Irene Forbes-Mosse
Der kleine Tod
Irene Forbes-Mosse

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Neulich sagte jemand: das Feuer im Kamin geht aus, wenn die Sonne darauf scheint; sie sei eifersüchtig auf die Flamme, darum brächte sie's um. Oh du mein armes Feuerchen, und ich habe dich doch so nötig, denn auf die Neidischen ist kein Verlaß! 195

 

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Nun hat der Winter kaum angefangen, und ich denke schon ans Frühjahr. So das Allererste, das Reizendste von allem. Wie Neigung, wenn noch kein Wort gesprochen ist. Aber der kleine Schauer in den Fingerspitzen . . . herüber zu mir, hinüber zu dir?

Ein Jahr, da war Ostern ganz früh. Ich reiste an den Comer See. Überall lagen dürre Blätter, wo wir fuhren, an den Hängen, in den Gräben, und die Eichen trugen noch ihr Winterlaub. Aber wenn der Zug hielt, hörte man die Vögelchen piepsen, und der Frühling roch herein in die offenen Wagenfenster. Dann, etwas weiter, fingen die Primeln an, kleine, dicke, gelbe Kissen, zwischen dem dürren, knisternden Laub hervor, an den Abhängen bis hinunter, wo der Bach wie in einem Hohlweg zwischen Ranken und Gestrüpp hindurchschlüpfte. Junge, klebrige Knöspchen, junge, weiche Hälmchen, es fing eben erst an, die alte, entzückende Geschichte, nichts als Rebellion und Freigebigkeit . . . An sanften Berglehnen, die allmählich zu weiten Flächen wurden, kam der Zug vorbei. Dort war einmal Hochwald gewesen. Aber nun standen nur ein paar alte Invaliden krumm und gebückt, und die 196 Sonne streichelte ihre Knorren, und der Wind raschelte in ihrem zerzausten Schopf.

In dem Dörfchen über dem See blühten die Obstbäume zwischen den grauen Dächern. Kleine Gemüsegärten und Grasflächen waren so absonderlich zwischen Terrassen und Mauern und Altanen eingeklemmt; Hühner spazierten, wo man sie nie erwartet hätte, Ziegen grasten neben moosgelben Dächern und sahen den Leuten zu den Fenstern hinein. Es waren da plötzliche Abgründe; ein enges, düstres Gäßchen auf einer Seite und eine Berglehne auf der andern, und eine Terrasse mit schöner Brüstung und einem Brückchen, wo Frauen kamen und gingen, zwischen Blumentöpfen und Katzen und flatternder Wäsche. Und die alten Frauen trugen noch den Halbkreis von silbernen Nadeln um den schmalen Hinterkopf.

Gegen Abend sollte Prozession sein. Auf dem grasbewachsnen Platz vor der Kirche sammelten sich die Einwohner. Drinnen im Halbdunkel knieten sie, und im Hintergrund murmelte ein Priester Gebete: wie ein großer gefangner Brummer, der bei jedem Absatz gegen die Fensterscheibe stößt; man wurde so selig schläfrig dabei. 197

Aus den Häusern, über Brückchen und schmale Treppchen herab kamen allerhand Figürchen getrippelt, zwei und zwei, oder einzeln, in frischgebügelten Kleidchen. Einige hatten goldne Papierflügel an die Schultern befestigt. Schon vorher hatten wir ein kleines Wesen am Fenster stehn sehn, hinter einem buschigen Nelkentopf; das Haar in vielen Papilloten gen Himmel starrend. Nun war die Lockenfülle zur Ehre Gottes offenbart, das kleine Medusenhaupt zum himmlischen Seraph geworden. Die ungewohnte Herrlichkeit, das Blumenkörbchen am Arm, oder gar ein kleines silbernes Bracelett – das alles benahm ihnen den Atem.

Wir saßen auf dem Mäuerchen, das den Kirchplatz über dem Abhang einfaßt. Unter uns wogten die Mandelbäume, und hier und da leuchtete ein Pfirsichbaum, schmerzhaft schön. Und der Himmel war wie eine große, rosige Muschel, mit schillernden Flöckchen nach Westen zu, so viel weicher als am Vormittag in seiner tiefen sprichwörtlichen Bläue . . . Wir hatten Orangen und Feigen gekauft, sie lagen neben uns auf der Mauer. Damit lockte ich das mutigste Engelchen, einen kleinen Rotkopf, herbei: das nahm eine Orange und lief damit zu den andern. 198 Dann kamen zwei größere, schwarzhaarige heran und nahmen auch ein paar Früchte; dann andre, bis sie uns endlich alle umstanden, und mir, angesichts der schwindenden Vorräte, himmelangst wurde, wie wir Cherubim und Seraphim befriedigen sollten. Aber es lief gut ab, denn eine fürchterliche Blechmusik schmetterte los, die himmlischen Heerscharen wurden abberufen und traten in Reih und Glied, grüne und weiße Blättchen streuend, dem Baldachin voran, unter dem der Priester ging, nun ganz schimmernd und prächtig, und eine große goldne Sonnenblume in Händen trug, vor der sich alle Menschen neigten. Ein Engelchen ging an der Mutter Hand im Zuge, es war noch gar so klein. An den Weinbergen zogen sie hinab, dem See zu, die Kerzen flammten silbrig in der klaren Luft; zweimal noch sahen wir sie auftauchen, die Blechmusik schallte herauf, noch einmal, aber nun viel leiser . . . so verschwanden sie. Wir blieben auf dem Mäuerchen sitzen, es war alles still; ein eingeschloßnes Zicklein meckerte kläglich, und ein Duft von geschmolznem Wachs war in der Luft geblieben.

Ja, dies war bisher meine einzige Begegnung mit Himmelsbewohnern, und ihr Appetit war gottlob auf irdische Speise gerichtet. So mögen sie mir's 199 gedenken und mir immer gnädig sein. Nun mag ich heute nichts mehr schreiben, nur wünschen, du seiest bei mir. Aber das ist auch nichts Neues mehr . . .

 

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Zwanzigster Dezember.

Nun stehn die großen Pappeln mit kahlen Kronen, die Mistelbüsche werden sichtbar; braune Vögelchen schlüpfen durch die Hecken.

Jorinde schreibt vom Weihnachtsoratorium, von den Proben. Neulich hat sie dich aus der Ferne gesehn; sie sagt das nebenher, aber ihr ganzer Brief ist ja doch nur das Kokon, in dem dies kleine Erlebnis ruht . . .

Wenn ich mitten drin bin, hat das »Deutsche« oft so was Erstickendes. So viel Doppelfenster und Polizeiverordnungen, und dann soll's auch immer noch »sinnig« sein. An schrecklichen vierstöckigen Backsteinhäusern steht »Dein Haus sei deine Welt«, und zu Weihnachten gibt es »Christengel mit Edelknabenfrisur«. Chokolade wird mit S geschrieben, als gehörte sie zu den »einheimischen Hackfrüchten«, und 200 dann sind da die Alldeutschen und die Reformwäsche, das Prädikat Exzellenz und der »Komfort der Neuzeit«. Und noch so vieles andre.

Fürchterlich. Ja, aber der Schnee, die stillfunkelnden Wege, das Weihnachtsoratorium:

»Diese kleine Herzensstube
Ist kein hoher Fürstensaal –«

ach, du lieber Gott! . . .

Hier an der Südmauer blühn noch die Safranrosen, spitze, längliche Knospen mit roten Außenblättchen. Aber ich muß heut immerzu an den Schnee denken, wie gut der riecht, wenn er frühmorgens am Fensterrahmen liegt, fest angeschmiegt wie eine weiße Katze . . .

 

Du dort, ich hier! Aber irgendwo in der Welt kann ich dich doch finden, fändest du mich immer. Trennung, Mißverstehen, Demütigung – oh was bedeutet das alles? Man hofft so viel, man vergißt so viel, und es ist doch immer Wachstum . . . Aber wenn der Tod spricht? Niemals wieder, nie – mals – wie – der – das ist das ganz Furchtbare.

*

»Es ist ein Eisenbahnunglück bei London gewesen. Die Wagen waren so zertrümmert, daß die Ärzte die 201 Holzteile zu Splintern beim Verbinden gebraucht haben. Ein Mann zog ein junges Mädchen mit eingedrückter Brust unter einem Wagen hervor. Da bat sie ihn: ›Küssen Sie mich, damit ich fühle, daß mich jemand auf der Welt lieb hat.‹ Der Mann hat sie geküßt; und wie sie dann tot in seinen Armen hing, sind ihm die Tränen aus den Augen gestürzt« –

Ja, so redet der Tod. Und da wird alles auf einmal so furchtbar einfach.

 

Abends:

Ich war bei der kleinen Gärtnersfrau, die früher bei mir gedient hat. Der Weg zwischen niedern Mauern ging so leicht und frei über die Höhen, unter mir, zu beiden Seiten, das weite Hügelland, eine graue seufzende See.

Ich saß ein Weilchen in dem tiefen Herd, über mir der Rauchfang, der ein verwittertes Wappen trägt. Der rote Abendschein fiel auf den großen Tisch, das Frauchen bügelte, ihr schönes Haar leuchtete auf; die Bohnen summten im Topf.

Wenn man nicht recht ein und aus weiß, und hat Tränen in der Kehle, ist's bei so einfachen Menschen am besten. Sie tun ihre Arbeit, fragen nichts . . . allmählich schwindet die Last. 202

Auf dem Heimweg wie funkelte die Stadt im Dunst, tief unter mir, oh so schmerzhaft schön. Ja, der Schmerz, der das Herz wehrlos macht, schärft die Sinne; und dann schneidet Schönheit wie ein scharfes Messer und bleibt unvergeßlich.

 

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        Oh sous le vert platane,
Sous les frais coudriers,
   Diane
Et ses grands lévriers!

Das las ich heute. Was braucht es da der Bilder und Beschwörungen, um einen zartverwilderten Garten herzuzaubern, stolztraurig wie eine verlassene Königsgeliebte . . . im Walde verklingend . . . mit Spuren schmaler, eiliger Sohlen auf den Wegen . . .

Alle die Gärten, die nicht mehr sind! Zu Feld und Gras geworden, ganz friedlich; mit Bienen in den Rispen und Wolkenschatten drüberhin. Nur ein schöner Sandsteinbogen sagt: ich war der Eingang . . . 203

 

41

Eines Tages sagte Jorinde zu mir und lächelte dazu, wie nur so ein Puritanerteufelchen lächeln kann: Nun will ich dir ein paar Worte des zeitlichen Lebens sagen, die bewahre gut, denn ich werde sie gewiß vergessen. Also: Man soll reinen Wein und reines Wasser trinken . . . Man soll sein Wirtschaftsbuch nicht an dem Tisch durchrechnen, an dem man seinem besten Freunde schreibt. Und man soll nicht am selben Tag einen langweiligen Besuch machen oder »mal ordentlich aufräumen«, an dem man seinen Geliebten erwartet. Aber wenn man verdrossen ist oder verzweifelt, dann mag man Wäsche zählen oder gar zum Zahnarzt gehn, das geht dann in Einem.

Ich hörte zu, ohne einen Muck. Aber dann fing ich an zu reden: »O Jorinde,« sagte ich, »die Wahrheit ist nun mal eine einseitige Sache, denn wir sehn sie immer nur im Profil. Wisse, das Glück braucht nicht in Watte gewickelt zu werden, das kriegt so leicht nicht den Schnupfen. Und wenn du recht selig bist, fühlst du keine Schmerzen: Ach, ich weiß von einer Frau, die hat gesungen, wie ihr Kind geboren wurde. 204 Und langweilige Menschen gibt es überhaupt nicht, wenn man sehr froh ist; nein, man wundert sich dann nur, daß man sie so lange unterschätzt hat. Und die sogenannten Alltagsdinge? Zum Beispiel: Servietten aufeinanderlegen, mit dem Kniff nach vorn, ganz ordentlich, daß man mit dem Finger dran herunterfahren kann – rrrr – wie an einer Harmonika, oh, das ist zuweilen eine berauschende Tätigkeit . . .

Und dann sagte Jorinde: »Also, wann gehst du dann heute zum Zahnarzt?«

Und da hätte ich sie prügeln mögen; aber ich nahm sie beim Schopf und küßte sie.

 

42

In einem alten amerikanischen Schmöker las ich einmal, daß am Beginn der Kolonisierung Nordamerikas Kinder der englischen Ansiedler in die Lager der Rothäute geschleppt worden seien. Da hätten sich die weißen Leute erzählt, es sei eine silberne Schlange mit zwei Köpfen, die die Knaben und Mädchen betörte, daß sie ihr überallhin folgen müßten, bis in den tiefsten Urwald hinein, wo sie, ganz 205 willenlos, von der Schlange in die Hütten der Häuptlinge geführt würden.

Ich meine, es läge eine schauerliche, flüsternde Musik in dieser Erzählung, und ich habe ein Gedicht daraus gemacht, vor dem ich mich als Kind selber zu Tode gegrault hätte, denn daß ich's nur gestehe, ich war ein Hasenfuß und gedenke noch mit Schrecken einer dunkeln Besenkammer, wo die Mädchen oft vergaßen, den Wasserhahn fest zuzudrehen, und wenn das so im Finstern sacht rieselte, das war ganz schauderhaft.

Die Schlange

          In Laub und Nadeln ganz versteckt
Schlief sie am Bergeshange,
Weh mir, mein Fuß hat sie geweckt
Die schöne Silberschlange.

Durch Binsengras und Busch und Ast
Seh ich sie gleitend züngeln,
Und wie ein Lasso mich erfaßt
Ihr Rascheln und ihr Ringeln.

O Vater mein mit hellem Blick,
O Mutter, blaß und bange,
Kaum denk' ich mehr an euch zurück,
Ich seh' nur auf die Schlange. 206

Die Sonne brennt so rot und rund
Auf dürren Flußbetts Steine.
Ich weiß nicht, ist der Fuß mir wund,
Ich weiß nicht, ob ich weine.

Sie zeigt den Weg durch Schilf und Strauch
Und feuchte Felsenspalten,
Und sieh, nun weht ein bittrer Rauch,
Es kauern Ungestalten.

Wo sich das braune Zeltdach bläht,
Da schlüpft sie durch die Felle;
Die Pferdehaut am Eingang weht,
Was zieht mich auf die Schwelle?

Der Häuptling sitzt am Herd allein,
Mit tiefzernarbter Wange,
Hält in der Hand den Feuerstein
Und vor ihm steht die Schlange.

Die spricht: »Ich habe dir gebracht,
Mein Söhnchen, gute Beute,
Ins dunkle Zelt zu dunkler Nacht
Das Kind der blassen Leute.

Die uns versperrt das freie Land,
Zu Weiden ihren Herden,
Die unsere Wälder ausgebrannt,
Und uns vertreiben werden.« 207

Der Häuptling sieht zur Türe hin,
Da hör ich ganz beklommen
So fremde Worte, ohne Sinn,
Aus meinem Munde kommen:

»O Häuptling, aus Barmherzigkeit,
Laß, daß ich bei dir bleibe,
Zu hartem Dienste dir bereit
Mit meinem zarten Leibe.

Ich schnitz dir Pfeile scharf und fein,
Ich will das Wild belauern,
Will deines Feuers Hüter sein,
Vor deinem Lager kauern.

Und wenn du schläfst, ich schlafe nicht
Ob auch die Nacht gar lange,
Ich wieg' im roten Feuerlicht
In meinem Schoß die Schlange.

Zwei Köpfe hat sie, Weh und Pein,
Vier Augen, die so funkeln,
Und schläft sie mit zwei Augen ein,
Zwei andre glühen im Dunkeln . . .«

 


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