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Rückblick

Man ist es gewöhnt, preisend oder spottend, die altsassische Landschaft zwischen Weser und Rhein, die wir unter dem Namen Westfalen zusammenfassen, als eine Provinz strenger, steifer Erhaltung darzustellen. Und in der Tat, so wechselnd die Physiognomie ihres Bodens von den Marschen des Meeres, vorzeiten »das deutsche« geheißen, durch Dünen und Heiden, Moorstich und Sumpf, durch umwallte Korn- und Wiesenbreiten aufwärts zu rauhen Felsengipfeln und wieder abwärts in die Täler des romantischen Waldgebirges, in welchem am frühesten der deutsche Name zu Ehren gebracht worden ist, und so mannigfach mit diesem Wechsel des Bodens der Charakter seiner Bewohner uns entgegentritt, vom träumerischen Norden bis zum tatkräftigen Süden: die ursprünglich germanische Art und Bildung hat sich unter der ländlichen Bevölkerung dieser Gegenden unverwischt und unvermischt erhalten wie in keinem anderen umfänglichen Gebiete unseres Vaterlandes. Ja, schon ehe wir gen Morgen die breite Wasserscheide überschreiten und durch das Felsentor der letzten Berge die eigentliche Rote Erde betreten, da, wo das baumreiche Schaumburger Ländchen in die westfälische Vorebene übergeht, bewundern wir an Männern wie Frauen die deutsche Kraft und Schönheit der Gestalten und stoßen nicht selten auf einen Kunstjünger östlicher wie westlicher Akademien, der unter diesen urwüchsigen Bäumen und Menschen nach einem Vorwurf sucht.

Wer jene Bauern hinter ihren stattlichen Gespannen aus den Waldgehegen treten sieht, unter deren Eichen und Buchen die noch immer mit Vorliebe gezüchteten Sauenherden weiden, wer sie sieht mit schwerfälligem Gerät, langsam, harttrittig die Furche durch ihre Korn- und Flachsfelder ziehen, oder die Weiber, den Wocken im Rockgurt, selber im Gehen unermüdlich, aber gelassen die Spindel drehen, wer im umwallten Kamp ihre Höfe sieht, vereinzelt, dunkel aus Eichenholz nach unvordenklicher Weise aufgerichtet, Mundart, Hausbrauch, Hausrecht, Erbrecht, Tracht und Kost, Sitte und Unsitte unerschütterlich nach Vätertreiben; wer sie beobachtet in ihrer schweigsamen Stetigkeit, selten, aber unzähmbar von auflodernder Jachheit durchbrochen, der vermag ohne Anstrengung sich in die Anfänge unserer nationalen Kultur zurückzuversetzen, er glaubt die nämlichen alten Sassen zu finden, die vor einem Jahrtausend dem Christentum gegen einen Carolus Magnus widerstanden, deren trotzige Treue aber das widerwillig angenommene Evangelium am zähesten vielleicht unter den deutschen Stämmen gegen ein modernes Heidentum verteidigen würde.

Er konnte sie finden mindestens vor einem Menschenalter noch. Seitdem hat die Neuzeit ihr wechselndes Gepräge auch dieser Landschaft aufgedrückt, Boden wie Köpfe nach lange brachliegenden Schätzen durchwühlend, fördernd, schmelzend, bildend und zerstörend; den Hauch der heimischen Heimlichkeit verwehend. – Ein Merkmal dieses umwandelnden Geistes durfte schon vor länger als dreißig Jahren der Wanderer auf dem nördlichen Heerwege an einem ländlichen Hause wahrnehmen, das in neusächsischer Gestalt, von Bruchsteinen aufgerichtet, hellfarbig getüncht, mit Ziegeln gedeckt und die räumlichen Fenster durch grüne Läden geschützt, seine breite, glatte Flucht der Straßenseite zukehrte. Eine Schenke, ein Krug, mitten zwischen der östlichen Grenze und der ersten namhaften preußischen Stadt, eine Viertelstunde abseits von den Nachbarhöfen, bildete es den Schluß eines sich lang am waldigen Bergkamm hinziehenden Dorfes und hieß, wie manche andere des Landes, »die Klus«.

Die Insassen jenes Dorfes hatten seit Menschengedenken nach abendlicher Rast auf der Klus ihren Krug geleert, oder rückkehrend vom städtischen Markte, selten mit Maß, sich am heimischen Wacholdergeiste erlabt, die Burschen und Dirnen der Umgegend sich festtägig im »Papen van Istrum« geschwenkt, unbehelligt von dem Qualme des mächtigen Schlotfanges in der Giebeltenne, die zugleich Küche, Räucherkammer und Wohngelaß war und in welche aus den nachbarlichen Koben Pferde, Rinder und Sauen neugierig, oder verdrießlich, oder gleichgültig wie die menschlichen Zuschauer ihre Köpfe streckten. Denn die Klus war ein Bauerngehöft wie alle anderen des Landes, und wie in allen anderen wurden Viehzucht und Feldbestellung als Hauptzweck, das Schenkwesen aber nur als ein von den Altvordern überkommenes Nebenrecht beiläufig und lässig betrieben.

Eines Tages brannte die alte Eichenklus ab – wie die Sage geht, durch das Zünden des ersten Schwefelholzes, das ein ketzerischer Wandergesell gleich einem Koboldspuk in die Gegend getragen; der kinderlos verwitwete Kluswirt starb infolge seiner Brandwunden, und das wohlgeordnete Anwesen fiel seinem Bruder zu, der, obgleich sein Vatererbe freies Eigentum war, sich als jüngerer Sohn willig mit einer schmalen Abfindung begnügt hatte. Ein noch bartloses Bürschchen, war der Frobeljobst der neuentfalteten, in anderthalb Jahrhunderten allmählich seiner Gegend eingewöhnten preußischen Fahne gefolgt, just da der Haß gegen das deutschnapoleonische und die Erhebung gegen das welschnapoleonische Regiment hoch im Schwange gingen; er hatte in Deutschland und Frankreich wacker mitgekämpft, nach dem Frieden den schmucken Soldatenrock dem seiner harrenden Knechtskittel vorgezogen, bis er, als Sergeant einem sächsischen Regiment zugeteilt, Herz und Hand eines munteren thüringischen Wirtstöchterchens erobert und teil an ihrem väterlichen Schenkengeschäfte genommen.

Wohlgemut, den Himmel voller Geigen, wie er ihn in fremden Landen schauen gelernt, kehrte er jetzt, da das zerstörende Element ihn so unerwartet zum Erben befördert, in die alte, neugewordene Heimat zurück und baute die Brandstätte wieder auf in dem mitteldeutschen Geschmack, der ihm bequem geworden, so wie wir sie im Vorübergehen angeschaut. Scheuern und Ställe umfaßten zu beiden Seiten den durch das stattliche Vorderhaus abgeschlossenen Hof, hinter welchem, bis zu der Berglehne des Gemeindewaldes, die dunklen Eichen und Rüstern des Kampes einem Obst- und Gemüsegarten Platz machten. Zur Rechten wie Linken setzte der Kamp, das heißt die eingehegte, dem Hofe eignende Flurmark sich fort. Diesseits bis zum nächsten Anwesen die breite Flucht der Felder; jenseits eine Forstparzelle, die, mit der Zeit gerodet, sich in einen Triftanger verwandelte. Den Raum zwischen Straße und Vorderhaus beschattete eine reinliche Laube von Ligusterhecken, und über der Tür flatterte das Schenkenzeichen des sächsischen Rautenkranzes.

Also sein Heimwesen ausstaffiert, taufte der Frobeljobst den jahrhundertealten Krug zu einem Wirtshause um, stolz auf die neumodische Art, die er in sich aufgenommen, leider freilich ohne die altväterische Unart in sich auszumerzen. Denn bei Wesen wie in Zeiten, die sich umbilden, gewahren wir häufig das angeborene Schlimme länger haften als das Schätzenswerte, ja wohl auch das fremde Verwerfliche leichter eindringen als das Treffliche; daher denn alle Übergangszeiten wie Mischrassen eine unbehagliche Periode haben, bis der Neuerungsprozeß vollzogen ist. Der Frobeljobst hatte jenseits des Rheins und der Elbe singen und springen, diskutieren und disputieren, seine Gäste unterhalten und manierlich bedienen lernen, er hatte aber nicht verlernt, dem heimatlichen Unholde des Wacholdergeistes huldigend zuzusprechen, der denn über seine flotte Schenkenlaune eine weit entzündlichere Herrschaft übte, als über die der bedachtsam, schrittmäßig schaffenden und rastenden Nachbarkunden.

Und diese Nachbarkunden, unter denen seit unvordenklichen Zeiten die Klus-Frobel zu den ersten und besten gezählt, weit davon entfernt, sich von der neuen Herrlichkeit blenden zu lassen, sahen auf das laute, fremde Wesen mit höhnendem Mißwollen herab, von vornherein kehrten sie ihm den Rücken. Die Alten tranken, die Jungen tanzten in einem abgelegeneren Krug, bis dann allmählich der Platz, auf welchem schon die Altvorderen sich gelabt und geschwenkt, seine Macht behauptete und die widerborstigen Gäste einen um den anderen an sich lockte. Sie kehrten zurück. Der »Steinhäger« Ein vorzüglicher Wacholderbranntwein des Landes. mundete, ob auch die Würze des Schinkenbrodems im Schornstein, wie das Publikum der braven Vierfüßler vermißt wurde; die Burschen drehten, die Dirnen ließen sich drehen, ohne sich durch blankgescheuerte Dielen und buntbekleisterte Wände die Lust vergällen zu lassen. – Wenn man aber der alten Gewöhnung zuliebe sich die neue Einrichtung gefallen ließ, die neuen Menschen, die sich aufgedrängt, ließ man sich nicht gefallen. Der »Sachsenwirt« war keiner der ihrigen mehr, und das schwarzäugige Sachsenröschen würde es niemals geworden sein, auch wenn es nicht eine lutherische Ketzerin gewesen wäre. Sie rateten und tateten in der Gemeine ohne den Frobeljobst, keiner warnte ihn, keiner half ihm, keiner lud ihn zu Hochzeitsschmaus und Kindelbier, hinter keinem Leichenzuge sah man den Sachsenwirt oder seine Sippe.

Und so überlustig der Frobeljobst sich anstellen mochte, von dem leeren Platze unter seinesgleichen kroch es ihm zu Herzen wie nagendes Gewürm, sooft er die heimliche Galle mit brennenden Tropfen hinunterspülte, immer von neuem wirbelte sie ihm ätzend zu Kopf. Am liebsten hätte er der Acht einen Bann entgegengesetzt und alles, was Bauer und Nachbar hieß, von seiner Schwelle gejagt. Wollten sie ihn nicht neben sich, so wollte er über sie hinaus. Er baute einen Stock auf seine neue Klus und ließ das Wirtshaus zu einem Gasthof in die Höhe steigen. Kärrner und Vorspänner kehrten bei ihm ein; Lohnkutschen, Extraposten selbst herbergten zur Nacht in der reinlichen, wohlgelegenen Wirtschaft, Spaziergänger aus der Stadt priesen Kaffee und Kuchenwerk, das kein Zuckerbäcker so meisterlich wie das Sachsenröschen zu bereiten verstand. Der Sachsenwirt triumphierte. Er hielt sich zu den Fremden, je vornehmer desto lieber; er bediente sie halb umsonst, tischte auf nach Noten, traktierte extra, schenkte auf Rechnung, die niemals oder nur gegen teure Advokatensporteln bezahlt wurde; er kleidete sich herrschaftlich, er kannegießerte, späßelte, schwänzelte hin und her, führte neumodische Tanzweisen auf, krähte wie ein Hahn und stelzte wie ein Storch seinen Gästen zum Pläsier; er trank Punsch und Grog auf ihr Wohlergehn; war er aber allein und von den weiterziehenden verlassen, dann stürzte er Rum und Steinhäger ohne wässerigen Zusatz die Gurgel hinab, um seinen Grimm und Groll zu versengen.

Als Schlimmstes des Schlimmen aber stellte es sich heraus, daß der behende, lustige Schenkwirt ein gar schwerfälliger, unlustiger Landwirt geworden war und daß die sächsische Küchenmeisterin glücklicher in der Speisekammer als in Rauch- und Milchkammer zu hantieren verstand. Die fremden Gespanne wurden mit Kraft und Saft, die eignen Stallinsassen mit Trebern gefüttert, die Felder unregelmäßig bestellt, Korn- und Heuböden selten kontrolliert. Das gefällige Wirtspaar schenkte und zechte, backte und brodelte bis in die Nacht und träumte bis in den Tag hinein; die Tagelöhner, Knechte und Mägde, denen keiner auf die Finger sah, hielten Maulaffen feil oder schafften für den eigenen Sack – die Klusschenke florierte, während der Klushof verkam.

Aber was scherte die Bauernwirtschaft den Herrenwirt? Er schenkte – sich selber am ersten und vollsten! –, verschlief seinen Rausch, wachte gähnend auf und warf die Kontobücher in die Ecke, wenn Kredit und Debet nicht stimmen wollten. Hatten andere kein Geld, so hatte er Pfand – überflüssiges Geschirr, faules Vieh in Schuppen und Stall, nutzlose Baumriesen und halbreife Ernten in seinem Kamp. Der brachliegende Acker trug seine Last. Allmählich löste sich Scholle um Scholle hinüber in fremde Hand, und ihre kernschweren Ähren nickten höhnend auf die dürren, nachbarlichen Klushalme herab. Der Sachsenwirt saß zwischen den Ligusterhecken, zechte und lachte mit den Fremden. Und das Sachsenröschen lachte nicht weniger, seufzte wohl auch ein »daß Gott erbarm!« und weinte ein Zährchen, wenn wieder eine Milchkuh vom Hofe getrieben ward oder mit den Jahren ihr Eheliebster auch gar zu toll und töricht ins Poltern geriet; bald aber rührte sie ihren Fladen ein, tunkte ein Schälchen, trällerte ein Stückchen, band eine weiße Schürze vor, rückte die bunte Bänderhaube zurecht, neckte sich, schwatzte und lachte mit den Fremden.

Der Hoferbe aber, Mosjö Gust oder »der junge Herr«, wie er sich titulieren ließ, des Sachsenpaares einziger Sohn, ei, der lachte und jubelte erst recht. Heute aus Herzenslust mit offner Hand, morgen im Ärger mit geballter Faust, am häufigsten aus Schabernack mit einem Schnippchen und fingerndem Nasendrehn. Er lachte über die Säufer von Bauern, die seinen Saufaus von Vater über die Achsel »bekiekten«; er lachte über den Saufaus von Vater, der ein Bauer war und den Herren zuliebe sein Bauernerbe durch die Gurgel rennen ließ; und er lachte über das Bauernerbe und den Fremdenschank, über Hausgenossen und Gäste, über Gott und die Welt.

Frobel, der Jüngere, wäre er unter Zucht und Beispiel wie die heimischen in jenem südlicheren, beweglicheren Landesteile aufgeschossen, den man das Irland der Roten Erde nennen dürfte, so würde sich für seine Spielart nicht unschwer eine Klasse haben finden lassen. In dem schweren, langsamen Boden des Nordens war er seinerzeit eine Pflanze ohnegleichen. Ein Hälmchen, von jedem Lufthauche hin und her geweht, seicht auf Sande wurzelnd, diesen Augenblick zu Boden knickend und im nächsten wie ein Stehauf emporgeschnellt; buntscheckig und früh erschlossen seine Blüte, von berauschendem Hauch; wen ihr Samenstaub berührte, dem juckte die Haut. Windhafer und Taumellolch nannte schon der Schulmeister den fahrigen Schüler, und die Nachbarn warnten ihre Buben vor dem Tollkraut und Teufelsgarn auf der Sachsenklus. Das Sachsenröschen aber hätschelte und tätschelte ihr Wunderhold, und dem Sachsenwirte wirbelte es zu Kopfe wie ein Kitzel der Nieswurz bei seines Sprosses absonderlichem Gebaren. Lernen – Kinderspiel, arbeiten – Unsinn, aber faulenzen, ei beileibe! Er bekleckste Papier und Wände, kratzte die Geige und krächzte zur Gitarre, er radebrechte alle Mundarten und spielte alle Rollen, die er im Fluge von seinen Gästen aufgeschnappt, er studierte die »Weistümer« seines Landes nicht in langweiliger Chronika, sondern in Ritter- und Räuberromanen, welche einer bereits abgelebten Generation die anmutigen Schauer einer Gänsehaut erregt; er war ein Reimeschmied aus dem Stegreife, immer im Rausch und niemals betrunken. Das gab ein Juchhei auf der Sachsenklus, als der Hoferbe in die Jahre kam, wo die Nachbarsöhne Wirte und Männer wurden! Schauspieler, Bereiter, Seiltänzer, Bänkelsänger und ihre Wahlverwandten, das waren die Einkehrer, seitdem das junge Genie unter dem Rautenkranze aufgeblüht. Mit ihnen wurde gezecht daheim oder in den Herbergen der Stadt – nicht in grobem, gebranntem Geist wie die Alten – in reinem, goldnem Wein, in perlendem, schäumendem Wein. Mit ihnen kreuz und quer gezogen und wieder eingesprungen, war der Säckel leer; mit ihnen gekartelt, gewürfelt, im Inland und Ausland ins Lotto gesetzt; denn Geld war die Losung, Geld ohne Müh und Hoffnung auf Geld!

Einmal nach der städtischen Jubilatenmesse blieb das junge Herrchen aus; Monate vergingen und er war fort ohne Spur. Die Mutter weinte ihre Augen wund, der Vater wurde selten mehr nüchtern aus Kummer und Angst. Urplötzlich wie er verschwunden, kehrte er heim, ein dralles Weibsbildchen in die Elternarme führend, das während der Messe im kurzen Röckchen, auf schwankem Seil als Mademoiselle Sylvia gefeiert worden war und jetzt hinter dem Schenktisch als Madame Frobel gefeiert ward. Ein munterer Zeisig Dame Sylvia, des Wanderns müde und wohlgeneigt, im Käfig Zuckerbrot zu naschen! Kläglich, daß sie, schon ehe der Frühling wiederkam und kaum daß ein armes, nacktes Vögelchen in das Nest gesetzt worden war, unter die dunkle Erde ducken mußte. Der junge Witmann zerschlug sich die Brust und zerraufte seine Locken, er reimte und deklamierte Trauerhymnen voll Schmerz und Herz, schweifte am Tage in Schlucht und Wald und lag um Mitternacht auf seiner Schönen Grabe – eine Woche lang. Dann tröstete er sich, schäkerte, kartelte, knöchelte, zechte und lachte mit den Fremden querköpfiger denn je zuvor. Der Sachsenwirt lachte hinter seiner Flasche, die Sachsenwirtin hinter ihrem Herd, der Sachsenerbe lachte hinter dem Würfelbrett, die Knechte lachten in volle Töpfe und Säckel, die Fremden lachten sich in den Bart und die Nachbarn in die Faust, alles lachte auf der Sachsenklus. Nur eine lachte nicht: Judith, die Sachsentochter, erst auf dem heimischen Hofe dem Bruder nachgeboren und in jenen Tagen des Übermuts fast noch ein Kind ... schweigend und wenig beachtet, stand sie abseits, blickte, eine Falte zwischen den ernsthaften Augen, mahnend, ja richtend auf den Verfall ihres Vatererbes, und als die Stunde seines Zusammenbruchs ausgehoben, da streckte sie die kräftige Hand, um es zu stützen.

Mehr als ein Vierteljahrhundert mochte vergangen sein, seitdem der Frobeljobst mit fremden Sitten in die alte Heimat zurückgekehrt. Der Sachsenwirt war begraben und vergessen, das Sachsenröschen lahm und grau vor der Zeit, der tolle Erbe verschollen überm Meer. Dampfende Rosse hatten den Verkehr auf der Landstraße verschlungen, neue Verbindungswege, Schenken und Gasthäuser sich geöffnet. Der Rautenkranz über der Klustür war verschwunden, die Sachsenwirtschaft keine Herberge mehr, nur noch ein einsames, stilles Gehöft, das seinen Namen, die Klus (Klause) mit Recht verdiente und allmählich wiedergewann.

Die Neuerung im landschaftlichen Verkehr war mit dem argen Ende, das der Frobeljobst genommen, fast gleichzeitig zusammengefallen – stillschweigend war das Schenkenzeichen eingezogen worden, fand sich der Bier- und Branntweinkeller in einen Milchkeller, der Tanzboden in einen Fruchtboden, die große Gaststube zum stillen Wohn- und Schlafgelaß umgewandelt. Man hantierte nach Bauernart auf den Feldern, die dem Hofe gerettet oder mit der Zeit wieder zugefügt worden waren. Man wirtschaftete knapp, emsig, stumm und streng nach Urväter Brauch mit einem einzigen Knecht und einer einzigen Magd. Von dem fremden Wesen war nur die Sauberkeit und hin und wieder ein fördernder Kunstgriff beibehalten worden. Wechsellos, klanglos, festlos gingen die Tage hin unter dem Regiment der jungen Wirtin, die zu innerlich ihres Landes Kind geblieben, um nicht zu fühlen, daß nur in dieser schweigenden, nachhaltigen Weise die Ehre ihres Standes und Hauses wiederhergestellt, die eigne Ehre unberührt von dem Moder der Vergangenheit bewahrt werden konnte.

Seine Eignerin aber verkehrte mit keinem und sprach mit keinem ein Wort ohne Not. Nur in der Kirche wurde sie allfesttäglich gesehen, wenngleich die Gemeinde ohne Ausnahme dem katholischen Glauben angehörte, die Kluswirtin aber auf den mütterlichen protestantischen Glauben getauft und ihm treu geblieben war, sich auch jedes Jahr am Karfreitag samt der kranken Mutter in ihrem Zimmer das heilige Nachtmahl von einem städtischen, protestantischen Geistlichen reichen ließ. Ihren Brudersohn, der ihr als Pflegling zurückgeblieben, ließ sie hingegen in dem väterlichen katholischen Glauben unterrichten, anfänglich bei dem Lehrer und Pfarrer der Gemeinde, später, da des Knaben stillsinnendes Wesen in einen Lern- und Büchereifer umschlug, der einen geistigen Beruf bekundete, als Kostgänger bei einem Gymnasialprofessor in der Stadt. An den Mitteln für gegenwärtigen wie künftigen Studienaufwand gebrach es bei dem Gedeihen der Wirtschaft und bei dem ledigen Stande der Pflegerin nicht.

Denn kein Werber oder Freiersmann hatte sich der Kluswirtin seit der Zeit ihrer Selbstherrschaft zu nahen gewagt, obschon sie ansehnlich von Gestalt und noch lange in den Jahren war, wo eine bäuerliche Jungfrau oder Witfrau begehrenswert gefunden wird; dazu wohlberufen, unabhängig und eine Hofbesitzerin, freilich eine Ketzerin. Aber wenn auch ihre eigenen Gemeindegenossen der andern Kirche eigneten, so war die Bevölkerung der nördlichen Umgegend doch eine nach Kirchspielen gemischte, und selbst für einen protestantischen Stadtbürger, ja Beamten würde sie nach Bildung und Sitte eine anständige Genossin gewesen sein.

Daß die schöne Kluswirtin unnahbar, gleichsam eine Mauer um sich aufgerichtet, das deutete auf einen tiefen, heimlichen Grund. Und ein tiefer Grund, ein Abgrund ist es ja, über welchem das Gewässer sich am stillsten bewegt, bis jäh ein Wettersturm die in der Tiefe verborgenen Schätze oder Schrecken zutage wirbelt.


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