Irene Forbes-Mosse
Der kleine Tod
Irene Forbes-Mosse

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Ich hörte einmal Lionardo mit Bach vergleichen: Beide große Baumeister, Mathematiker und Erfinder. Ein immerwährendes leidenschaftliches Suchen nach neuen Spannungen, neuen Lösungen, und dazwischen – plötzlich – solch überirdische Klarheit, wie wenn Wolken sich teilen, wie wenn nach dem Gewitter eine Drossel singt. Ich meine aber, bei Bach klingt auch der Nordländer durch, der Bewohner schmaler, gebälkter Häuser, mit tiefen, geduldigen Dächern. Da ist ein dunkles, anschwellendes Wachstum, wie wenn Flüsse das Eis heben im Frühling, und die ziehenden Massen seiner Figuren drängen aufwärts, dicht und sehnend, wie die Gestalten über großen Portalen, der steinernen Rose zu, hoch oben im scheidenden Licht. Man wird so atemlos, wie sie ausbiegen, wie sie sich fliehn und kreuzen, und immer neue Scharen fluten herbei, und erst ganz am Ende werden sie sich 149 vereinigen, zu einem Strahlenbündel, in der letzten glückseligen Harmonie. Ich meine, Lionardo sei lichter, selbstverständlicher, daß auch die Kinder und Unmündigen auf seine Bilder zugehn müßten wie ins Abendrot hinein. Aber der Abend ist nicht allein dort, wo die Sonne versank und die feingefiederte Landschaft am Himmel steht: seine Dämmerung ist unter den Augenlidern der heiligen Anna, sein Licht ist im Angesicht des Engels, der wie ein Meerweibchen vor der Felsenhöhle kniet und auf das kleine Wunderkind deutet:

»O Nix, so laß das Singen dein,
Du kannst ja niemals selig sein . . .«

Denn Lionardos Heilige stammen aus dem Wasser, nicht aus dem Himmel; in Schluchten wohnen sie, wo's am schwarzen Gestein niedertropft und in winzigen Moosen glitzert. Oder in verlassenen Ziehbrunnen. Abends steigen sie hoch und sitzen auf dem Brunnenrand, freundlich rätselhaft. Die Menschen gehn vorüber, ihrer nicht gewahr, mit Sicheln und Sensen, müde, ihren Dörfern zu.

 

Sehr musikalische Menschen, solche, bei denen das Blut singt, sind ein Inselvolk. Die Inseln sind versunken, die Menschen ans Festland getrieben, 150 zerstreut, verschieden geworden, vielfach degradiert. Aber an einzelnen Worten ihrer Sprache erkennen sie sich. Und es braucht einer nur die ersten Takte zu spielen, nur ein paar Bogenstriche zu tun, so wissen die andern: Du gehörst zu uns.

 

Wenn drüben am Abhang gepflügt wird, wo die Oliven, dürftig und neu verschnitten, in geraden Reihen stehn, und die Männer ohne eine einzige unnütze Bewegung die großen weißen Ochsen lenken, alles ganz still und farbenkarg wie auf einer Gemme, was ließe sich da hinzutragen von eignem Fühlen, diesem einfachen, viel tausendmal wiederholten Vorgang der Bodenbereitung zum Empfang der Saat? Aber die Erde dampft, die Luft ist ein Geflimmer, und so steht das Bild mitten in einem kaum merklichen Gewoge wie in zarter, schwingender Musik, und die heißt »Werden«. Und alles Werden ist geheimnisvoll. So finde ich auch hier, wo der Blick frei wie ein Atemzug über lange, ungehemmte Linien geht, wo der Schatten scharf ist und das Licht so unerbittlich rein, wenn ich nur recht hinhorche, ein Drängen und Pulsieren, das wie einen Nebel der Bewegung um alles webt. Auch um die schönsten und einsamsten 151 Steinbilder flimmert und zittert es so, als würden sie – die ewig sind – dadurch verbunden mit allem, was ewig war und wird, rückwärts und vorwärts und nach allen Seiten . . . Und das eben ist ihr geheimnisvolles Leben.

 

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Hier beginnt die Auferstehung im Dezember. Der japanische Mispelbaum blüht, wenn die Bienen noch Winterschlaf halten, und um Weihnachten schon sieht man die kleinen bläulichen Speere der Tazetten unter den Hecken durchs tote Gras dringen. Irgendwo immer tut sich die Erde auf, bis dann im April das große Tutti einsetzt. Hier ist nichts Vermummtes, keine bepelzten Tannen, kein krauses Geäst wie von Lärchen und Hechkraut an vereisten Fensterscheiben. Es wird alles nur reiner und kahler, die Farben immer kostbarer in der Ruhe; verblaßte Dinge, im Sommer kaum erkannt, stehn nun fein und still auf silbrigem Grund. Nur hier und dort die roten Weidenbüsche leuchten auf wie Tizians himmlische Liebe. 152

*

In den Appeninen, ja, da hat der Winter dasselbe Gesicht wie bei uns; nur noch unwegsamer, finstrer ist er dort. Die schwarzen Lämmer mit blauen Züngelchen, die nach den Städten getrieben werden, die schwerbepackten Maultiere, die die Holzkohle über die Pässe tragen; und im Herbst die Krüppel, die aus den Badeorten heimkehren, wo sie gebettelt haben . . . das ist uns alles fremd; wie der flache Steinherd, der beißende Geruch des offnen Feuers anders ist als der Kachelofen eines Hebelschen Gedichts. Und die Tragödie, die in »Casa di Bacco« unter der Asche kohlte, wäre mehr etwas für Tolstoi gewesen als für die Brüder Grimm. Da war die Schwägerin, mit dem feinen, grausamen Agrippinagesicht, mit schweren Ohrringen und gewundnen Silberbraceletts an den schmalen Handgelenken, immer nett in Schwarz gekleidet, das böse Prinzip, aber in Geschäftsdingen die einzig Zuverlässige im Hause. Ihr Mann, der Stiefbruder Baccos, redete nicht mit, war wochenlang über Land mit den Maultlieren, an denen er seine Wut ausließ. Baccos Sohn, durch seine Leidenschaft für Agrippina ganz in deren Gewalt, ein schwacher, sinnlicher Mensch mit ausweichendem Blick und niedrer, störrischer Stirn. Seine junge Frau, die aus der 153 Ebene stammte, mit sanftem Oval, feinen Brauen und den breiten Augenlidern Peruginos: wie aus einer andern Welt hierhergeraten, immer in Angst um ihr kleines, schwächliches Kind, das ihr Agrippina, die Kinderlose, beneidete; dann die schwachsinnige Schwester des jungen Mannes, die alles Wasser, alles Holz schleppen, den Mauleseln die schwersten Säcke aufschnallen mußte, und der man kaum das Essen gönnte. Nur die junge Schwägerin hatte ab und zu ein freundliches Wort für sie; der war sie auch ergeben und trug ihr zu, was Agrippina tat und sagte. Alle andern haßte sie mit dem heimtückischen Haß der Idioten, vom Vater beginnend, der sie schlug, bis zu dem kleinen Kind, das ihr nachts, wenn es schrie, ins Bett gelegt wurde, auf der schmalen Bank über der Treppe, und ihr den karggemessenen Schlaf störte. Und der alte Bacco, zynisch-jupiterhaft, dem der ganze Hexenkessel natürlich kein Geheimnis war, der sich aber nie um Dinge kümmerte, solang sie seine Bequemlichkeit oder seinen Geldbeutel nicht genierten. Dramatis personae – so habe ich sie vor ihrer Haustür stehen sehn, hinter ihnen die schwarze, verräucherte Küche, wenn die Leiterwagen voll lachender Mädchen mit bunten Kopftüchern vorbeifuhren, der 154 Stadt zu, wo sie sich zum Herbst verdingt hatten – oder wenn ein wanderndes Pulcinelltheater des Weges kam, mit rotverblichenen Vorhängen und Quasten, hinter dem armen, betrübten Eselchen her.

Ellinor und ich, in unserem Häuschen dicht daneben, führten ein märchenhaftes Dasein.

Vormittags erschien »Maestro Usiglio«, fett und schwarz und glänzend, mit breiten Bassobuffogebärden, so ein Gemisch von Samiel und Brummfliege, und ließ mich solfeggieren, und wenn ich noch im Walde war, spielte er mit dicken schwärzlichen Fingern die »Fanfara del Conte di Monteverde«, um mich zu benachrichtigen. Vorher räumten wir sorglich den Toilettentisch ab, seitdem ich im Spiegel gesehen hatte, wie er, während ich »voce di petto« übte, seinen gefärbten Bart mit meinem Kamm bearbeitete. Um zwölf aßen wir, stets nur ein Gericht, denn zu mehr reichten weder die Vorräte noch die Kunst Meropes, unserer Magd. Schinken mit Bohnen, oder Eierkuchen mit Heidelbeeren und bisweilen ein hageres Huhn, wie ein heraldischer Vogel auf Risotto gelagert. Oder, wenn man den Schlachter hatte erwischen können, »una bella bistecca«, (eine bistecca ist immer bella) mit selbstgesuchten Pilzen, memento mori hieß 155 das Gericht, denn man konnte ja nie wissen; und das mit der silbernen Gabel sei für die Katze, sagte Ellinor, da könnte Strychnin drin sein und sie würde doch nicht schwarz.

Nach dem Essen gingen wir fort, viele Stunden. Es war Oktober geworden, die Hotels geschlossen, ebenso die meisten der kleinen primitiven Häuschen, in denen die anspruchslosen italienischen Aristokraten mit den schönen, tönenden Namen im Sommer gewohnt. So ging man in größter Einsamkeit.

Das Buchengestrüpp auf den Bergen war rostbraun und gelb, und blutrot das Heidelbeerkraut an den freien Berglehnen. Dazwischen hier und da, wo eine Mulde war, kleine tiefblaue Teiche, an denen Schafe entlang zogen, große zottige Schafe mit gewundnen Hörnern. Und der Himmel auch tiefblau, die Luft scharf und leicht, aber ganz ruhig, mit der lauschenden Ruhe des Herbstes, wenn sie satt ist von all der Fülle, und eine Weile ausruht, eh das große zerstörende Brausen anhebt.

Einmal begegneten wir einem Jäger im verschabten braungrünen Sammetrock, und seinem Hund, einem rotgoldnen Setter: Herrgott, waren die Farben schön mitten in der Herbstpracht! 156

Man kam ganz ausgehungert nach Haus. Dann gab es Kaffee und Eier und Schafkäse; aus der Küche ertönte Meropes nasaler Gesang: Musolinos Klage in der Gefangenschaft war damals der Schlager der Saison. Wenn dann abgeräumt war, setzten wir uns mit unsern Büchern und Schreiberei an den langen Küchentisch unseres Eß- und Wohnzimmers. In wollne Decken eingewickelt, saßen wir da wie Seehunde. Wenn etwas hinfiel, ließ man's liegen, denn man hätte ja aus seinem warmen Cocon hervorkriechen müssen. Einmal hatte ich mein Taschentuch nicht bei der Hand. »Was tu ich nur,« sagte ich vor mich hin, recht jesuitisch, denn im stillen hoffte ich, daß Ellinor, deren Gutmütigkeit sprichwörtlich war, es mir holen würde. Aber unerwartet herzlos sagte sie: »Da bleibt eben nichts übrig, als zu schniefen.« Und da erzählte ich ihr von Wilhelm, Otto und Hellmuth, und wie sie beim Lotto immer so entsetzlich geschnieft hätten.

Mit dem Feuer war etwas nicht in Richtigkeit, obgleich Merope, wie ein Posaunenengel, es durch einen alten Flintenlauf anblies; aber es schwälte nur so, und wir rochen immer wie die Kohlenbrenner. Hinter dem Hause, auf dem Grasplatz, wo die 157 ungefügen Sättel der Maultiere lagen, rauschten die Ebereschen, und unser letztes Huhn, das romantische Anwandlungen hatte, war in den Wipfel geklettert und gackerte im Schlaf. Am letzten Tage starb es eines ritterlichen Todes. Bacco schoß es bei Dämmerlicht, es war wie die Szene im Freischütz.

 

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Ich sehe jetzt so viel schöne Dinge. Ist es die Sehnsucht, die mir das Herz auflockert? Hinter dem allen stehst du! Heute die Fahrt, via Faentina, das fahle, riesige Schilf, und jenseits die dürren Hügel, mit kleinen Zypressen und verwitterten Gehöften, hineingekauert ins graue Gestein . . . als sei man hundert Meilen von einer Stadt entfernt. Und ich dachte, o wären wir zusammen, ganz allein, und kämen spät im Dunkel an, auf der Paßhöhe. Dann, noch ehe man sich zurechtgefunden hat, alles ahnen, die dunkle Bergwand, ein paar Lichter hier und dort, ob das wohl Häuser sind? Und die feine fremde Bergluft, die man witternd einzieht, ganz rein, aber mit dem Geruch unsichtbarer Kohlenmeiler vermischt; 158 das Sprechen der Leute, rauher und reiner als im Tal, Stimmen, die unter dem Fenster vorbeigehn: und so einschlafen, in der Erwartung auf den ersten Blick zum Fenster hinaus, – alles so einsam festlich . . .

Neulich in der Stadt: ein feines Glockentürmchen an einer Straßenecke, darunter ein Mädchen am Fenster. Sie ließ einen Korb am Strick herab, der Postbote legte einen Brief hinein, sie lachten einander an mit schönen, blitzenden Zähnen, der Korb fuhr schwankend auf . . . Und über der Tür, wo der große Maler gewohnt hat, eine Inschrift, die Worte schön gesetzt, in der Inversion, was sie so eindringlich in die Seele hämmert. Und wieder gestern: ich las in der schönen, einfachen Collegeedition die Stelle im Homer, die wie ein Aufrauschen ist: »Then the dark wave stood around them like a hillside bowed, and hid the God and the mortal woman« – Wer könnte das malen? Musik vielleicht . . . Aber ich habe es dir geschenkt, wie ich es las. Ist mir doch als schenkte ich dir alles, was mir gefällt, alles, was mich belustigt, brächte dir's, wie unsre alte Katze alle Mäuschen anbrachte, die sie gefangen hatte . . .

Ach, wenn du nicht wärst und das alles wär 159 geblieben, wollte noch immer zu mir reden . . . nein, das ist nicht auszudenken.

 

Heute las ich in Paters »Greek Studies«. Es ist mir manchmal empfindlich gewesen, alte Märchenbücher mit neuen Illustrationen anzusehn, als ginge mir etwas verloren; auch Übersetzungen sind oft, als hätte die Stiefmutter der rechten Mutter Kleider angezogen. Aber Pater hat den feinen Dunst geschont, in dem ein jeder seine Lieblingsgestalten wandeln sieht. Er war reich genug, um nicht alles auszunützen. Und hier, wo dieselben Früchte reifen, dasselbe uralte Feldgerät von den Menschen verwandt wird und die schönen tönernen Krüge, in denen das Wasser kühl bleibt, sieht man seine Könige und Königinnen auf dem rechten Hintergrund. In seiner zarten, knisternden Hülse, das glatte goldne Welschkorn, nach dem sich unwillkürlich die Hand ründet, gemahnt an diese stolzhäuslichen Frauen, halbverschleiert, nützlich und kostbar.

Aber das schönste Märchen ist doch, wie Demeter in Bettlergestalt auf dem Brunnen sitzt und die Kinder kommen und laden sie ein, ins Haus zu treten. Wie sie da über die Schwelle tritt, berührt ihr Scheitel den 160 Türbalken, und den Hausleuten geht eine Ahnung auf, daß dieser Gast göttlich sei. Wie sie dann den kleinen, schwächlichen Jüngsten in ihre Obhut nimmt und an ihrer herrlichen Brust schlafen läßt; mit jedem Tage wird er stärker und schöner. Nachts aber, wenn alles schläft, hält sie ihn über die Flammen, daß er überirdische Kraft empfange.

In Dresden die Holbeinsche Madonna trägt auch des Bürgermeisters kleines krankes Kind im Arm.

Maria und Demeter und Ruth, die sind wie Schwestern; sie könnten recht schwesterlich miteinander durch's Kornfeld gehen.

 

Wenn man an der Erde liegt und lange ins Gras und ins Moos starrt, vergißt man ganz sein eigenes Format und wuselt da mitten drin. Die wissen nichts von uns, und daß ein paar Menschenaugen, groß wie Mühlräder, sie anstarren, und die Bewegung unserer Hand ist ihnen wie Erdbeben. Vielleicht ist unsere Welt auch nur ein Tropfen, ein Flöckchen Schlamm, und es sind da unsichtbare Riesen, mit Augen wie Sonnen, die sich wundern über unser Gezappel. Ich habe ein englisches Gedicht übersetzt, das geht mir heute durch den Kopf: 161

Der Indianer und Gott

(von W. B. Yeats)

        Ich wanderte am Waldessaum im letzten Abendlicht,
Ich hörte, was am Wasserrand das Schilfgras rauscht und spricht:
Ich wiegte mich in Frieden ein, Moorhühner huschten dort
Am feuchten Grashang hin und her, und ich verstand ihr Wort.

Ich hörte, wie der alte Hahn zu seiner Sippe sprach:
»Er, der die Welt im Schnabel hält, uns stark gemacht und schwach,
Ein ewges Moorhuhn ist er traun, und schwebt im Himmelsfeld,
Von seinen Flügeln träuft der Tau, sein Aug die Nacht erhellt.«

Die Lotosblume hob ihr Haupt auf weicher Wellen Spiel.
»Er, der die Welt umfängt, er hängt an einem langen Stiel,
Denn mich erschuf er sich zum Bild, und diese weite Flut
Ist nur ein Silbertropfen, der in seinem Kelche ruht.«

Und weiter wieder stand ein Reh im kühlen Wiesentau,
Die Augen voller Sternenlicht, und sprach: »Auf Himmels Au,
Der ewge Wandrer ist ein Reh, mich schuf er sich zum Bild,
Wie konnt er mich ersinnen sonst, so zart und doch so wild?«

Und weiter noch, da saß ein Pfau im königlichen Kleid:
»Der Gras und Wurm und Körner schuf und meine Herrlichkeit,
Der ist fürwahr ein ewger Pfau und schlägt am Himmelspfad
Mit tausendfacher Augen Glanz sein riesenhaftes Rad.«

 

Gestern war ich im Kinematographen. Das beschleunigte Tempo hat etwas von Kohlensäure, so wie eine kurze, rasche Automobilfahrt. Ich 162 glaube auch, daß das Geheimnis der Straußschen Musik in ihrem Tempo zu suchen ist: Lieben und Morden, Grazien und Furien, süßer Wohllaut und gräßlichste Dissonanz, als ob tausend Kasserollen wahnsinnig geworden wären . . . Alles im Sturmschritt.

Amüsant sind hier die Zuschauer. Es gehn viel Priester hin, und dann auch viel schöne Ammen mit ihren ahnungslosen Babys, und an Feiertagen erwartungsvolle Kleinbürgerfamilien, die sich in einem crescendo von Genüssen von dem Essen in der trattoria zum Kaffee in die Konditorei und dann in den Kinematographen begeben, die gutmütigen, laut redenden Papas, die niemals hartherzig an den Luftballon- und Gerstenzuckermännern vorübergehn: die freundlichen, geputzten und gepuderten Mamas, die entsetzlich verwöhnten, vorlauten Kinder . . .

Gestern traf ich's gut. Eine Stromschnelle in Canada wurde dargestellt. Ein Boot kam uns entgegen, immer rascher, immer größer. Das Herz klopfte mir. Die breiten rhythmischen Bewegungen der rudernden Männer, eines alten und eines jungen, die Muskeln an ihren Armen, wie bebende Stränge, der Brustkorb, 163 der sich hob und senkte, der Kiel, der ein schäumendes Dreieck ins Wasser schnitt, und der Strom, der immer schneller, immer voller wurde, dem großen krachenden Akkord des Wasserfalls entgegen: o das war herrlich. Und dies Anwachsen der Flut, dies Anspannen der Kraft war wie herrlichste Musik. Denn die höchste Lebenslust, deren Möglichkeit jeder Gesunde in sich trägt, wird uns sicherlich am bewußtesten bei rauschend rhythmischer Musik. Dann rauscht das Blut auf im höchsten Wohlsein, und was warm in uns war, wird heiß, und was gut ist, wird liebevoll, und alles, was litt, handelt nun; denn Genüge ist zu Überfluß geworden. Und das Gefühl gleitet weg über alles Kleine, wie das Boot Schilf und Gezweig auseinander drängt auf seiner Fahrt. Rhythmus, ja, das ist Rausch und Ordnung zugleich. Darin steckt der Geist der Brüderlichkeit, welcher zwingt mitzugehn, mit allen kleinen Gassenjungen, in gleichem Schritt und Tritt. – Ach, und ist das nicht dennoch besser als die Adlerflüge der Einsamen?

Steh auf, Nordwind, und komm, Südwind,
Mach das Dunkle, daß es funkle,
Mach die kalten Herzen heiß! 164

 


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