Anatole France
Der fliegende Händler und mehrere andere nützliche Erzählungen
Anatole France

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Riquet

(Der Umzug – Gedanken eines Hundes)

Der Umzug

Da der Umzugstermin gekommen war, verließ Herr Bergeret mit seiner Schwester das alte, verfallene Haus in der Rue de Seine, um sich in einer modernen Wohnung in der Rue Vaugirard niederzulassen, denn so hatten Zoë und das Schicksal es beschlossen. Während der langen Umzugsstunden irrte Riquet traurig durch die verödeten Räume. In seinen liebsten Gewohnheiten sah er sich gestört. Unbekannte, schlechtgekleidete, lärmende, grobe Leute schreckten ihn aus seiner Ruhe auf. Sie kamen bis in die Küche und stießen mit den Füßen gegen seinen Breiteller und Wassernapf. Und immer wieder zogen sie die Teppiche und Stühle unsanft unter seinem armen Hinterteil fort, so daß er schließlich nicht mehr wußte, wo er sich in seinem eigenen Hause niederlassen sollte.

Wir wollen zu seiner Ehre sagen, daß er zuerst einigen Widerstand versuchte. Als man den Springbrunnen forttrug, hatte er den Feind wütend angebellt. Aber niemand war auf sein Rufen gekommen. Er sah, man ermutigte ihn nicht, im Gegenteil, es unterlag keinem Zweifel, er war der Geschlagene. Fräulein Zoë hatte ihm kurz zugerufen: »Schweig!«, und Pauline hatte gesagt: »Riquet, du machst dich ja lächerlich.«

Daher verzichtete er darauf, unnütze Warnungen laut werden zu lassen und allein für das allgemeine Wohl zu kämpfen. Er beklagte im stillen den Ruin des Hauses und suchte vergeblich von Zimmer zu Zimmer nach ein bißchen Ruhe. Wenn die Umzeugsleute in die Stube kamen, in die er sich geflüchtet hatte, versteckte er sich vorsichtshalber unter einen Tisch oder eine Kommode, die noch da standen. Aber das schadete ihm mehr, als daß es ihm nützte, denn alsbald fing das Möbel über ihm an zu wackeln, hob sich, fiel wieder auf ihn zurück und drohte, ihn zu erdrücken. Mit stierem Blick und gesträubten Haaren nahm er Reißaus und floh in einen andern Versteck, wo es ihm nicht besser erging als das erstemal . . .

Aber diese Unbequemlichkeiten, ja selbst Gefahren, waren nichts im Vergleich mit den Qualen, die sein Herz erlitt. In ihm war das Sittlichkeitsgefühl, wie man sagt, am schwersten verletzt.

Die Möbel der Wohnung waren für ihn nicht tote Dinge, sondern lebende, wohlwollende Wesen, gütige Genien, deren Fortgang schweres Unheil verkündigte. Teller, Zuckerdosen, Herd und Töpfe, alle die Gottheiten der Küche, Stühle, Teppiche, Kissen, alle die Fetische der Wohnräume, seine Laren, seine Hausgötter waren fort. Er glaubte, daß ein so furchtbares Unglück niemals wieder gut zu machen sei.

Das erfüllte ihn mit einem so gewaltigen Kummer, wie ihn seine kleine Seele nur zu fassen vermochte. Glücklicherweise aber war sie gleich der menschlichen Seele leicht zu zerstreuen und bereit, alles Übel zu vergessen.

Während der langen Abwesenheit der Umzugsleute, da der Besen der alten Angelika den alten Staub aus den Winkeln kehrte, spürte Riquet den Geruch einer Maus, verfolgte er die Spur einer Spinne, und seine Gedanken fanden darin eine Zerstreuung. Aber bald verfiel er wieder in seine große Traurigkeit.

Als er am Auszugstage sah, daß die Dinge sich immer mehr verschlimmerten, geriet er in Verzweiflung. Ganz besonders schaurig kam es ihm vor, daß man die Wäsche in dunkle Kisten packte. Pauline legte ihre Kleider mit froher Hast in einen Koffer, und Riquet wandte sich von ihr ab, als begehe sie eine unrechte Handlung. Er kauerte sich in einen Winkel und dachte – das ist das Schlimmste von allem!

Sei es nun, daß er glaubte, die Dinge hörten auf zu sein, wenn er sie nicht mehr sehen konnte, sei es, daß er nur einen peinlichen Anblick vermeiden wollte, er blickte absichtlich nicht nach der Seite hin, wo Pauline war. Zufällig bemerkte sie beim Hin- und Hergehen Riquets Stellung. Die war kläglich genug, aber Pauline fand sie komisch und fing an zu lachen. Und lachend rief sie: »Komm, Riquet, komm!« Aber er rührte sich nicht und wandte nicht einmal den Kopf. Ihm war in diesem Augenblick nicht danach zumute seine junge Herrin zu liebkosen, und in geheimem Instinkt, aus einer Art böser Ahnung heraus, hatte er Furcht, sich dem gähnenden Koffer zu nähern. Mehrere Male rief sie ihn, und als er nicht kam, nahm sie ihn auf den Arm.

– – »U je,« sagte sie, »wie unglücklich ist er! Wie muß man ihn bedauern!«

Das sagte sie ironisch. Aber Riquet verstand keine Ironie. Er lag teilnahmslos und tot in Paulines Arm und tat, als sähe und höre er nichts.

»Riquet, schau mich an!«

Dreimal kam die Mahnung, aber dreimal vergebens.

Da simulierte Pauline einen heftigen Zorn, und mit den Worten: »Verschwinde, dummes Tier« warf sie Riquet in den Koffer und klappte den Deckel zu.

Da ihre Tante sie gerade in diesem Augenblick rief, ging sie aus dem Zimmer und ließ Riquet im Koffer.

Er war sehr in Sorge und, weit davon entfernt, zu vermuten, daß er nur aus Spielerei und zum Spaß in den Koffer gesperrt sei, bemühte er sich, die ohnehin schon recht fatale Situation nicht noch durch seine eigene Unklugheit zu verschlimmern. So verhielt er sich einige Augenblicke ganz regungslos und wagte nicht zu atmen. Dann erschien es ihm nützlich, sein finsteres Gefängnis zu erforschen.

Er betastete mit seinen Pfoten die Unterröcke und Hemden, auf die man ihn in so erbärmlicher Weise geworfen hatte, und suchte nach einem Ausgang aus dem verhängnisvollen Ort. Er machte sich schon seit zwei oder drei Minuten damit zu schaffen, als Herr Bergeret zum Ausgehen gerüstet ins Zimmer trat und rief:

»Komm, Riquet, komm! Wir wollen am Kai spazieren gehen. Dort ist die wahre Ruhmesstätte. Man hat da einen Bahnhof gebaut von geradezu erhabener Mißgestalt und auffallender Häßlichkeit. Die Architektur ist eine verloren gegangene Kunst. Man demoliert das Haus an der Ecke von der Rue du Bac, das so gut aussah. Natürlich wird man dafür irgendeinen häßlichen Neubau hinsetzen. Wenn die Architekten doch wenigstens nicht an unserem Quai d'Orsay den barbarischen Stil einführen wollten, von dem sie auf den Champs Elysées an der Ecke der Rue de Washington ein so fürchterliches Beispiel gegeben haben . . . Wir wollen am Kai spazieren gehen. Dort ist die wahre Ruhmesstätte. Aber die Architektur ist sehr herabgekommen seit Gabriel und Louis . . . Wo ist der Hund? . . . Riquet! Riquet!« Herrn Bergerets Stimme war ein großer Trost für Riquet. Er antwortete, indem er mit seinen Pfoten wie toll gegen die Seitenwände des Weidenkorbes kratzte.

»Wo ist der Hund?« fragte Herr Bergeret Pauline, die eben mit einem Stapel voll Wäsche im Arm zurückkam.

»Er ist im Koffer, Papa.«

»Was? er steckt im Koffer, warum denn das?« fragte Herr Bergeret.

»Weil er dumm war,« antwortete Pauline.

Herr Bergeret befreite seinen Freund, und Riquet folgte seinem Herrn schwanzwedelnd in den Hausflur. Da fuhr ihm ein Gedanke durch den Kopf. Flugs kehrte er um, lief zu Pauline zurück, stemmte sich mit den Vorderpfoten gegen ihre Kleider, und erst nachdem er sie zum Zeichen der Anbetung wie toll geküßt hatte, holte er seinen Herrn auf der Treppe ein. Er hatte geglaubt, es an Klugheit und Verehrung haben fehlen zu lassen, wenn er einer Person, die die Macht besaß ihn in einen tiefen Koffer zu versenken, nicht seine Liebe bezeugt hätte.

Auf der Straße bot sich Herrn Bergeret und Riquet das erbärmliche Schauspiel dar, daß ihre Möbel auf dem Trottoir herumstanden.

Während die Umzugsleute in der Gaststube an der Ecke ein Glas Bier tranken, spiegelte Fräulein Zoës Schrank die Vorübergehenden wieder: Arbeiter, Schüler der Beaux Arts, junge Mädchen, Kaufleute, Wagen und Karren und die Apotheke mit den farbigen Pokalen und dem Äskulapstab. Gegen einen Grenzstein gelehnt, lächelte Großvater Bergeret in seinem Rahmen mit seiner sanften Miene in dem feinen blassen Gesicht unter den flatternden Haaren. Herr Bergeret betrachtete seinen Vater mit liebevoller Ehrerbietung und setzte ihn vom Grenzstein weg. Er stellte auch den kleinen Nipptisch von Zoë, der aussah, als schäme er sich, auf der Straße zu sein, an einen sicheren Ort.

Indessen kratzte Riquet mit seinen Pfoten an den Beinkleidern seines Herrn und blickte ihn aus seinen schönen, traurigen Augen an, als wollte er sagen:

»Solltest du, der du einst so reich und mächtig warst, arm geworden sein? Solltest du machtlos geworden sein, teurer Herr? Du läßt Leute, die in Lumpen gekleidet sind, in dein Wohnzimmer dringen, in dein Schlafzimmer, in dein Speisezimmer, läßt es zu, daß sie über deine Möbel herfallen und sie hinausschleppen. Deinen bequemen Lehnstuhl, in dem wir alle Abend ausruhten und auch manchmal morgens dicht nebeneinander, den haben sie auf die Treppe geschleppt. Ich hörte, wie er unter den rauhen Griffen der schlecht gekleideten Leute seufzte, unser guter, alter Lehnstuhl, der ein großer Fetisch ist und ein gütiger Geist. Du hast dich diesen Eindringlingen nicht widersetzt. Wenn dir keine der Genien bleibt, von denen deine Wohnung voll war, nicht einmal die kleinen Gottheiten, die du jeden Morgen, wenn du aus dem Bette sprangst, an deine Füße zogst und in die ich spielend hineinbiß, wenn du so arm, so elend bist, o Herr, was soll dann aus mir werden?«

Gedanken eines Hundes

1.

Die Menschen, Tiere und Steine werden immer größer, je mehr man sich ihnen nähert, und sie sind kolossal, wenn sie sich über mir befinden. Ich bleibe hingegen immer gleich groß, wo ich auch sei.

2.

Wenn mein Herr mir unter dem Tisch einen Bissen reicht, den er in seinen Mund stecken will, so tut er das, um mich auf die Probe zu stellen und um mich zu strafen, wenn ich der Versuchung unterliege. Denn ich kann nicht glauben, daß er sich meinetwegen beraubt.

3.

Der Geruch der Hunde ist deliziös.

4.

Mein Herr hält mich warm, wenn ich hinter ihm in seinem Lehnstuhl liege. Das kommt daher, weil er ein Gott ist. Vor dem Kamin befinden sich Marmorfliesen, die ebenfalls warm sind. Diese Fliesen sind göttlich.

5.

Ich spreche, wenn es mir beliebt. Aus dem Munde des Herrn kommen auch Töne, die einen gewissen Sinn haben. Aber es ist lange nicht so deutlich zu verstehen wie das, was ich durch den Laut meiner Stimme ausdrücke. In meinem Munde hat alles einen Sinn, aus dem Munde des Herrn kommt sehr viel überflüssiges Geräusch. Es ist schwer, aber notwendig, die Gedanken des Herrn zu erraten.

6.

Essen ist gut. Gegessen haben ist besser. Denn der Feind, der auf der Lauer liegt, um einem das Futter zu entreißen, ist schlau und flink.

7.

Alles vergeht und hat ein Ende, nur ich bleibe.

8.

Ich befinde mich stets im Mittelpunkt, und Menschen, Tiere und Dinge umgeben mich, wohlgesinnt oder feindlich.

9.

Im Schlaf sieht man Menschen, Hunde, Häuser, Bäume, angenehme und schreckliche Gestalten. Wenn man erwacht, sind diese Gestalten verschwunden.

10.

Betrachtung. Ich liebe meinen Herrn, denn er ist mächtig und schrecklich.

11.

Eine Tat, für die man geprügelt wird, ist eine schlechte Tat. Eine Tat, für die man Liebkosungen oder Futter empfängt, ist eine gute Tat.

12.

Wenn die Nacht hereinbricht, streichen böse Mächte um das Haus. Ich belle, damit mein Herr aufmerksam wird und sie verjagt.

13.

Gebet. O mein Herr, blutiger Gott! ich bete dich an. Schrecklicher, sei gepriesen! Großmütiger, sei gelobt. Ich krieche zu deinen Füßen, ich lecke deine Hände. Du bist gewaltig und schön, wenn du am besetzten Tische große Massen von Fleisch verschlingst. Du bist gewaltig und schön, wenn du vermöge eines winzigen Hölzchens eine Flamme hervorspringen läßt und die Nacht in Tag verwandelst. Behalte mich in deinem Hause und lasse jeden anderen Hund daraus verbannt sein. Und dich, Angelika, Köchin, erhabene, gütige Göttin, dich will ich fürchten und verehren, damit du mir recht viel zu fressen gibst.

14.

Ein Hund, der sich der Menschen nicht erbarmt und der die Fetische, die sich in dem Hause seines Herrn befinden, verachtet, führt ein unstetes, elendes Leben.

15.

Eines Tages machte eine undichte Wasserkanne, die durch den Salon kam, das gewachste Parkett naß. Ich denke mir, diese unsaubere Wasserkanne hat eine tüchtige Tracht Prügel bekommen.

16.

Die Menschen besitzen die göttliche Macht, alle Türen zu öffnen. Ich kann allein nur eine ganz kleine Zahl öffnen. Die Türen sind große Fetische, die uns Hunden ungern gehorchen.

17.

Das Leben eines Hundes ist voll von Gefahren. Um Unfälle zu vermeiden, muß man stets auf der Hut sein, selbst beim Essen und sogar während des Schlafes.

18.

Man weiß nie, ob man es den Menschen recht macht. Man soll sie verehren, ohne zu versuchen, sie verstehen zu wollen. Ihre Weisheit ist geheimnisvoll.

19.

Beschwörung. O Furcht, erhabene mütterliche Furcht, heilige, heilsame Furcht, erfülle mich ganz in dem Augenblick der Gefahr, damit ich vermeide, was mir Schaden bringen kann, auf daß ich mich nicht auf den Feind stürze und meine Unklugheit bereuen muß.

20.

Es gibt Wagen, die von Pferden durch die Straßen gezogen werden. Sie sind schrecklich. Es gibt aber auch Wagen, die ganz allein laufen und dabei laut schnaufen. Sie meinen es ebenfalls böse mit uns. Zerlumpte Menschen soll man hassen und solche, die Körbe auf dem Kopf tragen und Fässer vor sich herrollen. Ich kann die Kinder nicht leiden, die unter großem Geschrei auf der Straße Kriegen und Verstecken spielen. Die Welt ist voll schädlicher, furchtbarer Dinge.


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