkrone, würde in einer solchen Epoche als eine Haupt- und Staatsaction verhandelt worden sein, weit mehr, als der Sturz von Königskronen in einer anderen.

Ob Fräulein Hardine diesen Sturz bemerkte? ob sie ihn einer Beachtung würdigte? Kein Zeichen deutete es an. Sie bewegte sich nach wie vor zuversichtlich in ihrem Tagewerk, und scheute sich nicht, das angezweifelte Wesen, das sie demselben eingefügt hatte, immer dichter in ihre Nähe zu ziehen. Unter allen Umständen that sie keinen entgegenkommenden Schritt, der eine versöhnliche Stimmung eher als jener hochmüthige Gleichsinn angebahnt haben würde. Wir aber, die sie die Ihren nannte, wir Reckenburger Leute, ei nun, wir kümmerten uns nicht um Klatsch und Matsch. Wir glaubten's nicht und wir bezweifelten's nicht. Wie Fräulein Hardine es uns gelehrt, sorgte ein Jeder für das Seine.

Indessen: das heftigste Unwetter verzieht, und auch die Windsbraut um Reckenburg legte sich; nicht ganz so jählings wie sie herangebraust war, aber hübsch sacht und gemüthlich nach deutscher Stürme Art. Die Hand, die eine Reckenburg zu verschenken hat, behauptet ihre Anziehung; die Standesgenossenschaft besann sich auf ihre alten Hoffnungen, auch die bürgerliche Clientel auf gelegentliche Berücksichtigung. Bald ersehnte Jedermann nur einen Anlaß, um öffentlich zu verleugnen, was heimlich von Keinem bezweifelt ward. Dieser Anlaß aber ließ nicht lange auf sich warten, und es war die Stelle, von welcher man im lieben Vaterlande alle Hülfe beanspruchte, zu der man sich selber nicht entschließen konnte, die Allerhöchste, der man auch die Rettung von Fräulein Hardinens Ehrenkrone zu verdanken hatte. Das Fräulein erhielt das Diplom einer Ehrenchanoinesse des vornehmsten Damenstiftes der Monarchie, und damit die Prärogative einer verheiratheten Frau. Sie machte von dieser Sonderstellung keinen Gebrauch, nannte sich und ließ sich nennen Fräulein von Reckenburg. Man erzählte sich auch, daß sie eine gräfliche Erhebung ihres Wappenschildes dankbarlichst ausgeschlagen habe. Sie schien sich darauf zu steifen, als Freifräulein in die Grube zu fahren. Die königliche Gunstbezeigung wurde jedoch zum Signal, die Verunglimpfung zu bezweifeln, oder großmüthig zu decken.

Ein tapferer Veteran der Befreiungskriege, von plötzlichem Fieberwahnsinn befallen, hatte auf Reckenburg eine Pflegestatt und ein ehrenvolles Grab, seine hülflose Waise hochherzige Versorgung gefunden. Wehe dem, der Jahr und Tag nach dem verhängnißvollen Königsfeste eine andere Version über die große Katastrophe hätte laut werden lassen! Fräulein Hardine feierte weder heuer noch jemals später den dritten August mit einem patriotischen Mahl; hätte sie ihn aber gefeiert, sie würde kein geladenes Haupt an ihrer Tafel vermißt haben.

Indessen die Gäste stellten sich auch ungeladen wieder ein. Visiten, Rathsuchende, Huldigende, Hoffende meldeten sich, das Lächeln der Unschuld auf den Lippen, so als ob sie nimmer gewichen, und wurden empfangen, so als ob sie nimmer vermißt worden wären. Scheiden und Meiden schien auf beiden Seiten vergessen; das alte Fahrgleis zur Reckenburg war wieder hergestellt; nur daß die Blicke sich je mehr und mehr zwischen der großen und der an ihrer Seite heranwachsenden kleinen Hardine theilten.

Denn wie staunten die ersten Besucher in der verwahrlosten Landstreicherin schon nach Jahresfrist ein Kind wieder zu finden, gesund und lieblich, wie man je eines gesehen. Fürwahr, Fräulein Hardine hatte eine glückliche Hand. Auch ihr trübseliger Schützling war gediehen in der Luft des neuen Thurms und auf den Flurwegen, wo sie der Herrin tägliche Begleiterin geworden. Die Nachbarschaft erwartete in Bälde den Act einer Adoption, dem die Adelsbestätigung nicht fehlen werde. Man zählte zum Voraus die Reihe der ritterlichen Jünglinge, die ohne Scheu das Erbe der Reckenburg aus der Hand der Marketenderinnentochter empfangen würden. Und die Reihe war lang.

Aber nichts von dem Erwarteten geschah, Fräulein Hardine that keinen Schritt, um die kleine Plebejerin zu ihrem eignen Range zu erheben. Sie machte nicht einmal ihr Testament. Ihre Pflegebefohlene blieb nach wie vor Hardine Müller.

Auch wurde sie keineswegs herangebildet, wie es einer Erbin von Reckenburg geziemt haben würde: keiner vornehmen Kostanstalt, keinem gelehrten Hofmeister, keinen fremdländischen Gouvernanten übergeben. Der erste Lehrer des Kindes, Pastor Nordheim, blieb auch der letzte, und von allen Kunstfertigkeiten der Mode war es späterhin nur die Musik, welche ein tüchtiger Meister der Nachbarschaft in dem talentvollen Mädchen pflegte. Im Uebrigen fügte sich dasselbe bald in das Getriebe des inneren Haushaltes, und schien sich in demselben mit gleicher Neigung zu bewegen wie ihre Beschützerin in der äußeren Verwaltung.

Diese Erziehung deutete allerdings nicht auf hochfliegende Pläne für das geheimnißvolle Waisenkind. Wer hätte jedoch behaupten mögen, daß Fräulein Hardine, welche in so vielen Stücken gegen den Strom zu steuern wagte, einer eignen Tochter oder Enkelin eine vielseitigere Bildung bewilligt haben würde? daß das Maß des eignen Wissens und Könnens ihr nicht das Genügende schien, um einen großen Besitz und ein bedeutendes Amt zu verwalten?

Zu diesen wohl gerechtfertigten Zweifeln gesellte sich die Wahrnehmung eines allmäligen Umwandelns des Reckenburg'schen Lebenszuschnittes nach der häuslichen Seite hin. – Der Verlauf war natürlich und folgerecht für Eine, die nichts halb that, wie unser Fräulein Hardine. Denn ein Mensch zieht den andern nach und keiner mehrere als ein Kind. Die kleine Waise bedurfte der Wartung, des Unterrichts und Umgangs; sie bedurfte des Raums zur Pflege, zum Spiel, zur Aufnahme nachbarlicher Genossinnen und deren erwachsener Sippschaft, die nicht spröde auf sich warten ließ. Ein freundliches Gelaß mußte mit den Tändeleien einer Kinder-, später einer Mädchenstube ausgefüllt, Gastzimmer und wohnliche Versammlungsräume mußten eingerichtet werden. Der neue Thurm war zu eng und einfach für mehr als Eine; die anstoßenden Säle waren zu weit und prunkvoll für Wenigere als eine Galaversammlung. Da gab es denn Abtheilungen und Zwischenwände; wärmende Oefen traten an die Seite der unzulänglichen Marmorkamine; weiche Teppiche bedeckten die kältende Mosaik des Bodens; bequeme Polstermöbel nahmen die Stelle der harten, goldverzierten Sessel ein, duftende Blumengruppen die der modernden Potpourris und wackelnden Chinesen auf den Consolen, Musik und Gesang ertönten in dem lange stillen Palast, und ein modern gefälliges Geräth bedeckte statt der barocken Silber- und Porzellangefäße die wohlbesetzte Tafel.

Und wie das Haus so die Gartenpracht. Die gesammte todte Götterwelt, vor welcher die kleine Hardine sich gefürchtet hatte, fiel ohne Gnade; die drei- und viereckigen lebendigen Gestalten, über welche sie gelacht, als man sie Bäume nannte, machten unbeschnittenen Strauch- und Baumgruppen Platz; die steifen Hecken, die glasgesäumten Schnörkelbeete, welche den Tummelplatz der Kinderwelt beengten, verschwanden, und weite Rasenplätze rundeten sich an ihrer Stelle zu beiden Seiten der stattlichen Avenue. Junge Mädchen lieben Blumen, und so entfaltete sich weiterhin bis zum Waldesrande ein üppiger Flor; rings um den Gutshof aber dehnten sich Gemüse- und Obstpflanzungen, Glashäuser und Winterbeete, denn das gastliche Haus bedurfte der Leckerbissen, welche die einsame Herrin vordem nicht vermißt hatte. Anmuthige Sitzplätze luden aller Orten zur Ruhe ein, eine einzige große Fontaine inmitten der Terrasse spendete kühlend die Wassermenge, welche die Ungethüme des Lustgartens in zahllosen Fädchen ausgetröpfelt hatten, und die Singvögel des Waldes flatterten bis an den Rand des Bassins, wo freundliche Kinderhände ihnen Futter streuten. Alles in Allem: unsere Reckenburg, ohne ihren Herrschaftlichen Ursprung zu verleugnen, hat sich in ein Heimwesen mit zeitgemäßem, bürgerlichem Behagen umgewandelt, und wie hätte fortan ein Bedürftiger ohne Labe und Pflege von ihrer Schwelle gewiesen werden sollen, wenn die kleine Hardine für ihn »bitte, bitte« sprach? Gut geartete Kinder geben ja so gern, und die kleine Hardine war ein gut geartetes Kind. Als in den ersten dreißiger Jahren die Cholera rings im Lande viele Opfer forderte, und mit einem ihrer Katzensprünge nur unser Reckenburg verschonte, da errichtete das Fräulein ein stattliches Waisenhaus, und an dem Einsegnungstage ihrer Pflegetochter wurden fünfzig Vater- und mutterlose Mädchen darin eingeführt.

So ist die kleine Hardine nun ein erwachsenes Dämchen geworden; und ein wechselnder Verkehr mit Stadt und Land hat sich angebahnt und ausgedehnt auch über Kreise, die sonst nicht zu der Tafelrunde der Reckenburg gezählt worden waren; innerhalb dieser Kreise werden, bei dem seit den Julitagen angelegteren Zeitwesen, denn auch wohl Stimmungen laut geworden sein, welchen die große Hardine in früheren Tagen schwerlich Gehör geschenkt haben dürfte. Kurzum, wohin wir blicken, da ist seit dem Eintritt des kleinen Bettlerkindes in der vertrauten Umhegung allmälig das Alte neu, das Verlebte jung geworden. Und so sehen wir denn auch nicht mehr die goldene Kutsche mit dem altersschwachen Schimmelzug, sondern ein leichtes Gefährt mit raschem Zweigespann die Herrschaft und ihre Gäste zu einander führen, und nicht mehr die gepuderten Heiducken, sondern ein flinkes, jugendliches Völkchen versieht den Dienst in dem erneuten Hans. Die periodischen Galafeste haben aufgehört, aber im Schloß wie im Dorf singt und springt die Jugend unter dem Maienbaum und Erntekranz; die Schenke streckt einladend ihren Arm in die Luft, die Kegel rollen, die Krüge klappen, wenn auch mit Maß; wir sind noch immer eine ehrbare Colonie, aber doch andere Leute geworden wie jene, die den wandernden Invaliden mit Wunderaugen betrachteten und die stattliche Festcavalcade keines Blinzelns würdigten. Es herbergte sich gut auch bei den Bauern von Reckenburg; droben aber in den herrschaftlichen Gemächern lockte ein allempfundener Zauber die Gäste herbei, denn die alte Dame lächelte gütig und die junge war schön.

Indessen sie hieß noch immer schlechthin Hardine Müller, sie nahm eine Stellung ein, die sich ebenso wohl für die bevorzugte Gesellschafterin, wie für die Verwandtin eines großen Hauses geschickt haben würde. Ausbildung und Beschäftigungsweise hätten sie für das Familienleben bürgerlicher Kreise geeignet gemacht, Anstand und äußere Form möchte ein Hochwohlgeborener Weltmann nicht unter seiner Würde gefunden haben. Und eben weil sie so Verschiedenen gerecht schien, sah die Hoffnung jedes Besonderen sich eingeschränkt. Die Bürgerlichen schreckten die Ansprüche der aristokratischen Pflegemutter; die Aristokraten schreckte die plebejische Herkunft ohne verbriefte Zukunftsaussicht. Eine Zeit lang glaubte man an eine Verbindung mit dem ältesten Sohne des Grafen, einem hübschen, flotten Cavalier. Der junge Herr besann sich aber anders, er wählte Eine, die Gott weiß wie viele Ahnen und nicht, wie die kleine Hardine, zwar zehn Sperlinge auf dem Dach, aber einen sicher in der Hand hatte. Es war das zweifelhafte Erbe der Reckenburg, welches von zwei Seiten die Bewerber zurückhielt, und so müssen wir leider die Thatsache constatiren, daß die liebliche, vielbewunderte kleine Hardine in ihrem zwanzigsten Jahre sich noch keines Heirathsantrages rühmen durfte. Alle diese Freierzweifel fanden jedoch eine überraschende Lösung, als just in den Hochsommertagen, wo vor zwölf Jahren die Waise des Invaliden an dem Heerde der Reckenburg heimisch geworden war, Fräulein Hardine die Verlobung ihrer Pflegetochter bekannt machte. Der Auserkorene war ihr erster Kindheitsgenosse, der uns bekannte freundliche Gymnasiast, der aber nicht das geistliche Erbamt auf Reckenburg übernommen, sondern nach dem Tode seines Vaters vor ein Paar Jahren die juristische Laufbahn mit der ökonomischen unter Fräulein Hardinens Augen vertauscht hatte und jetzt als deren Gehülfe die Reckenburg verwaltete.

Manche heimliche Hoffnung wurde durch diese Verbindung zerstört, manche neu belebt. Man nahm sie als einen Act der Verleugnung, wo man einen der Adoption gefürchtet hatte. Nun und nimmermehr konnte dieses Prototyp einer Edelfrau den Stammsitz ihrer Väter, das Erbe, welches deren Namen in die Zukunft leitete, auf die Familie eines Mannes übertragen, der als Bediensteter in ihrem Lohn und Brode stand. Wer reines Blut in seinen Adern fühlte, brachte ein Hoch aus auf die alte Reckenburgerin.

In wenigen Wochen waren Ludwig Nordheim und Hardine Müller ein Paar. Die unruhige Spannung aber steigerte sich, als schon am Tage nach der Hochzeit sich die Neuigkeit verbreitete, daß das Fräulein von Reckenburg ein Testament übergeben habe. Sie hatte es ohne notariellen Beistand abgefaßt, Siegelung und jedwede gerichtliche Einmischung in die zur Zeit ihres Todes bestehende Verwaltung untersagt, bis nach dreißigtägiger Frist die Eröffnung stattgefunden haben werde. Mit dieser letzten Clausel mochte es allerdings Weile haben. Die Testatorin war an Geist wie Körper kerngesund, kein Haar auf ihrem Haupte ergraut, der stolze Nacken nicht um eine Linie gekrümmt. Sie zählte sechzig Jahre, vielleicht auch mehr, aber sie schien auf ein Jahrhundert angelegt.

Manche unserer heimischen Zeitgenossen werden sich daher des allseitigen Staunens, ja Erstarrens erinnern – dem Herausgeber zittert heute noch die Hand, nun er bei diesem Wendepunkte, angelangt ist –, als am 21. September 1837 sich die Kunde von dem Tode der letzten Reckenburgerin gleich einem Lauffeuer über die Landschaft verbreitete. So fern sie irgend einem gemüthlichen Zusammenhange außer ihrer Flur gestanden, die Blicke und Gedanken von Hoch und Gering hatten sich Geschlechter hindurch mit einem allzu lebhaften und mannichfaltigen Interesse auf die beiden ungewöhnlichen Schloßherrinnen geheftet, um sich nicht wie von einem persönlichen Schicksale betroffen zu fühlen, als jetzt die Stelle, die sie eingenommen, plötzlich verödet war. Wer sollte diese Stelle fortan füllen? Einzelne wie Corporationen forschten ängstlich nach dem leisesten Faden, welcher zu der bewährten Segensquelle leiten konnte. Jedweder sah sich zu einer Hoffnung berechtigt, um so mehr, als Keiner zu einem Anspruch berechtigt war und nur Glück oder Gunst ihm ein großes Loos in die Hand spielen konnte.

Aber es waren nicht diese Glücksjäger allein. Ein umfänglicher Gemeindeverband hatte eine Oberherrin verloren, die sich sein Gedeihen zur Aufgabe eines langen Lebens gesetzt, eine große Zahl Beamteter die gerechteste Gebieterin, auch die Armuth eine milde Versorgerin, seitdem durch die Hand eines Bettlerkindes die Tugend der Barmherzigkeit eine Sitte auf Reckenburg geworden war, und es ist nicht zu viel gesagt, daß Tausende mit beklommener Brust der Stunde entgegensahen, die über die Wahl des Erben von Reckenburg entscheiden sollte.


Keiner aber empfand diese Beklemmung tiefer als das junge Paar, dessen sorgloses Glück durch den jähen Tod einer Wohlthäterin so dunkel getrübt worden war. Erst seit dieser Stunde fühlten Ludwig und Hardine voll und ganz das Bedeuten ihrer frühen Verwaisung, fühlten sie das Bangen der Heimathlosigkeit. Ein warmes, weiches Nest hatte sie bis heute geborgen; wo aber sollte die Hütte ihrer Zukunft stehen?

Und es war nicht nur die zweifelhafte Zukunft, nicht nur der Kummer der Gegenwart, es war auch das Geheimniß der Vergangenheit, welches die Herzen der armen Kinder so ängstlich zusammenzog. Sie allein von den Vielen, welche der letztgültigen Entscheidung über ihre Heimath mit Spannung entgegensahen, sie allein wußten, daß gleichzeitig das Räthsel sich lösen sollte, welches der Waise des Invaliden eine Freistatt in derselben eröffnet hatte.

Als an jenem unglückseligen Morgen die jungen Gatten frohen Muths zum gewohnten Frühgruß in das Zimmer ihrer mütterlichen Freundin traten, fanden sie dieselbe nicht wie alle Tage für ihren Geschäftsbetrieb gerüstet. Das Bett war unberührt, sie selber aber saß im Nachtkleide zurückgesunken in dem Lehnstuhle, der schon in ihrem Vaterhause gestanden hatte. Auf dem Schreibtische vor ihr lag die alte Erbbibel aufgeschlagen bei dem achten Capitel des Römerbriefes, und die Worte des vierzehnten Verses, »denn welche der Geist Gottes treibt, die werden Gottes Kinder heißen,« waren sichtbarlich frisch unterstrichen. Neben der Bibel aber fanden sie ein Manuscript, dessen Aufschrift mit den gewohnten kräftigen Handzügen lautete:

»Mein Geheimniß. Ohne Zeugen zu lesen von Ludwig und Hardine Nordheim am Abend vor der Eröffnung meines letzten Willens.«

Erst spät in der Nacht schien das Siegel auf diese Mittheilung gedrückt worden zu sein, denn die Lackstange wie das Reckenburg'sche Wappen zeigten Spuren des kürzlichen Gebrauchs, und die einzige Kerze, welche dem scharfen Auge und der schlichten Gewöhnung der Matrone noch immer genügte, war tief herabgebrannt. Noch hatte sie die Flamme sorglich gelöscht, dann mit gefalteten Händen, im Rückblick oder Aufblick, mochte sie noch eine Weile geruht haben und so entschlummert sein. Nicht wie die Kinder beim ersten Eindruck hofften, um wiederum zu erwachen, nein, eingeschlummert für immer. Ein Herzschlag hatte sie getödtet. Kein Zeichen von Kampf oder Krampf entstellte die ruhigen Züge, ein leises Lächeln umspielte die Lippen und auf den Wangen war der letzte röthliche Hauch noch nicht entflohen. Das todte Antlitz sah sich schöner an als einst das lebende. Noch zeigte es das milde Entzücken des Heimganges, jenen Adel der letzten Stunde, welcher den Schmerz der Ueberlebenden zu ewigem Troste verklärt. Die letzte Reckenburgerin war geschieden vor dem Hinsiechen einer Kraft, in bewußtem Frieden mit Gott, mit seiner Welt und mit sich selbst.

Heute aber lief die Monatsfrist zu Ende, die sie bis zur Enthüllung ihres langbewahrten Geheimnisses anberaumt hatte. Die Sonne des Octobertages neigte sich, und wir empfinden den feierlichen Ernst, mit welchem wir die jungen Gatten, in tiefe Trauerkleider gehüllt, die Terrasse hinabsteigen und schweigend den Ulmengang bis zum Waldesrande verfolgen sehen.

Eine langgehegte Neigung des Herzens hatte Ludwig und Hardine zusammengeführt, und die Liebe, sagt man ja, wählt blind. Aber auch der scharfprüfende Blick ihrer Beschützerin würde kaum zwei Menschen gefunden haben, welche, wie diese beiden, zur gegenseitigen Ergänzung geschaffen schienen.

So klaren Auges, von so kraftvoller Structur und Färbung, wie die des jungen Mannes, so hoch aufgerichtet wie ihn, würden wir uns einen leiblichen Sprossen des Reckenburger Stammes haben vorstellen können. So sicher seiner selbst und rasch zur That mußte der Gehülfe sein, welchen Fräulein Hardine sich in ihrem Amte erwählt hatte. Der frohmüthige Gymnasiast, der schon bei der ersten Begegnung das Herz des wandernden Invaliden gewonnen hatte, war ein ganzer Mann geworden und ein guter Mann.

Hardine aber, wie sie sich jetzt so dicht an den einzigen Beschützer schmiegt, dessen Schulter der weiche, goldglänzende Scheitel kaum erreicht, jeder Blick des großen, feuchtschimmernden Auges eine Frage, jede Biegung der anmuthigen Glieder, jede Blutwelle unter der durchsichtigen Haut der Ausdruck eines liebebedürftigen Gemüths: so gleicht sie der jungen Birke, deren Laub im leisesten Hauche zittert, und deren zarter Schaft zusammenknicken würde, wenn Sturm und Wetter sich nicht an dem hochragenden Wipfel des schützenden Eichenbaumes brechen sollten.

Es war einer von den seltenen Tagen, deren Sonnengold und Farbenspiel wir so dankbar als letzte Gunst des Jahres genießen. Ludwig und Hardine erstiegen einen Hügel, der, zwischen Garten und Forst, meilenweit über die Flußaue einen Ausblick bietet. Die Herbstspinne hatte die Stoppeln der Felder mit einem silbernen Netze verhüllt, die Zeitlose einen Violenschimmer über die noch immer saftgrünen Wiesen gebreitet. Leise drangen die Glocken der abweidenden Heerden herauf; die Spätlingsdüfte der Reseda mischten sich mit der Würze des Waldes, der in allen Schattirungen des absterbenden Laubes und der immergrünen Nadeln die Landschaft umrahmt. Breit und ruhig wallte der Strom, ein Spiegel reinster Himmelsbläue, bis er fern im Westen im Glanze der sinkenden Sonne verschwand; gegen Morgen aber stand die feine Sichel des Mondes gleich einem Diadem über dem schwärzlichen Tannenforst, und aus dem Grunde stiegen schon jene weißen Dunstschleier in die Hohe, welche an die Ahnungen unserer Seele erinnern, wenn Sang und Duft der Jugend erloschen sind.

Keine Jahresfärbung steigert die einfachen Formen unserer Landschaft zur Schönheit wie die des Herbstes, und war es zum Lebewohl, war es zu einem heimathlichen Glückauf, daß sie heute ihren blendensten Schmelz entfaltet hatte?

Ludwig und Hardine hatten eine Weile schweigend das reichgesättigte Bild überschaut. Jetzt unterbrach der junge Mann die Stille; er faßte der Gattin Hand und sprach mit einem Lächeln und herzerschließenden Klang der Stimme: »Ja, es ist eine liebe Heimath, und es müßte köstlich sein, sich aus eignem Vermögen in ihr ein Bürgerrecht zu erwerben. Aber trockne Deine Thränen, meine Hardine. Gehören wir nicht Eines dem Anderen? sind wir nicht durch Sie zu froher Thätigkeit gewöhnt? Du wirst auch anderwärts glücklich sein, mein liebes, sanftes Weib!«

»Ueberall, Ludwig, überall mit Dir!« flüsterte sie, indem sie den hellen Kopf an seine Brust gleiten ließ. Nach einer Pause aber setzte sie hinzu und ein Schauer überrieselte die schwanke Gestalt: »Es ist ja nicht das, Ludwig, nicht das allein – –« Sie stockte, er aber sagte:

»Nein, es ist nicht das, und ich weiß, was es ist, Hardine. Kein bangeres Geheimniß als das des Blutes. Liegt uns die Zukunft verhüllt, die Vergangenheit wollen wir klar überblicken, wollen die Ahnen kennen, denen wir die Wohlthat des Daseins zu danken haben. Und darum –«

»Darum!« hauchte die junge Frau.

»Darum,« fuhr Jener fort mit einer stolzen Zuversicht, als gälte es einen Zweifel an der eignen Ehre zurückzuweisen, »darum sage ich: was auch die nächste Zukunft enthüllen mag, nun und nimmer einen Makel auf dem hehren Bilde dieser Frau, die uns Beiden eine Mutter geworden ist.« Die Gattin beugte sich und küßte des Mannes Hand, zum Dank, daß er ihr ein frohes Bewußtsein bekräftigt habe. Dennoch flössen ihre Thränen noch immer. »Und mein Vater, Ludwig,« schluchzte sie, »mein armer Vater –«

»Dein Vater,« versetzte Ludwig, »klammerte sich im Schiffbruche des Lebens an den Strohhalm einer Erinnerung, eines Wahns, um sich selber und sein hülfloses Kind vor dem Versinken zu retten.«

Die junge Fran schluchzte krampfhaft. Ihr Mann küßte sie auf die Stirn und zog sie neben sich auf eine Bank, über welche ein Ebereschenbaum seine schweren Traubenzweige hängen ließ.

»Fasse Dich, mein Kind,« sagte er. »Uns bleibt noch eine Stunde. Laß uns die Enthüllungen, welche wir vermuthen, durch unsere Erinnerungen vorbereiten. Niemals würde ich mir solch' eine Aussprache selber mit meinem geliebten Weibe gestattet haben, so lange ihre Augen über uns wachten. Ich fühlte ihre heimliche Mißbilligung. Heute aber, wo ihr eigner Wille das Geheimniß brechen wird, heute frage ich Dich, Hardine: hat sie je gegen Dich der Vergangenheit erwähnt?«

»Niemals, niemals, Ludwig,« betheuerte die junge Frau.

»Und auch gegen mich nur mit einem einzigen ernsten, aber nicht enthüllenden Wort,« sagte Nordheim, von der Erinnerung bewegt.

»An jenem glückseligen Morgen, wo sie meine langgehegten Wünsche zum Ausdruck und zur Erfüllung brachte, da fragte sie mich: »Kennst Du die Abstammung des Kindes, Ludwig, dessen Schutz Du von heute ab übernimmst?« Und als ich die Frage bejahte, fuhr sie fort: »Sie ist in Ehren geboren; ihr Vater war ein tapferer Soldat, dessen Wunden die späteren Verirrungen decken. Sei auch Du ein tapferer Soldat und scheue nicht die Wunden in dem immerhin schweren Kampfe des Lebens.« Das ist das einzige Mal, daß sie das Andenken August Müller's in mir wach gerufen hat.«

Ludwig sprach eine lange Weile über jene erste traurige Zeit. Das Gedächtniß des lebhaften, neugierigen Schülers hatte Manches erfaßt und erfahren, was dem blöden kleinen Mädchen entgangen oder entfallen war. Er scheute sich nicht, sie an ihres Vaters verwahrlosten Zustand und selber an ihren eignen zu erinnern, wie sie ein zitterndes, halbnacktes Vögelchen, fast stumpfsinnig von Entbehrung und Elend, der Frau unter die Augen getreten sei, die ihren Abscheu vor jeder Art von Verkommenheit bisher noch zu keines Menschen Gunsten verleugnet habe.

»Ich kann uns diesen Rückblick nicht ersparen, mein liebes Herz,« sagte er, »auf daß wir die Frau verstehen lernen und ihre That. Frage Dich nun selber, ob solch' eine Erscheinung, mit dem unerhörtesten Anspruche sich zudrängend und sich des schmählichsten Unglimpfes nicht entblödend, ob sie die bisherige Natur, die bisherigen Grundsätze unserer Freundin erschüttern, oder ob sie dieselben schärfen mußte?«

Weiterhin sprach er von den Folgen jener Begegnung, Erst in dieser Stunde erfuhr Hardine, mit welchem Opfer die an Ehrerbietung gewöhnte Matrone ihr Geheimniß bewahrt habe, und beider Wesen beugte sich vor diesem schweigenden Heldenmuth, den die junge Frau mit dem ihr geläufigsten Worte »Liebe« nannte.

»Nein,« so schloß aber Ludwig seine umsichtige Betrachtung, »nein, es war nicht, was Du Liebe nennst, Hardine, nicht ein natürlicher Zug, welcher der strengen Lebensregel dieser Frau und der von ihr hochgehaltenen Meinung der Welt Trotz bieten hieß. Und es war auch nicht der übernatürliche Trieb der Christin, der Schmach und Verfolgung als eine Seligkeit auf sich nimmt.«

»Und was denn, Ludwig?« hauchte die junge Frau, »was denn?«

»Ein Geheimniß, wie sie es selber nennt, ein Geheimniß, das, wenn es sich löst, uns lehren wird, daß wir die Macht besitzen, auch gegen unsere Neigung das Rechte zu thun. Gewissen heißt sie, jene himmlische Macht, auf welche in erster Ordnung alles Menschliche sich gründet. Diese Frau erfüllte eine Pflicht. Sie erfüllte sie voll und ganz nach ihrer großgeschaffenen Natur. Und wenn im Laufe der Zeit der rückwirkende Segen der Liebe ihrer Tugend entquoll, so sind wir zweimal ihre Schuldigen geworden: zuerst um des Kampfes willen, welchen sie bestand, und dann um des Sieges willen, welcher sie zu unserer Mutter machte.«

Ludwig Nordheim erhob sich nach diesen Worten, ergriff die Hand seiner Gattin und fuhr nach einer Pause mit warmer Bewegung fort: »Und darum, meine Hardine, ehe wir das letzte Wort aus ihrem Munde vernehmen, lege Deine Rechte in die meine zu einem unverbrüchlichen Entschluß. Was diese Frau uns enthüllen oder vorenthalten wird: wir wollen es verehren als die Offenbarung einer Mutter; was sie uns heißen oder verbieten wird, wir wollen ihm gehorchen als dem Gesetz einer Mutter. Sollen wir arm und auf uns selbst gestellt in die Fremde ziehen, wir zweifeln nicht: es war die Weisheit einer Mutter, welche den Stachel der Noth zu unserer Reise erkannte. Zeigt sie uns einen Pfad: wir wandeln ihn; eröffnet sie uns ein Amt: wir warten sein, stark durch den Rückblick auf sie. Endlich aber, meine Hardine: wenn unter ihrer Hand ein Bild sich entschleiern sollte, welches die Enkel verehren möchten und vor welchem sie erröthend die Augen niederschlagen, so zählen wir unser Geschlecht von dem Tage an, wo diese Frau dem losgelösten Kinde eine Freistatt in ihrem Herzen eröffnet hat; und wir wollen unsere Häupter hoch tragen, gerade darum, denn die freie Liebe einer Mutter hat sich zwischen uns und den nächtigen Schatten gestellt.«

Er schwieg. Die Gattin hatte ihre beiden Hände in seine Rechte gelegt und er hielt sie eine Weile mit kräftigem Drucke umschlossen. Es war Abend geworden; das letzte Roth verglüht, der erste Stern am Horizonte aufgestiegen; die weißen Nebelgestalten der Aue drangen immer dichter und dichter zu den dunklen Föhrenwipfeln empor. Noch einen Abschiedsblick in die Runde, dann wendeten Ludwig und Hardine sich rasch und gingen schweigend, aber mit lebhafteren Schritten, als sie gekommen, dem Schlosse zu. Ohne Aufenthalt betraten sie das einfache Thurmgemach, das noch unverrückt die Spuren des entschwundenen Lebens trug. Fräulein Hardine hatte im Laufe des Sommers einem namhaften Künstler zu dem einzigen Bilde gesessen, welches von ihr existirt, und welches jetzt, seiner Bestimmung gemäß, in dem Ahnensaale der Reckenburg das letzte Feld einnimmt. Von der kinderlosen Erbauerin war dieser Platz dem fürstlichen Gemahle zugedacht, um die Reihe mit einem Purpur abzuschließen. Nun weilt der Beschauer sinnend vor der schlichten Gestalt, welche der Künstler gut gemalt, aber besser noch aufgefaßt hat.

Wir haben eine lange Reihe hinter uns. Zu Anfang die nach Natur und Kunst ziemlich grobschlächtigen ritterlichen Damen und Herren in Schaube und Barett, in Koller und Panzerhemd. Dann, zahlreich vertreten, der Cavalier und sein Gespons, in Lockenperrücke und Zopf, uniformirt und besternt, Puder, Toupet und Schönpflästerchen, tanzmeisterliche Haltung und Höflingspas. Endlich die kleine Figur der Gräfin mit dem scharfen Vogelprofil, ein neunperliges Krönchen in der hochgethürmten Frisur, wie sie vor den Ruinen der alten Burg den Bauplan des neuen Schlosses in der beringten Hand entrollt.

Die Spanne fast eines Jahrhunderts liegt zwischen diesem Bilde und dem, welches die Reihe schließt. Und welches Jahrhunderts! Mit Siebenmeilenstiefeln rennt die gewaltigste Umwälzung, welche die Weltgeschichte kennt, an unserem Geiste vorüber. Der Fuß thut einen Schritt, – und wir stehen vor der Gestalt Fräulein Hardinens.

Alle Frauen der Galerie und selber die Mehrzahl ihrer männlichen Vorgänger überragend, ist sie in einer Waldeslichtung und im Vorwärtsschreiten dargestellt, den Blick mit ruhiger Zuversicht in die Gegend gerichtet, von welcher das Licht in die Scene fällt. Schlicht gescheiteltes Haar, ein jagdgrünes Gewand, in der Hand einen Eichenzweig: so wie wir ihr täglich auf ihren Flurgängen begegnet sind. Auf der Brust als einzigen Schmuck das schwarzweiße Ordenszeichen der Befreiungsjahre.

Ist es auch nur der Lauf und Ablauf eines Geschlechts, die Gesammtheit spiegelt sich uns in diesem Einzelbilde. Unser Herz war beklommen, nun schlägt es getrost. Wir fühlen uns gemahnt an jene Menschheitspfeiler, welche an die Grenze zweier Zeiten gestellt, aus der alten hinaus die Brücke in eine neue schlagen, gemahnt durch das gute Bild von unserem Fräulein Hardine.

Dieses Bild war erst nach dem Tode der Dame von dem Maler abgeliefert und von den Kindern, mit einem Asternkranze umrahmt, für die heutige Weihestunde über dem Lehnstuhle befestigt worden, auf welchem die Theure den letzten Athemzug ausgehaucht hatte.

Dem Bilde gegenüber nahmen sie ihren Platz vor dem altväterlichen Eichentische, auf welchem die Bibel bei dem achten Capitel des Römerbriefes aufgeschlagen geblieben war. Hardine zündete die Kerzen an und legte ihre zitternde Hand in die ihres Gatten.

Nach einem tiefen Athemzuge löste er die Siegel des Schriftstückes, und ohne Unterbrechung als die eines liebreichen Blickes auf die still weinende Frau, oder auf das Bild in der Höh', las er den Inhalt, den wir dem Leser vorausgegeben haben bis zu dem Tode des Invaliden.

Das Geheimniß der Vergangenheit war enthüllt, dem Geiste nach so, wie Ludwig Nordheim es der Gattin vorausgekündigt hatte. Nur wenige Blätter blieben noch in seiner Hand; er ahnte, daß sie das Gesetz für ihre Zukunft enthalten müßten, und nach einer langen, langen Pause las er den letzten Abschnitt von der Geschichte der seltenen Frau.


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