Anatole France
Der fliegende Händler und mehrere andere nützliche Erzählungen
Anatole France

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Die Signora Chiara

Der Professor Giacomo Tedeschi von Neapel ist in seiner Vaterstadt ein renommierter Praktikus. Sein wohlriechendes Haus wird von allen möglichen Leuten frequentiert und insbesondere von den schönen Mädchen, die in Santa Lucia die Erzeugnisse des Meeres verkaufen. Er hat Drogen für jede Krankheit, hält es nicht für unter seiner Würde einen hohlen Zahn auszuziehen, exzelliert vor allen Dingen darin, am Tage nach den Festen den tapferen Leuten die aufgespaltenen Schädel zu flicken, und versteht es, den Küstendialekt mit dem Latein der Schule zu vermengen, um sich das Vertrauen seiner Patienten zu sichern, die sich auf der mächtigen Chaiselongue ausstrecken, einer Chaiselongue, die so wacklig ist, so schmierig, die so in allen Fugen kreischt, daß man schwerlich in irgendeiner Küstenstadt der ganzen Welt ihresgleichen mehr findet. Er ist ein Mann von dürftiger Statur, mit einem vollen Gesicht, kleinen grünen Augen und einer langen Nase, die bis zu dem breit geschwungenen Munde herabhängt, seine runden Schultern, sein Spitzbauch und die hageren Beine erinnern lebhaft an die antiken Atelanen.

Giacomo vermählte sich auf seine alten Tage mit der jungen Chiara Mammi, der Tochter eines sehr angesehenen alten Sträflings in Neapel, der sich auf dem Borgo di Santo als Bäcker niedergelassen hatte und dem die ganze Stadt nachweinte bei seinem Tode.

Unter den Strahlen der Sonne, die die Trauben von Torre und die Orangen von Sorrent vergoldet, hatte sich die Schönheit der Signora Chiara auch zu vollster Pracht entfaltet.

Der Professor Giacomo Tedeschi ist in dem guten Glauben, daß seine Frau ebenso tugendhaft als schön sei. Er weiß überdies wie strenge man über Frauenehre in den Banditenfamilien denkt. Aber er ist Arzt, und die Unruhen und Anfechtungen, denen die Natur der Frau ausgesetzt ist, sind ihm nicht fremd. Daher beunruhigte es ihn etwas, daß Ascanio Ranieri aus Mailand, der sich auf dem Platz dei Martiri als Schneider etabliert hatte, sein Haus mit immer häufigeren Besuchen beehrte.

Ascanio war jung und schön und hatte stets ein Lächeln auf den Lippen. Sicherlich war die Tochter des heroischen Mammi, des patriotischen Bäckers, eine viel zu gute Neapolitanerin, um ihre Pflichten über einem Mailänder zu vergessen. Dennoch pflegte Ascanio mit Vorliebe seine Besuche während der Abwesenheit des Doktors zu machen, und die Signora liebte es, ihn ohne Zeugen zu empfangen.

Als der Professor eines Tages früher, als man ihn erwartet hatte, nach Hause zurückkehrte, überraschte er Ascanio zu den Füßen der schönen Chiara. Während die Signora sich mit jenem ruhigen Schritt entfernte, in dem die Göttin sich offenbart, hatte Ascanio sich erhoben. Giacomo Tedeschi näherte sich ihm mit allen Anzeichen der größten Teilnahme.

»Mein Freund«, sagte er, »ich sehe, Sie sind leidend. Sie taten recht daran, mich aufzusuchen. Ich bin Arzt und lasse es mir angelegen sein, das menschliche Elend zu mildern. Sie leiden, leugnen Sie es nicht! Sie leiden schwer, sehr schwer! Ihr Gesicht brennt wie Feuer! . . . Kopfschmerz, ja zweifellos heftiger Kopfschmerz. Wie vernünftig, daß Sie zu mir gekommen sind! Sie erwarteten mich gewiß mit Ungeduld.«

Und damit schob der Alte, der stark war wie ein sabinischer Ochse, Ascanio vor sich her in sein Konsultationszimmer und zwang ihn, sich auf der berüchtigten Chaiselongue niederzulassen, die vierzig Jahre lang alle neapolitanischen Krankheiten mit angesehen hatte.

Er drückte ihn in die Kissen und rief:

»Aha, jetzt sehe ich, was es ist! Sie haben Zahnschmerzen! Jawohl, Sie haben fürchterliche Zahnschmerzen!« . . .

Und damit zog er aus der Tasche eine enorme Zange, öffnete Ascanio mit Gewalt den Mund und mit einem Griff riß er ihm einen Zahn aus.

Ascanio lief spuckend und fluchend davon, und der Professor rief voll grimmiger Freude:

»Ein Mordszahn, ein Prachtzahn!«


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