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Erstes Capitel.

Die Rose und ihr Blatt.

Die Reichthümer der Reckenburg lagen meiner Wiege so fern wie die Goldminen von Peru, und die Letzten der »weißen« freiherrlichen Linie waren nicht die begehrlichen Abenteurer, die um schnöden Mammons willen sich in das Bereich der »schwarzen« Häuptlingin ihres Stammes gewagt haben würden. Sie hatten seit Generationen eine Zuflucht gefunden, welche die adelige Armuth ehrenvoll deckte, und sich unter der Fahne wohl und zufrieden gefühlt. – Keiner jedoch wohler und zufriedener, als der Allerletzte in ihrer Reihe, der schon als Lieutenant ein Bäschen gefreit hatte, auch von den »Weißen«, arm und ahnenrein wie er selbst.

Eberhard und Adelheid von Reckenburg waren geschwisterlich nebeneinander aufgewachsen, und zweifle ich, daß in irgend einem Stadium ihrer Bekanntschaft das große Wort Liebe zwischen ihnen gewechselt worden sei. Große Worte so wenig wie kleine Zärtlichkeiten waren Reckenburg'scher Habitus; aus welcher Bemerkung indessen keineswegs gefolgert werden soll, daß die Leute nicht tief im Herzensgrunde einander angehangen hätten. Ich wüßte, im Gegentheil, mir kaum einen glücklicheren Ehebund vorzustellen, als den, in welchem Eberhard und Adelheid sich länger als dreißig Jahre in einmüthigem Pulsschlag ergänzten und trugen. Er: groß, roth, robust; wie er sich selber nannte: »ein Ursachse«, den ein neckischer Kobold unter die leichte Reiterei gewürfelt hatte. Sie: klein, fein, blaß und behende. Er: gutmüthig, sorglos, gelassen, bereit, die Dinge, sobald sie ihm zu ernsthaft wurden, mit einem Scherzworte abzufertigen. Sie: bedachtsam, klug, praktisch und darum, zu allseitiger Befriedigung, der Souffleur und heimliche Maschinist der häuslichen Bühne. Beide: Ehren- und Edelleute vom Scheitel zur Zeh'. Daß Heldin und Schreiberin dieser Geschichte, das einzige Kind des glücklichen Paares, körperlich nach der Structur des Vaters, geistig mehr nach der der Mutter geschlagen ist, wird aus ihrem Lebensbaue zu ersehen sein.

Ich erhielt den Namen Eberhardine, wie einst der Vater schon den seinigen erhalten hatte, zu Ehren des gräflichen Familienoberhauptes. Beide Generationen per procura und ohne daß Verleiher und Empfänger sich jemals mit Augen gesehen hätten. Da der hohen Pathin hinwiederum aber ihr Name durch die kurfürstliche Eberhardine eingebunden worden war, durch jene Brandenburgerin, welche ihrem starken August und der polnischen Königskrone zum Trotz ihre Tugend und protestantische Treue zu behaupten wußte, so bin ich der unmaßgeblichen Meinung, daß eine Ader dieser ausländischen Zähigkeit, per procura des Taufregisters, sich auf die sächsische Pathenfolge in weiblicher Linie vererbt haben mag. Das königlich-kurfürstliche Namenserbe hingegen wurde für einen Lieutenantshaushalt zu großartig befunden. Der Papa strich »die ungeschlachte Bestie« am Anfang, und auch die Tochter hat sich, ex officio, späterhin gern mit der Hardine begnügt, wenngleich sie der Sanction des Kalenders entbehrte..

Das junge Ehepaar hatte seinen Haushalt gegründet – notabene: in der Theuerungsnoth der siebenziger Jahre – mit einer Monatsgage von zwölf Thalern und einem Lehnstamm ungefähr des nämlichen Betrages. So weit jedoch meine eigenen Erinnerungen reichen, führte der Vater die Schwadron, ein Posten, der für Manchen seines Gleichen die Revenüen eines Rittergutes abwarf und von just nicht Ehrsüchtigen den Majorsepauletten vorgezogen ward. Da der Rittmeister von Reckenburg aber ein Mann war, der nicht mit Zopfbändern zu knausern verstand und jeden Hufbeschlag für eine Gewissenssache hielt, so hütete sich seine »Hausehre«, das wirtschaftliche Budget nach Maßstab der Charge zu erhöhen. Bei aller Verwaltungsweisheit brachte sie sich indessen wenig auf einen grünen Zweig, wennschon ein ruinirendes Zelt- und Wandervogelleben das des Soldaten in jenen kurfürstlichen Zeiten nicht genannt werden kann.

Der Vater stand während seines langen Fahnendienstes bei dem nämlichen Regiment und mit demselben in der nämlichen Garnison. Wir hatten in unserem Landstädtchen heimathlich Wurzel geschlagen und achteten es als Gewinn für die häusliche Gemächlichkeit, daß ein Nebenzweig des Kurhauses, der bisher im Orte residirt hatte, seit Kurzem erloschen war, obligatorische Standespflichten nach obenhin unseren Tageslauf sonach nicht regulirten. Dahingegen erfreuten wir uns mancher glanzvollen Erinnerung an jene herzogliche Zeit. Auf der Höhe ragte, wenn auch unbewohnt, das reich ausgestattete Schloß, dessen Terrassen, Weinberge und Gärten sich bis in die Bürgerhöfe hinabzogen und angenehme Erholungsplätze boten. Wir besaßen noch eine verwittwete Frau Hofmarschallin, einen pensionirten Hofjunker, einen Titular-Hofjägermeister, Hofschneider, Hofprediger und eine Hofkellerei. Die letztere sogar in unmittelbarer Nachbarschaft. Ein Faßbinder, Namens Müller, hatte sie sammt der Schankgerechtigkeit in und außer dem Schloßpavillon erpachtet, und so konnten wir uns in Haus und Garten an den Bacchanalien unserer Mitbürger ergötzen oder über sie entrüsten, je nach Stimmung und Gelegenheit.

Auch das Haus, in welchem meine Eltern vom Traualtar bis zum Grabesrande geheimst haben, rühmte sich eines fürstlichen Ursprungs. Ein weiland Herzog hatte es für seinen Leibbader, vulgo Barbier, anlegen lassen, war aber des Todes verblichen, bevor er über den Unterstock hinausgelangte. Der Posten eines Leibbaders wurde von dem neuen Hofhalte und die Beletage von dem Bauplane gestrichen. Der Dachstuhl senkte sich unmittelbar auf das Erdgeschoß, wurde aber, nach Bedürfniß späterer Geschlechter, Stockwerk um Stockwerk erhöht, bis schließlich die Haube dreimal so hoch war wie das Gestell.

Wie freut es mich heute, meine Freunde, Euch just in diese naturwüchsige Heimstätte einführen zu können. Denn nichts erfrischt die Eintönigkeit des Alters, so wie eine Curiosität aus unserer frühesten Zeit. »Der Mops mit der Zipfelmütze« steht vor meinen Augen gleich einem lebendigen Geschöpf; was aber würde ich Euch aus einer glatten, residenzlichen Zimmerflucht zu beschreiben haben?

Man nannte das Haus die Baderei oder auch die Faberei, denn es war, sammt der Kunst des Erbauers, in dessen Nachkommenschaft fortgeerbt, und »Faber«, so hieß jener vom Hofstaat gestrichene Leibbarbier, an dessen allerhöchstes Amt noch das Pförtchen erinnerte, das von unserer Gartenterrasse auf das Schloßplateau führte.

Dieses Haus nebst Pertinenzien war nun gegen dreißig Laubthaler Jahresmiethe der Familie von Reckenburg so gut wie ein selbstherrliches Bereich. Meister Faber, ein Wittmann, rastete wenig daheim. Seine Scheerstube, im bewohnbaren oberen Dachgeschoß, grenzte an das Zimmerchen, das mir von früh ab privatim eingeräumt worden war, und die drei anlockenden Messingbecken klapperten im Winde und funkelten im Sonnenschein zwischen der uns trennenden Fensterwand. In den Kammern über unseren Häuptern nächtigte Reckenburg's Dienerschaft: will sagen die Magd und der Soldatenbursche, der ein- für allemal »Purzel« hieß. Höher hinauf thürmten sich Vorraths- und Futterspeicher, Trockenboden, Rauchkammer und so weiter und so weiter.

Nun aber der fürstliche Grundbau im Parterre. De plain pied aus der Thorfahrt, welche die Hälfte einnahm, trat man in das geräumige, gelb getünchte Familienzimmer; aus diesem in die Schlaf- und vertrauliche Rathskammer des ehelichen Consortiums. Hinter beiden lagen die Küche und das Bureau der Schwadron. Das waren die freiherrlichen Appartements!

Zwischen dem Raum und seiner Füllung aber welche stylvolle Harmonie! Das hochbeinige Kanapee mit dem blaugewürfelten Leinenbezug, eigenhändig von Frau Adelheid gesponnen, die dito Gardinen, der große eichene Ausziehtisch und der lederne Ohrenstuhl, in welchem der Hausherr sein Mittagsschläfchen hielt, das mütterliche Spinnrad und die roh gezimmerte Hütsche; in der Hölle, hinter dem Ungeheuer von grünen Kacheln, der Waschtisch, an welchem die Familie nach dem Essen sich die Hände spülte, darüber, als Draperie, die selbstgesponnene, blitzblanke Quehle, – Kinder, seht sie mit Ehren an, die alten Stücke in Reckenburg's neuem Thurm: es waren gute Menschen, welche sich zwischen ihnen glücklich fühlten!

Und nun das Kleinzeug der Haushaltung: das braune Kaffeegeschirr und das Tafelservice von Zinn; die Messingleuchter mit der tiefschnuppigen Unschlittkerze, die kupferne Feuerkieke, welche Ehren-Purzel seiner gnädigen Frau Sonntags auf dem Kirchgange nachtrug; – Euch, Menschen von heute, dünken diese Geräthschaften wohl wie Rudera aus einem Hünengrabe; aber fragt einen ergrauten Junggesellen, eine einsame, alte Jungfer, die für kein Tändelwerk in einer Kinderstube zu sorgen haben, fragt sie, wie es thut, wenn solch rücklaufendes Fädchen aus dem Netze ihrer Gewohnheiten gerissen wird?

Was würden jedoch diese einfachen Umgebungen bedeuten ohne die gelassene Grandezza, mit welcher die Bewohner sich in denselben bewegten? Nichts für ungut, meine jungen Freunde, aber das Bewußtsein reinen Bluts verlieh einen Ductus, welchen die Matadore der Comtoirs und Bureaux größtentheils noch erlernen müssen, und welchen die der zweiunddreißig Quartiere erst verlernten, wenn die Manier des Höflingslebens sie beleckt hatte. Bei Eberhard und Adelheid von Reckenburg mögt Ihr in die Schule gehen, wollt Ihr gehobenen Hauptes und ohne Schwanken, wie jeder brave Mensch es soll, vor Hoch und Gering im Takte schreiten.

Wenn die Freifrau von Reckenburg sich nach der Post begab, um ein durchreisendes Mitglied ihres Fürstenhauses zu begrüßen, in der nämlichen Robe, in welcher sie als blutjunges Fräulein demselben hohen Haupte präsentirt worden war, so schritt sie, beugte sich und redete, bei aller Ehrfurcht, selber wie eine Kurfürstin, denn sie wußte ihre Ahnenreihe so alt und rein wie die des Hauses Wettin. Wenn die Gemahlin des vielschröpfenden Herrn Amtmanns, oder die des reichsalarirten Oberforstmeisters in eigner Carosse, Kammerdiener oder Jäger auf dem Trittbrett, zur Visite vorfuhren, so ging sie denselben in ihrer getünchten Wohnstube, mit der Quehle im Ofenwinkel, eher einen Schritt weniger entgegen und machte ihre Reverenz eher eine Linie weniger tief als jene Damen es thaten, sobald sie in deren Prunkzimmern zur Gegenvisite empfangen ward, denn die reiche Amtmannin war gar nicht und die Andere von neuerem Adel als die Freifrau von Reckenburg. Die Freifrau von Reckenburg erwiderte ohne Beschämung die genußwechselnden Gelage der Honoratiores alle Jahre nur ein einziges Mal mit einem Schälchen Kaffee, stark mit Mohrrüben versetzt, und der Rittmeister von Reckenburg stängelte die Bohnen seines Gartenbeets, unbekümmert ob die Gäste des Nachbar Kellerwirths des häuslichen Treibens Zeugen waren. Der Rittmeister von Reckenburg, die kurze Thonpfeife im Mund und vor sich den irdenen Deckelkrug selbstgefüllten Dünnbiers, wenn er an langen Winterabenden die Aepfelschnitzel auf Fäden reihte, welche »sein Frauenzimmer« geschält hatte, ließ sich durch eine Meldung oder einen späten Besuch so wenig beirren, als wenn er seine Husaren im Parademarsch einem Generalissimus vorführte. Thut desgleichen mit der nämlichen Manier, und die zweiunddreißig oder gar vierundsechzig Quartiere der Reckenburger werden ein Sparren oder eine Seifenblase geworden sein.

Zu meiner Zeit und in unserem Landstädtchen mit den Reliquien des erloschenen Herzogszweigs waren sie aber weder ein Sparren noch eine Seifenblase, sondern ein zuverlässiges Postament, auf welchem man, auch in den Bewegungen nach unten hin, heute sich wohlgemuth eine patriarchalische Mischung gestatten durfte und morgen ohne Aergerniß eine kastische Grenze zog. Nicht dem wohlhäbigsten Kaufmann oder Gewerbtreibenden würde es eingefallen sein, sich in die adlige Societät zu drängen, welche sich Donnerstag Nachmittags in des Kellermeisters erpachtetem Schloßgarten versammelte. Nicht die freudenarmste und töchterreichste adlige Wittib würde in der bürgerlichen Gesellschaft, die sich Montags unter den nämlichen Lauben ergötzte, eine frohe Stunde oder gar einen Freier für ihre Fräulein gesucht haben. Die bürgerlichen Honoratioren: Beamte, Prediger, Aerzte, gehörten zwar beiden Reunionen an, ohne jedoch eine Kette zwischen ihnen zu bilden und ohne von den Donnerstäglern anders als unvermeidliche Füllung betrachtet zu werden. Geschmack und Bildung waren wesentlich die nämlichen, und so konnte das Unterhaltungsmaterial Donnerstags wie Montags auch nur das nämliche sein. Die Herren kegelten, kannegießerten, spielten – meist mit deutschen – Karten und schlürften des Kellermeisters saures Landgewächs; das schöne Geschlecht strickte, tunkte selbstgebackenes Kuchenwerk in einen dünnen Milchkaffee und glossirte: die Montägler über die Donnerstägler und vice versa. An Winterabenden wurde von der Jugend im Pavillon Pfänder gespielt und gelegentlich getanzt.

Dahingegen saßen wir in der Dämmerstunde aller übrigen Tage nicht abgesondert in unseren Gärten hinter dem Haus, sondern nachbarlich bei einander auf der Bank vor der Straßenthür. Die Männer, bürgerlich und adlig, Militair und Civil, spazierten schmauchend auf und nieder, die Frauen plauderten hinüber und herüber, riefen die Vorübergehenden an, rückten zusammen, prüften ihr gegenseitiges Gespinnst und ließen Eine die Andere von ihrem Abendbrod kosten, wobei denn nicht verhehlt werden soll, daß wir und unseres Gleichen die saftigeren Bissen gekostet haben mögen. Auch gab es keine Schlachtschüssel, kein Festgebäck, keine Wein- und Obsternte bei dem Nachbar Kellermeister hüben und dem Nachbar Tuchmacher drüben, daß die gnädige Frau Rittmeisterin nicht honoris causa ein Pröbchen zum Schmecken erhalten hätte. Die gnädige Frau Rittmeisterin bedankte sich durch einen schönen Empfehl, rühmte auch gelegentlich die wohlschmeckende Darbietung, daß sie dieselbe aber von ihrer eignen Schlachtschüssel oder von ihrem eignen Christwecken erwidert hätte, wüßte ich nicht zu berichten.

Unter derlei Anschauungen war ich in die Jahre gekommen, in welchen die Pflicht für einen standesmäßigen Unterricht ernsthaft in Betracht gezogen werden mußte. Da eine Französin, will sagen Gouvernante mit der Oekonomie des Hauses sich nicht vertragen haben würde, hatte die fürsorgliche Mama bereits von der Wiege ab in dem Hauptstücke einer guten Education vorgebaut: sie sprach stets nur französisch mit mir und lehrte mich in der Folge auch die Grammatik, die sie correcter inne hatte als die der Muttersprache. Für das, was außerdem zu lehren übrig blieb, wurde in meinem achten Jahre ein Hofmeister engagirt, brühwarm vom Seminar, sanft und zärtlich wie sein Name: Christlieb Taube. Sieben Jahre lang hat dieser Musterjüngling sich buchstäblich ausgerungen, um der ihm anvertrauten Schülerin auch nicht ein Tröpfchen des kürzlich eingesaugten edlen Stoffes vorzuenthalten; er hat nebenbei im Bureau der Schwadron – »zu seiner Uebung« – manche Correctur und manchen Rechnungsplan ausgeführt, in welchen Obliegenheiten der Rittmeister von Reckenburg sich nicht immer als ein Held ohne Fehl erwies; er hat – »zu seiner Unterhaltung« – den Hausgarten in seine Pflege genommen und auf der Terrasse eine Weinhütte angelegt, auch eigenhändig die weißen Wände seines Kämmerchens, zwischen dem der Magd und des Burschen Purzel, mit Gewinden von Rosen und Vergißmeinnicht ausgemalt; er hat demnach Nutzen gestiftet und Schaden verhütet, wie so leicht kein Zweiter für fünfundzwanzig Laubthaler Salair. Er hat mir späterhin einen Beweis der rührendsten Freundestreue gegeben und bei alledem noch kürzlich in seinem letzten Briefe »die Schülermehr denn Lehrerjahre in diesem humanen Edelhause als die glückseligsten in seinem glückseligen Leben« gerühmt. Dank und Ehre daher meinem glückseligen Hofmeister Christlieb Taube!

Da die Einseligkeit in der Schulstube von der Mama nicht für schicklich und von dem Papa für allzu langweilig erklärt worden war, hatte sich die Wahl einer Studiengenossin in Nachbar Kellermeisters Dörtchen, schon bisher meiner ausschließlichen Spielkameradin, von selbst ergeben. Es war dies auch eine von den erlaubten Herablassungen zu den unteren Ständen, da ja selbst an Fürstenhöfen ein »Prügelkind« gäng und gebe ist; eine Herablassung, die in unserem Falle sich aber auch in gemüthlicher Richtung empfahl. Denn die Kleine war eine Waise von Mutterseite und der Vater Schenkwirth ein arger Hüter für dieses Kind.

Ja für dieses Kind! Daß ich es Euch vor die Augen zaubern könnte, warm wie es nach einem halben Jahrhundert noch vor den meinigen lebt! So wie es damals war und so wie es kaum merklich hineinwuchs in jedes folgende Stufenjahr: als Jungfrau, als Weib, als Matrone, das holdselige Kind Dorothee!

Aber wer beschreibt jener Sonntagsgeschöpfe eines, deren Wiege, wie die Redeweise läuft, die Liebesgöttin sammt allen drei Huldinnen umstanden hat? Und wenn ich den Pinsel statt der Feder zu führen verstände, so sähet Ihr vielleicht die feine, wie aus Wachs bossirte Gestalt, die leise gerundete Wellenlinie der Glieder; Ihr sähet über dem Rosenknöspchen des Haupts den goldigen Flor, der wie ein Schleier bis zu den Knieen niederwallte, sähet die Grübchen in Wangen und Kinn. Aber sähet Ihr auch die Purpurwoge unter der blüthenweißen, blaugeäderten Haut? Das schillernde Farbenspiel des Auges, wenn es, ein durchsichtiger Krystall, in dieser Secunde sich lachend oder forschend in die Höhe schlug, und in der nächsten, dunkel beschattet, sich demüthig zu Boden senkte? Sähet Ihr das liebliche Neigen und Biegen, den raschen Uebergang von flüchtiger Weisheit zu Scherz und Tändelei? Hörtet Ihr das silberhelle Stimmchen die Tonleiter auf- und niederhüpfen, das herzige Gelächter gleich dem Locken des Pirols am sonnigen Maientag?

Doch was hilft es mir, in dieser Blumensprache von Anno Dazumal fortzufahren? Ihr werdet das Reizende in unserer kleinen »Dorl« aus seiner Wirkung auf Andere verstehen lernen, die einzige Manier, in der das Reizende überhaupt geschildert und verstanden werden kann. Zu allernächst in seiner Wirkung auf mich selbst.

In jenen Kindheitstagen, ei nun, so wie sie da dachte ich mir die Engelchen unter Gott-Vaters Baldachin, und die pausbäckigen Trompetenbläser in unserer alten Postille dünkten mich gar grobschlächtige, himmlische Gesellen neben meiner zierlichen, irdischen kleinen Dorl. Von Jahr zu Jahr aber wuchs der Zauber, welchen die Menschenschöne allezeit über mich ausgeübt hat, – vielleicht weil ich ehrlicher Weise sie in meinem Spiegel recht gründlich vermißte. Das Mädchen wurde meine Augenweide, das Wohlgefallen steigerte sich zum Wohlwollen, und ich würde Euch wahrscheinlich von einer schwesterlichen Jugendfreundschaft zu erzählen haben, wenn – ja wenn – – –

Wir hatten, fast von der Wiege ab, Stunde für Stunde mit einander gelebt; wir waren gleichen Alters, gleichmäßig gebildet, Beide arm; sie war schön, und ich war es nicht: – aber sie war eines Faßbinders Tochter und ich eine Freiin von Reckenburg; es lag eine Kluft zwischen uns, für welche ich das Maß gleichsam mit der Muttermilch eingesogen hatte. Ich durfte ihre Vertraulichkeit empfangen, nicht erwidern, und trotz ihres Liebreizes oder just wegen ihres Liebreizes, der mir jeden weniger reizenden Umgang verleidete, war und blieb ich ein herzenseinsames Ding.

»Die Rose und das Blatt, das sie schützend umgiebt«, so hatte – wie er meinte schmeichelhaft für das Blatt – der ehrliche Taube uns in einem Neujahrscarmen besungen, und das Stück grasgrünen Raschs, mit welchem die Frau Mutter einen recht vortheilhaften Jahrmarktshandel gemacht hatte, da es für meine ganze Kinderzeit als Bekleidungsstoff ausreichte, ihm ohne Zweifel als Vorwurf für den zweiten Theil seiner Metapher gedient. Kehren wir denn mit derselben in die Schulstube Christlieb Taube's zurück: Die Rose und ihr Blatt.

Es würde Vermessenheit sein, zu behaupten, daß es niemals eine eifrigere und aufmerksamere Schülerin gegeben habe, als Kellermeisters kleine, bewegliche Dorl. Ganz gewiß aber keine, mit welcher auch ein hitzköpfigerer Informator so bereitwillig Geduld gehegt haben würde wie Christlieb Taube. Ohne Vermessenheit hingegen läßt sich behaupten, daß es selten eine Schülerin gegeben haben wird, so lernbegierig und beharrlich, wie die große, ruhige Hardine von Reckenburg, ebenso selten aber auch eine, die selber ein Taubenblut dann und wann in Verzweiflung bringen konnte. »Jungfer Grundtext« nannte sie der Herr Papa, wenn er gelegentlich Zeuge ward der unermüdlichen Wie? und Wo? und Warum?, mit welchen sie den ihr zu Gebote stehenden Wissensborn bis auf die Grundneige auspumpte.

Lerne was, kannst Du was, heißt's! Ei nun, am Ende ihrer siebenjährige« Studienzeit konnte Schülerin Nummer Eins, in geziemender Bescheidenheit sei es vermeldet, mit deutlicher Handschrift richtig deutsch schreiben, auch die vier Species ohne Fehl im Kopfe wie auf der Tafel rechnen. Sie konnte die Stammtafel des Hauses Wettin und die Reihe der deutschen Kaiser bis auf Leopolds II., seit Kurzem regierende Majestät, insonderheit aber Doctor Martin Luther's großen und kleinen Katechismus am Schnürchen hersagen. Möglich, daß sie zu jener Zeit auch schon gewußt, die Erde drehe sich; wenngleich mir dieser Casus eher unter diejenigen zu gehören scheint, von welchen der Informator seufzend eingestand: »Das kann man so eigentlich nicht sagen«, und erleichtert aufathmete, wenn sein freiherrlicher Patron lachend hinzusetzte: »Ist auch sehr thöricht, danach zu fragen«.

Zum schwersten Kummer aber gereichte es unserem gewissenhaften Christlieb Taube, daß es bei alledem eine Ader und just eine Hauptader in seinem Borne gab, die er ohne erschöpfenden Erguß in sich selber verschließen mußte. Der freiherrliche Besitzstand erstreckte sich nicht auf ein Clavier, und da die Jungfer Grundtext ein hartes Ohr und eine ungefüge Kehle zu beklagen hatte, eine Kunstfertigkeit ohne Talent aber keine obligatorische Forderung der damaligen Erziehungsmethode war, so mußte die edle Musica von dem Lehrplane gestrichen werden. Nur die üblichen Kirchenlieder wurden nach dem Klange der hofmeisterlichen Geige eingeübt, und außer der Lection für das Lerchenstimmchen der Schülerin Nummer Zwei noch eine und die andere weltliche Weise beigefügt.

Nach diesen mannichfaltigen Leistungen gab es allerdings noch ein letztes kategorisches Soll und Muß einer standesmäßigen Education, für welches die Seminarbildung eine Lücke ließ und die emeritirte Herzogsresidenz keine zulässige Aushülfe bot. Indessen, wie für das franzmännische Alpha, so für das choreographische Omega fand sich im Schooße der Familie ein würdiger Dilettant. Hatte der Rittmeister von Reckenburg sich nicht der Ausbildung im Dresdener Cadettencorps erfreut, der edelsten Pflegestätte jener ritterlichen Kunst, welche dem ungelecktesten Bären Anstand, Conduite und gesellige Unwiderstehlichkeit verleiht? War er nicht als ein Musterschüler derselben gepriesen und hatte als Vortänzer der Donnerstags-Gesellschaft sie con amore prakticirt, bis die zunehmende Corpulenz ihm den Ballsaal einigermaßen verleidete? In häuslicher Bequemlichkeit hingegen, ohne pressende Montur und Escarpins, konnten die Regeln der rythmischen Bewegung zum Segen eines aufblühenden Geschlechts noch mit Behagen entwickelt werden, und so sehen wir denn das vieldienliche Reckenburg'sche Familienzimmer endlich auch noch in einen Tempel Terpsichore's umgewandelt.

Dreimal wöchentlich während dreier Wintersemester wurde der schwere Speisetisch in den Thorweg geschoben, erklang, als Orchester, die Geige Christlieb Taube's aus der Fensternische, saß die Freifrau, als kritische Ballmutter, hinter dem Spinnrocken in dem Ofenwinkel. Der Herr Rittmeister aber in weichen Filzsocken und flanellgefüttertem Schlafrock von gelblichem Kattun, den faustdicken Zopf wie ein Perpendikel im Nacken hin und wieder hüpfend, stand seiner Tochter Hardine und deren Partnerin gegenüber, um sie gewissenhaft die ganze hohe Schule seiner Lieblingskunst durchlaufen zu lassen: von Positionen und Portebras, durch alle Wendungen und Senkungen der Menuet, durch Chassés und Entrechats der Anglaise, bis zum heiteren Rundtanz mit dem gefälligen Dreischlag der Hacken.

Allein Manches wird der Erinnerung zum Gold, was in der Gegenwart Blei gedünkt. Heute schaue ich auf jene Tanzabende zurück als auf die lustvollsten meiner Kinderzeit; damals erduldete ich sie wie ein quälendes Verhängniß. Die väterliche Instructorenrolle beleidigte mein Gefühl der Reckenburg'schen Würde, und die ererbten Reckenburg'schen Gliedmaßen zeigten sich wenig geschickt für das gelenkige Spiel.

Meine Mittänzerin hingegen, o welche leichte Erscheinung, welche helle, unerschöpfliche Lust! Rosig überhaucht bis unter den goldigen Lockenscheitel, halbgeöffnet das Mündchen, so kreiselte sie sich wie in ihrem Element, lachend und jauchzend, die ächte, rechte, leibhaftige Dorl, schwebte gleich einer Libelle im Shawltanz, der Krone der Kunst, den Raum auf und nieder, jetzt den Kopf hinter dem Nesselstreifen verbergend, dann plötzlich schelmisch hinter seinen Falten hervorlugend, sich hebend und neigend und biegend, eine flüssige Welle vom Scheitel zur Zeh'. Der Musikant in der Fensternische seufzte zwischen den zärtlichen Weisen, die er seiner Geige entlockte; die Partnerin in grünem Rasch hatte Strapaze und Ingrimm vergessen, und der Lehrmeister klatschte Beifall mit künstlerischem Entzücken. »Die wird Furore machen!« rief er eines Abends, als das Dreiblatt der Familie wieder allein bei einander war.

»Furore, wo?« fragte die Kunstrichterin mit jenem Ton, den ihr Eheherr die Weisheit Salomonis zu nennen pflegte.

»Denkst Du sie im Corps de Ballet unterzubringen, Eberhard?«

»Schade, Schade!« seufzte der Papa, Frau Adelheid aber fuhr fort:

»Der Ballsaal ist der Jungfer Müllerin verschlossen, und für das Publikum des Tanzbodens würde weniger gut besser sein, meine ich.«

»Schade, Schade!« seufzte der Vater zum zweiten Male.

»Davon abgesehen, Eberhard, den Geist der Menuet hat sie nicht gefaßt, konnte sie vermöge ihrer Extraction nicht fassen. Wie sie den Rock in die Höhe zieht, als war's ein Tändelschürzchen im Schäferspiel! Heißt dieser Knix eine Reverenz? Da muß ich unsere Tochter loben. Ohne eine Muskel des Oberkörpers zu bewegen, senken sich die Kniee bis zum Boden hinab und heben sich wieder peu à peu. Ohne sich in die Robe zu verwickeln, ohne Fehltritt schreitet sie rückwärts, würdevoll, wie sie vorwärts geschritten ist. Correctement der Anstand, mit welchem eine Reckenburg ihrer Souverainin Hand und Schleppe küßt!«

»Nun freilich, freilich, unsere Dine, unsere gute, brave Ehrenhardine!« bestätigte der Papa, indem er mich herzlich auf die Backen klopfte. Dann aber seufzte er zum dritten Male: »Schade, Schade um die kleine Dorl!« Ich hatte diese Ergießung nur so bei Wege aufgeschnappt, und wußte, daß ich bei derlei Angelegenheiten zu schweigen hatte. Die mütterliche Weisheit aber war auf fruchtbarem Boden aufgegangen. Der armen, kleinen Dorl war das Entrée zu jedem Platze, auf dem sie geglänzt haben würde, versagt; Eberhardinen von Reckenburg geziemte eine Empore, auf welcher sie den Höchsten der Erde ihre Huldigung darbieten durfte.

Wir standen im fünfzehnten Jahre. Wir waren gebildet, die Eine ihrem Stande gemäß, die Andere weit über denselben hinaus; wir parlirten französisch und tanzten Gavotte, wir hatten unseren eigenen Hofmeister gehabt und wußten unseren Katechismus ohne Fehl; wir waren reif, unter die Zahl der erwachsenen Menschen und Christen aufgenommen zu werden. Und so knieten wir denn auch am Palmsonntag 1790 nebeneinander vor dem Altar, zur Erneuerung unseres Taufgelübdes und zum ersten Genusse des heiligen Kelchs.

Erste Abendmahlsgenossen! Ein Bekenntniß für Zwei aus einem Munde; die priesterliche Hand gleichzeitig segnend auf Beider Haupt; ein gemeinsamer Wahrspruch für Beider Leben: das giebt, das gab zu meiner Zeit mindestens ein Band. Und gewiß, ich fühlte dieses Band fest und stark wie eine Pflicht. Die warmherzige Dorothee aber, die hätte in jenen Tagen freudig ihr Leben für mich hingegeben.

Und wenn das ganze Leben auch nicht, so doch ein gutes Stück Füllung in einem Mädchenleben brannte das liebe Närrchen mir bei dieser feierlichen Gelegenheit als Opfer darzubringen. Sie hatte von ihrer Pathin einen schweren, schwarzen Stoff als Abendmahlskleid verehrt erhalten, wahrend für mich nur das zurecht gestutzt worden war, das schon der Mama bei ihrer Einsegnung gedient. Ich im abgetragenen, angestückten Habit, sie nagelneu von Kopf zu Fuß; die Kleine verging fast vor Scham bei dieser Vorstellung und ruhte nicht, bis sie einen Ausgleich erklügelt hatte. Schenken durfte sie mir das werthvolle Angebinde nicht, denn wie hätte solch ein hohes Glück sich für sie geschickt! Aber sie wollte ihr altes schwarzes Sergekleid anlegen, um mir ranggemäß zur Seite zu stehen. Sie wollte es durchaus, kehrte wieder und immer wieder mit ihrer demüthigen Bitte zurück. Selbstverständlich vergebens. Ich trug eine Perlenschnur, welche die Mutter als eignes Pathengeschenk ans mich vererbte. Aber es hätte dieses Kleinods nicht bedurft. Eberhardine von Reckenburg würde sich nicht beschämt gefühlt haben, auch wenn sie selber in Zindel und Dorothee Müllerin in Brocat einhergeschritten wäre.

Der rauschende Gros de Tours störte übrigens, zu meiner gerechten Entrüstung, die andächtige Sammlung meiner Abendmahlsschwester; sie strich mit der Hand darüber hin und schmunzelte bei dem scharfen, knisternden Geräusch, sie stieß mich während des Liedes an und blinzelte zu mir hinauf, um mir die Blicke bemerklich zu machen, welche die Versammlung auf sie richtete. Die liebe Unschuld dachte ihr stolzes Gewand für das Aufsehen, das ihre Schönheit erregte, verantwortlich machen zu müssen. Ich selber hingegen war, jene Entrüstung abgerechnet, mit ungestörter Ernsthaftigkeit bei der wichtigen Feier, und der Bibelvers, der uns als Geleitspruch für's Leben ertheilt ward, hat der Jungfer Grundtext tiefste Gedanken nachhaltig angeregt. Denn es war einer von denen, die gar leichtverständlich klingen und doch selten von uns Weltkindern richtig verstanden werden: »Welche der Geist Gottes treibt, die werden Gottes Kinder heißen«.

Ja, welches war denn nun aber der Geist, der uns in das Vaterreich treiben soll? War es der, welcher über den Wassern schwebt, der Geist des Schaffens und Förderns, des Umbildens der natürlichen Kräfte, der den versunkenen Garten Eden auf Erden wieder herzustellen strebt? Oder war es der, welcher auf den Gesetztafeln verzeichnet steht, der Geist der Ehrfurcht, des Rechtes und der Treue? Von beiden diesen Geistern würde ich mich willig aus dem Diesseit in das Jenseit haben treiben lassen.

Allein man hatte mich auch noch von einem dritten Geiste gelehrt, von einem, der jenen beiden ersten oft schnurstracks zuwider zu treiben schien. Von dem Geiste, der die Sorge für den anderen Tag verdammt, der dem ehebrecherischen Weibe vergiebt und dem Beleidiger die Wange reicht. Der Geist stimmte nicht zu meinem natürlichen Willen, und das siebenfache Selig, das der Erlöser über die erneute Menschheit ausgesprochen hat, es war meinem Herzen ein leerer Schall. Sollte, konnte dieser unverständliche Geist der Geist der Kindschaft sein?

In derlei Grübeleien über den geheimnißvollen Wahrspruch ging ich nach dem Frühgottesdienst am Ostermorgen in unserem Garten auf und nieder. Ich achtete nicht des goldenen Sonnenlichtes, nicht der erwachenden Vogelstimmen und schwellenden Frühlingsblüthen; ich fühlte nicht die Auferstehungsluft um mich her. Da hörte ich hinter mir Dorothee's leichten Schritt; ich wendete mich rasch und fragte mit Ernst, welche Deutung sie unserem Einsegnungsspruche gegeben habe.

Sie schlug die großen Augen verwundert zu mir auf und dann dunkelerröthend zu Boden. Sie hatte den Spruch überhört oder vergessen und nicht ein einziges Mal auf ihrem Confirmationszeugniß nachgelesen. Ich schluckte meinen Unwillen hinunter, citirte den Spruch und fragte dann: »Was nennst Du, von Gottes Geiste getrieben sein, Dorothee?«

Da sann sie denn einen einzigen Augenblick nach, erbleichte dann ebenso jäh, wie sie vorhin erröthet war, hob sich auf die Zehenspitzen und flüsterte mir in's Ohr: »Gut sein, gut sein, Hardine!«

Im nächsten Moment aber sprang sie laut jubelnd nach einem Beet, auf welchem sie die ersten Veilchen entdeckt hatte, pflückte sie, flocht ein paar grüne Sprossen dazwischen und befestigte das Sträußchen an meinem Busentuch. Dann schlüpfte sie vogelleicht durch eine Lücke des Zauns, der unsere Gärten trennte, warf mir noch lächelnd eine Kußhand zu und flog nach dem Haus.

»Gut sein!« hatte sie gesagt und eine innerste Stimme mir zugerufen, daß die Kindeseinfalt das Richtige getroffen habe. In Wahrheit aber war mir das alte Räthsel nur durch ein neues Räthsel gelöst. Hieß gut sein, handeln nach Gesetz und Sitte, wie ich es verstand? Oder hieß es, empfinden in jenem seligsprechenden Sinne, den ich nicht verstand?

Ich brachte mich endlich mit Gewalt über den zweifelhaften Spruch zur Ruhe, und es war dies das erste Mal, daß ich eine Entsagung geübt habe, die ich mir im späteren Leben zum Gesetz stellte. Ich handelte nach meinem natürlichen Willen, mit welchem meine Erziehung, treu dem Wahlspruch unseres Hauses, in Einklang stand, und ich zweifelte nicht, daß es gut war, wenn ich »in Recht und Ehren« handelte.

Spät erst, in dem Alter, wo Andere graue Haare tragen, ist jener zweite Wahrspruch für das Leben in meiner Seele wieder aufgeklungen, und durch eine unscheinbare Fügung der Schall des Räthsels mir zu einem Sinn geworden. Wohl bin ich heute noch keine von Denen, die der Heiland schon hienieden selig preist. Wenn wir aber eines Tages jenseit anfangen sollten, da, wo wir diesseit aufgehört, so getröste ich mich der Hoffnung, dem Vaterreiche um eine Wegstunde näher gerückt zu sein.


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