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Einführung.

Es war etwa zwei Jahre nach der Schlacht von Waterloo, als in einem niederländischen Grenzstädtchen armen Eltern eine Tochter geboren wurde.

Die kleine, fremde Stadt ist nicht der Schauplatz unserer Geschichte und die kleinen, fremden Leute sind nicht deren Helden. Das alltägliche Ereigniß aber sollte gleichsam den Angelpunkt bilden, um welchen dieselbe rückwärts und vorwärts sich bewegen wird. Denn wäre jenes Kindlein nicht geboren, oder wäre es nicht in der Fremde und in Dürftigkeit geboren worden, so würde die weite Welt von unserer wirklichen Heldin schwerlich etwas erfahren und wir würden ihr nicht deren Geheimnisse zu offenbaren haben.

Der Vater des Kindes war noch jung, vielleicht kaum großjährig. Dazu ein Mann von auffälliger, sagen wir ritterlicher Kraft und Schöne der Gestalt, wenngleich das sturmvolle Leben des Feldlagers in den frühverwüsteten, narbigen Zügen zu lesen stand und wenngleich der Verlust eines Armes ihn zum Krüppel machte. Er war als unbärtiger Forstlehrling der Schaar des Braunschweig-Oels in Sachsen zugelaufen, hatte die heldenmüthigen Fahrten und Thaten dieses Corps unter britischer Fahne auf der Halbinsel, wie später in den Niederlanden getheilt, bis er, bei la Haye sainte schwer verwundet und eines Gliedes beraubt, als Wachtmeister verabschiedet worden war. »Prinz Gustel« hatten die Kameraden der Legion den stattlichen, flotten Sachsen titulirt; er selber nannte sich bescheidentlich August Müller.

Die Mutter mochte leicht eine Mandel Jahre mehr zählen als ihr Gespons, und liegt es, zu unserer Befriedigung, uns nicht ob, über die vergangenen Tage der »schwarzen Lisette« gewissenhaft Buch zu führen. Genug, daß sie als Marketenderin, zuletzt bei der Legion, gedient, daß sie ihren August nach seiner Verwundung getreulich verpflegt hat, daß sie sein rechtmäßiges Weib geworden und jetzt emsig bemüht ist, den armseligen Haushalt durch langentwöhnte Handarbeit zu fristen.

Die späte Wiege schien eine unberechnete Geräthschaft in ihrem Mahlschatze gewesen zu sein. Jedenfalls hatte die Kampfesstunde, welche einen Menschen das Leben giebt, das wetterbraune, hartgliederige Weib schwerer mitgenommen als zwanzig Kampfesjahre, in welchen sie Tausende das ihre verenden sah. Die Finger zitterten und der Schweiß tropfte von ihrer Stirn,, als sie jetzt, bei eintretender Dämmerung, die seinen Lederzwickelchen noch aneinanderpaßte, die sich, sobald der Morgen graute, in zierliche Handschuhe verwandeln sollten. Sie seufzte, wenn sie von Zeit zu Zeit einen schüchternen Blick auf das schwächliche Wesen fallen ließ, das seit drei Tagen, fast ohne zu erwachen, an ihrer Seite kaum merkbar athmete.

Noch weit unbehaglicher indessen schien dem jungen Invaliden dieser häusliche Zustand vorzukommen. Er schritt in der halbdunklen, niedrigen Kammer auf und ab gleich einem eingefangenen Hirsch, der sich das Geweih abzustoßen fürchtet, riß dann, schwer athmend, das Fensterschößchen auf und schlug es unwirsch wieder zu, als er die Frau ängstlich das Kind gegen den Luftzug bedecken sah. Endlich aber rannte er, ein Donnerwetter brummend, aus der Thür, durch welche wir ihn nach einer Weile, eine Weinflasche in der Hand und in gemüthlicherer Laune, zurückkehren sehen.

»Leg das Zeug bei Seite und thu einen Zug, Lisette!« rief er der Wöchnerin entgegen. »Du bist's gewöhnt, und es thut Dir noth, armes Weib.«

Frau Lisette schüttelte bedenklich den Kopf, seufzte und frug mit tiefer, zur Zeit merkbar angegriffener Stimme: »Und die Zahlung, August? Wieder geknöchelt gestern Nacht? Wieder gekärtelt? Mann, Mann!«

»Nun, seit wann hältst Du denn Knöcheln und Kärteln für eine Sünde, altes Haus?« entgegnete lachend der Invalid. »Trink, und schneide kein Gesicht! Kann ich Holz hacken mit meinem Stumpf? Soll ich die Orgel umhängen und vor den Thüren dudeln, he? Schmählich genug, daß Eine, die so tapfer dem Kalbsfell gefolgt, elende Ziegenfellchen zusammenstoppeln muß. Aber laß das Gestöhn! Greinen, wenn man unterm Kanonendonner gelacht! Einen Schluck und herzhaft drein geschaut wie sonst. Es kann ja nicht ewig Frieden bleiben. Wie lange wird's dauern, ist der Napoleon retour und dann – –«

Er verstand den kläglichen Blick, mit welchem die Marketenderin seine Rede unterbrach, fuhr aber nach kurzem Besinnen in munterster Laune also fort: »Man braucht nur einen Arm, um dreinzuhau'n, Lisette. Ich habe ihrer mit der Linken losfeuern sehen und mir ist die Rechte geblieben, die Mannesfaust. Nur erst den Napoleon retour, das Zelt aufgeschlagen, ein Pferd unter den Leib, und Stumpf und Kindsbett – bah? wer denkt noch an die? Pack' die Lappalien zusammen und laß uns Eins schwatzen. Sei wieder meine alte, brave, lustige Schwarze!«

»Du hast recht, August; laß uns Eins schwatzen,« versetzte die Frau nach einer Pause mit einem herzhaften Entschluß, indem sie erst ihr Nähzeug sorgsam verpackte, dann die Flasche entkorkte, einschenkte und nach einem kräftigen Zug das Glas dem Invaliden reichte. – »Bleib einmal heut' Abend bei mir zu Hause, Mann. Wir wollen uns Geschichten erzählen, wie sonst im Zelt. Aber keine von den alten, keine, die wir an den Fingern ableiern können, Du, wie ich.«

Der Invalid lachte. »Curios, just von den Schnurren, die Einer von den Fingern ableiern kann, hört und schwätzt er am liebsten,« meinte er.

»Nun freilich, freilich, August, so für alle Tage. Nur heut' einmal zum Spaß ein Extrastück. Ein noch älteres, Mann. Etwas von vor unserer Fahnenzeit. Ich meine, etwas von der Heimath und den Angehörigen, die wir – –«

Sie machte eine Pause, in der sie einen ihrer Kehle fremdartigen Ton hinunterpreßte. Dann, nach einem Blick auf das Kind, der etwa wie »armer, verlassener Wurm!« auszulegen war, fuhr sie fort:

»Freilich, bei mir ist's eine Weile her. Die Eltern waren todt, Geschwister hatte ich keine und die Gevattern und Muhmen, wenn sie allenfalls noch lebten, ich würde sie schwerlich wiedererkennen, oder richtiger ausgedrückt, sie würden die Lisette nicht wiedererkennen wollen, die – Aber Du, August, Du bist ein junges Blut gegen mich. Wie lange ist es denn her? Keine zehn Jahr.«

»Anno neun, Lisette. Netto acht Jahre. Es war, wie der Herzog –«

»Ich weiß das vom Herzog, Freund. Acht Jahre! In der Zeit wird ein Mensch nicht vergessen und ein Mann wird nur mit Ehren darauf angesehen. Kehrtest Du heute heim, Deine Leute würden Dich mit Vergnügen aufnehmen, August.«

Freund August lachte aus vollem Halse. »Meine Leute?« fragte er, »der Förster etwa, dem ich aus dem Garne gelaufen bin?«

»Nun, wenn der Förster just auch nicht, so doch die, welche Dich vor ihm in Versorgung hatten.«

»Der Waisenvater, meinst Du? Der gute Mann war alt; er wird lange todt sein, Lisette.«

»Aber Dein leiblicher Vater, Mann!«

»Ei, wie dumm, kluge Lisette! nachdem ich eben erst des Waisenvaters erwähnt. Einen leiblichen habe ich nicht gekannt.«

»Oder Deine Mutter –«

»Ich weiß von keiner Mutter, Frau.«

»Von keiner Mutter? Aber eine Waisenanstalt ist doch kein Findelhaus. Du hattest Deine Jahre, mußt Dich auf etwas vorher besinnen können.«

»Vorher? nun ja, auf die alte Muhme im Walde.«

»Eine Muhme! Wie hieß sie. Mann?«

»Sie hieß Justine.«

»Und weiter?«

»Weiter weiß ich's nicht.«

»Aber Du mußt doch einen Vater gehabt haben. Was war er, wo lebte er, August?«

»Weiß ich Alles nicht, altes Fragezeichen.«

Die Frau ließ sich durch diesen Ehrentitel nicht irre machen. »Besitzest Du denn gar nichts Schriftliches?« forschte sie nach einigem Besinnen weiter. »Nicht Deinen Taufschein, den Todtenschein der Eltern und dergleichen?«

»Hast Du Deine Kirchenzeugnisse eingeholt, als Du bei Nacht und Nebel Deiner Dienstherrschaft von dannen ranntest?« gegenfragte spottend der Mann, setzte aber, da er wieder einen Seufzer zu hören glaubte, gutmüthig hinzu: »Na, nimm's nicht übel, Lisette. Etwas Schriftliches möchtest Du? Ja, da wäre allenfalls der Schein, mit dem mich der Probst aus dem Kloster entlassen hat.«

»Auch im Kloster bist Du gewesen? Unter Mönchen, August? Wohl gar katholisch?«

»Lieber gar, altes Haus! Das ist nicht Mode im Leipziger Kreis. Die Anstalt hieß nur das Kloster und der Director der Probst von päpstlichen Zeiten her. Der alte Zettel hat sich erhalten, weiß selber kaum wie. So oft ich ihn wegwerfen wollte, sah ich den guten, blassen Mann und seine Thränen, als er mir ihn gab. Wir hatten ihn Vater genannt, und er war uns wie ein Vater gewesen. Da steckt! ich den Wisch denn immer wieder ein.«

»Zeige mir den Schein, August,« bat die Frau, indem sie sich hastig daran machte, Feuer zu schlagen und die Lampe auf dem Tisch vor ihrem Bette anzuzünden. Als sie damit zu Stande gekommen, entfaltete sie das Papier, das der Invalid aus seiner Brusttasche hervorgesucht hatte, und dessen pulvergeschwärzte, blutige Spuren ein beredtes Zeugniß seiner Jünglingsjahre waren.

»Psalm 146, Vers neun.«

»Der Herr behütet die Fremdlinge und Waisen.« August Müller. Eingesegnet und unserer Pflegestätte entlassen am vierten April 1807.

Kloster Laurentii,               Ludwig Nordheim,
Kreis Leipzig.               Probst und Director.

Frau Lisette hatte diesen knappen Inhalt kopfschüttelnd vor sich hingemurmelt, »Kein Geburtsdatum,« sagte sie nach einer nachdenklichen Pause; »nicht Name, Stand und Wohnort der Eltern! War das Kloster eines für eheliche Kinder, August?«

»Für Soldatenwaisen,« antwortete stolz der Mann. »Nur als Lückenbüßer dann und wann ein Bürgerjunge.«

»Und Du erinnerst Dich auch entfernt keines Pflegers, oder Vormunds, keiner Ortsbehörde, die Dich in die Anstalt gebracht hätte?«

»Hingebracht? ei freilich, hingebracht hat mich Fräulein Hardine.«

Die Marketenderin zuckte neubelebt auf.

»Fräulein Hardine!« rief sie, »Mann, wer war Fräulein Hardine?«

»Ein Frauenzimmer, groß und schwarz, wie Du, Lisette,« versetzte, von dem Eifer seiner Frau belustigt, der Invalid. »Wenn die alte Beckern recht hat, meine Frau, oder Fräulein Mama.«

»Und die alte Beckern, wer war die?«

»Die Waschfrau der Anstalt und eine Klatsche,«

»Fräulein Hardine! Ein Fräulein, keine Mamsell! Eine Adlige sonach.«

»Kann sein. Ihr Vater war ein kurfürstlicher Major.«

»Sein Name –?«

»Hab' ihn niemals nennen hören; vielleicht auch vergessen. Die Tochter hieß bei Allen schlechtweg Fräulein Hardine.«

Frau Lisette saß eine Weile in stillen Gedanken, dann rückte sie hervor mit einem kriegslistigen Plan.

»Gieb mir die Pfeife, daß ich sie Dir stopfe, Gustel,« sagte sie munter; »und da noch ein Glas, das den Kopf aufräumt. Nun aber erzähle mir einmal hübsch im Zusammenhange Alles, was Du aus Deinen Kinderjahren behalten hast. So wenig es sein mag, – man kann immer nicht wissen – – und von etwas muß doch einmal geplaudert sein, gelt?«

Ein trockner Text für den Liebhaber der Lagergeschichten, trotz Pfeife und Flasche, die ihn mundrecht, machen sollten. Indessen er hatte gehört, daß man einem Weibe im Kindbett zu Willen reden müsse, und er war im Grunde ein gutmüthiger Gesell. So legte er denn Hand über's Herz, und während die Frau ihre Ziegenfellchen wieder aufnahm, erzählte er, indem er paffend den engen Raum auf- und niederschritt, – mit Auslassung etwelcher Kraftausdrücke, die wir einer zarten Leserin ersparen, – wörtlich wie folgt:

»Wie gesagt: wenn, wo, von wem ich geboren worden, weiß ich nicht. So weit ich zurückzuschauen vermag, sehe ich eine alte Frau, die ich »Muhme« nannte und die mich keine Noth leiden ließ. In einer Stadt oder in einem Dorfe war es nicht, denn ich habe keine Häuser weiter bemerkt, mit Ausnahme des kleinen, darin die Muhme wohnte. Spielkameraden hatte ich auch nicht, abgerechnet die Karnickel und Eichkatzen im Walde, der hinter dem Hause lag. Mit denen aber bin ich um die Wette gehetzt und geklettert den lieben langen Tag. Und das war mir recht. Die Muhme würde ich vielleicht wiedererkennen, vielleicht auch nicht. Das Haus aber könnte ich noch malen. Es sprang aus einem Dickicht hervor; Tannen, so hoch, wie ich keine wieder gesehen, und am Giebel war aus Stein ein Hundekopf angebracht und darüber eine Krone von Gold.

»Die Muhme hieß Justine. So nannte sie wenigstens das Frauenzimmer, das sie wohl Tag für Tag besuchte. »Vom Schlosse her«, wie die Muhme sagte; ich habe aber niemals ein Schloß gesehen. Dieses Frauenzimmer war Fräulein Hardine. Ob sie jung oder alt gewesen ist, kann ich so eigentlich nicht sagen, auch nicht, ob sie es gut oder böse mit mir gemeint. Ich glaube aber gut zu jener Zeit. Gemacht habe ich mir niemals etwas aus ihr. Gemerkt aber, zum Wiedererkennen gemerkt hätte ich sie mir, glaub' ich, schon aus jener Zeit, Es war etwas an ihr, das sich nicht vergißt. Was, das kann ich wieder einmal nicht sagen.

»Eines Tages saß ich eingesperrt mit Fräulein Hardine in einem engen Kasten, der sich fortbewegte. Item in einer Kutsche. Von Anfang machte ich große Augen, da ich die Bäume am Wege so hurtig an mir vorüberrennen sah. Ich sehe sie noch rennen, Lisette. Bald aber kriegte ich das Ding satt, tobte, schrie, und würde über den Kutschenschlag gesprungen und in meinen Wald zurückgelaufen sein, wenn Fräulein Hardine mich nicht an den Ohrlappen festgehalten und so lange darein gekniffen hätte, bis ich endlich vom Heulen müde ward, mich auf die Bank streckte und in Schlaf verfiel. Ich wachte wohl wieder auf und erhob den vorigen Rumor. Fräulein Hardine kriegte mich aber immer wieder bei den Ohren, ich schlief immer wieder ein und kann daher nicht sagen, ob die Fahrt Stunden, Tage, Wochen lang gedauert hat, oder wie ich im Uebrigen an mein Ziel gekommen bin.

»Von der Zeit ab war ich im Waisenkloster, und schlecht gegangen ist es mir darin bei Leibe nicht. Der alte Probst war eine Seele von einem Mann; in Wahrheit ein Waisenvater und mir, wie es schien, ganz absonderlich zugethan. Zu essen gab's reichlich und Fuchtel lange nicht genug für uns wilde Brut. Aber ich hatte kein Sitzefleisch; mich zog's zurück in den Wald. Ein paarmal nahm ich auch Reißaus, wurde natürlich aber wieder eingefangen, und mag man aus diesem Grunde mich auch späterhin niemals, wie manche von den größeren Jungen, in die Stadt gelassen haben, wenn es daselbst eine Extrabesorgung galt.«

»Aber Fräulein Hardine!« fiel ungeduldig die Zuhörerin ein, als hier der Erzähler eine Pause machte.

»Nun Fräulein Hardine,« fuhr dieser fort, »Fräulein Hardine, die kam denn auch wohl dann und wann auf Besuch zu unserem Probst, schnitt aber regelmäßig ein essigsaures Gesicht, so oft ich ihr vorgeführt ward, raisonnirte, weil ich nichts lernen wollte, und schimpfte mich einen Wildling oder dergleichen. Einmal hat sie mir in der Bosheit auch eine ganz gehörige Backpfeife applicirt.«

Frau Lisette fuhr auf wie elektrisirt, – »Eine Backpfeife!« rief sie mit dem Ausdruck höchster Befriedigung; »eine Backpfeife, August –«

»Ganz gewiß nicht unverdient, Lisette!«

»Gezüchtigt mit eigener Hand! Und das soll nicht seine Mutter gewesen sein!«

»So? Du hättest also eher Deinen eigenen Wurm als einen fremden durchgewichst?«

Die arme Mutter nahm bei dieser Gewissensfrage ziemlich kleinlaut ihr Nähzeug wieder auf. – »Ein adliges Fräulein und unter den Augen der geistlichen Obrigkeit, sie muß doch ein Recht dazu besessen haben,« – murmelte sie wohl noch, wurde aber nicht mehr gehört, denn ihr Gespons hatte den Faden bereits wieder aufgegriffen.

»So viel steht fest, Lisette,« erklärte er, »hätte Fräulein Hardine mich lebtags mit Streichelfingerchen angefaßt, ich könnte sie vergessen haben. Nun sie sich thätlich an mir vergriffen hat, leibt und lebt sie vor meinen Augen und würde ich hundert Jahre.

»Ich war auf diese Weise ein stämmiger Bursche geworden; kopfshoch größer als sämmtliche Kameraden, und in mir rumorte anjetzo nur noch ein einziges Gelüst. Nicht mehr: »In den Wald!« wie früherhin. Nein: »Ein Pferd unter den Leib und unter die Soldaten!« Ich hatte in meinem Leben die ersten Truppen gesehen, Preußen und Landeskinder waren an dem Kloster vorübergezogen. Nämlich während der Mobilmachung von Anno fünf, wo sie dem Österreicher zu Hülfe wollten. Der Österreicher wurde in der Klemme gelassen und meine Preußen zogen wieder ab. Aber nächsten Herbst kamen sie retour. Rectamente dem Napoleon auf den Pelz, der bereits auf dem Wege sei, wie es hieß. Da prickelte es mir freilich vom Kopf zur Zeh'! Ich hatte aber doch so viel Einsehen, daß sie einen halbwüchsigen, verlaufenen Waisenjungen bei der Armee nicht nehmen würden. Einstweilen spielte ich daher nur Soldat, und es war eine Lust, wie ich die Jungens zusammenwalkte. Ich war der Größte und darum von Rechtswegen unser Kurfürst, den ich mir immer nur wie einen Schlagetodt vorstellen konnte. Die Meisten, aber Kleinsten, waren die Franzosen und ein Knirps ihr Napoleon. Nun ich habe ihn gebläut, wie vor zwei Jahren den richtigen Napoleon der alte Marschall Vorwärts und unser iron duke

»Aber Fräulein Hardine?« – fragte von Neuem die erwartungsvolle Hüterin, und der Exwachtmeister antwortete: »Nur Geduld, gleich ist sie wieder da!«

»Es war am vierzehnten October, – solch ein Elendsdatum vergißt sich nicht, Lisette! – Wir standen zum Morgenbrod im Kreuzgange aufgestellt, als der Probst zu uns trat mit Hut und Stock, zitternd über den ganzen Leib und weiß wie eine Wand. »Das erste Blut ist geflossen,« sagte er mit bebender Stimme, »theures Blut, Heldenblut! Ihr seid Soldatensöhne, meine Kinder. Eilt in den Wald, pflückt das letzte Eichenlaub und bindet einen Kranz auf das Grab eines tapferen Herrn, der Allen voran, im Kampfe für das Vaterland gefallen ist.« Darauf an mich herantretend, setzte er leise hinzu: »Es ist der Vater von Fräulein Hardinen, den man gestern als Leiche in ihr Haus gebracht hat. Dort erwarte ich Dich, August, mit dem Kranze. Die Waschfrau Becker« – sie versah nämlich nebenbei den Botendienst nach der Stadt – »begleitet Dich und zeigt Dir das Haus.« Damit ging er. Wir Jungen rannten in den Wald. Ich war zu oberst auf den Bäumen und warf die Zweige herab, die unten um einen Faßreif gebunden wurden. Es war ein Stück, daß eine Kuh sich daran satt hätte fressen können, Lisette. Kaum eine Stunde und ich trabte neben der alten Beckern auf dem Wege nach der Stadt.«

»Wenn die Botenfrau so wie so nach der Stadt ging,« fiel hier Frau Lisette, höchlichst gespannt, dem Redner in's Wort, »warum mußtest Du sie begleiten, August? Du den Kranz zu Fräulein Hardinen tragen? von Allen just Du? Mann, Mann, das war eine Finte!«

»Du kommst auf die Sprünge der alten Klosterklatsche, Lisette,« versetzte der Invalid, der allmälig Feuer und Flamme über seiner Erzählung geworden war. »Aber höre nur weiter. Auf dem Wege hatte ich meinen Heidenärger mit dem dummen Weib. Es wäre im Oberlande eine Schlacht geschlagen worden, behauptete sie, die nämliche, in welcher Fräulein Hardinens Vater gefallen sei, und der Franzose hätte obtinirt. Das konnte und wollte ich nicht glauben. Ich schimpfte die Alte ein Schandmaul und würde sie handgreiflich zur Ruhe gebracht haben, wenn na, wenn sie nicht eben ein Weib und obendrein ein altes Weib gewesen wäre. Die aber blieb baumfest bei ihrem Satz und in der Angst vor dem »grausamen Bohnebart«. Sie zitterte wie ein dürres Laub, so oft ihr der Name über die Lippen lief. Es war nicht anders, als ob der Bohnebart expreß in's Land gekommen sei, um der alten Beckern auf den Leib zu gehen.

»So in Gift und Galle kamen wir in die Stadt. Ich hatte noch nie eine gesehen und mir eine Stadt weit anders vorgestellt. Nur hoch oben das große Schloß, wie es allmählig aus dem Nebel hervortrat, das gefiel mir, »Da möchte ich wohnen,« sagte ich, und die Beckern schmunzelte geheimnißvoll: »Nun wer weiß, Gustel, ob Du nicht noch eines Tages in einem Prinzenschlosse logiren thust. Der Bohnebart ist auch nur ein armer Junge gewesen, wie Du, und am Ende ein Kaiser geworden.« – Und so ein Knirps! sagte ich verächtlich.

»Bei den Worten kamen wir auf den Markt. Die Alte wies auf ein Hans und sprach: »Da wohnen die Majors«. Das Haus, wiewohl ich es nur das eine Mal und seitdem viel Tausend andere gesehen habe, das Haus könnte ich noch malen. Es glich einem Mops, dem Einer eine Zipfelmütze aufgebunden hat. Die Beckern setzte sich neben dem Thorweg auf eine Bank, allwo sie mich zurückerwarten wollte, und ich ging mit meinem Kranze hinein.

»Im Thorwege kam mir auch schon der Probst entgegen, nahm mich bei der Hand und führte mich in eine Stube auf die rechte Seite. Die Fenster waren zugehängt und ich mußte mich erst an das Dämmerlicht gewöhnen. Ich unterschied aber doch irgend ein menschliches Wesen, das mit ausgebreiteten Armen nahe der Thür gestanden hatte und, auf einen Wink des Propstes, hastig in »die Hölle«, – so heißt bei uns zu Lande der tiefe Ofenwinkel, – huschte. Ich spitzte die Ohren. Mir war, als hätte ich Einen ächzen oder schluchzen gehört.«

»Fräulein Hardine!« rief Frau Lisette in athemloser Spannung. Der Erzähler aber entgegnete:

»Behüte! Fräulein Hardine war keine von der Art, die ächzt und schluchzt. Die stand aufrecht und ernsthaft, schwarz vom Kopf bis zur Zeh' in der Kammer vor der Leiche des Majors, zu welcher der Probst mich unverweilt führte. Es war der erste Todte, den ich zu sehen kriegte, und ich kann Dir gar nicht beschreiben, Lisette, wie er mir gefiel. So hatte mir noch nie ein Lebender gefallen. Er ruhte wie im Schlafe, die Rechte ingrimmig geballt; sie mochten ihr den Säbel, der neben der hohen Ungarmütze an seiner Seite lag, mit Gewalt entrissen haben. Und dann das Ordensband, der blaue Husarenpelz mit silbernen Schnüren und dem kleinen Brandmal, durch welches die Kugel in das Herz gedrungen war. Ich betastete Stück für Stück, Ich konnte mich nicht satt sehen, bohrte mit dem Finger nach der Wunde, ob die Kugel zu spüren sei; ich drückte eine kalte Hand nach der anderen und würde nicht von der Stelle gewichen sein, wenn mich der Probst nicht mit Gewalt in die Stube zurückgezogen hätte.

»Dort hielt er mir nun eine feierliche Rede, von der ich aber nichts weiter gehört oder gemerkt habe, als daß er den Mann selig pries, der als ein Held für das Vaterland gestorben sei. – »Ich will auch für das Vaterland sterben!« – platzte ich heraus, und bei den Worten trat Fräulein Hardine, die, ohne daß ich's gemerkt, am Fenster Platz genommen hatte, rasch auf mich zu und drückte mir die Hand, als ob sie sagen wollte: – brav, Junge, bleibe bei diesem Satz! – Gesprochen aber hat sie an diesem Morgen kein Sterbenswort, und ich habe auch nicht weiter auf sie Acht gegeben, sondern unverwendet nach der Hölle gestarrt. Denn während meiner Rede war von dorther ein Schrei gedrungen, der mir durch's Herz ging wie ein Brand. Ich konnte aber nichts weiter unterscheiden als eine kleine, weiße, in sich gekrümmte Gestalt, die ihren Kopf hinter einem Schnupftuche verborgen hielt. Auch trat jetzt der Probst von ungefähr zwischen mich und die Hölle, so daß ich nur noch des guten Mannes schwarzen Rock und weiße Perrücke erblickte, wenn ich hinter den Ofen zu lugen suchte.

»Du bist nun fast ein Erwachsener, August,« so setzte der Probst, zu mir gewendet, seine Ansprache fort. »Kommende Ostern wirst Du confirmirt und mußt Dich für einen Lebensberuf entscheiden. Was willst Du werden, mein Sohn?« – »Soldat!« – rief ich ohne Besinnen. Und wieder drang es, aber diesmal wie ein Wimmern, aus der Hölle.«

»Es wird die Mutter von Fräulein Hardinen gewesen sein,« rief in athemloser Spannung Frau Lisette. Der Erzähler aber entgegnete:

»Ob Fräulein Hardine dazumal noch eine Mutter gehabt hat, weiß ich nicht. Das aber weiß ich, daß es nicht die Stimme einer alten Frau gewesen ist, die da hinter dem Ofen jammerte. Weit eher die eines kleinen, bekümmerten Kindes. Aber höre nur weiter, Lisette.

»Du bist zum Soldaten noch zu jung, August,« sagte der Probst, »Auch muß das Schicksal unseres Vaterlandes erst entschieden sein. Möchtest Du für den Napoleon kämpfen, wie die Deutschen draußen im Reich?« – »Nein!« antwortete ich, – »aber überall gegen ihn.« – Und zum zweiten Male drückte mir Fräulein Hardine stumm die Hand.

»Die Zeit kann kommen, mein Sohn,« versetzte der Probst, »Für den Augenblick gilt es zu warten. Erhalten wir Frieden und bleibt alles beim Alten, darfst Du nimmer an den Soldaten denken. Du bist nicht von dem Stande, um Officier zu werden, und als Gemeiner ertrügst Du's nicht bei Deiner Sinnesart. Die laufen noch Spießruthen. Möchtest Du Dich peitschen lassen, August?« Ich ballte statt aller Antwort nur die Faust. Der Probst fuhr fort:

»Du hast Dich immer in den Wald zurückgesehnt. Wie war's mit einem Jägersmann, mein Sohn?« – Nun gut, wenn nicht Soldat, so will ich Jäger werden und schießen lernen, – sagte ich.

»Was der Probst noch weiter in mich hineingepredigt hat, weiß ich nicht. Ich dachte an den todten Major und blinzelte nach dem jammernden Kinde in der Hölle. Da war ich denn quasi verdutzt und wußte gar nicht wie mir geschah, als ich mich plötzlich beim Arme gefaßt und nach der Thür geschoben fühlte. Vom Probste nämlich. Schon hat er die Thür aufgeklinkt und ich stehe auf der Schwelle, da höre ich etwas hinter mir, als wenn ein Vogel flattert. Rasch wende ich mich um und sehe – ja was denn nun eigentlich? Es war ja nur ein einziger Blick und einer aus dem hellen Flur in das halbdunkle Zimmer. Ich sehe also mit ausgespreizten Armen eine Gestalt, klein und fein wie ein Kind, von schneeweißem Angesicht und hellgelbem Gelock, gegen die große, schwarze Hardine, die hinter ihr stand, sich abhebend wie am Himmel ein weißes goldgerändertes Wölkchen, wenn die Nacht schon hereingebrochen ist. Mir schwamm es vor den Augen, als hätte ich einen Schwindel. Da stieß mich der Probst über die Schwelle, die Thür fiel in die Angel und ich hörte von drinnen nur noch einen schrillen Schrei.«

»In der nächsten Minute stand ich vor der Thür neben meiner Alten. Unter freiem Himmel legte sich der Schwindel alsobald, ich sah und hörte wieder munter wie sonst und kam schier auf den Gedanken, daß die Geschichte, – nicht die vom tobten Major, aber die von dem Wolkenkinde, nur ein Spuk gewesen sei.«

»Auf der Gasse war es während der Stunde lebendig geworden. Gleich einem aufgescheuchten Bienenschwarm summte die Menschheit auf und nieder, und mein altes Weib war voll wie ein Schwamm von all' den Geschichten, die sie auf der Thürbank eingesaugt hatte. Die Geschichten waren wahr, Gott sei's geklagt. Die alliirte Armee hatte sich auf zwei Punkten überrumpeln lassen und zwei hundsföttische Schlachten wurden in den nämlichen Stunden geschlagen. Aber sie wurden just erst geschlagen. Die Stadt lag drei Meilen vom nächsten Kampfplätze entfernt: wie konnte das Volk den erbärmlichen Ausgang so dreist behaupten? Witterung sagen sie, wie die vom lieben Vieh vor dem Sturm. Aber warum hatte ich die Witterung nicht? Warum hast Du, Lisette, niemals gezittert bei einem ersten Kanonenschlag? Weil Du ein Mann warst, Lisette, und jene Männer alte Weiber wie die Beckern, Memmen, die nichts Besseres verdient haben als die Fuchtel des Napoleon so lange, bis am Ende auch bei ihnen die Berserkerwuth zum Ausbruch gekommen ist.«

»Auf Schritt und Tritt guckte mein altes Weibsstück sich um, ob ihr der grausame Bohnebart nicht bereits auf den Hacken säß'. Bei aller Angst jedoch schwamm die Neugier nach dem, was ich bei den Majors erlebt, obenauf, und wir waren noch nicht aus dem Thore, da hatte sie mich ausgepreßt wie eine Citrone und zu jedem Tropfen ihren Senf gerührt. Ich wollte nur Eines wissen: wer das kleine Mädchen gewesen sei, dessen letzter Schrei mir noch immer in den Ohren gellte. Aber just dieses Eine wußte die alte Weisheit nicht. – »Eine Bekanntschaft aus der Stadt« – so meinte sie, denn Anverwandte hätten die Majors hier zu Lande keine. – Aber warum seufzte und weinte sie denn so jämmerlich? forschte ich weiter und brachte damit meine Alte wieder in das richtige Fahrwasser.«

»Wer heult und schreit denn anjetzo nicht, Gustel?« sagte sie. – »Wer sieht im Geiste nicht Einen von den Seinigen todtgeschossen, oder zum Krüppel gehauen, oder in Gefangenschaft, oder auf der Flucht? Den Bohnebart mit seiner Kopfabschneidemaschine noch gar nicht eingerechnet. Ja, das sind wilde Zeiten wie unter dem Schwedenkönig, oder dem alten Fritz. Paß auf, Gustel, wenn wir heimkommen, ob uns der Franzose da nicht schon entgegenrückt und das Kloster ist ein Aschenhaufen, und Lehrer und Jungen sind über alle Berge wie eine Heerde, in die der Wolf gerathen ist. Und darum, Gustel, darum will ich Dir noch in dieser Stunde offenbaren, was ich in der nächsten vielleicht nicht mehr zu offenbaren im Stande bin. Etwas, auf das noch kein Mensch verfallen ist als die alte Beckern ganz allein. Wenn es aber einstmals vor aller Welt an's Tageslicht gekommen sein wird, dann sollst Du denken: die alte Beckern hat mir's prophezeit, und Dich hübsch dankbar erweisen an der armen, alten Frau; nämlich insofern sie vor dem grausamen Bohnebart ihr bischen elendes Leben davongetragen hat.« –

Sie guckte sich nach dieser Rede scheu in alle vier Weltgegenden um, hob sich auf die Zehenspitzen und wisperte, ihren Mund an mein Ohr gelegt:

»August, hast Du Dir niemals Gedanken darüber gemacht, was Fräulein Hardine eigentlich mit Dir zu schaffen hat?« – Ich schüttelte lachend den Kopf.

»Und Dir schwant auch gar nicht, wer der Mann gewesen ist, vor dessen Leichnam man Dich heute geführt?« – Ein Major! sagte ich. – »Ein Major nun freilich,« versetzte die Alte ärgerlich, – »Ein Major für Seine Kurfürstliche Gnaden; ich meine aber, was er für Dich, August, gewesen ist?« – Ich schüttelte wiederum den Kopf.

»Nun so vernimm es denn, August,« – sagte die Beckern feierlich wie die Hexe im alten Testament: – »der Mann ist Dein Großvater gewesen, denn Fräulein Hardine ist Deine Mutter.« –

»Die Wahrheit zu sagen, ich war dazumal in derlei Historien wie ein ungeschorenes Lamm. Das einsame Waisenhaus führte mit Fug seinen Klostertitel; Angehörige, die wir besuchten, hatte Keiner von uns und alles was eine Schürze trug, wenn es nicht lahm und grau war wie die Beckern, wurde von der Anstalt fern gehalten wie ein Zunder. Die Lehrer waren unverheirathete Anfänger, warm aus dem Seminar, der Probst ein Wittmann. So merkten wir denn nichts von Küchengeträtsch und Klatsch und ich argwöhnte durchaus nicht, welch ein gefährlicher Leumund über Fräulein Hardinen mir in's Ohr geträufelt ward. Ich würde mir jedoch jede Andere als sie lieber als Mutter ausgebeten haben, hätte ich mich überhaupt jemals nach Vater oder Mutter gesehnt. Ich sehnte mich aber in die Freiheit, in den Wald, oder in die Welt und weiter nach nichts. Indessen einen Großvater, der auf dem Schlachtfelde geblieben war, hätte ich mir schon gefallen lassen und ihm zu Liebe allenfalls auch die gestrenge Hardine als Fräulein Mama in den Kauf genommen. Darum spitzte ich wohl einen Augenblick die Ohren.«

»Aber der Major war ein vornehmer Herr und ich hieß schlechtweg Müller. Der Probst hatte mir kaum vor einer Stunde gesagt, daß ich um meines Standes willen es nur bis zum Gemeinen bringen könne. Das fiel mir zur rechten Zeit wieder ein, und ohne mich viel darum zu grämen, erklärte ich der alten Hexe, welch ein Wind es mit ihrer Prophezeihung sei.«

»Die aber blieb bockssteif bei ihrem Satz und wurde noch obendrein rabiat.« – »Was für ein blitzdummer Junge Du bist, Gustel,« – eiferte sie, indem sie beide Arme in die Hüften stemmte. »Als ob ein Edelreis nicht auch wilde Schößlinge treiben könne! Als ob man ein Kind, wenn man seinem Ursprunge nicht auf die Spur kommen lassen will, nicht blos als einen Müller, oder meinetwegen als eine Beckern und dergleichen in das Register einzutragen brauchte! Notabene: insoferne der Pastor mit Einem unter einer Decke steckt. Was aber, frage ich, was ist unser Herr Probst? Ein alter guter Freund von Fräulein Hardinen. Wer hat Dich heimlich bei Nacht und Nebel in das Waisenkloster eingeschmuggelt, wer, frage ich? Fräulein Hardine. Bist Du ein Soldatensohn wie die Anderen? Weiß Einer überhaupt, wer Dein Vater gewesen ist? Siehst Du aus wie von gemeinem Gezücht? Wie ein Junker, August, wie ein Prinz siehst Du aus.« –

»Wahrlich, ja wahrlichen Gott, wie ein Prinz!« unterbrach Frau Lisette den Erzähler, eine stolze Röthe über dem abgezehrten Gesicht, – »Der Prinz hießest Du, Prinz Gustel in der ganzen Legion!« –

Prinz Gustel schmunzelte nicht unempfindlich bei dieser schmeichelhaften Erinnerung, hielt aber den Faden seiner Mittheilung getreulich fest.

»Wer hat Dir eine halbe Freistelle ausgewirkt?« fragte die Alte weiter, – »Eine Mutter etwa, die Wittwe ist? ein Vormund, ein Rath, oder Amt? Gott bewahre, Fräulein Hardine. Wer bringt dem Probst netto alle sechs Monate die Unkosten für Deinen Unterhalt? Wer besucht Dich im Kloster? Wer setzt Dir den Kopf zurecht? Niemand Anderes als Fräulein Hardine. Und nun noch zu guter Letzt: Was brauchte der todte Major einen Kranz aus dem Waisenkloster, wenn's nicht Einer von seinem Blute war, der ihm die letzte Ehre anthun sollte? Was brauchte der Probst Dir im Leichenhause eine Standpredigt zu halten, wenn Du nicht quasi zur Familie gehörtest? Wer den Zusammenhang nicht mit Händen greift, nun, der kann sagen, er hat keinen Grips, Fräulein Hardine ist Deine Mutter, das steht so fest wie das Amen im Evangelium.«

»Die Alte machte eine Pause, weil sie doch einmal verpusten und ausspucken mußte. Ich sagte kein Wort, denn im Grunde war mir die Sache einerlei. Nach einer Weile fing die Beckern mit frischer Lunge wieder an: »Ich will mit meinem Satze nichts Unreputirliches von Fräulein Hardinen behaupten, August. Aus so einer honnetten Familie, und so eine Erbschaft vor Augen, beileibe nicht, beileibe nicht! Denn zur Zeit ist Fräulein Hardine freilich so arm wie eine Kirchenmaus; aber das alte schwarze Spukeding, ihre Muhme, kann doch nicht ewig in ihrem Goldthurme Schätze graben. Und wenn sie sich zehnmal dem Leibhaftigen verschrieben hat, unser Herrgott hält ihm Widerpart und über hundert Jahre hat's der ärgste Geizkragen noch nicht gebracht. Dann aber giebt's keine Zweite im Kurfürstenthum wie unser Fräulein Hardine. Nichts Unreputirliches, Gustelchen, um's Himmelswillen nichts dergleichen! Aber eine Heimlichkeit steckt dahinter; darauf nehme ich Gift. So eine Prinzenheirath etwa, die der Frau nicht die Mannesehre und den Kindern nicht den Vaternamen giebt, wie die alte geizige Schloßfrau ihrer Zeit auch eine eingegangen hat; oder so etwas dergleichen, was Unsereiner nicht versteht. Warum schlägt Fräulein Hardine die schönsten Bewerbungen aus? Wird Eine freiwillig eine alte Jungfer, die an jedem Finger einen Freier haben könnte? Warum, frage ich, als weil sie in der Stille schon Einen hat, der mit ihr auf die Grafenerbschaft lauert. Laß sie aber nur erst sicher in ihrem Goldthurme sitzen, dann wird der versteckte Prinz schon zum Vorschein kommen. Und dann wirst Du ein Junker, August, und ein reicher Millionair und dann denke an die alte, arme Beckern, die Dir zuerst ein Lichtchen angesteckt hat.«

Der Erzähler schwieg. – »Weiter, weiter, Mann!« rief Frau Lisette in athemloser Spannung. »Weiter, weiter! –«

»Weiter – nichts!« versetzte lachend der Invalid. »Die Geschichte ist aus.«

»Aus?«

»Rein aus, sage ich Dir. Wir waren unter dem Geklatsch vor der Klosterpforte angelangt. Ich drehte meiner Alten eine Nase, denn das Haus war nicht in einen Aschenhaufen umgewandelt und die Heerde nicht über alle Berge entflohen. Nun aber die Angst, als das Weibsstück sah, wie ich seine Weisheit aufgenommen hatte. Sie zitterte wie ein nasser Pudelhund, und ihre Zähne, – nein, die klapperten nicht, denn sie hatte keinen Zahn, – aber das Kinn wackelte ihr und: »Um Gottes, Jesus willen, Gustelchen, reinen Mund!« jammerte sie, »bringe eine alte, arme Wittfrau nicht um ihr hartes Stückchen Brod.«

»Ich lachte aus vollem Halse und rannte in das Thor, hinter welchem die Kameraden sich lustig wie alle Tage tummelten. In aller Eile lieferte ich ihnen eine Schlacht von entgegengesetzter Façon, wie die, welche in den nämlichen Stunden zu Ende ging. Aller Spuk und Schwatz des Morgens war wie weggeblasen.«

»Im nächsten Frühjahr brachte mich der Probst zu dem Förster, dem ich zwei Jahre später aus dem Garne lief, als der Herzog in unserer Nähe campirte. Fräulein Hardinen aber habe ich mit keinem Auge wieder gesehen, habe auch keine Silbe wieder von ihr gehört und heute zum ersten Male, glaub' ich, wieder an sie gedacht.«

Die arme Marketenderin war durch diesen jähen Abschluß bitterlich enttäuscht. Sie nahm schweigend die Arbeit wieder zur Hand, die im Eifer des Zuhörens in ihren Schooß gesunken war, und stichelte eine lange Weile mit fieberhafter Hast, bis sie über einen neuen Plan im Klaren und des jovialen Tones wieder Herr geworden war, in dem sie ihren Eheliebsten zu einer ferneren Bereitwilligkeit zu stimmen gedachte.

»Ich danke Dir, August,« sagte sie endlich, indem sie ihm die Hand reichte. »Du verstehst zu erzählen. Und ein Anhalt bliebe Deine Geschichte immer für unseren armen, kleinen Wurm, wenn ich eines Tages nicht mehr für ihn sorgen könnte: ich meine, wenn eines Tages unversehens der Napoleon retour gekommen wäre! Und darum, Freund, laß uns das Ding gleich heute zu einem Ende bringen. Du bist ein perfecter Schreiber, hast manchen Rapport geführt, und die Feder zu regieren, so gut wie den Säbel, braucht's ja nur eine Hand. Mach' also ein Schriftstück aus der Sache, warm wie sie Dir im Gedächtniß aufgewacht ist. Das und der Waisenhausschein werden die Familienpapiere sein, die Prinz Gustel seiner Prinzessin zurückläßt, wenn's einmal schnell mit uns von dannen geht.«

Sie hatte während dieser Rede ein Paar von den Bogen, in welchen sie ihr Handschuhleder eingewickelt erhielt, sorgfältig geglättet, auch das Schreibzeug hervorgekramt, das ihr zum Abfassen ihrer Rechnungen diente. Nachdem sie die Feder gespitzt und die Tinte umgerührt, begann sie die Pfeife des Mannes frisch zu stopfen, vergaß auch nicht, das Glas mit dem Reste der Flasche zu füllen.

Freund August brummte und zeterte zwar sein gehörig Theil, fügte sich schließlich aber doch in die wunderliche Laune der Wöchnerin. »Was solch ein Wurm für Scheererei macht!« sagte er, indem er sich an dem Arbeitstisch seiner Frau niedersetzte.

Bald flog die Feder in freien, kräftigen Zügen über das Papier und schwarz auf weiß bildete sich die Erzählung, die wir mit den nämlichen Worten aus seinem Munde vernommen haben.

Mitternacht war vorüber, als er das letzte Blatt seiner Frau in's Bett reichte. Sie hauchte es trocken mit dem heißen Athem ihrer Brust, barg es sammt dem Einsegnungsscheine in dem untersten Fach ihres Nähkastens, und löschte die Lampe. »August,« sagte sie darauf, während der Mann seine Kleider auszog und sich auf die Strohschütte zu Füßen des Bettes niederwarf, »August, wir wollen unsere Kleine Hardine taufen lassen.«

»Lisette wäre mir lieber gewesen,« erwiederte gähnend der Herr Papa. »Aber meinethalben auch Hardine.«

Und das kleine Mädchen wurde Hardine getauft.


Jahre vergingen, ohne daß Fräulein Hardinens zwischen dem Invalidenpaar wieder Erwähnung geschah. Fast sechs Jahre, in welchen die kleine Namensträgerin der unbekannten Dame mühselig auf die Füßchen kam, und aus welchen ihr keine Erinnerung geblieben ist, als daß sie niemals hungerte und oftmals fror.

Der Wachtmeister der Legion wartete zwar nicht mehr auf den rückkehrenden Napoleon, denn der schlief beruhigt und beruhigend in seinem Inselgrabe, aber er wartete noch immer auf irgend einen anderen respektablen Feind, gegen welchen eine brave Soldatenfaust den Säbel wieder zücken dürfe. Freilich erwartete er ihn selten an dem schwachlodernden häuslichen Heerdfeuer, das seit dem Einrücken der Wiege nicht an Behagen für ihn gewonnen hatte. Er hielt sich zu den lustigen Plätzen, die ihm das Marketenderzelt in Erinnerung riefen; da wo Karten und Würfel fallen, wo der Schoppen kreist und ein frischer Soldatenschwank nicht selten die Zeche bezahlt.

In der engen, dumpfen Soldatenkammer daheim aber saß seufzend und stichelnd die alternde Marketenderin, ohne sich Rast zu gönnen zu einem Liebesblick in schwerer Mühe und Sorge für ihr Kind. Von Woche zu Woche wurden ihre Wangen hohler, die Finger zitternder, der Athem kürzer, aber sie seufzte und stichelte noch immer den ganzen Tag und die halbe Nacht.

Endlich jedoch kam die Stunde, in welcher alles Sticheln und Seufzen ein Ende hat, und es war eine Sterbekammer, in die der sorglose Zecher aus dem Schenkhause berufen wurde. August Müller hatte in seinen jungen Tagen Tausende von Männern, aber noch nie eine Frau sterben sehen; er hatte niemals früher daran gedacht, daß der Tod ein Geschäft auch für Weiber sei, selber für so tapfere Weiber, wie seine Lisette eines gewesen war. Nun tobte und schrie er vor dem ungeahnten Bild, zerraufte sein Haar und zerschlug sich die Brust.

Die brave Marketenderin aber verstand sich auf den düsteren Gesellen, den sie unter Männern kennen gelernt. Sie hatte ihn langsam heranschleichen sehen und blickte ihm unerschrocken in's Angesicht, als er jetzt hart an ihrer Seite stand. Ob es ihr wehe that, von dem Wesen zu scheiden, das die Natur erst so spät an ihr Herz gelegt? Es schien nicht so. Die Pflicht für seine Erhaltung jedoch erfüllte sie bis zum letzten Athemhauche.

»Sei kein Narr, August,« sagte sie zu dem Manne, der sich fassungslos an der Bettseite niedergeworfen hatte, – »Einmal muß doch ein Ende sein. Setz' Dich hier auf den Rand; merke auf und thu, was ich Dir sagen werde.«

Sie legte bei diesen Worten die treulich verwahrten Familienpapiere in des Mannes Hand und fuhr darauf in klarer, eindringlicher Rede also fort:

»Hüte diese Blätter als das einzige Erbtheil, das Du Deinem Kinde zu hinterlassen hast. Ich habe diese sechs Jahre Tag und Nacht darüber nachgedacht, und nun sterbe ich in der Gewißheit, daß Fräulein Hardine Deine Mutter gewesen ist. Für Dich selber thu oder laß, was Du willst. Du bist ein Mann. Aber suche sie auf und bring ihr das Kind, das Du nicht versorgen kannst. Verkaufe meinen Hausrath; der Erlös schafft das Reisegeld. Für unser Trauattest und der Kleinen Taufzeugniß habe ich gesorgt. Vergiß aber nicht meinen Todtenschein. Laß dann im Kloster Dein Einsegnungszeugniß bescheinigen; erforsche in der Stadt Fräulein Hardinens Vaternamen, und was aus ihr geworden ist. Lebt sie noch, – im Reichthum, oder arm wie einst, – sie muß eine alte Frau jetzt sein und wird sich der Sünde schämen, ihr Blut zu verstoßen. Ist sie gestorben, finden sich wohl Angehörige. Vielleicht, daß auch der Probst noch bei Wege ist, oder der Förster. Kurzum, Du bist in Deiner Heimath und Dein Kind muß und wird einen Anhalt finden, insofern Du Deine Schuldigkeit thust. Laß es aber bald sein, Mann, denn es geht jach mit Dir abwärts auf dem Wege, den Du eingeschlagen. Das Kind zu Fräulein Hardinen! Gieb mir die Hand darauf, August, die Manneshand, die das Schwert geführt.«

Er reichte ihr schluchzend die Hand, die sie herzhaft drückte, »Mutter – Hardine!« lallte sie noch, legte sich dann auf die Seite, zog das Kopftuch über die Augen und verschied.

Der Invalid – um unserem früheren Gleichniß treu zu bleiben – der Invalid bäumte sich wie ein angeschossener Hirsch. Er fühlte seine alten Wunden heftiger brennen als zu der Zeit, da die schwarze Lisette sie auf dem Schlachtfelde verbunden hatte; er wich keinen Schritt aus der dunklen Kammer, so lange dieselbe die Leiche barg.

Nun aber deckte sie die Erde. Er hatte ihr nicht gebührendlich mit Sang und Klang die letzte Ehre erweisen können; aber er war es gewohnt, einen braven Kameraden mit einem Trauermarsche zur Grube zu geleiten und mit einer lustigen Weise heimzukehren. Am Abend saß er in dem Weinhause, aus welchem man ihn vor drei Tagen in die Sterbekammer abberufen hatte. Der Schoppen kreiste, die Würfel rollten wie sonst. Das Weib, die Mutter Lisette waren verschwunden, und bald nur die lustige Marketenderin noch eine stehende Figur in den Bildern, die sich unter dem Banner des schwarzen wie des eisernen Herzogs vor seinen Augen entrollten.

Und wieder gingen Jahre dahin, aus welchen die kleine Hardine keine Erinnerung bewahrte, als daß sie oftmals hungerte und immer fror. Ein blödes, zitterndes, trübseliges Geschöpf, schlich sie am Morgen aus der kalten, immer leerer werdenden Kammer, hockte einsam und stumm vor der Thür, bis eine mitleidige Nachbarin ihr einen Bissen reichte, oder sie in ihr durchwärmtes Zimmer führte. Den Vater sah sie fast nie. Wenn er spät in der Nacht heimkehrte, schlief sie schon, und wenn er früh am Morgen wieder aufbrach, schlief sie noch. Es ging jach abwärts mit dem Manne, wie seine sterbende Frau es vorausgesagt: aus dem Weinhause in die Branntweinkneipe, aus dem Kreise kannegießernder Bürger unter ein Publikum roher Gesellen. Seine lockigen Haare wurden struppig, blutrothe Flecken brannten auf den gedunsenen Wangen; die Adern schwollen neben den Narben der Stirn, und ein wüstes Feuer brannte aus den großen, blauen Augen, wenn er nach dem Pferde schrie, das er tummeln, nach dem Säbel, mit dem er den noch immer erwarteten Feind niederhauen wollte. Das alte Soldatenblut rumorte noch wie einst, aber Prinz Gustel war untergegangen, und das Vaterherz hatte noch niemals pulsirt. Der Handschlag, den er seinem sterbenden Weibe gegeben, war so gut wie vergessen.

Zu seinem Glücke kam der Tag, wo das letzte Stück Hausrath, das letzte Kissen von Frau Lisettens Brautschatz abgepfändet waren, wo der Hauswirth die Miethe, der Schankwirth die Zeche nicht länger stunden wollten, wo dem unheimischen Manne und seinem Kinde der Schub über die Landesgrenze drohte. Die Noth heischte einen Entschluß und die Noth gab auch die Kraft, ihn zu vollbringen.

Es war wieder einmal eine Zeit, in welcher ein Schrei der Rache gegen einen Erbfeind den Welttheil durchdrang: die Zeit der Griechenerhebung, der schon mancher tapfere Fremdling sich zum Opfer gebracht, wenngleich noch keine christliche Negierung ihr ihren Beistand geliehen hatte. Auch in dem Arme unseres Veteranen zuckte das Schwert von Vittoria und Waterloo. »Komm, Hardine!« sagte er an einem Frühlingsmorgen 1825, »ich will Dich zu Fräulein Hardinen bringen und dann wider den Türken ziehen!« Und an der Hand sein Kind, in der Tasche dessen »Familienpapiere«, und sonst nicht viel mehr, so schritt er aus dem Thore der kleinen niederländischen Stadt.

Freilich der Weg war weit aus dem Maas- in das Elbgebiet; der Beutel war leer, Athem wie Kraft nur noch gering. Die alten Nachbarn und Zechbrüder schüttelten die Köpfe und meinten, daß dieser Wandersmann weder im Kampfe gegen Ali-Pascha, noch selber in der Heimath, sondern daß er auf der Landstraße enden werde. Auch gingen Monate dahin, bevor er seinem Ziele näher rückte. Aber es war Sommerszeit, die Straße führte durch reiche vaterländische Gauen, und das Ehrenkreuz, der pulvergeschwärzte, kugeldurchlöcherte Mantel, der verstümmelte Arm von Waterloo waren warme Fürsprecher des armen Invaliden und seines blassen Kindes. Es fand sich so mancher Fuhrmann oder Schiffer, der die Beiden für einen Gotteslohn eine Strecke beförderte, mancher Wirth, der die Herberge nicht anrechnete, und manche Hand, die ungebeten einen Zehrpfennig oder Wanderbissen reichte. Mußte dann auch wohl einmal unter freiem Himmel genächtigt werden, so war das eine alte Gewohnheit für den Soldaten der Legion; die Nacht war kurz und er erwachte kräftiger als seit Jahren in der dumpfen Kammer nach einem wüsten Zechgelag.

Alles in Allem: die Zeit dieser Wanderung war nicht die böseste in August Müller's Leben. Er hätte länger, ja er hätte sein Lebtag wandern mögen, wenn nicht der Zug gegen die Türken ihn doch noch mächtiger gelockt. Für seine kleine Begleiterin aber, so oft sie in ihren Lumpen unter einem Regenguß zusammenschauerte, oder mit wunden Füßchen stumm, wie immer, am Wege niederhockte, für sie hatte er einen Zaubernamen gefunden, dessen Klang ihr immer wieder frische Kraft verlieh. »Fräulein Hardine!« lautete der Name. »Vorwärts zu Fräulein Hardinen!« oder »Bald sind wir bei Fräulein Hardinen!« brauchte der Vater nur zu sagen, und die Kleine schleppte sich weiter, bis sich eine Herberge aufgethan. »Fräulein Hardine« war das einzige Wort, das sie während der langen Reise gemerkt oder leise nachgelallt hat. Vielleicht, daß in dem kleinen Herzen ein Echo mütterlicher Seufzer und Tröstungen lebendig geworden war.

Man sagt: ein brechendes Auge sieht klar, und gewiß liegt etwas Ergreifendes in der Zuversicht, die, sei's für Diesseits, sei's für Jenseits, auf einem Sterbebette verkündet wird. Auch August Müller war einen Augenblick von dem Glauben geblendet worden, in den sich seine Frau Jahre lang hineingegrübelt, und dessen sie sich in ihrer letzten Sorgenstunde getröstet hatte. Im Grunde des Herzens aber hatte er, wie früherhin, so auch jetzt, Fräulein Hardinens niemals als einer Blutsverwandten gedacht und den Weg zur Heimath keineswegs mit dem Anspruch von Sohnesrechten angetreten. Er hoffte für sein mutterloses Kind auf eine Versorgung durch die Frau, die aus irgend einem Grunde seine eigene verwaiste Kindheit überwacht hatte. War sie im Laufe der Zeit zu Glanz und Fülle gelangt, – eine Vorstellung, die sich seiner heiteren Gemüthsart gar leicht einschmeichelte, – wollte sie ihn noch außerdem mit einem Pferde und einer blanken Uniform für seinen Türkenzug ausstatten, desto froher sein Habdank. So viel oder so wenig hatte er im Sinn, wenn er seinem ermatteten Kinde zurief: »Wir gehen zu Fräulein Hardinen!«

Es war hoher Sommer geworden, als er eines Morgens in einem wohlangebauten Thale vor einem einsamen, alten Gebäude Halt machte und mit dem Freudenrufe: »das Kloster!« durch die geöffnete Pforte rannte. Er drang in den Hof, in den Kreuzgang, in den Garten, in das Schulhaus, in die Probstei; er erkannte jeden Winkel: den Spielplatz, auf welchem die Knaben heute wie damals sich tummelten; den Brunnen, in welchem sie heute wie damals ihre Becher füllten; das Zinngeschirr, das heute wie damals die Tafeln des Cönakels bedeckte; den Holzschuppen, in welchem heute wie damals Unruhstifter seiner Gattung ihre Strafe verbüßten. Nur von den Menschen, welche, alt und jung, den aufgeregten Fremdling neugierig umringten, von den Menschen kannte er keinen. Er fragte nach Ludwig Nordheim, dem Probst und Director; er war todt und vergessen viele Jahre schon. Er fragte nach der alten Beckern. Niemand hatte je von einer alten Beckern gehört. Keiner erinnerte sich eines der ehemaligen Lehrer und Mitschüler, deren Namen er zu nennen wußte. Die preußische Herrschaft, die diesen Landestheil überkommen, hatte fremde, der Gegend unkundige Leute in die alten Räume geführt. Er hätte sich schämen müssen, Fräulein Hardinens nur zu erwähnen.

Enttäuscht, wollte er seinen Stab weiter setzen, als ihm das Attest einfiel, dessen Beglaubigung nachzusuchen er seiner Lisette gelobt hatte. Kluge Lisette! Namen, Datum, Wahlspruch und Handschrift stimmten mit denen des Schulregisters überein; der neue Director konnte getrost sein Fiat daruntersetzen und der ärmliche Landstreicher hatte in dem polizeistrengen Staate immerhin eine Legitimation gewonnen, die ihm die Wanderschaft erleichterte. Nun durfte es aber auch an einer gastlichen Bewirthung nicht fehlen, da ja Narben und Ehrenkreuz des vormaligen Zöglings einem Erziehungshause für Soldatenwaisen wohl zum Ruhme gereichten. Die grauen, stillen Klostermauern hallten wieder von kühnen Streichen und luftigen Schwanken, von abenteuerlichen Zügen über Land und Meer, von dem schwarzen Herzog und der schwarzen Lisette. Die Frau Directorin tischte auf, was Küche und Keller vermochten; der Herr Director sammelte unter Beamten und Lehrern zum Besten des invaliden Helden. Erquickt, beschenkt, froh wie ein König schied August Müller aus den Mauern, zwischen denen er zwanzig Jahre früher so widerwillig still gesessen hatte.

Er schlug nun den Weg nach der Stadt ein, und die Sonne senkte sich, als er über den Häusern im Thal das Schloß im Abendgolde leuchten sah. Jetzt bog er aus der langen, schmalen Gasse auf den Markt und sein erster Blick fiel auf das Haus, das unverändert auf niederem Gestell eine thurmhohe Dachhaube trägt. Der Mops mit der Zipfelmütze! »Hier, hier,« schreit er seiner Kleinen zu, »hier wohnt Fräulein Hardine!«

Er stürmt in die Thorfahrt und in die Thür zur Rechten. Das Zimmer ist in eine Schneiderwerkstatt umgewandelt; der tiefe Höllenwinkel – des Mannes erster Blick! – er ist mit dem riesigen Kachelofen verschwunden. Auf dem Platze in der Kammer, wo damals der Sarg des Majors gestanden, steht heute eine Wiege. Angstvolle Geberden und zornige Scheltworte begrüßen den Eindringling, den man für einen Betrunkenen oder Tollen hält.

Indessen waren auch die Nachbarn, die vor den Thüren Dämmerstunde feierten, auf des Fremden seltsames Gebahren aufmerksam geworden. Der Lärm lockte spielende Kinder, Mägde vom Brunnen herbei, eine dichte Gruppe bildete sich vor dem Thor. Die Frauen näherten sich dem abgezehrten Mädchen, das sich ermattet neben demselben niedergekauert hatte. – »Wie heißt Du, Kleine?« fragte eine Nachbarin. – »Hardine,« lispelte das Kind mit schwacher Stimme. – »Ist der Mann Dein Vater?« – Das Kind nickte. – »Wie heißt er?« – Das Kind schüttelte das Köpfchen. – »Was will er? Wen sucht er in diesem Hause?« – »Fräulein Hardinen.«

»Fräulein Hardinen!« Die Nachbarn steckten bei dem Namen die Köpfe zusammen. Als aber nun auch der Vater, gefolgt von der Schneiderfamilie, von Gesellen und Lehrlingen, aus dem Hause zurückkehrte, und immer den nämlichen Namen wiederholte, da entstand ein Rumor, ein Gewirr von Kreuz- und Querfragen, das endlich in der Kürze zu folgendem Abschluß führte:

Die älteren unter den Bürgern des Städtchens hatten in der That ein Fräulein, das Hardine hieß, gekannt, das einzige, das jemals unter ihnen diesen Namen getragen. Fräulein Hardine war in diesem Hause geboren und erzogen; die Leiche ihres Vaters, der als Major in dem Gefecht bei Saalfeld geblieben, war auf dem städtischen Kirchhofe begraben und die Tochter hatte ihm ein Monument errichten lassen, das die Stadt zu ihren vornehmsten Sehenswürdigkeiten zählte. Der Name Fräulein Hardinens hatte überhaupt einen stolzen Klang in ihrer Vaterstadt. Der Magistrat ging damit um, ihr einen Ehrenbürgerbrief zu votiren, für welche Auszeichnung man sich denn ganz unverhohlen auf ein testamentarisches Legat zu Gunsten einer städtischen Stiftung Rechnung machte, denn die viel gepriesene Dame, die reichste Grundbesitzerin der Provinz, ermangelte jeglichen berechtigten Erbens und stand in den Jahren, wo man sein Haus zu bestellen pflegt. Daß hingegen Fräulein Hardine jemals ein fremdes Kind – von einem eigenen war natürlich nicht die Rede – in einem Waisenhause versorgt haben sollte, wollte zu den von ihr gang und geben Erinnerungen und Vorstellungen nicht im Entferntesten passen. Fräulein Hardine stand in dem Rufe einer großen und klugen Dame, aber nicht in dem einer Samariterin.

August Müller's Erinnerungen sprachen indessen allzu deutlich für einen immerhin möglichen Fall, auch empfahlen die kriegerischen Narben und Decorationen den ehemaligen Schützling ihrer Landsmännin, und so war man denn allseitig bereit, ihm eine gastliche Herberge in ihrer Vaterstadt zu gewähren. Die kleine Hardine, reichlich beköstigt und reinlich ausstaffirt, schlief so sanft wie noch nie auf der ganzen Reise in dem Bettchen, das ihr die Schneidersfrau neben der Wiege in der Kammer aufgeschlagen hatte. Vater Müller aber dachte gar nicht an ein Bett; er durchzechte die kurze Sommernacht an der Tafel des Schloßkellerwirths nebenan und belohnte das freihaltende Publikum mit dem köstlichsten Humor seiner spanischen Erinnerungen und der Erwartungen seines Türkenzuges. Ein so tapferer Landsmann, der sich so weit in der Welt umhergetrieben hatte und noch ferner umherzutreiben gedachte, ein Krüppel, der, seinem Elend zum Trotz, so lustig zu erzählen verstand, er durfte aber nicht ohne einen anständigen Zehrpfennig in das Gebiet der auserkorenen Ehrenbürgerin entlassen werden. Und so endete der Rasttag in Fräulein Hardinens Vaterstadt als ein Freuden- und Erntetag für den ehemaligen Waisenknaben, der dieses Fräuleins Schutz genossen hatte.

Den Himmel voller Geigen und mit reichlich gefüllter Tasche holte er am anderen Morgen sein kleines Mädchen aus dem Nachbarhause ab, drückte den vor den Thüren harrenden Bürgern zu Dank und Abschied die Hand und – besann sich erst jetzt, daß er vergessen hatte, nach Namen und Wohnort der Dame zu fragen, deren Wohlthat er genossen haben und von Neuem beanspruchen wollte! Möglich, daß er beide gestern in seinem Freudenrausche überhörte, so oder so jedoch gleichviel! Er kannte den Namen »von Reckenburg« nicht, er wußte kein Wort von dem Stammsitze der Familie, der reichsten Herrschaft, dem Stolze der Provinz! Wer vermöchte das verdrießliche Staunen unserer freigebigen Bürger zu beschreiben! War der Mann mit dem ehrlichen Soldatengesicht, mit seinen Orden und Narben, seinen Fahrten und Schwanken, mit der Berufung auf Fräulein Hardinen ein tollköpfiger Abenteurer, ein Betrüger, der ihre Leichtgläubigkeit benutzt hatte, um seinen Seckel zu füllen? Es währte Wochen, bevor unsere Bürgerschaft über den ärgerlichen Streich zur Ruhe kam; nur aber um von einem Erstaunen in das andere zu fallen und ihr Ehrendiplom vor der Hand zu sistiren.

Während dessen wanderte der Wachtmeister Müller wohlgemuth seines Weges. Sie hieß das Fräulein von Reckenburg, sie wohnte kaum zwölf Meilen fern auf Schloß Reckenburg und jedes Kind wußte ihm den Weg nach Schloß Reckenburg anzugeben. Er konnte auf diesem Wege seine Zehrung bezahlen; er hatte Weile, zechend zu rasten wo ihm beliebte, und ihm beliebte mancher Orten zechend zu rasten. So währte es denn eine Woche, ehe er den Strom erreichte, an dessen jenseitigem Ufer das Reckenburger Gebiet beginnen sollte.

Je näher er nun aber seinem Ziele rückte, um so anziehender wurde die Auskunft, die er über die Schloßdame von Reckenburg erhielt. Es waren natürlich nur kleine Leute, die er in den Herbergen oder als gelegentliche Weggenossen befragen konnte: Pächter, Förster, Viehhändler und dergleichen, einmüthig aber sprachen sie von dem Fräulein mit dem tiefsten Respect. Und zwar sprachen sie von ihr nicht nur wie von einer steinreichen Frau, sondern wie von dem klügsten und resolutesten Manne, dessen landwirthschaftliche Einrichtungen weit und breit der Gegend zum Muster dienten. Ebenso einstimmig waren aber auch die Bedenklichkeiten über die Zukunft der großen Besitzung nach dem Tode der Dame. Manche bedauerten die alleinstehende Matrone, Andere beneideten zum Voraus die lachenden Erben.

Unser Invalid, des Landes wie des Landbaues unkundig, verstand natürlich nichts von den Einzelnheiten dieser Mittheilungen. Aber seltsam! Je länger er von der Fülle des Reckenburg'schen Erbes reden hörte, desto tiefer schmeichelten sich Hoffnungen und Wünsche in sein Gemüth, die ihm bis dahin völlig ferngelegen hatten. In Armuth und Heimathlosigkeit waren die Muthmaßungen erst der alten Klosterklatsche, später seiner eigenen Frau von ihm verlacht worden. Jetzt auf der Wanderung in einer friedlichen, gedeihlichen Landschaft, ein Paar Thaler in der Tasche, jederzeit etwas Warmes im Magen und den Krug gefüllt für seinen Durst, kurz und gut, in einem behaglichen Zustande, wie er ihn kaum jemals gekannt, jetzt überließ er sich willig dem Zweifel, ob die beiden Weiber, ob namentlich seine kluge Lisette in der Hellsicht des Sterbebetts sein Verhältniß zu Fräulein Hardinen doch am Ende nicht richtiger erkannt haben möchten, als einst der einfältige Knabe und später der leichtsinnige Mann. Er überlas jetzt zu wiederholten Malen seine aufgeschriebenen Erinnerungen, er ließ auch wohl Fremde einen Einblick thun, ohne zu bedenken, welches Keimkorn von Verdächtigungen er damit ausstreue. Allerdings glaubte er auch heute noch nicht mit Zuversicht an sein Sohnesrecht, aber er begehrte nach diesem Recht, und vom Begehren bis zum Beanspruchen, man weiß es ja, ist ein Katzensprung. Die Freistatt für sein Kind und selber die Equipage für seinen Türkenzug genügten ihm schon nicht mehr; vor Allem aber genügte ihm nicht mehr, dieselben als eine Wohlthat zu erbetteln. Mit jeder zurückgelegten Meile wuchs sein luftiges Prinzenschloß in die Höhe, und wenn seine Kleine müde ward, entschlüpfte ihm mehr als einmal der Zuruf: »Bald sind wir bei Deiner Großmutter Hardine!«

Es war an einem heiteren Augustmorgen, als er den ersten Grenzpfahl mit der Aufschrift: »Flur Reckenburg« erreichte. Die Landschaft unterschied sich in keiner Weise von der, welche er seit mehreren Tagen durchschritten hatte; auch gehörte unser erwartungsvoller Fremdling nichts weniger als zu den die Cultur beobachtenden Wandersleuten. Trotzdem kam es ihm vor, als wandle er in einem neuen Land. War es der Schimmer der Heimath, der ihn blendete? Oder standen die Wiesen wirklich so viel saftiger, die Felder so viel reicher und üppiger bebaut? Wuchsen die Waldbäume so viel gradstämmiger? Trugen die Obstbäume so viel üppigere Frucht? Wie ebenmäßig waren alle Kreuz- und Querwege chaussirt, wie zweckmäßig geführt und bezeichnet! »Auf denen stockt keine Kanone und strömte es wie bei Quatrebras!« rief der alte Soldat. Wie mußte er des hirsch- und holzgerechten Waidmannes, seines Lehrherrn, gedenken, als er die stattlichen Dammböcke, das kräftige Edelwild in den uralten Tannenforsten über die Umhegungen lugen sah, während hier und dort um den Trinkquell die Thiere lagerten und die Kälber sie lustig umsprangen. »Ja, hier ist gut sein!« rief der arme Landstreicher aus, »Schau' Dich doch um, dummes Kind. Alles das gehört Deiner Großmutter Hardine!«

Weniger ansprechend indessen als das Land dünkten ihm die Leute in der Reckenburger Flur. Es war Erntezeit und ein reges Leben auf den Feldern. Da sah er denn einen Menschenschlag, nicht groß und stattlich, wie Prinz Gustel in seiner eignen Erinnerung stand, aber gesund und hartsehnig, knapp und reinlich gekleidet, scharf bei der Arbeit und karg im Genuß. Das war ein Schaffen ohne Rast; Jeder für sich und dabei doch Einer fördernd in des Anderen Hand. Dabei kein Wort, kein umschweifender Blick, kein Lachen und Schäkern zwischen Burschen und Dirnen, während die Mahden geschnitten, die Garben gebunden und verladen wurden. In einem Ameisenhaufen könnte es nicht stummer und emsiger vor sich gehen. Selber die, welche Mittag haltend am Straßengraben saßen, verzehrten die schwarzen Brodschnitte und leerten ihren Krug Dünnbiers schweigend und hastiger, als anderwärts Bauern es zu thun pflegen. Keiner lud den wandernden Krüppel und sein müdes Kind zu Rast und Labe, kaum daß sie seinen Gruß erwiderten; als er aber gar nach Schloß Reckenburg und nach Fräulein Hardinen fragte, da starrten sie, ohne Auskunft zu geben, das armselige Paar mit verwunderten, schier verächtlichen Blicken an, als wollten sie sagen: »Was wollt Ihr faules, verlaufenes Gesindel in der fleißigen, gesegneten Reckenburger Flur und bei unserem reichen, stolzen Fräulein Hardine?«

Der »Nach Schloß Reckenburg« bezeichnete Weg hatte die Wanderer in mannigfaltigem Wechsel stundenlang durch Wald, Wiesen, Feld und endlich wieder in ein Forstrevier geführt mit noch stattlicherem Bestande und mit parkartiger verschlungenen Pfaden als die früheren. Auch hier herrschte ein geschäftiges Treiben. Viel kleinere Kinder als die kleine Hardine sammelten die letzten blauen und die ersten rothen Heidelbeeren des Sommers, alte Mütterchen kamen und gingen mit Kräuter- oder Reisigbündeln, mit Körben duftender Pilze. Von der Wiege bis zum Grabe schien alles im Reckenburg'schen zu arbeiten. Aber die Kinder arbeiteten stumm, wie vorhin die Erwachsenen, und die Greise ebenfalls stumm, wie neben ihnen die Kinder; auch sie starrten verblüfft dem fußwandernden Paare nach, während eine gleichzeitige militairische Cavalcade und mehrere vornehme Equipagen, welche in rascher Folge an ihnen vorübersausten, ihre Aufmerksamkeit nicht im Geringsten erregten. Vergeblich fragte der Invalid, was diese glänzende Auffahrt geputzter Damen und Herren zu bedeuten habe? Sie zuckten schweigend die Achseln und bückten sich, um emsig weiter zu sammeln. »Ein curioses Völkchen, meine Reckenburger!« sagte August Müller, »aber ich werde ihm Mores lehren!«

Der tiefschattige Waldweg öffnete sich eben wieder nach dem freien Felde, als der Wanderer durch eine Gruppe uralter Weimuthskiefern gefesselt ward. Er blickte lange die schlanken Schäfte bis in die schwarzgrünen Wipfel hinan, die wie eine Laube in einander verwachsen waren. »Bah! Bäume sind Bäume!« sagte er endlich, indem er sich mit Gewalt losriß und in's Freie hinaustrat.

Er hatte bisher noch kein Dorf wahrgenommen, nur in der Ferne zerstreut einzelne Gehöfte, die er für Meiereien, Mühlen oder Ziegelscheunen hielt. Ihn plagte der Durst. Irgendwo mußte doch eine Schenke zu finden sein. So hielt er denn Umschau am Ausgang vor dem Waldesrande. Zur Linken desselben setzte die Straße nach dem Schlosse in einer breiten Lindenallee sich fort; geradeaus streckte sich eine Flucht von Gemüsefeldern. Jetzt wendete er sich zur Rechten und stand wie vom Blitze getroffen, als er hart vor dem Kieferndickicht ein kleines Haus von altväterischer Bauart gewahr wurde. Er starrt hinauf zu dem Giebel, an welchem ein gräflich gekrönter Doggenkopf in Steinarbeit prangt, athemlos umgeht er das Häuschen nach den drei freiliegenden Seiten, schlägt sich mit der geballten Faust vor die Stirn und stürzt endlich mit dem Schrei: »Muhme, Muhme Justine!« durch die geöffnete Thür.

Aber es war nicht die alte Muhme, es war eine junge Familie, die er in dem netten Zimmer zur Mittagsmahlzeit versammelt fand. Der Tisch stand blitzblank gedeckt, obgleich nur mit Buttermilch und einem Grützbrei besetzt. Herr August hätte keinen Appetit auf die Kost verspürt, wenn man ihn zum Niedersitzen eingeladen hätte.

Indessen man lud ihn nicht ein; im Gegentheil, man erhob sich und drängte ihn ganz unmerklich wieder zur Thür hinaus. Sichtlich mit Widerwillen gab man den Bescheid, daß das vormalige gräfliche Meutewärterhaus jetzt die Wohnung des Schäfereiaufsehers sei. Mit mißtrauischen Blicken wurde dann die Thür abgeschlossen und der Weg nach der Schäferei, einem neuen Anbau, von der gesammten Familie angetreten.

Nur ein eisgrauer Großvater war zurückgeblieben, um im Sonnenschein auf der Bank vor der Thür die steifen Glieder zu wärmen. Bei ihm verhielt sich unser Invalid, noch einmal Aufschluß über Muhme Justinen und Fräulein Hardinen erbittend. Und sei es nun, daß zu des Alten Zeit in Reckenburg weniger gearbeitet und mehr geschwätzt worden war, sei es, nach Greisenart, daß der Aufruf einer in jungen Tagen gekannten Gestalt des Alten Gedächtniß und seine Zunge löste, von ihm erhielt August Müller eine Mittheilung, welche gleichsam den Kettenschluß seiner Erinnerungen und Hoffnungen bilden sollte.

Frau Müller, oder vertraulicher Weise Muhme Justine, war in Begleitung des blutjungen Fräuleins Hardine, dessen Amme oder Kindsmagd sie gewesen war, nach Reckenburg gekommen und dort von der alten schwarzen Gräfin zurückgehalten worden; die Einzige, die sie jemals in ihrem Goldthurme gesehen hatte. Für gewöhnlich aber hat sie in dem leerstehenden »Hundehause« gewohnt und das Geschäft einer Wehmutter im Dorfe betrieben. Als die Muhme vor vielen, vielen Jahren gestorben ist, hat das Fräulein ein Kreuz über ihr Grab setzen lassen, worauf mit goldenen Lettern die Inschrift: »Der treuesten Dienerin« zu lesen steht. Ob Muhme Justine jemals ein Ziehkind gehalten habe, dessen wußte sich der alte Mann allerdings nicht zu erinnern, vielleicht daß es während seiner Soldatenzeit in der Rheincampagne geschehen war.

Aber Muhme Justine hatte ein solches Kind gehalten; August Müller wußte sich dessen nur allzu wohl zu erinnern, und das Kirchenregister mußte darüber Auskunft geben, wo, wann und von wem das Kind geboren worden war. Mit großen Schritten, seiner Tochter halbwegs voran, eilte er nach der Pfarre.

Das Pfarrhaus, neuen stattlichen Ansehens, lag zu Füßen der Kirche, die auf leiser Anhöhe das Dorf überragte. Rückwärts, auf dem östlichen Abhange des Kirchhügels, senkte der Friedhof sich ab, während die Schule der Pfarrwohnung gegenüber am Eingang der Dorfstraße errichtet war: neu, reinlich und räumlich wie diese gesammte Anlage. Dem athemlosen Manne, der jetzt von der Waldseite daherrannte, fehlte freilich jeder teilnehmende Blick für alles, was ihm solchergestalt segenverkündend entgegentrat.

Er war im Begriffe die Thür zu öffnen, als ein halbwüchsiger Knabe, im bunten Gymnasiastenkäppchen, ihm aus derselben entgegenkam. Zum ersten Male auf Reckenburger Grund ein offnes, fröhliches Gesicht, das auf den ersten Blick das Herz unseres Wanderers gewann.

Sein Vater, so antwortete der Schüler auf August Müller's Frage nach dem Herrn Pfarrer, befinde sich auf dem Schlosse, wo heute, am dritten August, der Geburtstag des Königs von dem Fräulein durch ein Festmahl gefeiert werde.

Er – der Schüler – sei gleichfalls auf dem Wege dorthin. Nicht als Gast, – wie er lachend hinzufügte – denn solche Ehre widerfahre ihm noch nicht, – nur um sich die schönen Wagen und Pferde der Schloßgäste ein wenig anzusehen. Habe das Anliegen Eile, sei er bereit, seinen Vater herbeizurufen.

Der Invalide brachte nunmehr in polternder Hast das Begehren nach seinem Taufschein zu Gehör, indem er zu seiner Empfehlung sich auf das Zeugniß der beiden Klosterpröbste berief, das er schon auf dem Wege aus seiner Brieftasche genommen hatte.

»Ludwig Nordheim,« sagte der Schüler, nachdem er das Blatt überblickt hatte. – »Der Name und die Handschrift meines Großvaters!«

»Ihres Großvaters!« – rief August Müller auf das Angenehmste überrascht, »Junger Herr – Sie heißen – –«

»Ich heiße Ludwig Nordheim, wie er,« antwortete treuherzig der Knabe, – »Die Nordheims sind ein ständiges Geschlecht in der Pfarre von Reckenburg. Erst mein Großvater, des Fräuleins alter Freund, dann mein Vater, auch wieder ihr Freund, und ginge es nach dessen Willen, würde ich einmal der Dritte. Mir aber,« so plauderte er fröhlich weiter, »mir ist die Kanzel zu eng. Ich möchte Landwirth werden wie unser Fräulein Hardine. Vorher freilich, sagt sie, soll ich studiren.«

Ein Wirbel war während dieser Rede in des Invaliden Kopfe aufgestiegen. Er stand einen Augenblick wie geblendet von dem Lichte dieser neuen Aufklärung. »Verstand ich Sie recht,« sagte er darauf, des Knaben Hand ergreifend und heftig drückend, »verstand ich Sie recht, junger Herr, so war Ihr Großvater, ehe er Klosterprobst ward, Pfarrer hier, hier in Reckenburg. Können Sie mir sagen, in welchen Jahren?«

»Nicht genau, wann er eingetreten ist, aber eine lange, lange Zeit, bevor er gegen Ende des Jahrhunderts in das Kloster berufen wurde.«

»Jedenfalls also Anfangs der neunziger Jahre, in denen ich geboren sein muß. Er, er hat mich ohne Zweifel getauft; seine Hand meinen Namen in das Kirchenregister eingetragen. Darum, darum hat er mich vor allen Anderen lieb gehabt. Lassen Sie Ihren Vater in Frieden auf dem Schlosse, mein lieber junger Herr. Ein rascher Blick in das Kirchenbuch, und die Sache ist abgemacht.«

»Es thut mir leid, diesen Wunsch, selber wenn ich dürfte, nicht erfüllen zu können,« versetzte der Gymnasiast. »Es existiren keine Register aus jener Zeit. Die Bücher sind mit abgebrannt, als anno 97, glaub' ich, der Blitz in die Sakristei geschlagen und auch die alte Kirche zum großen Theil zerstört hat. Die Sie hier oben sehen, ist neu errichtet durch Fräulein Hardinen, wie denn alles in unserem Reckenburg neu geworden ist durch sie: die Flur, das Dorf und selber das Menschengeschlecht. Das himmlische Feuer aber mußte vom Himmel fallen, sagt mein Vater, daß auch in den Registern Keiner mehr an die alte, böse, zuchtlose Zeit erinnert werde. Aber wissen Sie was, guter Mann,« fuhr er nach einigem Besinnen fort, »warten Sie, bis gegen Abend die Gäste das Schloß verlassen haben werden, und fragen Sie dann nach bei Fräulein Hardinen selbst. Sie ist in den neunziger Jahren schon häufig als Gast bei der alten Gräfin gewesen, und sie, die nichts vergißt, erinnert sich gewiß noch jedes Kindes, das in dieser Zeit im Dorfe geboren worden ist, zumal wenn ihre alte Muhme dasselbe aufgezogen hat.«

Nach diesen Worten sprang der Knabe munter voran, da er eben ein elegantes Viergespann in die Dorfstraße einbiegen sah. August Müller folgte ihm mit stolzen Schritten und gehobenen Hauptes. Die Enthüllungen im Wald- und Pfarrhause hatten das, was vor einer Stunde nur noch Verlangen gewesen, zur Gewißheit gesteigert. Was bedurfte er eines Zeugnisses schwarz auf weiß, wo der Zusammenhang so untrüglich mit Händen zu greifen war?

In einem abgelegenen Waldhause wird ein Knabe geboren. Er wird aufgezogen von der Gemeindepflegerin, welche dieses Haus bewohnt und welche die treueste Dienerin seiner Mutter gewesen ist. Der Ortspfarrer, der Mutter vertrauter Freund, tauft den Knaben und trägt ihn unter dem Namen der Dienerin in das Kirchenregister ein. Ohne Zweifel ist er es auch gewesen, der vorher schon die Ehe der Dame heimlich eingesegnet hat, die Ehe mit irgend einem gleichviel ob zu hoch, ob zu niedrig stehenden beliebigen Quidam. Unter den Schutz dieses bewährten geistlichen Freundes, der indessen an die Spitze einer anständigen Versorgungsanstalt aufgerückt ist, stellt später die Mutter ihren Knaben. Sie führt ihn persönlich ihm zu, ganz im Geheim. Noch ist sie arm und abhängig, sie darf ihn nicht öffentlich anerkennen; aber sie überwacht ihn im Stillen, sie sorgt für ihn, straft ihn, sie sucht einen tapferen Soldatensinn in ihm zu erwecken; sie bringt ihn in einem selbstgewählten Berufe unter, und als sie endlich, zu Fülle und Freiheit gelangt, ihn vor der Welt anerkennen darf – ist der Knabe spurlos verschwunden, verschollen sein Name viele, viele Jahre lang. Die Mutter aber bleibt einsam zurück, sie harrt seiner Heimkehr, sie hält ihm das Erbe offen, das ihm rechtmäßig zusteht, erweitert es zu einem fürstlichen Besitz. Und er, er ist dieser glückliche Knabe, er der Sohn der letzten Reckenburgerin, er der Erbe der reichen Reckenburg!

So der Roman, welchen unser heißblütiger Kumpan sich im Fluge auferbaute. Die Daten, die etwa mit seiner Rechnung nicht stimmen mochten, die mancherlei Lücken, die Widersprüche in dem Charakter der mütterlichen Heldin, die problematische Rolle des beliebigen Quidam, mit alle dem beunruhigte er seine Phantasien nicht. Wenngleich noch nüchtern, fühlte er sich wie berauscht. Hätte er eine wohlconditionirte Uniform auf seinem Leibe gewußt, würde er spornstreichs nach dem Schlosse aufgebrochen und ohne Scheu vor Fräulein Hardinen und ihre vornehme Tafelrunde getreten sein, »Mutter!« würde er ihr zugerufen haben, »Mutter, Dein Sohn ist heimgekehrt, und sieh, dies Kind hier ist seine Tochter, die Dir zur Erinnerung den Namen Hardine trägt!«

Aber leider in ihrem gegenwärtigen Aufzuge konnten die Erben der Reckenburg sich nicht im Kreise ihrer künftigen Standesgenossen präsentiren. Man mußte ein Wirthshaus suchen und die abendliche Einsamkeit erwarten.

So nahm denn unser Freund die Kleine, die ihm ermattet nachgeschlichen kam, wieder an die Hand und schritt forschend die breite, lange Dorfstraße entlang. Aber seltsam! wie die Gehöfte ihm hüben und drüben entgegentraten, alle neu, schweigsam, sauber und so nüchtern solide, da däuchte ihm, als ob aus jeglichem Fenster die Augen der gestrengen Hardine auf ihn herniederschauten, so wie sie einst den unbändigen Waisenknaben angeschaut; es summte wie »Wildling!« vor seinem Ohr und er fuhr mit der Hand nach seiner glühenden Backe, wie damals, als er ihren züchtigenden Streich auf derselben gefühlt hatte. Ihn überkam eine Anwandlung zweifelnder Schwäche; ohne eine herzstärkende Labe hätte er jetzt nicht vor der handfesten Dame erscheinen mögen. Und hinwiederum seltsam! in dem langgereihten Dorfe schien nirgends eine Stätte für solche Labe aufzufinden. »Haben denn die Leute unter Fräulein Hardinens Regiment keinen Durst?« fragte er verdrießlich. »Oder saufen sie nur Wasser wie das liebe Vieh?« Endlich im allerletzten Hause, da fand er, was er suchte, wenn auch durch kein Schild oder Schenkenzeichen, keine Kegelbahn, Laube oder Tanzlinde einladend angekündigt. Nein, das war nicht der Platz, wo ein Zögling des Bivonaks das wandernde Marketenderzelt vergißt, wo Karten und Würfel fallen und der Schoppen unter zechenden Kumpanen kreist. Eben so wenig war es eine Herberge, die dem müden Bettler, dem irrenden Landstreicher Labsal und Obdach bot. Es war ein ruhiges, nüchternes Gehöft wie alle anderen des Dorfes, nur die untergestellten Equipagen der Schloßgäste und eine betreßte Dienerschaft vor dem Thor deuteten an, daß wohlbestelltes Volk und Gethier, gegen sofortige Bezahlung, hier gelegentlich eine Raststunde halten durften.

So wenig anheimelnd der Platz, unser Veteran warf sich in die Brust, setzte sich auf eine Bank vor der Thür und forderte Wein. Aber die Zornesader auf seiner narbigen Stirne schwoll, als der Wirth, ohne sich von der Stelle zu rühren, ihn von oben bis unten mit einem nichts weniger als bewillkommnenden Blicke maß. Was Wunder, wenn in unserem Bruder Habenichts heute Prinz Gustel's splendide Soldatennatur wieder aufgewacht war! Er wiederholte barsch seine Forderung, indem er mit der Miene eines Crösus sein letztes Thalerstück auf den Tisch warf.

Vergebliche Herausforderung! Ein Achselzucken des Wirths war die einzige Antwort; das goldhelle Wörtchen Wein schien ein fremdartiger Klang in der Schenke von Reckenburg.

Indessen hatte die auswärtige Dienerschaft den seltsamen Wandersmann, der in Lumpen ging und mit Thalern um sich warf, auf's Korn genommen. Man näherte sich, man gab gefällig Bescheid, und hatte unser Freund vor einer Stunde kaum sich dreist an die Magnatentafel des Grafenschlosses geträumt, so saß er jetzt wohlgemuth im Kreise ihres gallonirten Lakaienthums. Kümmel und Gerstensaft lösten die Zunge so gut wie der versagte Rebensaft. Er plauderte von alten kriegerischen Erinnerungen, aber er plauderte noch lebhafter von den älteren friedlichen Erinnerungen, welche die Wanderung durch die Reckenburger Flur in ihm wach gerufen hatte, und er fühlte sich ermuthigt, als auch andere kluge Leute einen Vers daraus zu bilden wußten, der auf den seinen reimte. Halb im Ernst, halb im Spott wurde sein Angriffsplan unterstützt; die Krüge klappten zusammen in einem Frischauf zu glücklichen Erfolg.

Hin und wieder ging auch ein Einheimischer, der zu Hause Mittag gehalten hatte, an dem Schenkenplatze vorüber; volle Erntewagen schwankten in das Dorf und kehrten leer wieder nach den Feldern zurück. So seltene Gäste die Bauern und Knechte von Reckenburg an diesem Platze sein mochten, die Musterung der fremden Gespanne war wohl ausnahmsweise einen Krug Dünnbiers werth, und es verbreitete sich daher auch unter ihnen die wunderbare Mähr von dem Reckenburger Kinde, das plötzlich als Herrenerbe eingesprungen war. Kopfschüttelnd und schweigend, wie sie der Mähr gelauscht, entfernten sich die Einheimischen, Einer nach dem Andern: auch die betreßte Tafelrunde brach auf, um die Geschirre für die Heimfahrt zu rüsten: ehe aber der Abend sich senkte, war das lang bewahrte Geheimniß Fräulein Hardinens weit über die Reckenburger Flur in das Land hinausgestreut.

Der sich am spätesten erhob, war der jetzt doppelt berauschte Erbe. Er bezahlte das letzte Glas mit seinem letzten Groschen, riß seine Kleine, die in einem sonnigen Winkel eingeschlummert war, in die Höhe und rief barsch: »Wach' auf, Schlafmütze! Jetzt geht's zu Deiner Großmutter Hardine!«

»Zu meiner Großmutter Hardine!« lallte das Kind wie in einem fortgesetzten Traum.

So wanderten sie Hand in Hand voran. Die Füße des Invaliden schwankten und seine Brust keuchte beklemmt. Warum eigentlich? Ohne eine merkliche Spur hatte er häufig das Doppelte zu sich genommen. Freilich der Tag war heiß gewesen, die Wanderung weit und die Aufregung gewaltig. Es währte eine Weile, bevor er das Gitterthor erreichte, auf welchem ein vergoldetes Doppelwappen im letzten Sonnenschein funkelte. Im Hintergrund einer langen, breiten Rüsternallee präsentirte sich das Schloß auf erhöhter Terrasse; zu beiden Seiten der Avenue dehnte sich bis zum Waldessaume der Garten, linealgerecht durch hohe Buchenhecken abgetheilt. Goldgelbe Pfade schlängelten sich zwischen den vielgestaltigen Schnörkelbeeten, auf denen hinter einem Einfaß von Bux und bunten Perlenringeln zwar keine Blumen, aber kunstvoll dressirte Baumfiguren in die Höhe wuchsen. Weiße Marmorbilder, deren Structur sich gar nicht übel mit den Pflanzungen dieses Ziergartens vertrug, ragten längs der Heckenwände, umschichtig mit gar verwunderlichen Ungeheuern, die aus weitgeöffnetem Rachen ein spindeldünnes Wasserfädchen sprühen ließen. Die kleine Hardine klammerte sich zitternd an den Vater, so oft sie eine dieser Kunstgestalten lugen sah; dem Vater aber, der in fremden Landen an mancher verwandten Anlage vorübergekommen sein mochte, ohne sie zu beachten, dem Vater erschien sie hier in seiner Erbheimath schier zur Beunruhigung großartig und imponirend.

Als er sich dem Schlosse näherte, sah er die reich geputzte und uniformirte Gesellschaft die Terrasse herabsteigen, um sich lustwandelnd im Garten zu zerstreuen. Zum ersten Male schämte sich der Wachtmeister der Legion des geschwärzten, zerfetzten Mantels von Waterloo. Er bog aus der großen Allee nach den Heckenwegen ein und gelangte so unbemerkt in einen der Laubengänge von vergoldetem Gitterwerk, welche zu beiden Seiten die Terrasse hinanführten. In diesem halbdunklen Versteck wollte er warten, bis die heranrollenden Equipagen die letzten Gäste entführt haben würden, und dann frischen Muths vor Fräulein Hardinen treten.

So langsam er voranschritt, das Zittern seiner Glieder, die Beklemmung des Athems nahmen zu. Es kochte etwas in seiner Brust, als ob eine der alten Wunden sich geöffnet habe. Er schlug mit der Faust gegen das hämmernde Herz und mußte eine Lehne suchen, als er jetzt am Ausgang des Berceau nach dem Schlosse blickte, dessen hohe Fenster und Spiegelthüren nach der Terrasse geöffnet standen. Alte, reich gallonirte Diener, noch gepudert, gingen gravitätisch hin und wieder, auf silbernen Platten den Kaffee servirend; Andere räumten das funkelnde Geräth und die leckeren Reste von der Tafel im großen Speisesaale des Parterre. Wie die Adern des armen Vagabonden schwollen, wie fieberisch seine Augen leuchteten vor diesem nie geschauten Bilde der Fülle und der Pracht!

Nach und nach hatte sich die Terrasse von Gästen und Dienern geleert. Nur noch ein einziges Paar schritt langsam von der entgegengesetzten Seite her der Laube zu, in welcher der Invalid athemlos lauschte. Ein stattlicher Herr in hoher Beamtenuniform, einen Stern auf der Brust; an seiner Seite mit majestätischem Anstand eine Dame von gleicher Größe wie er selbst und auf der Brust den Orden, welcher für die Patriotinnen des Befreiungskrieges so sinnvoll gestiftet worden war. Reiches Geschmeide funkelte unter der Spitzenumhüllung des gegen die Mode der Zeit faltigen, schleppenden Gewandes, und die Strahlen der sinkenden Sonne spiegelten sich in einem Diadem über dem vollen, schwarzen Haar. Der Herr sprach mit Eifer; ernst und gedankenvoll hörte die Dame zu.

In der Nähe des Laubenganges stand sie still. Sie schien eine Antwort zu suchen, legte den Arm auf eine Vase, in welcher eine Aloe ein verkümmertes Uralter fristete, und wendete bei dieser Bewegung das volle Gesicht dem heimlichen Lauscher zu.

Alle Vorsätze der Zurückhaltung, alle beklemmende Scheu waren jählings verschwunden. »Fräulein Hardine!« schrie er auf. »Sie ist es! ja, das ist Fräulein Hardine!« Er stürzte aus der Laube und mit ausgestreckter Hand der Dame entgegen.


So haben wir denn das, was wir zu Anfang ein Geheimniß genannt, nebelartig aus losen Erinnerungen, gleichsam aus dem Hauche eines Namens aufsteigen und sich in vorlauten, eigennützigen Deutungen immer dichter und dichter herandrängen sehen, bis es als eine drohende Wetterwolke über dem Haupte Fräulein Hardinens hing. Ueber dem Haupte einer Frau, die wir als die Schöpferin unseres heimathlichen Wohlstandes verehrten, die in ihre mit männlicher Kraft und Ausdauer gegründete junge Colonie den Wahrspruch ihres Hauses: »In Recht und Ehren« eingepflanzt und sie vor jeder entsittlichenden Berührung gehütet hatte, einem Spiegel gleich, den der leiseste Moderhauch trübt.

Und wir Reckenburger Leute hatten sie gekannt fast noch als ein Kind; ihr Leben lag vor uns durchsichtig und eben wie ein Krystall. Da war kein Schatten, keine Lücke, ja nicht einmal eine gemüthliche Regung, welche eine Heimlichkeit hätte ahnen lassen. Der Wechsel unserer beiden letzten Herrinnen, der gespenstischen Urgreisin im Goldthurme, mit deren Beschwörung wohl heute noch die Mütter ihre Kinder zur Ruhe scheuchen, und der im fünfzigsten Jahre noch frisch und kräftig, fast wie im fünfzehnten, ausschauenden und schaffenden Hardine glich dem des Tages mit der Nacht.

So stand sie vor Hoch und Gering ehrenreich und ehrenrein wie keine Zweite; so stand sie im Kreise der Notabeln ihrer Gegend, an der Seite des Mannes, der für ihren einzigen Vertrauten galt, und den man neuerdings vielfach den Erkorenen für ihr freies Erbe nannte, als ein landstreichender Bettler, der erste seiner Art, der ihr Gehege zu betreten wagte, sich zu einer Bezichtigung, zu einer Anforderung an sie erdreistete, vor welcher das niedrigste Weib in Scham und Zorn entbrannt sein würde.

Die Unterredung mit dem Grafen, ihrem Begleiter, schien ihre Aufmerksamkeit so sehr in Anspruch genommen zu haben, daß sie das Nahen der beiden Fremdlinge nicht früher bemerkte, bis August Müller dicht zu ihren Füßen ihren Namen rief. In seinem verwilderten Zustande, mit allen Anzeichen des Trunkenbolds, war der erste Eindruck der des Widerwillens und der Entrüstung. »Fort!« befahl sie, indem sie einen Diener herbeiwinkte, den Eindringling zurück zu treiben.

»Fort!« rief der Invalid, bis jetzt noch aufgeräumten Humors; »fort weisen Sie mich, Fräulein Hardine? Sie erkennen mich wohl nicht, und ich erkannte Sie doch auf den ersten Blick, wenngleich Sie vor zwanzig Jahren noch keine Krone getragen haben.«

Er war während dieser Worte die Stufen hinangestiegen und faßte nun dreist nach der Dame Hand. Unwillig wehrte sie mit beiden Armen den Zudringlichen ab, während mehrere Diener herbeisprangen, die Gäste aus dem Garten sich nach der Terrasse drängten und der Graf eine Bewegung machte, den wüsten Gesellen die Treppe hinabzuwerfen. War es nun in Folge des Rausches, der vorigen Schwäche, oder blos der kräftigen Abwehr der Reckenburgerin, genug, der Mann taumelte und stürzte die Stufen hinab, eine Blutspur zeigte sich am Boden, der verwitterte Mantel entfiel ihm, das militärische Ehrenzeichen, der Stumpf des Armes wurden sichtbar; Fräulein Hardine erbleichte.

Die leichte Verletzung hatte den Berauschten plötzlich ernüchtert. Er richtete sich rasch in die Höhe und stand einen Moment in drohendem Trotz, mit geballter Faust der Dame Aug' in Auge. Dann ließ er den Arm sinken und sprach mit einem Stolz, der sich seltsam gegen die vorige Rohheit abhob: »Es ist nicht das erste Mal, Fräulein Hardine, daß Sie Ihre Hand gegen mich erhoben haben; aber Gott sei mein Zeuge, es ist das letzte Mal. Sie werden August Müller nicht wiedersehen. Ich hätte es mir ja denken können, daß Einer, dessen Dasein in einem Waisenhause verborgen worden ist, nun, da das Elend ihn treibt, für sein mutterloses Kind eine Freistatt zu suchen, von der Schwelle Ihres stolzen Hauses wie ein Verbrecher verjagt werden würde.«

Die Blicke der sprachlosen Dame fielen während dieser Schmährede auf das Kind, das hinter dem Vater drein bis dicht in ihre Nähe geschlichen und jetzt von einer Gruppe mitleidiger oder neugieriger Gäste umringt worden war. »Wie heißt Du?« fragte eine Dame. »Hardine,« murmelte die Kleine. Es folgte noch eine weitere Examination, auf welche sie mit stumpfsinniger Gleichgültigkeit den Kopf schüttelte. Endlich: »Was wollt Ihr, wen sucht Ihr hier?«

»Meine Großmutter Hardine,« sagte das Kind.

Auch das hörte das stolze Fräulein mit an; sie sah die verblüfften Mienen der hohen Gesellschaft und – sie schwieg. Sie schien wie erstarrt oder in ferne Erinnerungen verloren.

»Schweig, Hardine!« herrschte jetzt der Invalid seine Tochter an, indem er sie mit Gewalt aus der Gruppe zog. »Schweig und komm! Gott ist ein Vater der Waisen. Es wird anderwärts barmherzigere Seelen geben.«

Damit wendete er sich zum Gehen. Nach ein Paar Schritten aber sah man einen bleifarbenen Schatten über seine Züge fliegen. Er schauderte und klammerte sich zitternd an das Laubengitter. Auf einen Wink des Fräuleins eilte der Prediger ihm zu Hülfe; sein Sohn, der uns schon bekannte Gymnasiast, sprang zwischen den Hecken hervor und nahm die kleine Hardine an seine Hand. Auch der Graf folgte ihnen in merklicher Bestürzung. Sie verschwanden im Laubengang, Fräulein Hardine aber wendete sich mit verstörten Mienen, ohne ihre Gäste zu beachten, ihrem Schlosse zu.

Wie möchten wir nun aber bei diesem Betragen der stets so gehaltenen, selbstbewußten Dame die Stimmung der verlassenen Gesellschaft zu beschreiben wagen? Ein Theil, und sicherlich der klügste, bestieg ohne Abschied die bereits vorgefahrenen Wagen. Andere entblödeten sich nicht, in der eigenen Umhegung der Festgeberin den am Nachmittag in der Schenke gesammelten Erläuterungen ihrer Dienerschaft Gehör zu geben. Der Rest schlenderte in den Gartenwegen auf und ab, ein Wiedererscheinen der Dame oder die Lösung des Räthsels erwartend.

Nach kurzer Zeit kehrte Ludwig Nordheim athemlos zurück, um den Kreisphysikus, der sich unter den Gästen befand, zu dem in der Schenke plötzlich erkrankten Fremdling zu holen. Später kam der Prediger mit dem Grafen, der letztere mit dem Ausdruck der stärksten Empörung. »Der Säuferwahnsinn ist bei dem Vagabonden ausgebrochen,« antwortete er auf die Fragen der ihn umringenden Bekannten. Der Prediger zuckte schweigend die Achseln. Beide begaben sich nach dem Schlosse.

Wenige Minuten später eilte von dorther ein Diener nach der Schenke; bald darauf folgte ihm der Prediger. Man erfuhr, daß das Fräulein die sorgfältigste Pflege für den Kranken befohlen habe, auch dessen Uebersiedelung nach dem Schlosse wünsche, falls der Arzt dieselbe für zulässig halte. Noch hatte man nicht dazu kommen können, sein Erstaunen über diese Weisung auszusprechen, als der Graf aus dem Portale trat, leichenblaß, in heftigster Aufregung an der Unterlippe nagend. Ohne ein aufklärendes Wort zu gewähren, bestieg er den bereithaltenden Wagen und jagte von dannen.

Auch den letzten Gästen schien jetzt der Aufbruch geboten. Kaum eine Stunde nach der aufregenden Begegnung war es in der Umhegung der Reckenburg so still wie alle Tage. Am anderen Morgen jedoch kehrten edliche der gestrigen Gäste, – wohlzumerken der Graf nicht unter ihnen – zurück, um aus reinstem Wohlwollen, wie sich von selbst versteht, Erkundigungen über das Befinden der Dame und des räthselhaften Fremden einzuziehen. Der letztere lag noch in der Schenke, schwer krank, aber nicht am Säuferwahnsinn, sondern an einer Lungenentzündung, wie der Doctor erklärte. Fräulein Hardine war verreist. Sie, die Stetige in ihrem Revier, die man nie, außer zu einer Visite in der Nachbarschaft, und immer nur in der sagenhaften goldenen Kutsche und dem schier unsterblichen Schimmelzug, zwei gepuderte Heiducken auf dem Trittbrett – sämmtlich Erbstücke der schwarzen Gräfin – sich aus der Reckenburger Flur hatte entfernen sehen, sie war diese Nacht ohne Dienerschaft im leichten Jagdwagen bis zur nächsten Station und von da mit Courierpferden weiter gefahren. Trotz der emsigsten Nachforschungen hat Niemand erfahren können, wohin oder zu welchem Zweck. Als sie nach zwei Tagen auf dieselbe heimliche Weise zurückkehrte, war ihr erster Gang in die Schenke an das Krankenbett August Müller's.

So befremdend dieses Gebahren war, es lag im Grunde noch nichts darin, was ein so makelloses Ansehen, wie Fräulein Hardinens, hätte trüben dürfen. Sie gab durch dasselbe zu, daß August Müller's Erinnerungen richtig waren, aber der Schluß, den eine begehrliche Natur daraus gezogen hatte, er konnte, nein, er mußte ein irriger sein. Fräulein Hardine hatte niemals für eine Samariterin gelten wollen, und wir wissen es schon, sie galt auch nicht dafür. Aber wäre es selber für Fräulein Hardinen etwas Unnatürliches gewesen, eine hülflose Waise in einer öffentlichen Anstalt zu versorgen und zu überwachen? Oder wäre, selber für Fräulein Hardinen, eine mitleidige, vielleicht vorwurfsvolle Erschütterung so schwer zu begreifen, wenn ein Schützling aus der Jugendzeit uns im Alter plötzlich als eine untergegangene Creatur gegenübertritt? Sie brauchte nur einen Namen zu nennen, nur die Herkunft des Waisenknaben zu erklären, und der Sturm im Wasserglase legte sich.

Aber Fräulein Hardine nannte diesen Namen, gab diese Erklärung nicht. Die guten Freunde schmachteten nach dem Labsal eines Worts, – aus reinster Sorge für Ruf und Ruhe der edlen Dame, wie sich wiederum von selbst versteht, – und sie gewährte dieses Labsal nicht. Fürwahr, Fräulein Hardine war keine mitleidige Natur, nicht einmal gegen sich selbst. Weder jetzt noch später hat sie der verhängnißvollen Begegnung am Königsfeste gegen irgend einen Menschen erwähnt.

Nach vielen Jahren jedoch und für einen bestimmten Zweck, richtiger, für eine bestimmte Person, hat sie ihren Lebenslauf niedergeschrieben und darin »ihr Geheimniß«, wie sie es selbst genannt, enthüllt. Sie hat es sichtlich mit Lust und Liebe, sogar in heiterer Anordnung gethan, und möchten wir uns nicht irren, wenn wir bei Veröffentlichung dieser Bekenntnisse auf den Antheil auch eines weiteren Kreises als den ihrer einstigen Lebensgenossen zu rechnen wagen. Denn ist es auch ein etwas altväterisches Charakter- und Sittenbild, das wir vor dem Leser entrollen, aus seinen Zügen spricht eine Wahrheit, die keiner Zeit und Mode unterworfen ist. Ja, Gottes Wege sind wunderbar, auch die zu den Herzen der Menschen!

Mein Geheimnis.


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