Anatole France
Der fliegende Händler und mehrere andere nützliche Erzählungen
Anatole France

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Der verkannte Patriot

(Emile)

Fräulein Bergeret schwieg und lächelte still vor sich hin, was sonst nicht ihre Gewohnheit war.

»Warum lachst du, Zoë?«

»Ach, ich dachte an Emile Vincent.«

»Was, Zoë, du denkst an diesen ausgezeichneten Menschen, den wir so lieb hatten und den wir beweinen, und du kannst lachen?«

»Ich lache, weil mir einfiel, wie er früher war, und alte Erinnerungen sind immer die stärksten. Du müßtest übrigens wissen, Lucien, daß nicht jedes Lachen freudiger Art ist, wie auch nicht alle Tränen schmerzlich zu sein brauchen. Muß ich altes Mädchen dir das erst sagen?«

»O nein, Zoë, ich weiß wohl, daß das Lachen der Effekt eines nervösen Reizes sein kann. Als Frau Custine von ihrem Gatten Abschied nahm, der von dem revolutionären Gerichtshof zum Tode verurteilt war, wurde sie im Gefängnis von einem konvulsivischen Lachen befallen beim Anblick eines Gefangenen, der an ihr vorüberging in Schlafrock und Nachtmütze mit gepudertem Gesicht, einen Leuchter in der Hand.«

»Das läßt sich nicht vergleichen,« sagte Zoë.

»Nein, erwiderte Herr Bergeret, aber ich weiß wohl, was mir selbst passierte, als ich erfuhr, daß die arme Demay gestorben war, die in den Kaffees ihre lustigen Lieder zu singen pflegte.

»Es war an einem Empfangsabend in der Präfektur, als Worms Clavelin uns sagte:

›Die Demay ist tot.‹

»Ich hörte die Nachricht mit wirklicher Trauer. Und bei dem Gedanken, daß man nie wieder hören würde, wie dieses dicke Mädchen sang: ›Wenn ich Nüsse knacken will, setz ich mich darauf‹ grübelte ich über die ganze Schwermut, die darin lag, nach und schwieg. Der Generalsekretär Lacarelle brummte mit seiner rauhen tiefen Baßstimme in seinen Bart: ›Demay ist tot! Welch ein Verlust für die französische Heiterkeit.‹

›Es stand heute abend in der Zeitung,‹ bemerkte General Cartier mit sanfter Stimme, ›und es heißt sogar, die Person sei gestorben, versehen mit den heiligen Sakramenten.‹

»Bei diesen einfachen Worten hatte ich plötzlich eine ganz bizarre groteske Vorstellung. Ich sah im Geiste das jüngste Gericht, wie es im Dies irae nach dem Zeugnis von David und der Sybille beschrieben ist. Ich sah die Welt in Staub und Asche zerfallen, ich stellte mir vor, wie die Toten aus ihren Gräbern stiegen und sich beim Aufruf der Engel in Scharen um den Thron des Allmächtigen drängten, und ich sah die dicke Demay, die ganz nackend zur Rechten Gottes stand.

»Bei diesem Gedanken packte mich ein tolles Lachen zum äußersten Befremden der hohen Militär- und Zivilbeamten.

»Das Schlimmste war, ich war so in dieser Vision befangen, daß ich unter Lachen sagte:

›Sie werden sehen, meine Herren, die Demay wird durch ihre bloße Gegenwart beim jüngsten Gericht den Ernst der Situation gefährden.‹

»Zoë, ich kann dir sagen, kein Mensch begriff was ich eigentlich sagen wollte, und niemand billigte meine Worte.«

»Ach du bist wunderlich, Lucien! Ich habe niemals derartige sonderbare Einfälle. Ich lachte, weil ich mir unsern Freund Vincent vorstellte, wie er im Leben war. Weiter nichts, und das ist am Ende ganz natürlich. Ich traure dennoch in meinem Herzen um ihn, denn wir hatten keinen besseren Freund als ihn.«

»Ja, Zoë, ich hatte ihn auch sehr lieb, und grade wie du möchte ich lachen wenn ich an ihn denke. Es ist seltsam, wie in diesem kleinen Körper ein so starker militärischer Geist steckte und daß er trotz seines Puppengesichtes eine so heldenhafte Seele hatte. Sein Leben verlief in der Vorstadt einer kleinen Provinzstadt sehr ruhig. Er war Bürstenfabrikant, aber das füllte sein Herz nicht aus.

»Er war auffallend klein und doch außerordentlich martialisch, ein eifriger Bürger und begeisterter Kolonist,« sagte Herr Bergeret.

»Ja, und ein guter, rechtschaffener Mensch«, pflichtete Zoë bei.

»Er hatte den Krieg von 1870 mitgemacht, Zoë. Damals war er 20 Jahre alt, und ich war eben zwölf geworden. An einem Tage jenes schrecklichen Jahres kam er mit lautem Säbelgerassel in unser friedliches Haus, um uns Lebewohl zu sagen. Er trug ein Schrecken erregendes Kostüm eines Freischützen. Aus dem scharlachroten Gürtel guckten die Griffe von zwei alten Pistolen, und wie man manchmal noch in tragischen Stunden lachen muß, hatte die Laune irgend eines obskuren Waffenhändlers ihn in sorgloser Unwissenheit an einen mächtigen Kavalleriesäbel gehängt.

»Bitte, Zoë, mache mir keinen Vorwurf aus dieser Redeblüte, sie stammt nicht von mir, du findest sie in einem Brief von Cicero:

›Wer,‹ sagt der Redner, ›hat meinen Schwiegersohn an diesen Säbel gehängt? ‹

»Was mich am meisten in Erstaunen setzte an der Equipierung unseres Freundes Vincent, das war dieser riesige Säbel. In meiner kindlichen Phantasie verband ich damit die Hoffnung auf Sieg. Du, Zoë, schienst den Stiefeln mehr Beachtung zu schenken, denn du sagtest ›sieh da, der gestiefelte Kater!‹

»Hab ich das gesagt? der arme Vincent!«

»Mache dir keinen Vorwurf daraus, Zoë, Madame d'Abrantès erzählt in ihren Memoiren, daß ein kleines Mädchen auch einmal zu dem jungen mageren Bonaparte ›gestiefelter Kater‹ gesagt habe, als sie ihn eines Tages in seinem lächerlichen Aufzuge als General der Republik sah. Bonaparte hat es ihr nie verziehen. Unser Freund war großzügiger und nahm es nicht weiter übel.

»Emile Vincent kam mit seiner Kompagnie zu einem General, der die Freischützen nicht leiden konnte und der zu ihm sagte:

›Es genügt nicht, sich in Maskerade zu werfen, man muß sich auch schlagen.‹

»Unser Freund Vincent nahm diese höhnische Bemerkung ruhig hin. Er benahm sich bewunderungswürdig während des ganzen Feldzuges. Eines Tages sah man, wie er auf die feindlichen Vorposten losging, mit der Ruhe eines Helden, kurzsichtig wie er war konnte er kaum drei Schritte weit sehen, aber nichts hätte ihn bewegen können umzukehren.

»Während der dreißig Jahre, die er noch lebte, dachte er während er seine Bürsten fabrizierte unablässig an diese Monate im Felde. Er las alle militärischen Zeitungen, präsidierte bei den Zusammenkünften mit seinen früheren Waffenbrüdern und war bei allen Denkmalsenthüllungen, die den Kriegern von 1870 und 71 galten, dabei. Er hielt dann flammende patriotische Reden, und hierbei muß ich an eine Szene menschlicher Komödie rühren, deren trübselige Possenhaftigkeit man später einmal begreifen wird. Nämlich im Laufe der Dreyfuß-Affäre hatte Vincent gesagt, daß Esterhazy ein Schuft und ein Verräter sei. Er sagte es, weil er es wußte und weil er viel zu ehrlich war, um aus der Wahrheit ein Hehl zu machen. Aber von diesem Tage an betrachtete man ihn als einen Feind des Vaterlandes und der Armee.

»Er wurde als Verräter und Ausländer behandelt. Der Kummer darüber beschleunigte sein Herzleiden. Als ich ihn das letztemal sah, sprach er von Strategie und Taktik. Das war sein Lieblingsthema. Obgleich er in dem Feldzug von 1870-71 die größte Unordnung und Verwirrung erlebt hatte, war er doch davon überzeugt, daß die Kriegskunst erhaben sei über alle andern Künste. Und ich fürchte, ich habe ihn erzürnt mit meiner Anschauung, daß es eigentlich, richtig genommen, gar keine Kriegskunst gibt, daß man vielmehr während des Krieges alle Friedenskünste anwendet: die Bäckerkunst, die Hufschmiedekunst, die Polizei, die Chemie usw.«

»Warum sagst du auch so etwas, Lucien?«

»Aus Überzeugung, Zoë. Was man Strategie nennt, ist im Grunde die Kunst, welche die Agentur Cook auszuüben pflegt. Sie besteht in der Hauptsache darin, über die Flüsse vermittels der Brücken zu gelangen und über die Berge vermittels der Gipfel. Was die Regeln der Taktik anbelangt, so sind sie gefährlich. Die großen Heerführer richten sich nicht danach. Ohne es einzugestehen, überlassen sie vieles dem Zufall. Ihre Kunst besteht darin, Vorurteile zu schaffen, die ihnen günstig sein können.

»Es ist ein leichtes zu siegen, wenn man für unbesiegbar gehalten wird.

»Nur auf der Karte hat eine Schlacht ein geregeltes Aussehen und wird von einem höheren Willen beeinflußt.«

»Der arme Vincent,« seufzte Zoë. Er vergötterte das Militär. Und ich bin überzeugt wie du, daß er sehr darunter gelitten hat, als die Leute von der Armee ihn als Feind betrachteten. Die Generalin Cartier hat ihn sehr schroff behandelt, obwohl sie wußte, daß er sehr freigiebig war bei militärischen Liebeswerken. Aber als sie hörte, daß er Esterhazy einen Schurken genannt hatte, brach sie alle Beziehungen mit ihm ab, und zwar schonungslos. Als er sie nämlich besuchte, trat sie ganz nahe an die Tür des Zimmers, in welchem er wartete, und rief: ›Sagen Sie, ich wäre nicht zu Hause!‹ Und dabei ist sie eigentlich keine schlechte Frau.«

»Nein, sicher nicht,« erwiderte Herr Bergeret. »Sie handelte aus einem Gefühl heiliger Einfalt, von dem es zu früherer Zeit noch ganz andere bewunderungswürdige Beispiele gab.

»Wir besitzen nur noch höchst mittelmäßige Tugenden. Und der arme Emile ist tatsächlich aus Kummer gestorben.«


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