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Nacht

Das am Morgen so stattlich ausstaffierte Liebespaar war es in der Tat, das jetzt, bis auf Kapsel- und Pudelmütze durchweicht und zerzaust, von seinem Meßgange heimkehrte. »Das Wetter, Wirtin!« sagten beide aus einem Munde, ihre Verspätung entschuldigend, und als ihnen Judith das Abscheiden der Mutter verkündete, äußerten sie ebenso einmütiglich: »Blitz noch einmal, die alte Wirtin!« stellten sich jedes in eine Ecke, mit dem Gesicht gegen die Wand gekehrt, falteten die Hände und beteten ein Vaterunser, um eine Minute darauf die verspätete Nachtmahlzeit nach den unerlebten Strapazen einer Wasserhose mit doppelter Gemächlichkeit einzunehmen. Die Wirtin gab währenddessen die unerläßlichen Aufklärungen und Anordnungen. Sie beschied die Magd, für den Rest der Nacht ihren Neffen in der Leichenwacht abzulösen, da sie selber durch die Pflege eines kranken Marktfremden, auf dessen Karren sie den Heimweg aus der Stadt zurückgelegt, an dieser Pflicht gehindert sei. Einige Stunden verlängerten Morgenschlafs wurden als Schadloshaltung in Aussicht gestellt.

Der Bissen im Munde stockte der Christine, und eine Gänsehaut lief über die kirschroten Backen; der zartfühlende Bräutigam, der sich seit diesem Morgen als einen Helden und Meister der Redekunst bewährt, übernahm es, ihre heimlichen Schauer auszusprechen. Wenn es der Wirtin nichts verschlüge, meinte er, wolle er statt der Christine Wache bei der alten Wirtin halten, und wenn die Wirtin eine Stärkung extra bewillige, es solle nichts Hitzige sein, wie sich's eigentlich bei Leichenwachen gezieme, nur ein Maß Bier und ein Schmalzwerk etwa, so brauche er keinen Schlaf in den Tag hinein, die Arbeit flutschte so und so. »Ich denke mir nichts dabei, Wirtin«, erklärte er mit männlichem Selbstgefühl, das er aber gleich darauf durch eine galante Wendung überzuckerte. »Ich denke mir nichts dabei. Aber Weibsen ist Weibsen, Wirtin, und wenn es Knochen hätte wie ein Stier.«

Judith, mit der Änderung einverstanden, zündete eine Laterne an und ging nach dem Karren vor dem Tor, den sie sorgfältig durchsuchte. Das Laudanumfläschchen, wie die Brieftasche, die in der Tat einen rechtsgültigen Paß auf James Brown und einige kleine Geldscheine enthielt, steckte sie zu sich; ein Bündel Texthefte verbarg sie unter ihrer Schürze, um sie später ungelesen am Herdfeuer zu verbrennen. Sie ging darauf in die Küche zurück, befahl dem Knecht, den Karren des Fremden im Schuppen unterzustellen, und öffnete das Wohnzimmer, in welchem der geängstete Sylvian schon so lange ihrer wartete, »Wo ist er? Wo ist er?« rief er ihr fiebernd entgegen.

»Der Fremde?« versetzte die Pflegerin mit erzwungener Ruhe und weichem, erbarmendem Ton, denn des Knaben Schicksal ging ihr durchs Herz – mehr als das eigene; »der Fremde? Ich habe ihn in der Gartenstube untergebracht. Er ist krank, lieber Sylvian. Ein hartes Unwetter in der Stadt hat ihn mitgenommen, wir machten den Rückweg zusammen. Beruhige dich, mein gutes Kind.« – »Nenne mich nicht Kind, Muhme!« rief Sylvian aufgeregt. »Schone mich nicht wie ein Kind. Ich bin kein Knabe mehr seit diesem Morgen. Jahrelang habe ich gegrübelt über manches, was ich hörte und nicht verstand. Nun ist mir's klar. Ich weiß alles, kann alles ertragen. Ich kannte ihn, Muhme. Schon der Rock, in dem er mich herzte beim Abschied drüben im Giebel. Sein Gesicht sah anders aus, nicht krank und verfallen; ich habe es alle Tage im Geiste gesehen, so rot und schön. Aber wie er mich umhalste, wie ich seinen Atem spürte, seine Tränen auf meinem Gesicht, wie er rief: ›Mein Sylv, mein Kind!‹ – oh, laß mich zu ihm, Muhme!« – »Nicht diese Nacht, Sylvian«, entgegnete Judith, der das Herz versagte, die Täuschung fortzuführen. »Er muß Ruhe haben und du auch. Geh in deine Kammer, schlafe ein paar Stunden, armes Kind.« – »Schlafen, schlafen?« rief der Knabe vorwurfsvoll. – »Ruhe mindestens. Und höre, Sylvian, sobald es Tag geworden, geh ins Dorf und bitte den Herrn Pfarrer um seinen Zuspruch, für dich, für mich und vielleicht auch für – ihn.« – »Darf ich ihm alles sagen, Muhme?« fragte Sylvian schüchtern. – »Alles, was dein Herz bedrückt!« – »Alles, Muhme, alles? Auch was mich nichts angeht?« – »Ihm, deinem Lehrer und Beichtvater alles, mein Kind.«

Sichtlich erleichtert schlich Sylvian ohne andere Leuchte als die des Mondes in seine Kammer. Der Knecht kehrte zurück. Judith schürte die Lampe am Totenbett: »Fromm und säuberlich, Klaas«, mahnte sie, auf die Leiche deutend, und verließ das Zimmer. Ehren-Klaas stand wohl eine Viertelstunde lang zwischen Stube und Kammer, unbeweglich an den Türpfosten gelehnt; dann zog er aus seiner Tasche die kurze Tabakspfeife, drehte sie eine Weile schmunzelnd zwischen seinen Fingern, mußte aber wahrscheinlich zu der Erkenntnis gelangen, daß eine »Piep« bei der Leichenwacht sich nicht säuberlich schicken möge, denn er steckte sie wieder ein und langte statt ihrer den Rosenkranz hervor, um fromm nach Gebot die Nacht hindurch auf seinem Posten auszuharren und am Morgen durch eine stattliche Trauermesse für seine Treue belohnt zu werden.

Seiner Herrin wartete ein schwerer Hüterdienst. Ihre vorige Aufregung wurmte sie. Das letzte Wort war mit dem härtesten gesagt, ein Einlenken ihrerseits unmöglich geworden. Aber der Kranke, der Gefangene bedurfte der Aufsicht, sie mußte voran. »Gichtmund, Gichtmund!« hörte sie von außen seine schreiende Stimme. »Wer hat mich femwrogig genannt? Beweis, Beweis!« Sein Blick war scheu und ängstlich, während die Tür geöffnet ward; als er aber die Schwester erkannte, rückte er keck in die Positur des Amerikaners und sprach zu ihr in der herrischen Weise des Einkehrers, der sich die Zudringlichkeiten seines Wirts verbittet.

Er hatte die vorhin gebrachte Mahlzeit bis auf den letzten Bissen aufgezehrt und fiel jetzt mit der Gier eines Heißhungrigen über das warme Gericht, das sie vor ihn auf den Tisch niedersetzte; dann griff er wieder zu dem Buch, dessen Inhalt ihn lebhaft zu beschäftigen schien; als sie aber, nachdem Bett und Zimmer geordnet, sich anschickte, den Platz am Fenster einzunehmen, nahte er sich ihr mit der höhnenden Frage: »Ist die nächtliche Gesellschaft der Hausfrau eine Zugabe zur Zeche in diesem gastlichen Lande, Madame?« – Ein Wort entrüsteter Abwehr erstickte in ihrem Munde vor einem unheimlichen Etwas, das hinter der künstlichen Dreistigkeit seines Blicks lauerte. Eine Verständigung in dieser Stimmung war undenkbar, er mußte Ruhe haben. So verließ sie schweigend das Zimmer.

Neben demselben lag eine Kammer, deren verkleidete Verbindungstür von der Stubenseite durch Gerät versetzt war. Hier wählte sie ihren Posten für den Rest der Nacht. Keine Bewegung konnte ihr durch den dünnen Brettverschlag entgehen; eine Spalte gestattete einen Lugeblick in den erhellten Nebenraum. Ihr Gefangener entkleidete sich nicht, legte sich nicht, er schloß kein Auge die Nacht hindurch. Er verriegelte die Tür von innen, spähte unruhig aus dem Fenster, setzte sich dann und griff wieder nach dem Buch, dessen Schauerinhalt er mit wachsender Bewegung verschlang. Von Zeit zu Zeit sprang er auf, rannte durch das Zimmer und führte, wie es schon als Kind seine Art gewesen, laute Gespräche mit sich selbst oder mit anderen, welche die Einbildung ihm vorführte. »Gichtiger Mund, gichtiger Mund! wer sagt, daß ich mich femwrogig bekannt? Ein Weib ist kein Zeuge, wo sind die Eideshelfer? Ich schwöre mich los! Ich appelliere an Kaiser und Reich! Ich habe nichts bekannt, ich habe nichts zu bekennen. Ich bin nicht ich. Ich bin James Brown, ich, ich!«

Gegen Morgen beruhigte er sich etwas, er fand seine Fassung wieder und warf sich angekleidet auf das Bett; die heimliche Wächterin jedoch ahnte mit Zittern, daß das unstete Hirn diesem Aufruhr und Zwiespalt nicht auf die Dauer zu widerstehen vermöge, daß das Unvermeidliche zur Entlastung eines Unschuldigen in kürzester Weile geschehen müsse. Aber wie den Rastlosen fassen, wie ihn halten? Sollte sie die Drohung ausführen, ihn der Schande, dem Tode vielleicht überantworten in der Stunde, da der Schoß, der sie wie ihn getragen, noch der letzten Erdenhülle wartete? Sie schauderte vor sich selbst, vor ihm, vor einem unerbittlichen Verhängnis, sie fühlte sich ratlos, wie im Leben noch nie.

So trat sie an das Fenster und blickte über den Garten, dessen Kräuter, gesättigt und frisch belebt im Strahle der Morgensonne, wie unter einem Kristallschleier zitterten. Und siehe, da unten stand auch schon der gute Sylvian, das Auge in banger Spannung nach dem Giebelzimmer gerichtet. »Sylv, mein Sylv!« hörte sie ihren Nachbar mit freudiger Stimme hinunterrufen, doch schien er sich eilig von dem geöffneten Fenster abzuwenden, als die Tritte der Magd sich vom Hofe her näherten. Der Knabe lauschte noch etliche Minuten und entfernte sich endlich auf einen Wink der Pflegerin, um seinen Pfarrgang anzutreten.

Die wirtschaftlichen Obliegenheiten ließen Judith nicht länger müßig sinnen; sie wurden auch für heute nur auf das Unerläßliche beschränkt, die Lohnarbeiter entlassen und der Knecht zur Dienstleistung in die der helfenden Hände so dringend benötigte Stadt gesendet, da bis zu einem letztgültigen Entschluß ein Beobachten und zufälliges Erkennen ihres heimlichen Gastes vermieden werden sollte. Die Magd, deren geistige Verfassung noch weniger als die des Kameraden zu argwöhnischen Folgerungen geneigt war, betraute sie mit dem Dienst in der Giebelstube, wie auch mit dem Lugeposten an der Türspalte, sooft sie persönlich von demselben ferngehalten war.

Zwischen Frühmesse und Hauptgottesdienst kehrte Sylvian, begleitet von seinem geistlichen Freunde, zurück. Eine tiefe Erschütterung stand in den klaren, kindlichen Zügen des frommen Mannes geschrieben; sein langer, stummer Blick, sein Händedruck sagten Judith, daß sie sich eine qualvolle Aufklärung ersparen dürfe. Er berührte den Zusammenhang nicht, den er sich aus seinen eignen ahnungsvollen Vorgedanken und des Knaben Bekenntnissen zusammengestellt; er ist auch späterhin niemals zwischen ihnen mit deutlichen Worten bezeichnet worden: unverabredet behandelten sich alle drei als Eingeweihte und handelten in Übereinstimmung, aber in schonendem Schweigen. »Er muß beichten, Muhme!« rief Sylvian fieberisch aufgeregt; »er ist krank, kann sterben. Alles wird gut werden, wenn er sich mit seinem Heiland ausgesöhnt.«

»Beichten, beichten?« fragte sich Judith im stillen; »glaubt dieser flatternde Geist an die Macht eines Priesters, zu lösen und zu binden? Hat er jemals daran geglaubt?« Ein zweites drängendes Bedenken aber äußerte sie in der Frage: ob die Beichte unter allen Umständen dem Beichtiger ein unverbrüchliches Schweigen auferlege? Und als der Pfarrer diese Frage bejahte, schien das angeregte Seelenheilmittel seinen Wert in ihren Augen verloren zu haben. Sylvian dahingegen drängte mit so ängstlicher Hast nach einer geistlichen Hilfe, daß der Pfarrer sich gern bereit erklärte, noch vor dem Frühamt seine Zusprache an dem Kranken zu versuchen, wenngleich, wie er mit Absicht gegen seinen Schüler betonte, das gnadenreiche Sakrament nicht gespendet werden dürfe, solange eine Handlung der Gerechtigkeit von dem Beichtenden zu fordern sei.– »Eine Handlung der Gerechtigkeit?« flüsterte Sylvian in sich gekehrt, sich dem Garten zuwendend, der einen Blick nach dem Giebelfenster gestattete.

Auch Judith blieb in lebhafter, aber nicht hoffnungsvoller Spannung vor der Schwelle zurück, zu welcher sie den ehrwürdigen Tröster geleitet. Sie hatte nicht umsonst gefürchtet; »James Brown« lehnte mit der Erklärung, daß er Protestant sei, jede priesterliche Einmischung ab, erging sich, als der fromme Mann dennoch eine milde Mahnrede wagte, in Schmähungen über die Bekehrungssucht dieser pfäffischen Gegend und wies dem Besucher endlich mit drohender Gebärde die Tür. »Er hat auch gegen mich das Spiel des Ausländers angenommen«, sagte Judith empört, nachdem sie auf der Flur wieder mit dem Pfarrherrn zusammengetroffen war und die Tür hinter dem Gefangenen abgeschlossen hatte.

»Und wißt Ihr gewiß, daß es ein Spiel ist?« wendete jener zweifelnd ein. »Dieser starrköpfige Fremde gleicht so wenig dem Bilde, das man mir von jenem Wankelherzigen entworfen, – könnt Ihr, liebe Tochter, so wie mein durch das Sterbegesicht der Ahne aufgeregter Sylv nicht in einer Voraussetzung befangen sein?« – Als Judith aber mit unwiderleglichen Beweisen seine Zweifel beseitigte, bestätigte er ihre eignen Sorgen mit der Äußerung: »Ja ist er gefährdeter, als ich gefürchtet. Die Steigerung zu einer seinem Wesen so fremdartigen Beharrlichkeit kann schwerlich lange Zeit ohne Wirrnis durchgeführt werden.« – Er erklärte darauf seine Absicht, nach beendetem Meßdienst bei dem Direktor der Strafanstalt um eine Unterredung mit Simon Lauter nachzusuchen, in der Hoffnung, von dieser Seite Raum zu weiterfördernden Schritten zu gewinnen oder mindestens durch die leise angedeutete Wendung der Sachlage die Seele des Gefangenen zu beleben.– »Selbstverständlich«, fügte er mit Bedeutung hinzu, »selbstverständlich ohne mich auf Zeugen zu berufen, welchen die Natur für ewige Zeiten die Lippen versiegelt hat.« – »Und diesem Banne der Natur soll ein Unschuldiger zum Opfer fallen?« wendete das Mädchen heftig ein.

Ehe der Pfarrer einen Ausweg in dieser verzweifelten Tage gefunden, trat ihnen Sylvian entgegen. – »Nun haltet mich nicht länger«, rief er leidenschaftlich, sobald er an dem stummen Achselzucken der Pflegerin und dem bekümmerten Blicke des Seelsorgers das Scheitern seiner Hoffnungen wahrgenommen. »Nun laßt mich zu ihm! Was aus ihm werde, ich weiche nicht von ihm, und meine Liebe, ich weiß es, wird seinen Widerstand bezwingen!« – Der Pfarrer entfernte sich mit dem Bedeuten, daß dem Vertrauenden gewillfahrt werden möge, und Judith, so schwer es sie ankam, führte ihren Pflegesohn nach dem Zimmer, das er seit dem Abschied von seinem Vater nicht wieder betreten hatte. »Dein Sohn verlangt nach dir, August; darf ich ihn vor dich lassen?« fragte sie, um eine allzu jähe Überraschung zu vermeiden.

Ein kurzes heftiges Ringen zwischen Natur und Maske offenbarte sich im Mienenspiel de« Mannes; als aber Sylvian, ohne eine Antwort abzuwarten, in das Zimmer und in seine Arme stürzte, da war es die Natur, die zum zweiten Male mit heißen Tränen und einer leidenschaftlichen Umstrickung den angenommenen Schein durchbrach. Judith überließ Vater und Sohn einem unbelauschten Beieinander, auf dieses einzige unbeirrte Gefühl ihre letzte Hoffnung bauend. – Welche Eindrücke und Enthüllungen die Stunden dieser Wiedervereinigung füllten, darüber hat Sylvian, es sei denn in der Beichte, niemals das leiseste angedeutet; aber ein wunderbares Leben, eine stille Missions- und Märtyrerglut war seit jenen Stunden in des Knaben Wesen angefacht, ja, er schien dem verwunderten Pfarrer gewachsen, als er ihn, am Nachmittage auf dem Hofe vorsprechend, wiedersah.

Der geistliche Herr brachte tieferschütternde Eindrücke verschiedenster Art von seinem Stadtbesuche zurück. Weit über seine Mutmaßungen hatte jener kaum Minuten währende Wirbel der Elemente Zerstörungen angerichtet, welche Jahre der Menschenmühe nicht bewältigen würden. Die Au stand unter Wasser, versandet, verschlemmt, die Ernte verwüstet; der diesseitige Bahnverkehr lag unterbrochen, da der Anprall der in dem Weidenausstich sich stauenden Flut den Damm nahe jener mehrfach erwähnten Durchfahrt zerrissen hatte. Die Beschädigung an baulichem und beweglichem Eigentum in Stadt wie Land war unberechenbar, Menschenopfer selber mußten beklagt werden. Dahingegen hatten Not und Gefahr auch einen Eifer edelmütigen Selbstvergessens in Helfen und Spenden hervorgerufen, und wer mochte sagen, ob nicht der aus ihm fließende Segen des Gemüts den zeitlichen Unsegen dauernd überwand? Auch in dem Zuchthaus war die Alltagsstille einer rüstigen Bewegung gewichen, der wackere Direktor an der Spitze aller Sträflinge, deren Zuverlässigkeit er zu vertrauen wagte, die ganze Nacht in Tätigkeit gewesen. Die erhöhten tüchtigen Baulichkeiten der Anstalt zwar standen unberührt, um so ausgesetzter aber fand sich der seicht und leicht angelegte Stadtteil, der Stadtteil der Armut, der sie umgab, und hier war es, wo Simon Lauter sich in heldenmütiger Aufopferung nicht nur vor sämtlichen Mitgefangenen, sondern selber vor den gefährdeten Bewohnern hervorgetan. Bis an den Hals im Wasser, watend, schwimmend, das Boot lenkend, das Rettungsseil werfend, auf schwanker Leiter die vom Einsturz bedrohten Giebel erklimmend, vor allem aber durch seinen brüderlichen Einfluß die roheren Mitsträflinge in Zucht haltend, war er recht eigentlich der rettende Engel dieser Gegend geworden, und in einer Stunde und Lage, wo jede einzelne Stimme in einem allgemeinen Notschrei erstickte, wurde der halbverklungene Name des Quellensimon wieder als der eines Wundertäters gepriesen.

Hinsichtlich seines eigentlichen Zwecks indessen war der menschenfreundliche Priester ohne Ausbeute heimgekehrt, obschon er den Simon Lauter gesehen und gesprochen, als er eben im Gefangenenhofe sich wie seine Haftgenossen der Musterung und den ferneren Befehlen des Direktors gestellt, um nach kurzer Rast sein Rettungswerk von neuem anzutreten. Er hatte kraft- und lebensvoller dreingeschaut denn bei jenem früheren Vesuche, und als der geistliche Herr die Hoffnung eines baldigen Gnadenerlasses, gestützt auf sein heutiges Wirken, hatte fallen lassen, da war sein Auge in freudigem Glanze aufgelodert und eine Purpurwelle bis unter das gebleichte Haar über sein Angesicht geflogen, welch jäher Umschlag dahingegen bei der leisesten Andeutung, daß auch von seiten der Gerechtigkeit eine Wendung in seinem Schicksale nicht ohne Aussicht sei, daß eine erneuerte Untersuchung zu einem freisprechenden Urteil führen dürfe, falls die auftauchenden Spuren einer Person, die bei jener in vieler Hinsicht rätselhaften Angelegenheit einen unseligen Anteil gehabt zu haben scheine, deutlicher hervortreten sollten. Bei dieser Anspielung, wie gesagt, hatte der Gefangene mit weit aufgerissenen Augen gestutzt, er war plötzlich totenfahl geworden, ringend um Atem, eine lange Weile heftig auf und nieder geschritten, endlich aber dem Besucher ruhig und hochaufgerichtet gegenübergetreten.

»Herr Pfarrer«, hatte er mit fester Stimme und der Ausdrucksweise eines Mannes gesagt, der, wie der Pfarrer es bezeichnete, durch die glücklichsten Gaben von der Natur gesegnet, in langer Einsamkeit sich selbst gebildet, »Herr Pfarrer, ich habe diese Nacht unter Gottes Himmel, wenn auch in Zerstörung und Aufruhr, das Gut der Freiheit, dessen ich mich nahezu entwöhnt, von neuem so sehnsüchtig schätzen lernen, daß ich den edlen Menschen, die mir die Gnade meines Königs erwirken wollen, auf meinen Knien danken möchte. Sollte es sich aber darum handeln, den Rechtsweg noch einmal zu betreten, so lassen Sie mich Ihnen im voraus erklären, daß ich keine meiner Aussagen widerrufen, diesen Aussagen keinen Buchstaben hinzusetzen kann und werde. Ich bin mir einer schweren Verschuldung bewußt, ich war meiner Sinne unmächtig: nicht mehr, nicht weniger habe ich bekannt, noch dürfte ich bekennen; jedes abweichende Zeugnis, und wenn es meine Rechtfertigung erhielte, müßte ich verleugnen, hindern Sie also eine neue Untersuchung, von welcher Seite sie angeregt werden möge, forschen Sie«, – hier stockte seine Stimme, – »forschen sie nicht nach einer Spur, welche die Lücken meines Bekenntnisses ausfüllt; hätte der Zufall eine derartige Spur an das Licht geweht, so eilen Sie, dieselbe zu tilgen, ehe sie Qual und Verwirrung über unschuldige Herzen verhängt. Ich wiederhole, ich büße, was ich verbrochen. Achten die, welchen Gnade auf Erden zusteht, meine Buße erfüllt, ja soll es mein lebenslängliches Bestreben sein, diesem Vertrauen gerecht zu werden; erheischt meine Befreiung einen Widerruf, so möge die Strafzeit zu Ende laufen.«

»Ich hätte«, bemerkte der Pfarrer nach dieser Anführung, »einer so entschiedenen Willensäußerung keinen deutlicheren Wink entgegenzusetzen vermocht, selbst wenn ich zu einem solchen eine Berechtigung empfunden; auch verabschiedete sich der Gefangene nach dieser Aussprache schleunigst, um von neuem an sein hilfereiches Tagewerk zu gehn. Eines aber ist mir aus dem Gebaren dieses Sträflings ohnegleichen klar geworden –.« – Der Pfarrer wurde unterbrochen. Er hatte der gespannt lauschenden Judith diese Mitteilungen in der Gartenlaube gemacht und so wenig wie sie bemerkt, daß Sylvian, der ihn vom Fenster aus hatte kommen sehen, dem späteren Teile derselben am Eingang der Laube gelauscht. Jetzt stürzte er hervor, faßte mit den Worte«: »Kommt, kommt, er ist bereit!« beider Hand und zog die Verwunderten die Treppe zu der Giebelstube hinan.

August Frobel, wie wir den Fremden ohne Einwurf nennen dürfen, empfing sie mit scheuen, grollenden Mienen; als aber Sylvian seine Hände flehend zu ihm erhob, raffte er sich zusammen und erklärte in einer zwischen dem Natürlichen und Angenommenen schwankenden Manier, ohne über die eigne Person einen Aufschluß zu geben, daß er, da seine Rückkehr nach Amerika bevorstehe, noch am heutigen Tage ein Dokument von Wichtigkeit abzufassen und in die Hände des Pfarrers niederzulegen gedenke, zu beliebiger Veröffentlichung, sobald die Nachricht seiner Einschiffung eingetroffen. – Alle standen betreten; am tiefsten der Sohn, der ein weitergreifendes Bekenntnis erwartet zu haben schien. Sein Auge hing an dem des seelsorgenden Freundes mit dem stummen Zweifel, ob dieser Weg der leiblichen Rettung sich mit dem des ewigen Heils vereinigen lassen werde.

Judith war die erste, welche zwischen hoffnungsvollen und mißtrauischen Erwägungen zu einem Abschlusse kam, indem sie mit der ihr eignen Zähigkeit eine rechtfertigende Erklärung mündlich vor den Gerichten forderte, auf die Gefahr hin, in eine Selbstanklage verwickelt zu werden. Er bäumte sich in künstlicher Wut und aufrichtiger Furcht, es gab einen heftigen Auftritt, den der Pfarrer durch einen vermittelnden Vorschlag zu beendigen suchte. »Legen Sie«, sagte er, »ein schriftliches Bekenntnis in die Hände dreier zuverlässiger Zeugen, Anwälten der Gerechtigkeit, Weltlichen mindestens; nicht eines Dieners der Gnade, der« – er vermied eine näherliegende Andeutung, wie den Namen »Sohn«, – »der der Beichtiger dieses Knaben ist.«

»Der auch deine Beichte empfangen und als Geheimnis bewahren soll«, ergänzte Sylvian, durch den Wortwechsel der Geschwister aufs tiefste erschüttert; »o folge ihm, Vater, tu, was er sagt, er kann nur das Rechte raten; schreibe, übergib –!« – »Und wer bürgt für die Wahrheit des Geschriebenen?« fragte Judith herbe. – »Ich, Muhme, ich!« rief der Knabe, je mehr und mehr erregt. »Ich, sein Sohn. Ja, sage es laut, daß ich dein Sohn bin, Vater, daß ich bei dir sein darf in der Stunde der Wahrheit, daß ich deine Worte lesen, deine Feder regieren darf, wenn deine Hand erlahmt, heute noch, Vater, in dieser Stunde, und morgen –.« – »Morgen bin ich im Hafen, einen Tag später auf offner See«, fiel Frobel ein, nur von dem einzigen Gedanken der Flucht beherrscht. – »Und ich mit dir, mein Vater, ich verlasse dich nicht!« rief Sylvian begeistert; »zu dir gehöre ich, bei dir bleibe ich!« – Überwältigt riß ihn der Vater an sich. »Mein Sohn, mein Sylv, o du heiliges Kind!« schrie er auf; »o ich elender, erbärmlicher Sünder! Ja, ja, bleibe bei mir, mein Erretter, mein Engel! Sage mir, was ich bekennen soll, sage mir, was ich schreiben soll! Was du willst, ich tu's. Morgen, heute, gleich jetzt, und dann fort, fort aus diesem Haus, fort aus diesem Land, du und ich, wir beide allein –!«

»Halte ein, August!« unterbrach ihn Judith, indem sie die Hand auf ihres Pfleglings Kopf legte und die Aufgeregten zu trennen suchte. Der Knabe aber riss sich von ihr los, schlang sich von neuem um den Vater und sprach mit einer Hast, in welcher das Fieber zitterte: »Rede mir nicht darein, Muhme; wolle mich nicht zwingen, Muhme! Hältst du mich mit Gewalt, so entweiche ich heimlich. Ich bin kein Kind mehr, ich bin sein Kind. Ich weiß, was ich will, ich weiß, was ich soll! Du bist meine Wohltäterin gewesen, er ist mein Vater! Du brauchst mich nicht; du bist stark und frei und rein, er ist krank und bedroht, er hat seinen Frieden verloren! Mein Vater, ja, mein Vater! Die Handlung der Gerechtigkeit, das Sakrament der Gnade, und dann fort, fort über Land und Meer, wohin Gott uns führt!«

In den Augen der Pflegerin stand der Entschluß zu lesen, daß sie dieses Opfer zu hindern wissen werde; eine andere Macht aber ersparte ihr die Einrede: die Macht der sich rächenden überreizten Natur. Eine plötzliche, krankhafte Wandlung breitete sich über Sylvians Züge. »Mein Kopf, mein Kopf!« lallte er, indem er, sich verfärbend, in ihre Arme sank. Sie entriß ihn dem Vater, der sich mit einem Schrei der Verzweiflung über den Ohnmächtigen stürzte, und trug ihn auf ihren Armen über den Hof in seine eigne Kammer. Das Leben kehrte bald zurück, aber die Pulse flogen, und der Kopf stand in Flammen. Die Magd wurde schleunigst nach dem städtischen Arzte ausgesendet.

Judith und der Pfarrer, allein auf dem verlassenen Hofe, teilten sich in die Aufsicht von Vater und Sohn. Sylvian lag fiebernd und stumm, doch schienen kühlende Netzungen und Getränke ihm wohlzutun, und der Pfarrer eilte mit beruhigenden Nachrichten in das Seitenhaus, dessen Bewohner er je mehr und mehr in einer verwirrten und verwirrenden Stimmung fand. Er forderte Schreibzeug, warf einige Worte auf einen Bogen, sprang auf, rannte im Zimmer umher, sprach mit sich selber ohne verständlichen Zusammenhang, griff nach dem wüsten Roman, nach einem neuen Bogen, zerriß das Geschriebene, verbarg die Schnitzel in Taschen und Winkel, alles mit deutlichen Zeichen der Angst und Scheu. Der Pfarrer beobachtete dieses Treiben stundenlang, in der Nebenkammer verborgen, da er inne ward, wie der Zwang seiner Nähe die Unruhe des Gefolterten steigerte. Der gütige Mann dachte nicht daran, die schwergeprüfte Familie zu verlassen, auch als Knecht und Magd sich auf dem Hofe wieder einstellten.

Erst nach Mitternacht kam der Arzt. »Strohfeuer, zum guten Teil niedergebrannt!« erklärte er, nachdem er den Knaben beobachtet. »Die Augen fallen ihm zu, die Natur hilft sich selbst. Laßt ihn schlafen, und wenn er erwacht, gebt ihm tüchtig zu essen; der Junge wird heil sein wie ein Fisch.« – Erst jetzt dachte die Wirtin daran, daß ihr armer Pflegling in den sich überstürzenden Erregungen seit dem Tode der Großmutter, wie die Nacht ohne Schlaf, so den Tag, vielleicht den zweiten schon, ohne Nahrung hingebracht; sie beruhigte sich vollständig, als des Arztes Voraussicht in Erfüllung ging und Sylvian in einen ruhigen Schlummer versank, aus dem er erst spät am andern Tag erwachte.

Bedenklicher schienen die Eindrücke, welche der Arzt in der Giebelstube empfing. Man hatte ihn, ohne das Familiengeheimnis mit seinen Erschütterungen zu berühren, von des Fremden Zustand und Schicksal nach dem städtischen Unwetter unterrichtet, ihn bei demselben als einen zu Sylvians Hilfe herbeigerufenen Arzt eingeführt und beide miteinander allein gelassen. Er wurde mit wilden, argwöhnischen Blicken aufgenommen. »Ich bin nicht krank«, herrschte Frobel ihn an. »Wer hat gesagt, daß ich mich femwrogig bekannt? Das Weib lügt! Ich will Zeugen. Laudanum, Laudanum! Ich bin gesund!« – Gleich verworren waren alle Antworten auf des Arztes Fragen, der ihn endlich kopfschüttelnd verließ. »Wenn er Fieber hätte, aber sein Puls geht im Schritt!« murmelte er, empfahl Ruhe und unausgesetzte Beobachtung bis zu deutlicheren Symptomen. Bücher wie Schreibzeug sollten ihm entzogen werden; da der Kranke aber sich ihrer Entfernung mit Heftigkeit widersetzte und mit gleicher Unruhe auf der Einhändigung seiner Brieftasche bestand, stimmte er selber dafür, ihm zu willfahren; nur das geforderte Opiumglas wurde vorenthalten.

War es Absichtlichkeit, war es, daß die Erinnerung ihm wirklich entschwunden, aber Frobel hatte des Todes seiner Mutter nicht mit der leisesten Andeutung wieder erwähnt und keiner der Seinigen, nach gemeinschaftlicher Übereinkunft, jenes Gedächtnis in ihm aufgeweckt. Auch die Begräbnisfeier sollte unbemerkt an ihm vorübergehen, der Zug sich in der Morgenfrühe durch die vordere Haustür auf der Straße bewegen, nach welcher das Seitenfenster keine Aussicht bot. Die Sorge um einen Wächter in der Stunde, wo Judith nebst dem Pfarrer und Sylvian, falls dieser genesen, dem Sarge folgen mußten, wurde erledigt, indem der Medikus sich erbot, in der Nähe des Kranken zu bleiben, bis die Leidtragenden zurückgekehrt.

Ein Unvorhergesehenes, das wir Zufall nennen und das in schweren Lagen wie die der Klusbewohner in jener Nacht als eine Kleinigkeit kaum beachtet wird, störte diese wohlgetroffenen Einrichtungen und gab unmittelbar den Anlaß zu einer unheilvollen Entscheidung. Da der Sarg, in welchem die alte Frau zur Ruhe getragen werden sollte, von Stunde zu Stunde vergeblich erwartet wurde, mußte man sich entschließen, mitten in der Nacht den Knecht nach der Stadt zu schicken, denselben herbeizuschaffen, oder für den vorauszusetzenden Fall, daß seine Fertigung sich in der allgemeinen Wirrnis verzögert, den Prediger zu einer späteren einzuladen. Erst in der zum Begräbnis anberaumten Stunde stellte der Klaas sich wieder ein ohne das dunkle Gehäuse, das erst am Nachmittag erwartet werden durfte. Das bereits harrende Trauergefolge mußte heimgeschickt und für die Dämmerstunde wiederbestellt werden. Auch der Arzt durfte nicht länger weilen, versprach aber, wenn irgend tunlich, gegen Abend wiederzukehren.

Judith war geneigt, Sylvians andauernden Schlafzustand auch um des Vaters willen für eine wohltätige Fügung zu halten, wenngleich eine unruhigere Spannung nicht an ihm zu verkennen war, seitdem er den sänftigenden Einfluß des Knaben entbehrte. Im Grunde aber schien er zu ausschließlich mit sich selber beschäftigt, um ihn zu vermissen oder sich von seinem Unwohlsein beängstigen zu lassen. Nur einmal fragte er die Magd, die einzige Person, der er nicht mißtraute, bei deren Eintreten er aber immer ängstlich nach der Tür lauschte, ob nicht eine andere ihren Schritten folge, – er fragte sie geheimnisvoll: »ob der junge Herr drüben schon seinen Koffer gepackt?« und als die Christine wahrheits- und vorschriftsgemäß antwortete: »Der Sylv schläft, er schläft sich gesund«, – sagte er: »Laudanum, Laudanum!« beschrieb sein eignes Arzneifläschchen und meinte, man habe dem Sylv wohl Tropfen daraus eingegeben. – »Kann sein«, versetzte die Christine, die weder widerspruchssüchtig war noch sein sollte. Damit wollte sie gehen; der Mann aber hielt sie zurück, drückte ein kleines Geldstück in ihre Hand und bedrängte sie mit neugieriger Angst nach fremden Herren aus der Stadt etwa oder Nachbarn aus dem Dorfe, Männern mit schwarzen Kleidern und ernsthaften Gesichtern, die sich mit der Wirtin unterredeten. Die Dirne, in dem Glauben, daß er das morgendliche Leichengefolge meine, das ihrer Weisung zufolge nicht erwähnt werden durfte, sagte, daß sie keine gesehen, und ging.

Am Nachmittag wurde der Sarg gebracht, und fast gleichzeitig erwachte Sylvian heil und gestärkt, wie der Arzt vorausgesagt. Nachdem ihn der Pfarrer über seinen Vater beruhigt, aß er mit dem Appetit eines dreitägig Ausgehungerten und hatte kaum noch Zeit, sich zu der Feier zu rüsten, da der städtische Prediger wie das Gefolge bereits warteten. Der Medikus hingegen, auf den man gerechnet, war ausgeblieben, und es entstand nun die Frage, wen man zur Beaufsichtigung des Gefangenen zurücklassen solle.

Man muß die Wichtigkeit in Betracht ziehen, mit welcher Landleute auch von einer mehr als gewöhnlichen Bildung den letzten Akt eines Menschenlebens, die Heimsenkung für eine jenseitige Ernte, behandeln, um weder die besonnene Kluswirtin, noch den zartfühlenden Sylvian, noch selber den gemütlichen Pfarrherrn darob anzuklagen, daß keinem von ihnen auch nur der Gedanke gekommen ist, die Ehrenpflicht gegen die tote Ahne mit dem Dienste bei dem Kranken zu vertauschen, und daß man sich zu der Auskunft entschloß, die handfeste, gehorsame Magd an der Lugespalte in der Kammer zurückzulassen. Schweren Herzens, im neuen Trauerrock an der Seite ihres Bräutigams bei einer so wichtigen Feierlichkeit zu fehlen, aber ohne Widerspruch hatte sich die Christine auf ihrem Wächterposten eingerichtet. Die Zimmertür war von außen verschlossen; in einer Stunde kaum glaubte man auf den Hof zurückgekehrt zu sein; der Arzt durfte jeden Augenblick erwartet werden; das Wesen des Gefangenen zeigte keine besorgniserregende Veränderung: man schied ohne Arg, um am Abend das Nächstgebotene miteinander zu beraten.

Die Dämmerung war im Hereinbrechen, als in der Ferne die Trauerglocke anhob und der Zug sich in Bewegung setzte. Den beiden von ihren Seelsorgern begleiteten Leidtragenden folgte die Mehrzahl der männlichen Gemeindegenossen, ein Merkmal des milden priesterlichen Einflusses sowohl, als des durch die junge Wirtin wiederhergestellten Ehrenansehens der alten Klus. Die Sonne des gestrigen Tages hatte die feuchten Luftdünste von neuem zusammengezogen, ein grauer, sickernder Nebel lag über der Gegend, kein heiteres Abendgold leuchtete in des Sachsenröschens offenes Grab.

Die Trauerrede war kurz und bündig; erbaulich hätte sie ohnehin nur für eine sein können, deren Herz in dieser Stunde in zu schweren Lebenskämpfen rang, um sich aus den Schauern des Todes in eine unsterbliche Glaubenswelt tragen zu lassen. Als das letzte Amen verhallt, trennte man sich kühl und nüchtern, ohne Einladung zum üblichen Leichenschmaus, vor der noch ungefüllten Gruft. Es war völlig Abend geworden; der Mond lag hinter fahlen Dunstwolken verschleiert, der Prediger trat unverzüglich den beschwerlichen Heimweg durch die überschwemmte Aue an, und die beiden Verwandten wendeten sich in Begleitung ihres geistlichen Freundes nach dem Klushofe zurück. Aber schon innerhalb des Friedhofgeheges beschleunigte Sylvian seine Schritte, von Sehnsucht und Sorge um den verlassenen Vater getrieben; die beiden anderen gingen allein des Weges, auf welchem sich vor zwei Tagen ihre Bekanntschaft geknüpft.

Judith zögerte nicht, ihren Widerwillen gegen Sylvians gestern in der Leidenschaft gefaßten, aber vor einer Stunde am offnen Sarge der Ahne in besonnener Ruhe wiederholten Plan mit großer Entschiedenheit Ausdruck zu geben. Nun und nimmer, erklärte sie, werde sie das Kind, das sie bis heute allen Sorgen und Nöten der Wirklichkeit überhoben, der Führung eines unzurechnungsfähigen Vaters überlassen, selbst wenn dessen gegenwärtige Wirrnis sich nur als vorübergehende Folge der Aufregung oder gar als eine Maske herausstellen sollte; nun und nimmer ihn seinem Schülerberufe entreißen, alle Pläne für seine Zukunft über den Haufen stoßen. Sie sah den Schutzlosen in einer fremden Welt versinken, einem Wahne, wenn auch dem edelsten, ein neues Opfer verfallen. Ihr sonst so weichmütiger Begleiter hatte ein kräftigeres Zutrauen.

»Er ist im sechzehnten Jahre«, sagte er, »ein Alter, in welchem die Mehrzahl der Knaben sich selbständig Bahn brechen muß. Ihr werdet auch in der Ferne die Hand nicht von ihm abziehn, brieflich seine Ratgeberin bleiben, und wenn, wie vorauszusehen, in nicht allzu ferner Frist der Herr über Leben und Tod das nächste Band gelöst, ihm eine Heimat offen halten. Schüler hin, Schüler her, liebe Tochter, das Leben ist das lehrreichste Buch; die Pflicht fragt nicht nach der Flüsterstimme des Berufs, und der Segen des Gemüts entschädigt für die Opfer, die der Geist gebracht. Aber welche Pflicht, welcher Segen könnte mächtiger wirken, als die, einen Versinkenden zum Licht emporzuheben? Und wenn der Versinkende gar ein Vater ist? Wohl mag es leichter sein, einen Verstockten zur Buße als einen Flatterling zu stetigem Willen zu zwingen; die Gerechtigkeit bricht sich an solchem Rohr oder das Rohr sich an ihr; aber die biegsamere Liebe wird ihm Stütze und Stab. Denn die Gerechtigkeit ist wohl die Wurzel am Baume der Tugend, aber die Liebe ist seine Krone, die dem ermatteten Wanderer ihren Schatten spendet und in welcher des Himmels Vögel ihre Nester bauen.« Der Pfarrer hatte diese letzten Worte, mit denen er vielleicht an seines lutherischen Amtsbruders Stelle die Grabrede der alten Sachsenwirtin geschlossen haben würde, kaum vollendet, als ihnen Sylvian bleich, verstört, atemlos aus dem Hoftore entgegenstürzte. »Er ist fort, verschwunden!« Mehr vermochte er nicht zu stammeln, und mehr hatten die Entsetzten nicht zu hören vermocht, so hastig stürmten beide nach dem Giebelhause voran.

Der Eingang des Zimmers war von außen verschlossen und von innen verriegelt, das Fenster geöffnet, Hof wie Garten ohne Spur. Die Magd stand erstarrt unter der Kammertür, durch welche Sylvian, als auf sein wiederholtes Klopfen und Rufen keine Antwort erfolgte, vor einer Weile mit Gewalt seinen Eingang genommen. Er war fort, verschwunden! – Das Schicksal des Unglücklichen in dieser letzten Stunde, da man seine Mutter zu Grabe trug, kann nur mit Vermutungen erklärt werden, die wir nach den spärlichen Aussagen der Magd wie nach dem Inhalte eines für seinen Sohn hinterlassenen Briefes und einzelner zerstreuter Papierschnitzel, auf welchen die geforderte Erklärung in abweichender Fassung, aber niemals der Wahrheit getreu versucht und immer wieder vernichtet worden zu sein scheint, hier in der Kürze zusammenfassen.

Nach dem Zugeständnisse einer schriftlichen Erklärung und des Sohnes Entfernung in dem unruhigen, durch einen selbstauferlegten scharfen Zügel zerriebenen Hirn der letzte kümmerliche Halt entwichen. Die Vorstellungen eines heimlichen und öffentlichen Gerichtes, dem eine grausame Drängerin ihn überantwortet, wechseln und mischen sich ineinander. Der Arzt ist kein Arzt, aber ein lauernder Zeuge oder Eideshelfer, von der Anklägerin bestellt. Er selber trägt eine Maske, so sieht auch er nur Masken, sieht sich von Spionen umstellt, festgehalten, von allen Seiten bedroht.

In dieser Stimmung hört er von seines Sohnes andauerndem Schlaf – wenn es nicht Lüge ist, ist es künstliche Betäubung, um den einzigen Retter und Helfer von ihm fernzuhalten. Am Fenster spähend, sieht er zweimal, morgens und nachmittags im dämmernden Nebel die dunklen Gestalten der Sargträger und des Leichengefolges, einzeln, langsam vom Kamp her dem Trauerhause zuschreiten, wieder sind es bald Zeugen und Häscher, die auf ihn fahnden, bald Freischöffen und Eideshelfer, die sich versammeln im »offnen Ding«, die »Wette« an dem geständigen Mörder zu vollziehn. Er zählt: drei, sechs, vierzehn! Und ihn zu entlasten nicht einer. Er ist verloren; er fühlt schon die »Wyd« über seinem Haupt, wie er sie die Nacht hindurch dem des »femwrogigen Junkers von Dortmund« gefühlt. Er will appellieren an Kaiser und Reich, aber wo sind Kaiser und Reich? Keine Wahl, er muß fliehn. Mögen sie ihn verurteilen zu Kerker und Beil, ihn – bis zum letzten verwirren sich die Vorstellungen von sonst und jetzt, – ihn verfemen: echtlos, rechtlos, sicherlos, friedlos, – was schiert es den Geflüchteten, er ist fort, auf weitem Meer, in einem freien Land!

Aber sein Sylv! Er stockt. Das Kind kann ja nicht ewig schlafen. Er faßt sich, schreibt im Fluge das Blatt. Sylvian soll ihm folgen, heimlich, mit Gewalt, sobald er erwacht; im Hafen will er auf ihn warten, ihre Einschiffung vorbereiten. Er verabredet Ausflüchte, Verkleidungen; Sylvian soll sich Geld und Geldeswert verschaffen, seine Uhr nicht vergessen. Er denkt an alles. – Er schließt den Brief durch gekautes Brot und gibt ihn mit unbefangener Miene der den Vesperimbiß bringenden Magd zur Besorgung an den jungen Herrn augenblicklich, sobald er erwacht, nur – er drückt noch einmal eine Münze in ihre Hand –, nur daß die Wirtin es nicht gewahr werde. Darauf genießt er von der gereichten Speise, erklärt müde zu sein, ein paar Stunden ruhen zu wollen, verbittet sich Störung wie Licht und wirft sich in Gegenwart der Magd auf das Bett.

Indem die Christine das Zimmer verläßt, hört sie das anhebende Trauergeläut und kann der Verlockung nicht widerstehen, aus einer dem Garten entgegengesetzten Dachluke einen Blick auf den Leichenzug zu werfen. Kaum fünf Minuten von ihrem angewiesenen Platze fern, hat sie bis zu Sylvians Ankunft denselben nicht wieder verlassen, und da sie nicht die leiseste Regung in der Stube vernahm, den Fremden auf seinem Bett im dunklen Hintergrunde schlafend vermutet. In jenen wenigen unbeobachteten Minuten muß er daher, nachdem er die Tür verriegelt und seine gestrigen Kleider übergeworfen, durch das Fenster, sich an einem Spalier hinabwindend, entkommen sein, scheint aber den Bogen des Waldweges vermieden und sich unmittelbar auf die Landstraße, gewendet zu haben. Kein Mensch erinnert sich seiner Begegnung.

Er sieht die Niederung unter Wasser und erklimmt den Damm, ohne zu ahnen, daß er nahe dem Bahnhofe durchrissen ist. Der Zug nach der nördlichen, nicht unterbrochenen Richtung, die Richtung, nach der er selber strebt, wird gerüstet, er hört das Läuten, das Zischen der Lokomotive und stürmt voran. Der Nebel hat das Abenddunkel verfrüht, er sieht nicht unter sich, nur auf die aus der Ferne glühenden Maschinenaugen. Jählings entweicht ihm der Boden, er gleitet aus, rollt hinab auf den vom Wasser überspülten Weg, sucht sich zu halten, klammert sich an das Gestrüpp, versinkt immer tiefer zwischen Wurzeln und Schlamm; die Gerten umstricken ihn, er kann nicht vorwärts, kann nicht rückwärts, die »Wyd«, vor der er im Wahn geflüchtet, wird ihm in Wirklichkeit zur Schlinge, das Schicksal erfüllt sich an der Stelle einer jahrelang verborgenen blutigen Tat. – An dieser Stelle fanden ihn die Seinigen; voran, von unheimlichen Ahnungen getrieben, die Schwester. Er war tot.

»Der Amerikaner James Brown, verunglückt durch Sturz und rasch eingetretene Apoplexie«, lautete der Spruch der gerichtlichen Totenschau. – So ging er unter, seiner Heimat ein Fremder, die Handlung der Gerechtigkeit unvollbracht, durch das Sakrament der Gnade nicht entsühnt.

Zwei Tage später, bei grauendem Morgen, legte man ihn zur Ruhe zwischen den Fremdlingsgräbern der alten Sachsenmutter und ihrer Schwiegertochter Sylvia. Die Kluswirtin und ihr Pflegesohn, geleitet von dem Gemeindepfarrer, waren die einzigen, die seiner Leiche folgten. Sylvian, der bis zuletzt auf seinen Knien betend neben dem Toten gelegen, erklärte auf dem Heimwege mit großer Fassung, daß er Priester werden wolle.


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