Irene Forbes-Mosse
Der kleine Tod
Irene Forbes-Mosse

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»Der kleine Tod«

von

Irene Forbes-Mosse

 


 

S. Fischer, Verlag, Berlin
1912

 


 

        Den kleinen, kleinen Tod, den stürb ich gerne,
Am Abend tot, beim Licht der ersten Sterne,
Am Morgen aber wieder auferwacht,
So wüßt ich, wer da weint und wer da lacht;
So wüßt ich, ohne einen drum zu fragen,
Die Namen aller, die mich tief beklagen.

Gestorben sein und auf der Treppe stehen,
Und sehn, die mir mein Totenkleidchen nähen,
Gestorben sein, und alles doch bedenken,
Und alle kennen, die mir Blumen schenken:
Und wer das Kreuz mir trägt, ich würd es wissen,
Und wer mir weinend schmückt das Sterbekissen.

(Aus dem Toskanischen)

 

Als Frau Hilaria an jenem Abend ihren Augen im Spiegel begegnete, biß sie sich auf die Lippe. Denn ihre Augen sahen sie an, wie Freunde, die alles verstehn: da war eine Hoffnung, eine Angst, etwas, das mit einem kleinen heißen Punkt im Herzen anfing und sich rieselnd ausbreitete, über Hals und Brust, die fröstelnden Arme entlang bis in die Fingerspitzen; als säße man in einem bald eisigen, bald glühenden Netz. Schmerzhaft war's und wie Betrunkensein, die Augen wurden ihr naß und brannten die Tränen doch gleich wieder auf. So, ganz ähnlich, war ihr neulich zu Mute gewesen, als Ellinors Kleinstes mit den winzigen Händchen sie angefaßt hatte, ihre Schultern, ihre leise schauernde Brust.

Früher, ah, da hätte sie gedacht, das sei für alle Ewigkeit; und ebenso bestimmt würde sie gemeint haben, ihr Gefühl müsse Antwort finden. Denn mit tausend flimmernden Fädchen hätte ihre Seele nach der andern gelangt, sich mit ihr in denselben Wassern gefunden, um ihr unentbehrlich zu werden stromauf 10 und stromab. Und überhaupt, hätte sie gedacht, solches Hinauslangen auf den ersten Blick, das müßte gegenseitig sein; da seien zwei Elemente, die zueinander wollten, und ob sie vom Nordpol oder vom Südpol kämen, einmal würden sie sich begegnen. Ihr wär nicht bang gewesen um ein gutes Ende, damals; sie hätte das neue Leben lustig wuchern lassen in ihrem Herzen. Ach, mit tausend flimmernden Nerven hatte sie's ja immer gespürt und geliebt: das laute und das leise, Stunden wie überfließende Brunnenschalen und andere wie zartes Erstarren; Schmerz um schöne, stolze Menschen, die Unsägliches erlitten ohne viel Wesens draus zu machen, dieser Schmerz, der zuerst war, als würde man nun in allen wachen Stunden ein rotglühendes Eisen in den Händen tragen – und dann zu etwas Stillschützendem geworden war, das die kleinen Sorgen nicht einließ. Ach aber auch die grauen Tage, ganz ereignislos aber so freundlich, sie waren gut gewesen . . . Was war das nun, warum rief es in ihr, etwas Unerlöstes, das aus dem Dunkeln langt, eine Sehnsucht, wie Stadtkinder sie haben mögen, wenn sie am Rande großer Wiesen voll Juniblumen stehn . . .

In den Nächten, die folgten, lag sie oft wach, ohne 11 sich zu rühren; es war nichts Quälendes dabei, bewahre, die Schlaflosigkeit hob und trug sie wie eine sanftbewegte See. Sie hatte ja auch sonst solche traumhaften Stunden. Dann war ihr, als ginge sie eine Zimmerflucht entlang, breite Sonnenstrahlen lagen auf dem altertümlichen Parkett, der vergessne Hausrat ihrer Kindheit stand umher, an den Wänden . . . Nun sah sie fremde Räume auftauchen, Dinge, die ihr eignes Leben hatten, von dem sie nichts wußte . . . aber sie hatte solchen Wunsch, sich mit allem zu befreunden, mit den Tischen und Schränken und den Büchern in den Schränken und den Bildern an der Wand; ihre Hände wurden ganz sehnsüchtig. Allein ging sie herum von einem zum andern – allein, ja, aber sie fühlte deutlich, einer war nicht fern, sie brauchte sich nur umzuwenden, sie hörte, wie im nächsten Zimmer, beim Lesen, das Buch knisterte; oder er schrieb, etwas Kühnes, etwas Hilfreiches, die Feder lief, blieb stehen, wie ein kleines, nachdenkliches Tier . . . dann stand er auf, etwas nachzuschlagen; würde er hereinkommen? Wie war dies süß und spannend, die Erstarrung, das Warten! . . .

Doch nun bewegte sie den Kopf ein wenig auf dem Kissen und ein kältender Hauch fuhr ihr übers 12 Herz, genau wie man Kindern übers Händchen bläst: Heile – Heile! daß sie sich umsah und tonlos sagte: »ach Gott, das wird ja auch vorübergehn.« Und im selben Augenblick war die Farbe aus allen Dingen wie weggesogen, nichts schwamm und flimmerte mehr, sie sah's auf einmal, so fahl umrissen, im Morgengrau: ihre Träume und Vorstellungen, die Blumen auf dem Toilettentisch, und ihre eignen Hände auf der weißen Wollendecke, sanft hingestreckt und ganz verlassen.

Es waren gewiß viel schöne und gute Dinge auf der Welt. Auch was man so »erstrebenswert« nennt. Aber sie hatte nie die Kunst verstanden, sich ein X für ein U zu machen. Da war die Wohltätigkeit; ach sollte man sie nicht lieber Gerechtigkeit nennen? denn was war das schließlich anders, als Ordnung stiften? Wie man Staub entfernt, schiefe Bilder geraderückt: aber Liebe, das erst war der Nelkenstock am Fenster.

Doch wie die Tage weitergingen, wuchs ihr eine Ahnung, daß es das Leben gut mit ihr meine; und allmählich wurde ihr Träumen anders, von Wirklichkeit durchschimmert, und was in Wirklichkeit um sie her stand, war seltsam träumerisch geworden.

Eine süße Faulheit legte sich über sie, und das 13 grade war, als hätte man der Weisheit letztes Wort gefunden. Einem goldnen Ahornblatt, das in sanfter Drehung durch die Luft segelte, konnte sie zusehen, als sei da die Erfüllung eines stillen, glücklichen Schicksals; in den Augen armer Frauen, die abends, in den Haustüren, das Bübchen auf dem Arm, auf den Mann warteten, standen nun so viel schwesterliche Dinge; ja, sogar der Geruch von geröstetem Kaffee im Hof sprach von dem guten Willen irdischer Einrichtungen: es war, als flöge Güte und Ergriffenheit durch die Straßen, wie an Frühlingsabenden der Blütenstaub ferner Bäume.

Kleine Lieder und Sprüche kamen ihr in den Sinn, an die sie seit hundert Jahren nicht gedacht . . . Ein Verschen besonders, das sie als Kind gelernt, konnte sie vor sich hinsummen:

»Alles Fleisch, alles Fleisch,
Alles Fleisch vergeht geschwinde,
Wie ein Hauch, wie ein Hauch,
Wie ein Hauch entführt vom Winde,«

um zum Schluß, halb gerührt, über diese pessimistische Weisheit zu lachen . . . Und einmal las sie den Satz: »Eusèbe avait déposé sa volonté sur l'étagère de sa maîtresse, avec d'autres chinoiseries.« O Eusebe, 14 weisester der Menschen! dachte sie und ihre Augen lachten.

Übrigens nahm sie nur noch selten ein Buch zur Hand, sie, die sonst Bücher und Zeitschriften verschlungen hatte. Nur ab und zu griff sie nach einem alten, vertrauten Bande und schlug nach, ob wohl die Worte noch dieselben seien. Neue Ereignisse kümmerten sie nicht; es waren stille, einfache Dinge, die auf einmal wertvoll geworden und sagten: Du gehörst uns an.

»Und dann,« dachte sie, »wenn ich auch noch so viel lesen und lernen wollte, ich wäre ja doch zu dumm für meinen klugen Schatz. So will ich nicht sorgen um die geistigen Scheuern. Aber wenn mir ein freundlicher Gott einen Wunsch freigäbe, o so möchte ich wohl Tag und Nacht schön sein, ja, und hätte ich auch bloß noch einen Tag und eine Nacht zu leben.«

Aber was sie schön sein nannte, war, ihr selber unbewußt, ein kompliziertes Verfahren. Eine leise, fast unwillkürliche Seelengymnastik gehörte dazu, ein Auf und Ab von überströmender Teilnahme, die alles an sich zieht in tiefem, unbegrenztem Wohlwollen, und von zartem, unerbittlichem Geschmack, der einen Augenblick nur zaudert, dann aber zufährt, wählt und 15 ablehnt. Bange war sie nicht mehr, nein, sie nahm das Gute im voraus hin, als gehöre sich das nicht anders, im Traumland, wenn es so golden daliegt im Duft. »Das Wunder wird geschehn,« dachte sie: »er selbst kann nicht dafür. Und es ist sein Teil, mich zu beschenken, wie es mein Teil ist, daß ich mich von ihm beschenken lasse; und wie gut, daß es so steht, denn mich dünkt Nehmen seliger denn Geben, wenn es der Rechte ist, der mich beschenkt . . .«

Doch hinter dem goldenen Dunst stand die knappe, zierliche Göttin Vernunft und blinzelte ihr zu, ein freundlich-spottendes Spükchen. Denn da war ein Tropfen in ihr, der ganz rein und unverfälscht aus dem Jahrhundert des Zweifels in ihr sehnsüchtiges Blut hinübergeflossen war.

»Ewig währen wird es nicht« – sprach es in ihr; »nein, der Tag wird kommen, daß er, für den du all deine kleinen, rührenden Leimruten aufstelltest, das arme Labyrinthchen erforscht haben wird. Ach, und die süße Neugier ist nun einmal der Schaum auf dem Trank der Liebe. Diese Erkenntnis ist Brückenzoll, den wir dem Leben zahlen.« »Was tut's,« klang es zurück, »wär es auch eine einzige Stunde, die mir beschieden; aber die – – ganz glücklich, ganz golden; 16 hundert graue Jahre sollten sie mir nicht wieder aus dem Blute stehlen.«

*

Vielleicht sind jene am weisesten, die Erinnerung an vergangne, glückliche Zeit wie arges Gift behandeln, in versiegeltem Büchschen mit »Vorsicht« und Totenkopf ins tiefste Schubfach versenken und den Schlüssel zweimal umdrehn. Aber wir wissen auch von der Königstochter, die ihr Herzeleid, das um so schwärzer schien, weil das verlorne Glück wie Abendgold dahinterstand, in den Ofen klagte, wovon ihr viel Erleichterung ward. Und wenn es auch kein bittres Herzeleid ist; einem jeden ist wohl einmal so zu Mut gewesen, ob er nun unter einem großen Baum saß, der in der Krone friedlich säuselte, oder im dämmernden Stall den Kopf an den warmen Hals eines sanft schnobernden Tieres lehnte . . . als müsse da etwas sein, das verstünde, so wie oft ganz einfache alte Frauen verwickelte Dinge verstehen und das Zerzauste glatt streichen – Su – su, eine leibliche Zuversicht ausströmend, die besser hilft als alle Vernunft.

Aus solchen Stimmungen heraus entstanden diese Blätter, die keinen eigentlichen Empfänger hatten, es sei denn der goldene Wagen am Nachthimmel 17 gewesen, zu dem Hilaria gerne aufblickte. Denn der war das einzige Sternbild, das sie sich je hatte merken können, und darum, und seines Namens wegen, wählte sie's zum Leitstern ihres wanderfrohen Lebens, das sich doch beinah schmerzlich an allerhand Winkel dieser Erde festklammern konnte, allüberall, wo es eine süße Heimat ahnte.

So schrieb sie, wie's ihr durch den Sinn schlüpfte, auf lose Bogen hin, die in ein tiefes Schubfach wanderten wie in einen geheimnisvollen Postkasten hinein, den der Zufall ausleeren mochte, wenn die Zeit erfüllet war. Tief unten in ihrer Seele, wie ein schlummerndes Cocon, lag ihr der Wunsch, daß er, der allmählich an die Stelle des himmlischen Gestirns gerückt war, einstmals diese Blätter lesen möchte: denn immer noch spukte das in ihrem Herzen, was sie Vernunft zu nennen beliebte, und sie meinte dann deutlich zu fühlen, daß ihr allzu großes Glück nicht lange währen könne. Und deshalb . . . so einen kleinen, ganz kleinen Seelenstich wollte sie ihm versetzen – ach, sie wollte nicht ganz vergessen sein.

Ähnlich hatte sie sich schon als Kind ihren ehrenvollen Abgang ausgemalt: wie erschüttert die Eltern und die Lehrer sein, wie bitter sie sich vorwerfen 18 würden, so übertriebne Forderungen auf dem Gebiet der Wissenschaft an sie gestellt zu haben, was natürlich an dem hitzigen Fieber schuld gewesen, dem sie nun, jung und hilflos, erlag. Aber sie war ja nur scheintot und erhob sich um Mitternacht in vorwurfsvoller Glorie, und verzieh ihnen allen mit der erdrückenden Großmut einer Halbverklärten. Und nie, nie wieder brauchte sie den spanischen Erbfolgekrieg zu lernen oder sich den Kopf zu zerbrechen, was wohl ein Romboid sei.

Und nun wars das süße toskanische Liedchen, das in ihrem Kopf summte, wenn sie, verschwiegen und eilig, einen Bogen bekritzelte: »vorrei morir di morte piccinina« . . . ach ja, den Tod erleiden, aber nur den kleinen, wo man sich übers Geländer beugen und die Leidtragenden zählen kann, ihnen eine kleine Grimasse macht oder einen Kuß zubläst . . . Je nachdem.

Diese Aufzeichnungen enden plötzlich, ohne rechten Schluß, gleichsam auf der Dominante. Ob ein äußerer Anlaß, wie sie das Leben in seinem Überraschungskasten bei sich führt, daran schuld war? Der harte Ton eines zufallenden Wagenschlages vielleicht, das wehe Gefühl: wozu nun alles, es ist ja vorbei, alles ganz leer geworden? Hat der heimliche Adressat 19 dieser Blätter sie gefunden und, ihrem Wunsch gemäß, in milder Seelenqual gelesen? Hat sie selbst eines Tages darin gesucht, am Ende beginnend, wie man einen Weg zurückgeht, auf dem man was Liebes verlor? Ach, es gibt Hände, die taugen nicht zum Halten. Was ihnen auch wird, sie geben es leicht her. Aber wenn das Leben schwer ist, sollte man's nicht desto leichter nehmen? Und man kann im Vorbeigehn an einer Blume riechen und mehr davon heimtragen, als von einem ganzen Strauß, der im Zimmer steht, bis er welk geworden.

. . . Aber vielleicht ist es ganz anders gekommen, und sie haben beide, mit dem weichen, nachsichtigen Gelächter derer, die einander nie wieder verlieren können, die keiner Labyrinthe, keiner künstlichen Dämmerung bedürfen in der goldnen Selbstverständlichkeit ihres Glücks, die Blätter zusammen umgedreht, bis sie ihm das Heft entriß »nein nein, du darfst nicht, ich schäme mich so« . . . wobei das Windlicht umfiel, daß er nicht weiterlesen konnte und sie stumm, wie verzaubert, dasaßen in Tau und Sternenlicht; während die braunen Eulchen ihr fragendes »Tiu«, und die Kröten ihren zarten, wässrigen Triller hinaussandten in die Nacht, in die duftende, tönende südliche Nacht . . . 20

 


 


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