Irene Forbes-Mosse
Don Juans Töchter
Irene Forbes-Mosse

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Die Last

Adriana von Wehra, wie so viele ihresgleichen, stand am Ende des Krieges leichtverblüht, arm und mit geschwächter Gesundheit einer schwierigen Zeit gegenüber. Während der Kriegsjahre hatte sie ihre Kraft und Fähigkeiten traditionsgemäß dem Vaterland gegeben; machte Recherchen, setzte Bittgesuche auf, lief von einer Behörde zur andern, um Kriegerfrauen Arbeit oder Zuschüsse zu erwirken; abends strickte oder nähte sie für die im Felde, und bei allen besonderen Anlässen, ob Woll- und Weißzeugwochen oder Haussammlungen, stand sie in erster Reihe. Ihren weichen Mezzosopran stellte sie dem Pastor zur Verfügung, wenn besondere Abendandachten, sei es des Dankes oder der Fürbitte, veranstaltet wurden; und wenn ihre Stimme von der Empore, wo die Solisten kaum sichtbar standen, sich zum schwacherleuchteten Gewölbe aufschwang, tönten die herben protestantischen Weisen wie Amselsang auf Wipfeln über die Gemeinde hin.

Anfangs hatte sie sich, wie die meisten ihrer Freundinnen, zum Pflegen gemeldet; aber bald erkannte die Lehrschwester, daß es Zeitvergeudung sei sie abzurichten. Nicht, daß sie die Arbeit 206 gescheut hätte; die niedersten Dienste und die anstrengendsten wurden von ihr geleistet ohne eine Miene zu verziehen. Aber der Anblick von Qual vernichtete sie. Als sie zum erstenmal einen Mann bei der Entfernung seines Verbandes aufbrüllen hörte, brach sie in Tränen aus. Der ziemlich brutale Stabsarzt tat dies immer ganz plötzlich und verlangte, daß es die Mannschaft ohne Zucken ertrüge. Das nächste Mal widersetzte sie sich. Sie war wie ein rasendes Muttertier. Am selben Tage noch wurde sie entlassen. Zunächst bat sie, andere, demütigste Arbeit tun zu dürfen, scheuerte Treppen und Gänge, half in den Abwaschräumen der Küche; aber seit ihrem unerhörten Betragen im Verbandzimmer war die Oberschwester gegen sie eingenommen, und so war auch dieses Nachspiel nur von kurzer Dauer.

Als endlich dann der lange, ungleiche Kampf beendet war, hatte Adriana ihr siebenundzwanzigstes Lebensjahr vollendet. Der erste Jugendreiz war dahin; ihr durch Unterernährung und Übermüdung ausgeschöpfter Körper forderte seine Rache: sie war mit Neuralgien und plötzlichem Herzklopfen belastet, welch letzterem zwar nichts Ernstes zugrunde lag, aber halbminutenlang und unerwartet überfiel es sie und machte sie hilflos. Sie selbst schilderte ihre Empfindungen während solcher Anfälle, als sei ihr Herz eine leere Flasche die man plötzlich unter Wasser hält, wobei sie sich rasch gluckernd füllt und das sei dann wie 207 Ersticken. Der Arzt sprach von Anämie und einem überanstrengten Herzmuskel, verordnete leichte und doch nahrhafte Kost, Eier, feine Mehlspeisen und Geflügel, wenn möglich Luftveränderung nebst Liegekur: lauter Dinge, für die Familie von Wehra zur Zeit ebenso unerschwinglich, wie es früher ein Aufenthalt in Heluan oder St. Moritz gewesen wäre. Denn noch bestand die Blockade, die dem zermürbten Land monatelang nach Waffenstillstand auferlegt blieb, und später, als wieder Nahrungszufuhr durch die geöffneten Grenzen rollte, reichte die Pension des Vaters doch nur fürs Allernötigste. Und wenn auch das Regime der alles beherrschenden Kohlrübe aufgehört hatte und das Brot nicht mehr ausschließlich aus Lehm und Kleie zu bestehen schien, war doch der Wehrasche Etat, an den Preisen gemessen, so niedrig, daß Adriana und ihre beiden jungen Brüder fortfahren mußten an ihren Kräften Raubbau zu treiben, fast ebenso wie bisher; was denn auch mit der ihnen eigenen liebenswürdigen Sorglosigkeit geschah.

Anna, Adrianas einzige, um ein Jahr jüngere Schwester, war als Johanniterin der Typhusepidemie in Lille erlegen; Adrian, ihr Bruder, an derselben Front gefallen. Nun waren nur noch Alf und Adelbert zu Hause, fünfzehnjährige Zwillinge, dünnen Buchenstämmchen ähnlich, die beim Abholzen eines ganzen Schlags, sei's aus Absicht, sei's aus Versehen, verschont blieben. Man konnte 208 ähnlichen Nachwuchs damals in vielen Familien sehen; langaufgeschossen, von ihren Nerven zehrend, eigentlich kraftlos, mit einem bei so jungen Jahren seltsam aufmerksamen Blick und herben Fältchen am Mund, die vielleicht von Entsagung, vielleicht auch von frühgeübter Selbstironie herrührten; denn, trotz alledem, sie waren jung, und bei den deprimierenden oder schaudervollen Anblicken, deren die Zeit so viele hatte, konnte sie bisweilen eine jähe, eine sündhafte Lachlust überfallen; es waren gar zu plötzliche Kontraste, die einander folgten, und das, worüber die Alten stöhnten, kam ihnen oft unwiderstehlich komisch vor. Dabei hatten die Jahre der Not gerade ihnen am ärgsten zugesetzt, denn sie waren im schärfsten Wachsen, ewig hungrig, und der fast gänzliche Mangel an Milch und Fett war für sie am gefährlichsten gewesen. Für die Dämmerstunde, die, um Licht zu sparen, möglichst lang hinausgezogen wurde, hatten sie sich ein Spiel erdacht, dem Adriana manches Mal, halb fasziniert, halb ärgerlich zuhörte. Sie nannten es »Schlemmtraum«, und es bestand darin sich gegenseitig durch Ausmalung phantastischer Leckerbissen zu überbieten. Der Sieger erhielt den ausgesetzten Preis: ein Stückchen Ziegenwurst, eine Margarinestulle oder eine Handvoll jener steinharten Plätzchen, welche die Geheimrätin aus Haferflocken, Sacharin und Milchpulver – sogenannte »Kuh in der Tüte« – anfertigte. Wenn sie sich aber glücklich bis zu 209 Hasenbraten und Schokoladenpudding emporgesteigert hatten, gewann Adriana doch den Preis, wenn sie aus ihrer dunklen Ecke wie halluziniert die Worte vor sich hin sprach: »Kaffee, wirklichen Kaffee, und wirkliche richtige Milch, und Semmeln mit wirklicher Butter«, denn auch hier erneuerte sich die Erfahrung, daß allzukühne Wünsche – die Sterne, die begehrt man nicht – weniger quälend, weniger bohrend sind als solche die sich in bescheideneren Grenzen halten; wenn auch in diesem Fall beide Arten gleich unerfüllbar waren.

Außer der Schule, die sie als eigentlich überlebte Institution mit liebenswürdiger Gleichgültigkeit absolvierten, hatten die Zwillinge noch andere Pflichten, die anfangs wenigstens den Reiz der Neuheit besaßen. Früh um drei, in Winterkälte und Finsternis, mußten sie sich mit vielen ihresgleichen und mehr noch solcher, die sie erst bei diesen Gelegenheiten kennenlernten, stundenlang vor den Kohlenlagern anstellen, um ihr wöchentliches Anteil an Brennmaterial entgegenzunehmen und auf einem Handkarren den weiten Weg nach Hause zu fahren. Bei diesen Polonäsen hörte man so manches, tat Einblicke wie in Kellerluken – es war aufregend wie die wildesten Robinsonaden. Und in den beiden Knaben, in deren Adern mütterlicherseits ein Tropfen rebellischen Hugenottenblutes rumorte, entstand ein jähes Kameradschaftsgefühl zu diesen verdrossenen, kurzangebundenen Proletarierkindern, die mit schauderhaften Redensarten 210 um sich warfen und wie junge aufgescheuchte Wölfe die Zähne wiesen, anfangs voller Mißtrauen gegen die reingewaschenen, wenn auch kaum besser ernährten Wehrabuben. Mit der Zeit hatte sich eine Art Freimaurerei gebildet, die den korrekten Geheimrat, wenn er dahinter gekommen wäre, wenig erbaut hätte; die Mutter ahnte so manches, aber ihre wenn auch durchaus konziliante so doch unkonventionelle Seele hatte eher Vergnügen daran, denn sie fand es recht und billig, daß in diesen Zeiten gleicher Not andere Ungleichheit möglichst vergessen werde.

Heimgekehrt stürzten Alf und Adelbert sich heißhungrig über ihr erstes Frühstück, Brombeertee ohne Milch und ohne Zucker und einige Scheiben kleistrigen Brots mit etwas Schuhcrêmeartigem bestrichen, das sich Reichsmarmelade nannte, dem die Mutter ein irgendwo hergezaubertes Stückchen Speck oder Käse beigelegt hatte, dann trabten sie ins Gymnasium, wo ihnen bei Homers Beschreibungen heldischer Gastmähler das Wasser im Munde zusammenlief, und sie in den Pausen ihre nächtlichen Erlebnisse, reichlich lügenhaft ausgeschmückt, ihren Mitschülern neiderregend darstellten.

Der Geheimrat, bei einer der vielen Behörden tätig, die die Bewirtschaftung von Nahrungsmitteln kontrollierten und diese grammweise der Bevölkerung zuteilten, konnte sich nur selten bei solchen Fronden beteiligen. Da er aber sein Leben 211 lang um karges Gehalt seine Pflicht getan hatte, und über seinem Schreibtisch anfeuernd die Bilder der Großeltern hingen, die Anno sechs und dreizehn schier Unmögliches an Entbehrung und Opfermut geleistet hatten, so fand er es selbstverständlich, daß seine zwei Jüngsten in ihren abgeschabten und kurzärmelig gewordenen Joppen bei schmaler Kost Männerarbeit taten.

Auch die Geheimrätin klagte nicht. Es lag das nicht in ihrer Natur, die, wenn auch plötzlich aufbrausend, doch das Versöhnliche suchte und oft dabei das Lächerliche fand. Ach ja, lachen konnte sie noch immer; lachen will nicht viel heißen. Aber froh sein, das war nun wohl vorbei. Über ihres Mannes Sehreibtisch, gleich unter den Bildern jener Ahnen, deren Namen zu tragen er stolz war, hingen die Photographien, etwas vergrößert, von Adrian und Anna. Seine Kollegen hatten sie ihm geschenkt, in einem gemeinsamen Rahmen aus Eichenblättern, mit jenem Spruch geschmückt, der nun schon zum Gemeinplatz geworden war: Dulce et decorum . . . Ja, war der Tod nicht auch zum Gemeinplatz geworden? Wunderte man sich doch, hielt es kaum mehr für anständig wenn in einer Familie kein Mitglied gefallen war. Frau von Wehra blickte an den Bildern vorbei. Was sollten sie ihr? Oh, ihre schönen lebhaften Kinder, deren Ausdruck wie Gewässer wechselte, immer neu, immer reizvoll! Und hier die starre Unveränderlichkeit dieser Stellungen . . . Auf ihrem 212 Schreibtisch, in einem Glase, stand als einziges Andenken ein dürres Sträußchen, das Adrian ihr über Schultern und Köpfe von Kameraden hinweg gereicht hatte, als sie ihm – es war ein kurzer Urlaub gewesen – dort am Zug, wo er, mit vielen andern zusammengedrängt, an der Türe des Abteils stand, Lebewohl gesagt hatte: mit trockenen Augen und der erzwungenen Herzhaftigkeit, als handle es sich nur um eine kleine Reise. Und in einer Schublade dieses selben Tisches lag eine flüchtige Zeichnung, die eine Mitschwester Annas von dieser gemacht: Ohr und Wangenlinie, nur wenige Striche; aber in der raschen Bewegung, wie sie, rehartig lauschend, den Kopf wandte, gab es ihr etwas von dem lieben, schönen Kinde wieder, wie kein anderes Bild. Selten nur sah sie's an. Denn wenn sie erst weinte, konnte sie nicht mehr aufhören. Lieber Gott, als sie ausrückten, alle beide, gleich damals schon, hellseherisch, hatte sie sie dargebracht; ihr Tod hatte sie nicht überrascht. Aber was ihr so besonders bitter schien, war, daß sie nur wenige Stunden voneinander entfernt sterben mußten, ohne sich noch einmal gesehen zu haben, gerade diese beiden, die sich am nächsten standen. Denn es war derselbe mystische Zug in ihnen, dieselbe Restlosigkeit des Gefühls, das nichts, gar nichts für sich zurückbehält. Vielleicht, weil es alles hat. Hätte Anna Adrians Hand halten, ihn stützen dürfen in seiner letzten Not! Oder hätte Adrian ihr zulächeln können, als sie da, tapfer bis zuletzt, 213 unter Fremden starb! Den Ehrensalut hatte man über ihrem Grab gegeben, und der Geistliche hatte ihr den Spruch nachgerufen: »Größere Liebe hat keiner, als daß er sein Leben lasse für die Brüder.«

Die Tränen schossen ihr nun doch in die Augen, als sie vom Fenster, wo sie gesessen, aufstand und an den Tisch trat wo die Zwillinge mit aufgestützten, vielfach geflickten Ellbogen unter der Hängelampe lernten, und Adriana bei demselben Licht für ein Geschäft Spitzen ausbesserte. Gute Kinder! Nicht unbegabt, aber vor allen Dingen . . . gut. Warum mußten sie es so schrecklich knapp haben? Und dabei lachten sie noch darüber. Das schnitt ihr am ärgsten ins Herz. Wenn's doch noch zuginge wie in den Märchen, wo der Herrgott als Bettler verkleidet herumging und seine Beobachtungen machte. Oder wenn ein Glücksfall käme, wie man sie früher manchmal in der Zeitung gelesen hatte! Konnte Adriana nicht von dem alten Herrn, dem sie, ihn lieb anstrahlend, ihren Platz in der Elektrischen eingeräumt hatte, zur Universalerbin eingesetzt werden? Oder die Bettlerin, die Alf und Adi neulich bei Glatteis wieder auf die Beine stellten: konnte sie nicht, wie das bei Bettlern vorkam, eine heimliche Millionärin sein, mit einem Strumpf voll unabgelieferter Zwanzigmarkstücke, die von nun an anonym und geheimnisvoll für die beiden sorgte? Ach nein, so etwas las man wohl, aber wer hätte es je erlebt! Nun, sie wollte weiter hoffen, aber sich auch so bescheiden. 214

Frau von Wehra, deren Vorname Adrienne auf hugenottische Ahnen zurückwies, hatte von jenen das leichtere, gallische Blut geerbt und die liebenswürdige Kunstfertigkeit, aus wenigem viel zu machen. Ebenso ein starkes Mißtrauen gegen die Unfehlbarkeit der Autorität als solcher. Erst mal selber ein bißchen genauer hinsehen, war ihr Standpunkt. Aber von kalvinistischer Strenge und Unduldsamkeit war nichts auf sie übergekommen.

In ihren ersten Ehejahren hatte sie bei den großen Ressortfesten, wo alles nach Amt und Würden in unabänderlicher Paarung zum Essen schritt, dessen Speisenfolge ebenfalls nach ehernen Gesetzen feststand, anfangs Staunen und leichte Befremdung, in diesem oder jenem Herzen auch verschwiegenes Entzücken erregt. Ohne Aufwand sehr viel gefälliger gekleidet als ihre Kolleginnen, ließ sie sich von ihrer fröhlichen Harmlosigkeit durch alle Klippen treiben, gerade weil sie dieselben gar nicht sah. Hatte sie es doch fertig gebracht, den Minister zu unterbrechen, als dieser mit der ihm eigenen atemraubenden Umständlichkeit, ohne den Zuhörern einen einzigen Maultierschritt zu erlassen, seine einstmalige Besteigung des Vesuvius – er sagte Vesuvius – schilderte. Ach, dachte Frau von Wehra, als sie die Gesichter musterte, die mit dem Ausdruck fast idiotischer Entrücktheit, als warteten sie auf Klopfgeister, der nicht zum erstenmal gehörten Erzählung lauschten – es gehört wohl schon ein Ministerialdirektor dazu, 215 um hier nicht einzuschlafen. Und durch eine geschickte Zwischenfrage hatte sie vermeint, das Prozessionsraupentempo, in welchem sich Seine Exzellenz dem Kraterrande näherte, zu beschleunigen und ihre halbversteinerten Kollegen zu erlösen. Indem sie gewissermaßen das Ziel vorwegnahm. Seine Exzellenz aber hatte als höflicher Kavalier die Frage einer Dame zwar beantwortet, war dann jedoch unbeirrt den heißen Aschenpfad zurückgekrochen, um nun erst, gewissenhaft, wie es sich für einen preußischen Beamten gehört, die Expedition zu Ende zu führen.

Ja, das war am Anfang gewesen. Dann kamen die Kinderchen. Zu Frau von Wehras Freude und Entzücken. Viele Kinderchen. Denn die Pause zwischen Anna, Adriana und Adrian einerseits, und den Zwillingen andererseits war nur scheinbar. Ein paar kleine Gräber auf dem Matthäikirchhof, von Frau von Wehra immer noch mit Blumen und Tränen bedacht, lagen dazwischen.

Das Aufziehen und Betreuen von Kindern, von schönen, gutgearteten Kindern, ist ein großes Glück. Sollte eines sein. Ist es aber nur da, wo die Mittel nicht gar zu knapp, und genügend Platz und Sonne vorhanden sind, und wenn kein Garten, so doch wenigstens eine ruhige, gefahrlose Straße, wo sich der vergnügliche und daher wichtigste Teil des Kinderlebens abspielen kann. Eine Etage im dritten Stock, mit schmalem Gang, in dem sich der Küchengeruch verfängt, und wohin das Rollen 216 von Puppenwagen und Murmeln des arbeitenden Vaters wegen verbannt werden muß, ist dafür nicht günstig. Freilich werden in der Großstadt auch Hühner in Kellern großgezogen, aber auch da bleibt die Frage, ob es für die Hühner ein Genuß ist, offen. Frau von Wehra mußte zur Ruhe mahnen, wenn sie am liebsten mitgetollt hätte, manchmal auch strafen, wo ihr die Strafe ungerecht erschien. Und gewisse blaue Heftchen, welche »die Bücher« hießen, als ob es außer ihnen keine anderen gäbe, und am Abend beim Lampenlicht, wenn sonst alles schwieg, eindringlich wurden, trugen nicht dazu bei ihr Herz leichter zu machen. O diese vielen, vielen Liter Milch (die Amalie immer Michl schrieb, es war ihr dies nicht auszureden), diese Berge von Butter und Grieß und Reis, . . . unmöglich, daß sie das alles in so kurzer Zeit vertilgt haben sollten! Es war ja wie der Proviant mit dem Nordpolfahrer auf ihre Expeditionen ziehen. Wenn sie dann am Ende des Monats einen Abschluß machte, die erhaltene Summe durch dreißig dividierte, worauf die tägliche Durchschnittszahl überraschend wie ein Dekalkierbild auftauchte, die sie dann wieder durch die Kopfzahl der Familie dividierte, so war's pro Kopf und Tag eigentlich nicht viel . . . Aber was half das alles, wenn das Gehalt klein blieb und die Kopfzahl wuchs! Nun, die Kinder waren begabt und fleißig, die Schule wenigstens war kein Schreckgespenst wie bei so vielen ihrer Bekannten; die großen 217 Töchter hüteten geduldig die kleinen Geschwister und wenn eins starb, weinten sie heiß und herzbrechend um das kleine Wesen, dem sie doch ihre freie Zeit und oft ihre Nachtruhe geopfert hatten. Adriana und Anna gingen jeden Winter auf ein paar offizielle Tanzfeste, sonst nur in wenig Häuser. Obgleich sie begehrte Tänzerinnen waren. Denn sie hatten von der Mutter die Beweglichkeit, die weiche, fließende Art des Tanzens geerbt, das braune schön angewachsene Haar, die kleinen reizend geformten Ohren, Adriana auch das verführerische Emporziehen des unteren Augenlids wenn sie lachte!

Außer diesen größeren Festlichkeiten hatten sie noch ihr Jungmädchenkränzchen mit Musik und leisetastenden literarischen Versuchen. Man las einander Rilke und Hofmannsthal vor und fand die Eltern unbegreiflich, wenn die noch über Wildenbruch Worte verloren; man las sich auch Eigengedichtetes vor, das meist wie ein Aufguß alter Hofmannsthalscher und Rilkescher Teeblätter anmutete, und Ausflüge wurden verabredet, im Winter in die Museen, im Sommer nach Babelsberg und der Pfaueninsel oder in die Märkische Schweiz, an denen die Wehra-Mädchen eben jener kleinen Geschwister wegen nur selten teilnahmen.

Dann aber, als die kleinen Geschwister schon jahrelang unter ihren Kreuzchen oder betenden Engelchen ruhten, und die Zwillinge jede schwesterliche Betreuung entrüstet von sich wiesen, 218 waren es der Vater und auch Adrian, vor denen ihre Opferfeuer brannten: der Vater als Haupt und Ernährer und dumpf bewunderter Staatsmann, auch als negativer Haustyrann, denn seine Diktate waren meist von Du-sollst-nicht-Art, selten nur gab es einen positiven Befehl; Adrian aber die stille Hoffnung von Mutter und Schwestern, der ihnen einst als Dank für alle, o wie gern gebrachte Opfer, eine Tür, ja, und wär's auch nur ein Fenster, auftun sollte nach all dem Neuen, Erregenden, was da draußen undeutlich schwirrte und rauschte.

Es kam der Krieg. Fünf lange, immer dunkler, immer enger werdende Jahre, wie die Treppenspirale in Angstträumen, die immer enger, immer erstickender den Hinaufklimmenden zusammenpreßt; dann der Frieden, der in jedem Paragraphen ganze Vipernnester künftiger Kriege zu bergen schien, der Zusammenbruch und das Verschwinden all der Dinge, die für die Familie Wehra ehrwürdig waren wie Kathedralen und vertraut wie alte Großväterstühle; und nun die Jahre noch immer steigender Not, wo man mit Milliarden rechnete und eine Briefmarke, eine Fahrt mit der Elektrischen mehr kostete als Anno einundsiebzig die ganze Kriegsentschädigung, die Frankreich bezahlte; wo Waschfrauen Gänsebraten aßen, was ihnen herzlich zu gönnen war, alte Exzellenzen aber bei verriegelten Türen Brombeertee tranken und drei übrige Pellkartoffeln von Mittag nach den findigen Rezepten des Kochbüchleins »Butter ein Vorurteil« 219 behandelten; wo plötzlich grau gewordene Offiziere nicht nur versuchten, durch Aushilfstunden in Mathematik einen kleinen Zuschuß zu verdienen, sondern auch alte Schnitz- und Laubsägekünste hervorholten, Kästchen, Hampelmänner und phantastische Vögel aus Holz und Leim, Goldflittern und bunten Federchen herstellten und in Restaurationen und Nachtcafés feilboten; die jungen Mädchen aber dank Gabelsberger und dem Erfinder der Schreibmaschine zur Zeit bei soliden und unsoliden Unternehmungen weitaus am besten verdienten.

Auch in der Familie von Wehra, deren Oberhaupt an die Unerschütterlichkeit mündelsicherer Papiere geglaubt und seine sämtlichen Ersparnisse eingebüßt hatte, mußte die Frage erörtert werden, ob Adriana das Tippen und die Kurzschrift erlernen sollte. Der Plan wurde ihres nicht ganz taktfesten Herzens wie auch der zeiterfordernden Einübung wegen fallen gelassen. Zur größten Erleichterung der Geheimrätin, die bei dem Gedanken an Adriana, mit einem grünen Schreibärmel angetan und an einem Schalter sitzend, umgeben von Bankjünglingen die sich selbstverständlich alle in sie verlieben würden, eine Gänsehaut überlaufen hatte; wenn nun auch leider eine räumliche Trennung wahrscheinlich wurde.

In dieser Zeit, da sich die weibliche Jugend nur noch zu Banken und Bureaus drängte, wirkte Adrianas Inserat in dem altehrwürdigen Blatt, 220 dessen Spezialität solche Inserate sind, wie ein Stück Fleisch, das in den Behälter fällt, wo hungrige Krokodile auf eine verspätete Fütterung warten. Noch nie war eine solche Fülle von Briefen und Karten in den Wehraschen Kasten gefallen wie in diesen Tagen. Einige besonders vehemente Hausfrauen erschienen selbst, um mittels unwahrscheinlich klingender Darstellungen ihrer häuslichen Verhältnisse den seltenen Vogel anzulocken. Sie wurden von Frau von Wehra empfangen, die höflich, aber etwas müde und mit dem Schatten einstiger Koboldstücke unter dem zuckenden Augenlid diese Angaben in ein altes Poesiealbum eintrug und baldige Antwort versprach. Kaum waren sie gegangen, so kam Adriana wie aus der Versenkung zum Vorschein, und es erfolgte unter gedämpftem Kichern die Auslese; die Entscheidung, ob Schafe oder Böcke, ob Papierkorb oder engere Wahl.


An einem linden Vorfrühlingstag, als auch durch die jedes Baumschmucks bare Straße ein Hauch ging, der von stäubenden Weidenkätzchen, von überschwemmten Wiesen, schwirrenden Starvölkern und allerallerersten Blümchen in den Gräben erzählte, verließ sie dann ihr Elternhaus. Sie reiste an ihr unbekanntes Ziel, die kleine, hübsch an einem Fluß gelagerte Stadt, wo sie eine ziemlich unbestimmte Stellung als Helferin und Haustochter in einer Familie einnehmen sollte, die aus dem Ehepaar und zwei Töchtern bestand, mit 221 vollem Anschluß und einem kleinen Taschengeld, dessen Summe durch eine Nullenreihe ausgedrückt wurde, die, auch wenn durch Kommas triolenartig abgeteilt, sich schwer feststellen ließ, in Wirklichkeit aber keine zehn Schweizer Franken betrug. Mit zehn Schweizer Franken aber konnte man in jener Zeit viel Nötiges und Erfreuliches kaufen, und Adriana an ihrem Fensterplatz träumte trotz der harten Holzwand, an die sich ihr Haupt lehnte, recht selig von einem Füllhorn, aus dem nach einem eröffnenden Hagelschauer von köstlichen Mokkabohnen neue Joppen für die Zwillinge, gute Zigarren für den Vater, ein kleiner warmer Teppich vor Mamas Schreibtisch und für die Allgemeinheit große Tüten mit Rosinen und Mandeln sich entwickeln sollten.

Ab und zu fuhr sie mit dem Ärmel – Vorhänge gab es nicht mehr – über die angelaufenen Scheiben, und was da an ihr vorübereilte, die einförmige, märkische Landschaft mit ihren Sandhügeln die mit Kiefern, und ihren Torfmooren die mit Birken bestanden waren, schien ihr unter dem feuchtblauen Himmel und mit dem frischen Erdgeruch, der hereindrang, sobald der Zug stillstand – und das tat er oft –, wie ein halbvergessenes Bilderbuch in dem sie nun wiedererkennend blätterte.

Der Umstand aber, der sie bewogen hatte, trotz leise bremsender Einwände der Mutter, die Stelle in Groß-Nebekow anzunehmen, bestand darin, daß ihre künftige Arbeitgeberin, Frau Baumeister 222 Witukind, mit Worten trauriger Scheu von einem unglücklichen Familienmitglied geschrieben hatte, dessen Betreuung ihre Kräfte sehr in Anspruch nehme, indes die kleinen Mädchen zu kurz kämen an Pflege und Lebensfreude. Es seien keine anstrengenden Dienste, nur ab und zu ein paar Stunden der Ablösung, die von der jungen Helferin erwartet würden. In Adrianas Herz nagte noch immer die Erinnerung an ihr Versagen im Lazarett. Nun würde sie sich selbst und anderen beweisen, daß sie sich überwinden konnte. Was würde es schließlich auch sein? Ein Kriegskrüppel, wie sie jetzt in so vielen Häusern ein schamhaftes Dasein führten, aus Straßen und öffentlichen Gärten wie weggefegt, wo man ihnen während des Krieges in solchen Scharen begegnete. Adriana hatte sich manches Mal das Schicksal dieser Jammervollen ausgemalt, das Ende, in das sie einmündeten: wie sie, anfangs als Helden oder Märtyrer bestaunt oder beklagt, allmählich zu gewohnten, aber unbequemen Mitbewohnern wurden. Lallenden Alten ähnlich, die am Ofen sitzen und dem jungen Nachwuchs Luft und Wärme entziehen; die, von der neuen Generation in die Winkel gedrängt, je nach dem Grad der Herzensbildung und des Wohlstands ihrer Angehörigen mit Nachsicht – oft auch mit Gleichgültigkeit – verpflegt, oder mit unverhohlener Ungeduld und Brutalität durchgefüttert wurden. Und sie nahm sich vor, den stummen Heroismus des Leidenden, der jetzt, da alle Fanfaren 223 verklungen, doppelt ergreifend war, durch nieversagende Geduld zu lohnen. Ach, so viel furchtbarer als Tod war solches Leben! Damals im Lazarett hatte sie's erkannt. Entsetzlich dies Mitansehen von Qual, von hoffnungslosem Stieren, dies Anhören nächtlicher Angstlaute, die fast rhythmisch wiederkehrten. Nein, der Tod war nicht der Feind; wenn sie ihn dem Bett der Gequälten nahen fühlte, war das Wehen seiner Schwingen kühlend und gut. Und wenn am Abend die Oberschwester die Morphiumgaben berechnete, die Tabletten abzählte, die Schlaf den Schlaflosen bringen, hatte sie dies nüchterne Abwägen als grausam empfunden. War es nicht unmenschlich, solche armen, verstümmelten Käfer, ohne Beine, ohne Flügel zurückzuwerfen in den großen Ameisenhaufen des Lebens, preisgegeben und wehrlos? Während ein paar Tropfen mehr in dem barmherzigen Spritzchen ihnen Frieden und Erlösung geben würde, Erlösung von dem Gewesenen, das ihre Träume mit der Marter der Erinnerung erfüllte, und von dem Zukünftigen, dem sie, wach, in Verzweiflung entgegenstierten. Ach, warum befreite man sie nicht, Menschen, die nur noch Rumpf waren, Menschen ohne Kinnladen, Blinde ohne Hände! Um sich selbst einen Gewissensbiß, eine Angst vor Strafe oder späteren Skrupeln zu ersparen? Oh, feig, verächtlich! . . .

Die Landschaft begann sich zu verändern. Die Sandhügel, die Kiefern, das noch winterliche Heidekraut hatten aufgehört, Eichen und Erlen 224 verrieten feuchteren Grund. An durchsichtigen Gehölzen und am Bahndamm entlang zogen die aufgetauten Gräben, und über Moorwiesen wippten Sumpfvögel mit kleinen Federhäubchen; dort würden bald Flockblumen und Schwertlilien blühen und Männer in Wasserstiefeln durch das quatschende Luch waten, um die Kibitznester zu plündern; man war schon nahe dem Flußbett. Bäuerinnen und Feldarbeiter stiegen an jeder kleinen Station aus und ein, mit Kiepen und Säcken. Sie sprachen ihr märkisches Platt, redeten von Saat und Wetter und kleinen Ereignissen in der Verwandtschaft und Freundschaft. Eine magere, schwarzgekleidete Frau erzählte einem Mann vom Sterben ihrer Mutter: »Ja, denn hett se schon an'n Morjen frieh de Ogen ganz stief jestellt, unn ick bring ihr noch'n Kaffe ans Bett, ornlich mit Bohnen, unn denn secht se, Minna secht se, det is awer en scheenen Kaffe, awer se schlückert nur sonn paarmal unn kricht et nich runter. Unn Mittag wull se ooch nich eten. Nu denn, segg ich, Modder, segg ich, wie will Ju det denn hewen mit det Gräwnis? Wat schall ick Ji'n anziehn? Dat jute Schwarze! Nee, secht se, det soll Frieda'n kriegen, wenn se all kunfermiert wird, is'n juten Thibet. Zieh mir man mein' warmen Unterrock an und wollne Strümpfe, awer daß se och janz sind, unn von de Parchentjacken eene, aus de Kommode, dat's Staat jenuch. Awert Jesangbuch leechste mir mit inn. Modder, hew ick denn secht, wer soll'n Ju 225 waschen, Kramersch? Nee, secht se, Kramersch war immer so misjünstich, nich mal'n Ablejer von ihre weiße Jeranien hat se mir jeben wollen, de olle Speilzahn, ick kann se in'n Dood nich leiden. Ja, segg ich, awer't sieht so miserich aus vor de Leite, wenn Kramersch nich kommt – as wolln wir det Jeld nich an Ju wenden. Nu – denn denkt Modder bißken nach unn secht: Ja, Minna, hest wohl recht, so was macht böset Blaut, nu denn laß Kramersch komm', ick weet ja denn doch nichts mehr von, awer anziehn soll se mer nich. Nee, Modder, hew ich secht, det schall se denn och nich, ich richt Ju schon vordem daß se kommt, unn ich leech Ju ooch sülwst in dat Sarch! Nu, da war se denn taufreden un is injedröselt wie'n Kind.«

Adriana hörte erst mit halbem Ohre hin, aber das Sprechen einfacher Leute war ihr immer voll plötzlicher Erleuchtungen gewesen. So auch hier. Diese ruhige, unsentimentale Art, dem Tode zu begegnen, wo sich doch etwas Warmes, Treues darunter regte, war ihr sympathisch. Diese Leute hatten die grauenhaften Entladungen der letzten Jahre hingenommen wie Gewitter und Hagelschlag, gegen die man machtlos ist. Und was die Zeitungen jetzt noch alles brachten; lieber Gott, was sollten sie sich darüber die Köpfe zerbrechen, fernabliegendes, verschwommenes Unheil, das vielleicht noch kam, vielleicht auch nicht. Es war ein kummervolles Einrenken gewesen, ein Klirren, ein 226 Aufstöhnen . . . nun setzte sich die Maschine wieder in Trott. Armes, sandiges Land, wo jeder seit Menschengedenken sich hatte dranhalten müssen um zu bestehen, ein Jahr wie das andere, Saat und Ernte, Geburt und Tod, wo es zuletzt, ganz ohne Mannsleute, für Frauen und Kinder so namenlos hart gewesen war. Aber schließlich war man durchgekommen, und die Sonne ging auf und nieder wie von jeher und die Zeit mit ihr, als ginge eine Wiege. Und so redeten sie meist von geruhsamen Dingen.

Adriana nahm Tasche und Schirm aus dem Netz. Die Frau gegenüber hatte gesagt, nun käme Nebekow. Man sah schon einzelne Häuser. Der Zug fing an zu bremsen, die Räder drehten sich langsamer, dann ein Klirren, ein Ruck und sie standen still.

 

II

Ein Läufer, ein flüchtender Hirsch, ein eifriges rassiges Pferd kommen mit gespannten Sehnen, federnd, erwartungsvoll, den Wassergraben zu überfliegen, den sie vermeinten schimmern zu sehen. Und nun stutzen sie, es ist ein schmales versumpftes Rinnsal. Sie stoßen sich ab; aber die Ränder sind weich und nachgebend, und es mag sein, daß das große eingebildete Hindernis leichter und sauberer zu nehmen wäre, als die kleine bröckelnde Wirklichkeit.

Als Adriana einige Wochen bei der Familie Witukind gewesen war, hatte sie die Ideen und 227 Pläne mit denen sie ihre Reise angetreten, heimlich lächelnd weggepackt. Immer noch brannte Opferlust in ihrem Herzen. Aber es war ein anderer Altar vor dem sie kniete, auf den sie ihre schüchternen Gaben der Hilfsbereitschaft, der Zärtlichkeit niederlegte. Sie die ihre zarte, übermüdete Mutter mit scheuer Sorge umhegt hatte, vor dem schweigsamen, bitter gewordenen Vater einen an Furcht grenzenden Respekt empfand, für die Zwillinge ihr Herz zerschmelzen fühlte, was sie sich aber um alles nicht merken lassen durfte, weil sie bei den hartgewöhnten Brüdern auf wütende Abwehr gestoßen wäre; sie die ihre angebetete Schwester Anna schon vor deren Tode nicht mehr besaß, weil jene, enthusiastisch und maßlos – was die Welt maßlos nennt –, sich mit einer Leidenschaftlichkeit der Gemeinschaftsbewegung angeschlossen hatte, die sie wie in fernes Nebelland entrückte – ach, Adriana fand in dem neuen Wohnort, was sie undeutlich immer ersehnt hatte: eine Seele in die sie einmündete, die sie mit weiten Armen aufnahm und davontrug, eigenwillig, dunkelbrausend wie ein Strom.

Im Hause, einem behäbigen, einstöckigen Hause aus friderizianischer Zeit (ähnliche gab es hier noch straßenweise), herrschte Armut. Nicht das schäbige Auskommen ihres Elternhauses, engbegrenzt, aber – solange der Vater lebte – regelmäßig und gesichert; nein, es war die durch Unberechenbarkeit doppelt zermürbende Armut. Der Baumeister zwar 228 hatte ein kleines Gehalt, das mit Inspektionsreisen zusammenhing, von denen er mürrisch und aufgeregt heimkehrte; denn er vermochte nicht seinen grauen, wehenden Schopf vor Vorgesetzten zu beugen; und schon waren Andeutungen gefallen, daß seine Anstellung auf Voraussetzungen beruhe, die auf die Länge mit den Forderungen einer neuen spartanischen Zeit nicht zu vereinigen seien. Worauf er höhnisch zurückschrieb, die spartanische Zeit brächte es fertig, mit der dreifachen Zahl der Angestellten weniger zu leisten als jene geschmähte Zeit vor dem Zusammenbruch. Denn Heinrich Witukind gehörte zu den Leuten, die aus angeborenem Widerspruch stets die Partei der Abgesetzten ergreifen; und ebenso wie er früher, steifnackig, über Beamtendünkel und fürstliche Ahnungslosigkeit in Kunstsachen gehöhnt und gewettert hatte, schleuderte er jetzt Bannflüche gegen die nivellierende Mittelmäßigkeit, den Mangel an persönlicher Verantwortung, das gedankenlose Sumpfen der neuen Herren. Kleinem Handwerkerstand entstammend – was er nicht ohne Eitelkeit gerne unterstrich –, hatte er das echte künstlerische Empfinden bis in die Fingerspitzen ins Dasein mitgebracht. Wohlgefallen an Form, an Maß und Gleichgewicht, nicht nur in der sinnlichen Welt. Und so entbehrte er, nicht den so oft geschmacklosen Prunk, aber gewisse traditionelle Großzügigkeiten der entschwundenen Welt, und schon schmückte sich ihm diese mit der zaubernden 229 Patina, die alte, verwahrloste Schloßgärten, unerwartete, wappengeschmückte Barocktüren in sonst prosaischen Straßen so zum Aufschreien reizvoll macht. Nun aber schwebte der Abbau auch über seinem Haupt. Was die Familie sonst noch brauchte, hatte er bisher durch Privatarbeit erworben. Aber die Privatarbeit allein? . . . Ein Hamburger Mäzen war zur Zeit das einzige Licht in der Finsternis, und auch diesen hatte er neuerdings beinahe vergrämt, denn Heinrich Witukind begegnete den Wünschen und Einwänden seines Klienten mit einem geringschätzigem Achselzucken, als handle es sich um die Vorschläge des fünfjährigen Besitzers eines Ankerbaukastens.

Der Baumeister, verwittert, etwas schwerhörig, mit stahlblauen Seemannsaugen unter dem kühnen, grauen Schopf, breitschultrig und schmalhüftig wie ein Cowboy, kam tagelang nicht zum Vorschein. Rückwärts, dem Hofe zugekehrt, war sein Arbeitsraum. Regale aus Tannenholz die er sich selbst zurechtgezimmert hatte, große graue oder marmorierte Mappen an die Wände gelehnt, zwei lange, auf Böcke gelegte Zeichenbretter, das war das Mobiliar. Vor dem Fenster im gepflasterten Hof standen ein paar Nußbäume – im Sommer warfen sie tanzende Blätterschatten in die Werkstatt – im Hintergrund niedere langgestreckte Gebäude, die verödeten Schwadronsstallungen des ehemals hier garnisonierten Ulanenregiments. Nun zum Teil leer, zum Teil an Ackerbürger vermietet, 230 die ihr Heu, ihre Geräte darin verwahrten. Noch ein anderes Fenster ging nach dem Hof; es gehörte zu einem Zimmer auf der linken Seite. Dorthin gelangte man durch die Küche. Dies Zimmer bedeutete den Unstern der über der Familie Witukind stand, aus Unheil geboren, unbeweglich und lastend.

Nach vorn heraus aber, links und rechts des geräumigen, rotgeziegelten Flurs, führten die hohen, weiß lackierten Türen jenes licht- und luftholden Jahrhunderts in helle, spärlich möblierte Stuben. Da stand der Flügel von Lena Witukind, da standen die etwas grau gewordenen Büsten von Beethoven und Mozart und Lenas Notenschrank, aus hellem Birnenholz nach Witukindschen Entwürfen vom Nachbar Schreiner ausgeführt. Hier lebte die große, wilde Frau, hier ging sie rastlos auf und ab wenn Verzweiflung sie packte, hier sang sie mit gebrochener Stimme, mit großen verarbeiteten Händen ungeduldig die Begleitung andeutend, die alten stolzen Arien, deren Gram nur durch Schleier schimmert, hier auch kramte sie in Koffern und Kisten und schmückte ihre kleinen Töchter mit altmodischen Fransentüchern, Korallen und römischen Bändern, die sie darin fand. Adriana ging befangen in dem kahlen und doch unordentlichen Hauswesen umher. Von all den kleinen Verfeinerungen, die Frau von Wehra hinübergerettet hatte auf die Insel der Schiffbrüchigen, war hier nichts zu spüren: nicht weil sie verloren gegangen, 231 sondern weil sie nie gewesen. Aber auch die wichtigere Ordnung der Zeiteinteilung, der räumlichen Absonderung galt hier wenig. Der Schule halber mußten die Mahlzeiten der Kinder innerhalb gewisser Stunden erledigt sein, aber das war auch alles. Herr Witukind erschien bisweilen, einsilbig und zerstreut, zum Essen, mit einem Kaspar-Hauser-Lächeln, als sei ihm alles unverständlich und neu; plötzlich konnte er dann mit beißender Ironie auf irgendeine Unart der Kinder aufmerksam machen, seine gereizten Nerven meldeten sich, er wurde heftig: Mingo hatte Brotkügelchen gedreht, oder Titta hielt die Gabel zu tief unten. Vor solchen Sprengminen war man bei ihm nie sicher. Meist aber war er tief in der Arbeit, wenn zum Essen gerufen wurde; dann ließ er sich's in die Werkstatt bringen; auch war er oft über Land.

Morgens, ziemlich früh, machte Frau Witukind die Betten, das heißt sie riß alles auseinander und veranstaltete einen orkanischen Luftzug, hygienischen Grundsätzen entsprechend die den Teufel durch Beelzebub austreiben; denn wenn auch nächtliche Miasmen in keinem Winkel der Wohnung zu finden waren, so lösten sich – winters zumal – Husten und Katarrhe nur immer so ab. Dann tranken Adriana und Frau Witukind Tee. Die kleinen Mädchen bekamen schon um sieben ihre Milch ans Bett, damit sie ein wenig länger liegen konnten; das Frühstück der Damen ging manchmal im Flur, manchmal in der Küche vor 232 sich. Mit ihren meerblauen, schwarzumwimperten Augen sah die Hausfrau sich ratlos um; die Löffel hatten eine Art sich zu verkriechen, in der ihnen nur noch die Streichholzschachteln über waren. Sie wühlte ratlos in ihrer schwarzen Mähne, die von silbernen Fäden schon reichlich durchzogen war, und dankte Adriana, wenn diese das Vermißte herbeibrachte, mit einer staunenden Bewunderung, als handle es sich um die Entdeckung neuer Weltteile. Nach dem Tee und einer Zigarette zog Lena Witukind in Sandalen und meist nur im Unterrock unter dem alles verhüllenden Lodenmantel, mit einem riesenhaften grünen Beutel los, um die täglichen Einkäufe zu machen, die sich hauptsächlich auf Gemüse wenig edler Art beschränkten, denn so groß der grüne Beutel war, so klein war ihr Portemonnaie. Während der Zeit ordnete Adriana das Chaos der Schlafstuben, schloß die Fenster, deren Flügel statt durch Haken durch eingeklemmte Schuhe oder Haarbürsten offengehalten wurden, und räumte die anderen Zimmer auf, was bei dem Mangel an Mobiliar nicht schwer hielt. Frau Witukind kehrte heim, mit Kohlköpfen und Mohrrüben beladen, die sie mit einem knurrenden Kehllaut halb des Triumphes, halb der Verachtung auf den Küchentisch kollern ließ, und nun begann das Kochen oder die Vorbereitungen dazu. Breitschultrig, in königlicher Haltung, »superbly defiant« würde man's auf Englisch ausgedrückt haben, stand sie am Herd. Anfangs nannte Adriana 233 sie in ihren Briefen an die Mutter »Azucena«; denn sie erschien ihr wie eine tragische Zigeunerkönigin, von Land und Thron vertrieben; und das was sie später als traurig vergrabenes Gold in ihr erkannte, schien ihr zuerst wie Theaterflitter und von unwiderstehlicher Komik. Bis sie nach kurzer Zeit die Kindlichkeit dieser armen, wehrlosen Tierseele erkannt und leidenschaftlich in sich aufgenommen hatte, nicht ahnend, daß bloßes Mitleid so nicht ergreifen kann, und daß da etwas Zwingendes war wie ein saugender Wirbel, eine große, ursprüngliche Natur, die ihre Umgebung an sich zieht und beherrscht, unwillkürlich.

Jede Stunde beinah verschwand Frau Witukind in dem sonnigen Gang der von der Küche in das geheimnisvolle Zimmer führte; ein Sohn, wohl aus einer früheren Ehe Heinrich Witukinds, hauste dort, krank, offenbar gelähmt, und eben war er erkältet oder sonst geplagt, sein Rollstuhl im Flur stand unbenützt und noch hatte Adriana ihn nicht erblickt. Die kleinen Mädchen aber sprachen nicht von ihm, er war wohl etwas Altgewohntes, Selbstverständliches, dessen Interesse abgenützt ist.

Die kleinen, blassen Mädchen machten mit Adriana Schulaufgaben. Mingo, die oft Kopfweh hatte, wurde besonders das Rechnen schwer; dann riß Lena Witukind aus irgendeinem Schulheft ein Blatt heraus und schrieb mit großer fliegender Schrift einige pathetische Worte, die der Schulbehörde das Übertriebene ihrer Anforderungen 234 vorhielten; Titta mußte den Zettel mitnehmen, und dann lag Mingo auf dem Sofa, von Katzen umgeben; denn in den verödeten Stallungen hatte sie eine Katzenfamilie entdeckt, der sie mit der ganzen Leidenschaftlichkeit ihres Herzens anhing. Aber dann weinte sie wieder, wenn sie sah, wie die alte Katze eine Maus anbrachte und zu Tode quälte, und sie hatte ihr schon manches Mal eine abgejagt. Die brachte sie dann zu Frau Witukind, und sie siedelten sie, mit Vorratskammern unter Sofa und Schränken, im Wohnzimmer an, wo die weißlackierten Holzpaneele beste Zuflucht boten, da sie überall klafften.

Ja, es war ein einsames, fast ein verwunschenes Leben, ohne Geräusch, ohne Geselligkeit, denn Frau Witukinds Vergeßlichkeit im Erwidern von Besuchen, ihre Ratlosigkeit, wenn sie einen Teetisch oder sonst einen kleinen Imbiß improvisieren sollte, hing wie Bleigewicht an jedem Aufschwung; so lebten Witukinds, als Sonderlinge gebrandmarkt, was sie auch in der Tat waren, wie in einem Dachsbau. Aber nach der Trauer, der Enge, den vielen Anforderungen des Elternhauses kam sich Adriana vor wie ein überwinterter Zitronenfalter, der plötzlich an die Sonne kommt, Luft und Raum um sich spürt und die zerknitterten Flügel spannt und glättet. Nach dem arbeitsamen Leben daheim waren die Pflichten hier nur ein Spiel, und bald begann sie sich den Seltsamkeiten der Tagesunordnung einzuschmiegen. Ganz sacht auch begann die 235 Frau mit dem rätselhaften, tragischen Antlitz sie anzuziehen und zu beherrschen. Da war ein Kontrast zwischen dem verzagten, manchmal finster anklagenden Blick und dem fast kindlichen Mund mit den kleinen feuchten Zähnen . . . ja, wie ein schönes, stummes Tier war sie, das mit den Augen redet aber selten verstanden wird.

Herr Witukind war leichter zu beurteilen. Seine Nerven verrieten ihn, ebenso seine bisweilen pedantischen Aussprüche, welche diejenige Seite seiner Natur offenbarten, die man bei seinem graugelockten Schopf, seinem künstlerischen Wesen nicht vermutet hätte. Es war das Kleinbürgerliche, Wohlgesetzte, wie scharf eingebügelte Falten, aus der Kinderzeit ihm verblieben, die er in anständigen Handwerkerkreisen ohne besondere Lebenslust, ohne Schönheitsgefühl, aber auch ohne Angst ums tägliche Auskommen verlebt hatte; als Sohn eines Vaters, der allmählich in der Engigkeit und Langeweile versumpft war, ob er auch dumpfe Wünsche nach künstlerischer Lebensweite sich bäumen fühlte, und einer ängstlich bremsenden, sparsamen Mutter, Bergmannstochter, Schwester vieler Brüder, die daheim bei Streiks und Aussperrungen und jähen Unglücksfällen auf sich angewiesen, immer mit dem Schwanken der Unsicherheit unter den Füßen, nun auf einmal in helleren, wenn auch immer noch engen Verhältnissen ihr Genügen fand und zäh verteidigte. 236

Obgleich Künstler – nein, vielleicht gerade deshalb –, entbehrte Heinrich Witukind Ordnung und Regelmäßigkeit in seinem Hauswesen; denn auch seine Kunst litt nichts Verschwommenes. Gleichgewicht, Zweckmäßigkeit, Gliederung – darauf, und sei er auch noch so überraschend und phantastisch, gründet sich jeder Bau. Und auch in der Musik hatte er einst gemeint, müßte man, obgleich umkleidet von Klangfarbe und Schattierung, tief drinnen das selbe göttliche Gebälk – kühn und doch vernünftig – spüren. Aber nun – wenn ihn die Musik seiner Frau einst auch erobert hatte, weil sie ihrer fremdartigen Schönheit, ihrer tierhaften Anmut den Hintergrund wie von mythischem Hochwald gab; wenn er sie heute, ob auch verschwommen – er war seit einigen Jahren schwerhörig –, auf dem alten heiseren Flügel toben hörte, reizte es etwas in ihm, das in jener fernen Kinderzeit wurzelte; seine Mutter, die ihm doch seine Jugend redlich verkümmert hatte, und die – aber das gestand er sich nicht ein – Schuld daran trug, daß in seine Ehe ein gezwungener unglücklicher Ton gekommen war, tauchte vor ihm auf; streng gegen sich selbst, freudlos, immer etwas beleidigt, und das Geisterwehen ihrer Nörgeleien erfüllte ihn nun mit peinvoller Anklage gegen sich und seine Frau; denn es ist das traurige Vorrecht der Toten, uns ungerecht zu machen gegen die Lebendigen.

Abends, ehe Mingo zu Bett ging, und wenn Titta, welche Ehrgeiz besaß, noch einmal die 237 Aufgaben für den kommenden Tag durchsah, war Adriana mit Mutter und Töchtern im Wohnzimmer. »Tu die dummen Bücher weg, Titta, wir wollen Karawane spielen,« sagte Frau Witukind. Dann lagerte sie sich auf der Erde und gab an, sie sei ein Kamel und müßte geschlachtet werden, wie das in der Wüste üblich sei, um den Wasserbehälter in ihrem Bauch zu öffnen. Aber dann fanden sie ein Sofakissen. Ein Dattelsack! wurde gejauchzt . . . nein, es waren Diamanten. Und es war nicht zu sagen, mit welcher Verachtung Mingo sagte: »Nur Diamanten!« Ach, das arme Kamel, nun mußte es wirklich sein Leben lassen. Titta wetzte schon das Messer an ihrer Schuhsohle, aber dennoch, dennoch – Allah sandte Hilfe. Ein edler Scheich in Serviettenturban kam in Staubwolken geritten, er rettete die Verdurstenden, er rettete das Kamel, Mutter war jetzt kein Kamel mehr, ihr Rollenfach war nicht so beschränkt, jetzt war sie der älteste Pilger nach Mekka und Medina, sie verneigte sich und sagte: »Salem aleikum.« Und Mingo, ihre Tochter, heiratete den edlen Scheich zu den Klängen von: Seht da kommt er preisgekrönt . . .

Mittendrin konnte es aber auch vorkommen (und waren die kleinen Mädchen an derlei gewöhnt oder hielten sie es für einen Teil der Aufführung, sie nahmen es ruhig hin, als sei nichts Besonderes dabei), mittendrin konnte Frau Witukind Mingo oder Titta plötzlich mit kurzem Aufschluchzen an sich reißen und hochheben; einmal fand Adriana 238 sie in der Dämmerung auf dem Sofa sitzend, rechts und links eine kleine, müde getollte Tochter im Arm. Dies war doch wohl kein Spiel; sie starrte vor sich hin, der Laternenschein von der Straße fiel durch die Scheiben auf ihr schönes, früh verwittertes Antlitz, und eine große Träne nach der andern rollte an ihren Wangen hinunter. Wie sie da saß, erinnerte sie Adriana plötzlich an eine Gallionsfigur, die sie einmal gesehen. Es war bei einem Zimmermann gewesen, in dem kleinen Seebad wo sie als Kinder zwei Sommer verbracht hatten. Nicht in der Werkstatt sondern in der Ecke eines kleinen Hofes, wo Bretter und Gerümpel sich türmten; so, vom Regen bespült, hatte das wilde, traurige Haupt hinausgestarrt, wettergrau, zermürbt, in Verzweiflung und Heimweh nach Wogengischt und Möwengeschrei.

Nie hätte Adriana gewagt, nach dem Grund dieser Tränen zu fragen, ja, sie nur zu bemerken. Denn sie stammte aus einer Familie in deren Sittenkodex ungerufene Teilnahme für Aufdringlichkeit galt, diese aber kam gleich nach Unehrenhaftigkeit. Aber ihre Fingerspitzen waren ahnungsvoll, und ihr war wie in einem Traum, wenn man durch fremde und dennoch seltsam vertraute Räume geht; denn man weiß ja, wohin diese Tür, diese Treppe führen, obgleich man sie nie öffnen wird, und man gleitet dahin, die Fußsohlen nur handbreit über dem Boden schwebend, und unverständliche Worte werden einem zugeraunt, sinnlos, ein wenig gruselig und dennoch lockend. 239

 

III

Es gibt Worte, deren Klang Bilder erweckt, verschwommen, schrecklicher in ihrer Undeutlichkeit als ihre eigentliche Bedeutung. Wie schauderhaft zum Beispiel war es, im Märchen vom »Unhold« zu lesen. Gerade weil man sich gar nicht ausdenken konnte, was ein Unhold sei. Der Drache, der Menschenfresser, die Hexe . . . ja, da wußte man, woran man war. Die beiden ersten, wenn auch recht fürchterlich, schließlich waren sie doch tappig und ließen sich überlisten. Die Hexe – schon weil sie weiblich war – machte mehr zu schaffen. Aber dann wollte sie allzuklug sein und verbrannte in ihrem eigenen Feuerofen. Aber der Unhold! Aufgeschwemmt, wenn auch kaum sichtbar, irgendwo saß er in einem trichterförmigen Loch und konnte seinen Hals lang machen wie ein Teleskop und seine Fangarme ebenso; plötzlich in der Dämmerung griff er zu. Am nächsten an Schrecken kam ihm nur der Werwolf, mit grausamen Augen und geiferndem Maul und bösen, schnarchenden Tönen. Und irgendwie hatte er die Übermacht. Sonst wäre er kein rechter Unhold gewesen. Bei Tageslicht dachten die Leute nicht seiner oder stellten sich so . . . aber wenn die Nacht kam wuchs ihre Angst, Türen und Fenster wurden verrammelt.

Hier nun war der Unhold, wenn man wollte oder wenn man mußte, auch bei Tage sichtbar. Frau Witukind hatte, nachdem die erste Zeit des 240 Fremdseins vorüber, Adriana mit einem kleinen nervösen Lachen, das in schluchzendes Seufzen ausklang, in die Höhle geführt, wo er hauste, niemand zuliebe, allen zur Last. Kein verstümmelter Krieger, kein Blinder, kein Arm- und Beinloser, schmerzliche Trümmer wie sie der zurückebbende Kampf am Strande hinterließ; nein, dies war ein Gezeichneter von Geburt, der schon im Mutterleib den Fluch in sich getragen hatte. Groß und dick und unförmig saß er in seinem Lehnstuhl, der mit Vorrichtungen wie für hilflose Kindheit versehen war, vor ihm ein Tisch mit Bauklötzen zum Spielen, die auch als Wurfgeschosse dienten wenn Wut ihn überkam. Meist aber glotzte er mit schweren Lidern vor sich hin, und man hätte ihn für ein verblödetes Riesenkind halten können, wären nicht die spärlichen Barthaare an Kinn und Wangen gewesen. Die Hände breit und stark; und wenn er sich aufrichtete, merkte man erst, wie groß er war, denn sitzend sank er zusammen. So saß er in seinen ruhigen Zeiten stundenlang, aber manches Mal, bei plötzlichem Hinsehen, ertappte man einen Blick, der lauernd die Anwesenden musterte, sich aber rasch abwandte, wenn des anderen Blick ihm begegnete. Was mochten für halbgeformte Gedanken hinter der dicken Schädelhaut ringen, von welchen dunklen Ängsten mochten sie durch Labyrinthe gepreßt werden, Würmern gleich, die sich durch schwere Erde winden! Schwach war der Funke, wie bei einem kleinen Kind; aber nicht eingebettet 241 in wohlige Dämmerung des Wachstums, durch die schon Sonnenlichter spielen; fahles Grau, unabänderliches, umgab ihn. Und alle Dienste, die sonst das Erbarmen dem Dienenden erleichtert, hier mußten sie geleistet werden in Hoffnungslosigkeit, mit Ekel gemischt, wogegen bloßes Pflichtgefühl unvollkommen aufkam.

»Nur ab und zu – wenn ich ausgehen muß – aufpassen, ob er ruft, ob er klagt,« flüsterte Frau Witukind, als sie wieder heraustraten; hart und schmerzhaft drückte sie Adrianas Hand.

Die kleinen Mädchen kamen eben vom Hof herein, die Abendsonne hinter ihren Häuptern in der offenen Haustür, daß die gesträubten Härchen um Stirn und Schläfen standen wie Heiligenscheine. Frau Witukind sah sie an, ein brennender Abgrund im Blick. »Mingo,« sagte sie fast flehend, »hast du auch deinen Lebertran genommen?« Mingo machte eine Grimasse, sie sah aus wie ein wehmütiges Kasperl und schlenkerte mit Armen und Beinen, um die Ähnlichkeit deren sie sich bewußt war, zu betonen; ach, die Regentonne im Hof hätte so manches vom Lebertran erzählen können. Frau Witukind biß sich auf die Lippen; warum war Liebe immer so von Angst beschattet, dachte sie; wie ein großer, drohender Raubvogel hing es doch über allem, was man liebte. Der Arzt zuckte die Achseln, wenn sie Mingo zu ihm brachte. »Wozu kommen Sie her, Frau Baumeister,« fragte er beinahe barsch, »wenn eine Pflanze wachsen soll, 242 braucht sie Sonne und Dünger, und mit den Kindern ist's ebenso. Was soll ich Ihnen Geld für Medikamente aus der Tasche ziehen? Ein Jahr Gebirgsluft und gutes Essen und gute Pflege, da sollten Sie sehen, wie die Kleine aufblüht. Wenn hier Quäkerspeisungen wären würde ich sie anmelden.« Und er hob den dünnen Kinderarm und ließ ihn fallen, als sei Mingo ein lädierter Hampelmann.

Titta war der Mutter ähnlicher, dunkler als Mingo, hager und zäh. Sie schien bei der elenden Kost der Kriegsjahre stählern geworden zu sein, hatte eine gewisse verächtliche Art, sich den Bücherranzen über die Schultern zu werfen und die dunkelblaue Strickmütze über den Kopf zu stülpen; dazu pfiff sie wie ein Gassenjunge. Sie hatte einen guten Lernkopf, sah aber ein, daß Studieren zu viel Zeit und Geld erfordern würde, darum hatte sie sich vorgenommen, sobald sie konfirmiert sein würde – eine Prozedur, die ihr äußerst überflüssig vorkam –, Gärtnerei und Landwirtschaft zu erlernen. Später dann wollte sie ins Ausland, nach Kalifornien, um auf märchenhaften Obstfarmen zu arbeiten. Mingo sollte ihr nachkommen. Davon sprachen sie nachts in Flüstertönen, Mingo mit weit aufgerissenen Augen bei dem Gedanken an die furchtbare Wahl, ob in die Fremde mit der angebeteten Titta – was Trennung von der Mutter bedeuten würde – oder umgekehrt! Und Adriana sah, wie Frau Witukind aufseufzte, wenn sie die Robinsonaden ihrer Töchter erlauschte. 243

Wenn das Wetter schön war, wurde der Unhold im Rollstuhl in den Hof transportiert und von dort aus in ein Gärtchen, das hinter den Stallungen lag und durch ein Holzgatter abgetrennt war von den riesigen Spargelfeldern, die sich weit hinstreckten, öde, zu beiden Seiten der Chaussee, bis wo der schwarze Kiefernwald begann. Wenn die Sonne schien, war der Unhold, anfangs wenigstens, guter Dinge; dann lachte er und ließ mit dem Finger die Unterlippe schnurren. Aber lange dauerte es nicht, dann wollte er aus dem Stuhl heraus, kroch auf allen vieren, riß die Blumen ab, steckte Steine und Sand in den Mund, fand Glasscherben und auch einmal eine rostige Sichel, und dann schnitt er sich und brach in Wehgeheul aus; oder auch er verbarg solche Dinge und ging später damit auf die kleinen Mädchen, auf die Stiefmutter los. Wenn er dann wieder hinein mußte, gab es schreckliche Auftritte, sein Gebrüll war furchtbar zu ertragen, weil es nicht nur Mitleid sondern auch Abscheu erweckte, und manchesmal mußte man über die Gartenmauer rufen zum Tischler nebenan, um die Rückkehr zu erzwingen. Herr Witukind wurde nie zum Eingreifen aufgefordert. Es war ein Übereinkommen, daß Vater möglichst geschont bleibe, denn er brauchte ja seine Nervenkraft so nötig zum Erdenken von Sanatorien und Festhallen und großen friedlichen Landhäusern, schön hingelagert über dem silbernen Elbstrom. Nur manchmal öffnete er sein Fenster, totenblaß, und rief: 244 »Uli!« War's Flehen, war's Befehl? Dann duckte sich Caliban murmelnd und sabbernd und gab eine Weile Ruhe.

Die Tage gingen still dahin, der Flieder im Gärtchen hatte überreich geblüht, mit ihm der Goldlack, die Narzissen und Tulpen, nun war die Reihe an Jasmin und Rosen. Aber heute war Uli bösartig gewesen, hatte die Beete der kleinen Mädchen zerwühlt und dem schönen Rosenbäumchen Gloire de Dijon den knospenreichsten Ast zerknickt. Aber das war nicht das schlimmste. Ein Grasmückennest in den Johannisbeeren, der kleinen Mädchen Wonne und Heiligtum, hatte er erspäht, und ehe die entsetzt schreienden Kinder Hilfe holen konnten, es herausgerissen und langsam grinsend zerquetscht. Das Vogelmütterchen flog angstvoll von Zweig zu Zweig im Birnbaum, über dem bösartigen Trottel. Und da war die kleine Mingo umgefallen, in Krämpfen, mit verdrehten Augen.

Nun lag sie in der Mutter Bett, zu Ruhe gebracht mit Tee und vielen Küssen. Bis sie eingeschlafen war, hatte Frau Witukind ihre Hand halten müssen, während Titta, die sie später ablösen sollte, die Hände vor den Ohren, eine kleine finstere Falte zwischen den Brauen, ihre Aufgaben für morgen memorierte. Denn eins war ihr klar: gelernt mußte werden, was auch dahinter stand an häuslichem Ungemach.

Später saßen die beiden Frauen im Nebenzimmer im Abendlicht bei angelehnter Tür. Hand und 245 Arm in einen zerlöcherten Strumpf gesteckt, das große tragische Gesicht anklagend erhoben, erzählte Frau Witukind ihr Leid der erbleichenden Adriana, die fast schamhaft bei diesem plötzlichen Dammbruch den Kopf über die Flickwäsche neigte, die auf dem Tische gehäuft lag.

Und Frau Witukind erzählte; erzählte von ihrer eigenen freudlosen Kinderzeit bei der kränklichen Großmutter, die sie bei sich aufgenommen, nachdem ihr Vater – Dekorationsmaler am Stadttheater – und ihre Mutter rasch hintereinander gestorben waren. Sie war so fremd und scheu in der grauen Langeweile des engen Haushalts wie ein gefangenes Eichkätzchen, oh, sie erstickte in all der Ordnung und Wohlanständigkeit, und . . . die Stimme in ihrer Kehle, die wollte ihr Recht. Darüber brach Streit aus, und sie schwieg. Aber sie wußte, wußte ganz sicher, die Stimme würde siegreich bleiben, irgendein Wunder würde geschehen. Vertraute dem Leben trotz alledem, denn wäre sie ein Knabe gewesen, Cäsar, Napoleon, die großen Führer würden ihre Richtsterne gewesen sein. In der Schule liefen ihr die Mädchen nach wie die Mäuse von Hameln; über Brücken, über Ströme, in unbekanntes Land hätte auch sie sie gelockt. Siebzehn Jahre alt war sie, als die Großmutter starb und – Gott möge ihr verzeihen – nicht anders war's gewesen, als ob ein erstickendes Federbett fortgezogen sei, das auf ihr gelegen, oder endlich im Frühjahr die Fenster geöffnet würden, die 246 schrecklichen Doppelfenster mit roten Kissen dazwischen und mit Scheibengardinchen, um jeden Blick ins Freie zu verhindern. Aber wie einem Gefangenen, der allzu lang in der Zelle gesessen und die angelehnte Tür nicht mehr zu öffnen vermag, war ihr anfangs zumute. Als sie nach dem Begräbnis wieder nach Hause kam und die Stuben so still und aufgeräumt gefunden hatte, den kleinen Tisch am Fenster mit den »Stimmen aus Barmen«, der Brille, dem Arbeitskörbchen . . . der »tröstende Christus«, süßlich und antipathisch, an der Wand, die Gardinchen, alles so häßlich und ordentlich, aber wie's der alten Frau nun einmal lieb gewesen war; oh, sie fühlte Zentnerlast auf dem Herzen. Dann kam ihr die Hilfe von einer Seite, von der sie sonst nichts Gutes erwartet hatte. Der Geistliche besuchte sie und sagte, wenn sie ernstlich Musik studieren wollte, würde er's bei der Vormundschaft durchsetzen. Nun hatte sie ihren Willen, aber einstweilen war sie noch wie gelähmt. Denn der Tod . . . der Tod ist doch das ernsthafteste Ding auf Erden, und was man einem Wehrlosen abringt – anfangs wenigstens hat man keine Freude daran; da hilft nur die Zeit.

Adriana lehnte das Gesicht an Frau Witukinds Arm. »Aber Ihre Stimme, Frau Witukind, war das nicht ein großer Trost?« sagte sie leise.

»Ja,« sagte Lena Witukind, »das war sie. Nein, Trost ist nicht das Wort – Rausch war's und Vergessen. Und schon zu Großmutters Zeiten war es 247 das, wenn ich auf den Speicher stieg und mich zum Dachfenster hinausreckte und sang – oder nur schrie –, ich weiß selber nicht mehr. Als ich dann in Hamburg zum erstenmal die Sirenen heulen hörte an einem Nebeltag, tönte das so bekannt; so hatte ich auch gerufen in die graue Luft hinaus, in all den Dunst von Feueressen und Schornsteinen, dort in der grauen, rußigen Stadt, wo Großmutters Haus war. Wo die Leute fromm wurden und zu den Erweckten gingen, um nicht ganz zu ersticken.«

Frau Witukind blickte auf ihre Hand im Strumpf, auf die großen, häßlichen Löcher und mißfarbigen Stopfstellen; es war etwas Versteinertes in ihrem Blick.

»Die Vormundschaft verkaufte Großmutters Haus, ich erhielt eine kleine Zulage aus den Zinsen – es war nicht viel, nein, Kind, Überfluß habe ich nie gekannt, aber ich selber kam mir vor wie Überfluß; Jugend, Hoffnung, Kampflust, das war alles da – ja, das floß über. Ich zog in eine süddeutsche Stadt, wo ein guter Gesanglehrer war, ich lebte ärmlich, meine Wirtsfrau war eine Wäscherin. Sie wundern sich, daß ich so gut bügeln kann. Das habe ich denen dort abgeguckt; im Winter, wenn ich kein Geld zum Heizen hatte, setzte ich mich in die Plättstube und wärmte mich oder half mit, wenn viel Arbeit war. Da hab' ich auch all die Volkslieder gelernt, ›Drunten im Tal rinnts Wasser so trüb‹ – ja, das und noch viele andere sangen wir, 248 zweistimmig und dreistimmig, die Mädchen und ich, ich immer die tiefste Stimme, wie der Balken, auf dem das Dach ruht.

Mein Lehrer war zufrieden, und was noch besser war, ich war's auch. Es heißt, die Liebe macht blind, nein, das tut sie nicht. Und der Ehrgeiz erst recht nicht. Oh, ich wußt' es genau, wenn der Ton frei und doch gezügelt aus meiner Kehle kam und wenn der Metallklang darin war, der verschleierte, der den Menschen die Tränen in die Augen treibt. Als der Winter kam wurde ich eingeladen zu Festen und Tanzereien. Meine Freundinnen von der Gesangschule nahmen mich mit, allmählich verlernte ich meine Scheu. In der Stadt war ein Polytechnikum und eine Malerakademie, wir waren junges Volk, es war ein lustiger Winter; ja und dann lernte ich den Heinz kennen, er war schon Lehrer am Polytechnikum, sehr jung für seine Stellung und sah noch jünger aus als er war.«

Es ging ein Erröten über Lena Witukinds Stirn, auch sie sah jung aus in diesem Augenblick.

»Kleines Mädchen,« sagte sie und sah mit düsterblauen Augen in die Sommerdämmerung, »es ist ein großes Rätsel; soll man Opfer bringen für die, die man liebt? Ich weiß es nicht; ich bin bis heute nicht dahinter gekommen. Aber das weiß ich: nie würde ich eines verlangen . . .«

»Mein Lehrer verfluchte mich tausendfach, als ich ihm meine bevorstehende Heirat mitteilte. Ich hoffte – ja, oder ich machte mir's weiß –, daß ich 249 später meine Kunst wieder aufnehmen würde. Aber zunächst war's aus damit. Heinrich hatte in der Schweiz eine Anstellung erhalten, das Gehalt war nicht groß, ich würde tapfer schaffen müssen für den kleinen Hausstand, denn wir würden nicht allein sein, da war noch ein Familienmitglied, ein Sorgenkind, das bisher anders untergebracht gewesen, aber nun wollte er's zu sich nehmen.

Als ich meine Noten zusammenpackte, das war wie eine Grablegung. Aber ich tröstete mich damit, daß ich weiterstudieren könnte, für mich, für Heinrich. Denn den besten Advokaten hatte er doch in mir selbst; das war mein heißes Blut. Weißt, ich glaub' jetzt, nein, ich weiß es, was uns so zu einem Mann zieht, unweigerlich, das ist der Köder, mit dem uns die Natur gefügig macht. Was sie will, das geschieht, aber laß nur, das kannst du nicht verstehen. Er ist noch heute schön mit seinem grauen Schopf, aber damals! Wie ein Normannenheld. Und wie wurde er vergöttert, von seinen Schülern, von den Frauen. Und die Wolke von Eifersucht und Neid die ich um ihn wogen fühlte, war auch ein Genuß. Denn ich war jung und kampflustig.

Ja, und wie wir dann in der Schweiz anlangten an der großen Bauschule unter den fremden Menschen, alles so fest umrissen, so tüchtig, ja, und auch freundlich, gewiß, aber mir doch schreckhaft und fremd, wie sehr helles Licht und sehr kaltes Wasser . . . und ich eben anfing mich einzurichten 250 und zu gewöhnen, da kam Heinrichs Mutter und brachte den Uli. O Adriana, Einfachheit, ja Armut – mir war's recht, war's auch nicht anders gewöhnt . . . aber abends, wenn die Arbeit getan war, ein wenig festliche Zeit, Blumen auf dem Tisch, ein paar Freunde, Tee und Musik und Zigaretten – dazu hatte es doch immer gereicht. Das wurde nun anders. Die Angst war ins Haus gekommen und die Pflicht . . . dies Ungeheuer, das immer hungriger wird, je mehr man's füttert. Ich habe zweimal unter alten Frauen gelitten, und ich möchte keine alte Frau werden, man weiß ja nicht, wie einen das Alter verzerrt. All das Engbrüstige, Muffige meiner Großmutter, dieser Konventiklerhonig mit Herzensbitterkeit gemischt, den sie mir präsentierte wie einen Löffel Latwerge, aus Angst vielleicht, daß ich leichtfertige Wege gehen könnte; nein, das gab's bei Heinrichs Mutter nicht. Sie war aus härterem Holz geschnitzt, ging über keine Kirchenschwelle, hätte nie eine Verantwortung in Gottes Schuhe geschoben; aber sie brachte und verlangte Opfer wie nur je ein fanatischer Christ. Mit einer Ruhe, einer Selbstverständlichkeit, wie redliche Steuerzahler den letzten Groschen Einkommen versteuern, ob auch ihre Kinder dabei verhungern müssen. Es gibt so eine kaltglühende Republikanertugend, Saint-Just muß sie gehabt haben, und sein Gegenteil ist wohl der gute heilige Crispin, der Leder stahl, um den Armen Schuhe zu machen. Ja, so ein weiblicher Saint-Just war 251 meine Schwiegermutter. Und Heinrich war von ihr beherrscht.

Das unselige Kind – er hat's aus einer frühen Liebschaft mit einer Bergmannstochter –, ja, der Uli war erst acht Jahre alt, als er zu uns kam, ein Klotz, ein Klumpen, mit sabberndem Mund und plötzlichen Wutanfällen; aber halt doch ein armes Kind. Beim Essen sollte er dabei sein, das verlangte die alte Frau – oh, wie hat es mich oft gewürgt, aber doch tat er mir leid, ich versuchte ihn zu erheitern, ihn ein bißchen an mich zu ziehen durch Geschenke, oder indem ich ihm vorsang oder vorspielte, das beruhigte ihn. Beruhigt ihn noch heute. Aber wie ich so anfing Gewalt über ihn zu bekommen, merkte ich der Großmutter die Eifersucht an, wenn sie's auch bekämpfte. Denn sie war auch darin hart gegen sich selbst, daß sie keinen Neid in sich aufkommen ließ. Ach wie häßlich, wie verschraubt war nun alles geworden. Unsere Abendstunden, wo waren sie hin? Wir waren nie mehr für uns, und wenn wir dann oben in der Nacht uns fanden, waren wir so gereizt – ich glaube, wir küßten uns, um einander nicht zu beißen. Bei allem war die alte Frau dabei, und meist auch das schreckliche Kind, es war ja kein Platz, um einander aus dem Wege zu gehen. Da saß sie mit ihrem ewigen Strickzeug, hart und ungebeugt wie von Hodler gemalt, der so herrliche Männer geschaffen hat, aber Frauen von so hartkantiger Zimmermannsarbeit, mit verkrümmten 252 Füßen und unschönen Brüsten, hingesetzt auf die Leinwand wie an den Pranger. Sie hatte Gichtknoten an den Händen. Oh, ich hab' alte Frauen mit Gichthänden gesehen, die waren lauter Güte und Erbarmen – man hätte sie küssen und tausendfach segnen mögen. Aber bei ihr war's wie ein geheimer Fluch. Wie sie dann erkrankte an dem schrecklichen Übel, auch dann blieb sie hart gegen sich selbst; versuchte aufzustehen bis zuletzt, trotz der Höllenqualen die sie litt, bat um keine Handreichung, war ärgerlich, wenn ich ihr etwas Besonderes kochte. Damals sah ich ihre armen verunstalteten Füße, an denen sie auch viel Schmerzen litt. Denn nun mußte ich ihr helfen beim Waschen und Anziehen. Ach, ich hab' es nicht gern getan. All das Verborgene, Häßliche erschreckte mich wie Sünde, erstickte mein Mitleid. Damals habe ich viel Bitteres gegen Heinrich gefühlt, daß er mir das nicht ersparte. Denn es war vor Mingos Geburt, und alles Unschöne, alles Kranke verfolgte mich bis in meine Träume, und auch das Heben und Bücken wurde mir schwer . . . Aber Heinrichs Leute waren, bis auf seinen Vater, immer Bergleute gewesen, die Frauen fast so stark wie die Männer; die brachten viel Kinder zur Welt und schafften bis zum letzten Tag. Und auch die Schweizer Frauen waren fest und tüchtig, und manche reiche Fabrikantenfrau hauste so einfach wie bei uns die Anfänger. Und ich merkte es wohl, sie begriffen es nicht, daß ich mit meinem kleinen 253 Hauswesen nicht fertig wurde; wenn ich auch gewiß mir keine Ruhe gönnte.

Am selben Tag, als der schwere Sarg mit der Schwiegermutter von Heinrich und ein paar Arbeitern hinuntergetragen wurde, kam meine kleine Mingo zur Welt. Kein Wunder, daß sie schwächlich ausgefallen ist. Zuviel Bitterkeit, zuviel Angst und Ekel hatt' ich erdulden müssen, zuviel geweint. Angst auch um Uli, der nur die letzten Wochen in eine Anstalt gebracht worden war . . . Oh, damals, wenn ich Mingo hätte mitnehmen können, wär' ich gern gestorben.«

Lena Witukind war zusammengesunken; ihr schwarzgrauer Kopf lag auf ihrem Arm; es sah jämmerlich aus, wie sie die große Hand, die noch immer in der durchlöcherten Socke des Herrn Witukind stak, hilflos wie eine Flosse hinstreckte auf den Tisch. Auf der aufgestapelten Flickwäsche lehnte sie, einem gestrandeten Meertier gleich, das ein Orkan aus heimlichem Urgrund emporwühlte und das nun ersticken muß in der Erdenluft.

Sie hob das Kinn, stützte es auf die Hand und fuhr fort zu erzählen:

»Die kleine Rente der Schwiegermutter, aus der sie alle Ausgaben für Uli bestritt, fiel nun weg. Ich erholte mich nur langsam und Mingo war ein zartes Kind. Immer mußte ich sie herumtragen, oh, es gibt Kinder, man meint, die hätte man zweimal geboren.

Nach einem Vierteljahr holte mein Mann den Uli zurück. In seiner schweigsamen Art hatte er 254 der Mutter nachgetrauert, schwerer vielleicht, weil er mir die Erleichterung anmerkte, wie sehr ich sie auch zu verbergen suchte. Und nun war Uli wieder da, mehr da als früher, denn nun mußte ich mich mehr um ihn kümmern, da die Großmutter es nicht mehr tat. Heute sehe ich ja ein, daß Heinrich nicht anders konnte. Er konnte das Geld für die zweite Klasse nicht aufbringen, und in die dritte – das brachte er nicht übers Herz. Es muß auch so schon schlimm genug gewesen sein. Wie versteinert kam er zurück, und der bloße Namen der Anstalt löste Zornausbrüche bei ihm aus. Ob Uli dort grausam behandelt wurde? Vielleicht – oder doch, was wir grausam nennen würden. Vielleicht auch hatte Heinrich, der hier ja nicht so viel von dem armen Kind zu sehen bekam, dort erst erkannt, wie fürchterlich es alles war, wo Uli unter vielen seinesgleichen saß, ein jedes eine Wiederholung des andern. Und dann – die Wärter – rohes Volk meistens, wo sollen sie die Geduld hernehmen für so viele, die wir für einen einzelnen aufbringen?

Aber nun war der Alb wieder da . . . etwas Unschönes, Lastendes. Und auch das hätte ich noch ertragen, wenn nur Heinrich mein Opfer anerkannt hätte. Aber der Gedanke an seine Mutter, die klaglos an ihrem fürchterlichen Leiden zugrunde gegangen war, hatte ihn hart gemacht – und alles was ich tat sollte nun selbstverständlich sein. Da erwachte in mir der Widerspruch, und was ich früher an ihm bewundert hatte, sein Vatergefühl, 255 sein leidvolles, gegen das Kind jener armen dumpfen Kreatur, nun hatte ich nur Abwehr dagegen.

Das Jahr darauf kam Titta. Ich hatte mein Herz gepanzert, nahm eine Frau ins Haus für mein letztes Geld, sie allein mußte Uli besorgen, ich ging nicht mehr in seine Nähe, und ich glaube, sie ist manchmal hart mit ihm gewesen. Aber das Kleine, das ich trug, sollte gesund bleiben, meine kleine Mingo war mir eine Warnung. Und ich setzte es durch und Titta wurde ein schönes starkes Kind. Meinen ganzen Willen, meinen letzten Lebensdurst habe ich in ihre Adern gegossen – ja, aber meine Stimme auch.

Seit Mingos Geburt hatte ich nicht mehr richtig gesungen, ich war zu traurig, zu geschwächt, aber doch, tief unter allem wußte ich, die Stimme war da. Wenn das zarte nervöse Kind nicht schlafen konnte und ich es auf und ab trug, summte ich ihm die alten Lieder vor, Händel und Gluck, und ›An die ferne Geliebte‹ – ganz leise, aber der Klang war da, alles in Ordnung, das Glockenerz, auch wenn man es nur leise anrührt. Aber in der Zeit ehe Titta kam, hatte ich wohl zu viel getan, um mich künstlich stark und freudig zu erhalten, nichts Häßliches angesehen, keinem traurigen Gedanken nachgegeben, war immer dem Schönen nachgegangen, und waren's auch nur die Abendwolken, die ich am Himmel segeln sah – und beim Kochen sagte ich mir Gedichte vor, Oden, weißt du, weil mir der Rhythmus wie schönes Wandeln schien, 256 wie schön wandelnde Gliedmaßen meines Kindes . . . oh, hätt' ich lieber geweint, wär' ich dem Leid und Erbarmen nicht aus dem Wege gegangen! Als ich zum erstenmal wieder versuchte zu singen, war die Stimme fort . . . und kam nicht wieder. Ja und nun merkte ich's erst, daß ich mich an diese eine Hoffnung geklammert hatte, denn es war die eine Tür ins Freie, ich wußte, sie war da, und darum konnte ich nicht ganz verelenden; ja, aber nun war sie vermauert. Ach, Adriana, denk dir eine Stimme, wie eine milde, tiefe, starke Glocke, und du dachtest, sie sei dein Allereigenstes, dein Freund, dein Geheimnis, deine Zuversicht – und nun auf einmal, du rufst – ach, alles stumm . . . es ist wie Verrat!«

Frau Witukinds Stimme war angewachsen, das letzte Wort war ein Schrei.

Adriana wand den Arm um sie, sie streichelte die großen, hagern Flächen der Wangen, flehend fast, wie man ein verirrtes Tier tröstet, dessen Wehelaut man errät aber nicht beantworten kann. In allem was ihr Lena Witukind erzählt hatte, lag ja nichts außergewöhnlich Schmerzliches, sie kannte Schicksale die schwerer waren, hoffnungsloser weil der Tod den Schlußstein davor gewälzt hatte; aber die eigentümliche Bitterkeit war hier, daß Lena Witukind ihr ganzes Leben mit Menschen gelebt zu haben schien, die eine andere Sprache sprachen wie sie; selbst aber zu schwerfällig, zu dunkel von Gemüt, zu unsicher war, um sich ein anderes Orchester zu bilden. Denn sie war 257 tierhafter, aber auch feierlicher als die meisten Menschen; mit rauschenden Bäumen, mit Regen und Sturm, aber auch mit einer brummenden Bärin hätte sie sich leichter verständigt als mit den Leuten um sie her.

Aber wo blieb Herr Witukind bei alledem? Er mit den feinfühligen Künstlerhänden, mit dem Blick für Maß und Gestaltung, hatte er keine Zeit übrig, die dumpfleidende Frau aufzurichten in ihrer Ratlosigkeit? Hatte er das schöne, ungezähmte Geschöpf seiner Musik, seinen freudigen Träumen von Weite und Ruhm entrissen, nur um eine Mutter, eine Fürsorgerin daraus zu machen, wie die harten Bergmannsfrauen, denen er entstammte, die klaglos Söhne gebaren und Söhne verloren, gewohnt an Arbeit, Gefahr und Tod von klein auf?

Erst später begriff oder witterte Adriana so manche Zusammenhänge, das wunderbare Wurzelgeflecht der Triebe, der Anziehung und Abwehr, das unterirdisch seine verstrickten Wege geht. Frau Lena Witukind, die sonst den Dingen unerschrocken ins Auge sah; wenn sie in ihrer Erzählung an ihre Ehe geriet, kamen ihr die Worte seltsam schwerfällig. Es war die dunkle Scham des Gefühls, das auch den Nächststehenden in diese Rätsel, die ebenso sehr des Fleisches als der Seele sind, nicht blicken lassen kann. Denn ach, das Festliche war aus ihren Umarmungen gewichen, sie spürte dumpfe Selbstverständlichkeit darin, und all die schwingende Leidenschaft Fidelios und Brunhildes und 258 Sieglindes bäumte sich dagegen auf. Und dennoch unterlag sie. Und etwas wie Schuldbewußtsein machte ihre Lider schwer und gab den Trauerzug eines schönen, erniedrigten Sklaven ihren Brauen.

 

IV.

Als Adriana später die Nebekower Zeit überdachte, rückten in ihrem Innern die Wochen und Monate zusammen, und all die kleinen begleitenden Ereignisse, von ihr, die sie betrafen, kaum beachtet, erschienen nun aus der Ferne gesehen wie eine Kette weißer Kilometersteine, zum Ende führend unbeirrt. Alles reichte sich die Hand, Frühlingsregen, Moorgeruch der Gräben, Tage unerklärlicher Heiterkeit, Stunden unbegreiflicher Trauer; langgestreckte Abendwolken, Glühen und Verglühen, ziehend, fliehend, überraschend, alles schuf Stimmung und Stimmung wurde Schicksal. Denn jede Stunde hatte Licht oder Schatten geworfen, in dem ein geliebtes Haupt aufleuchtete oder in Undeutlichkeit versank die noch bezwingender war. Und so hatte sie die Hände an das von Mitleid wehrlose Herz gedrückt, Kräfte fühlend, die sich dort sammelten, um, wenn gerufen, auszuströmen in eilfertige Füße, in schützende, stützende Hände, in etwas, das helfen wollte, helfen mußte.

Gott, sie hatte ja nichts zu geben als sich selbst. Dem Ruf »Das Gold dem Vaterlande« war die Familie Wehra nicht nur pflichtgewohnt, sondern 259 enthusiastisch nachgekommen. Ebenso wie ein alter, fast abgöttisch geliebter Mörser mit der Jahreszahl 1725 ohne Murren bei der Kupferverwertungsstelle abgeliefert worden war, so auch später Mamas kleine, diamantene Brautbrosche, Papas Uhrkette, die Patenbecher der Kinder und die wenigen goldenen Konfirmationsandenken der jungen Mädchen. Adriana sann auf ihrem Bette in schwülen Sommernächten hin und her, wenn über den rostfarbenen Spargelfeldern und dem schwarzgezeichneten Waldrand ein großer roter Mond stand; dachte und rechnete, wie ein Aufenthalt im Gebirg oder an der See für Frau Witukind und die beiden Mädchen zu beschaffen wäre, denn natürlich mußte Titta dabei sein, der Trennungsschmerz würde sonst Mingos Kur wirkungslos machen.

Gerade aber, als man wieder anfing jenen unfreiwilligen Stoizismus nach außen zu kehren, wie der Hidalgo seinen zerlöcherten Mantel, wurde Herr Witukind durch eine Geldsendung des Mäzens überrascht. Dieser hatte die Gewohnheit seine Zahlungen etwas unpünktlich zu erledigen; da er sie aber nach ausländischer Währung berechnete, fand man es weise, vorübergehende Verlegenheit ohne Klage hinzunehmen; ja, diese Art seinen Verpflichtungen nachzukommen, gab ihnen den Charakter liebenswürdiger Überraschungen die eine eigentlich unbegründete Dankbarkeit auslösten.

Herr Witukind legte schweigend einen blauen, leinengefütterten Briefumschlag auf den Tisch und 260 murmelte ein paar Worte, wobei er Mingo, die ihm gerade in den Weg kam, unbeholfen über den Kopf strich. Diese schrumpfte bei der ungewohnten Liebkosung zusammen und kroch in die Mutter hinein wie in ein Schilderhaus. Über Frau Witukinds verwittertes Antlitz ging verjüngendes Erröten. Sie blickte rasch zu dem Manne auf und ein Funken sprang von beiden Augenpaaren ineinander über. Trotz alledem . . . dies Band war unzerstörbar. »Hab' Dank, Heinz,« sagte sie rauh.

Adrianas guter Wille war die Grundlage auf die der ganze Plan sich aufbaute. Sie wollte über Uli wachen, Herrn Witukinds Mahlzeiten zubereiten und alles in Ordnung halten bis zur Wiederkehr der Frau. Im Spätherbst dann . . . ach, daran wollte sie jetzt nicht denken; neuerdings erhielt sie betrübende Briefe, Mémés Herzschwäche war bedenklich geworden, Papas Pessimismus lastete auf allen; sie mußten sich einschränken mehr denn je, die Erhöhung der Pension hielt mit den wachsenden Preisen nicht Schritt. Und was Adriana hier verdiente, wurde dort an Büglerin und Aushilfefrau verausgabt; Papa gebrauchte Ausdrücke wie »Falsche Ökonomie«.

Die ersten drei Wochen waren still und ereignislos vergangen. Der Unhold befand sich in einer seiner gutartigen Phasen. Wenn er vormittags mit Hilfe der nachbarlichen Schreinersfrau – »lassen Se mir det machen, Fräuleinken, ick bin eine Mutter,« sagte sie und legte beteuernd ihre Hand auf 261 den Latz ihrer verwaschenen Blaudruckschürze – gereinigt und angezogen in seinem Rollstuhl saß, konnte man ihn im Hof, an einer schattigen Stelle, sich selbst überlassen. Adriana hatte ihm eine Spieluhr geschenkt, und abwechselnd hörte man nun das Trinklied aus Robert dem Teufel und »Die letzte Rose« erklingen. Herr Witukind stand an seinem Schreibtisch am Fenster, über Pläne und Berechnungen gebückt. Ab und zu trat er in den Hof und redete zu Uli wie zu einem jungen Hund. Konnte auch sekundenlang die Hand auf seinen dicken Kopf legen. Eine scheue Trauer lag in Blick und Stimme, die er sonst, in Gegenwart seiner Frau, nicht merken ließ. Wie doch die Menschen aneinander vorbeileben, dachte Adriana, und keiner besinnt sich auf das Wort: Sesam tu dich auf! Sie sah Herrn Witukind nur wenig; deckte ihm den Tisch in das vordere kühle Zimmer und aß selber in der Küche, denn es war ihr beklemmend an seinen Mahlzeiten teilzunehmen. In seiner Zerstreutheit kam es ihm nicht in den Sinn, dem nachzuforschen. Es fiel ihm auch weiter nicht auf; seine Mutter hatte auch meist in der Küche gegessen. Wenn sie dann abgeräumt hatte, saß er nun oft, die Zeit vergessend, auf Lenas altem, breitem Sofa, bei leise klappenden Jalousien, durch die der Widerschein der Straße grünlich eindrang. Beethoven und Mozart spiegelten sich im Goldbraun des langgeschwänzten Nußbaumflügels, den man alt erstanden hatte. Hier im Halbschlaf, in der 262 dämmernden Stille, sah er seine Frau durch die Stuben gehen, ohne Vorwurf, ohne Gereiztheit, losgelöst von irdischer Mühsal, im ruhevollen Faltenwurf jener Arien und Rezitative, die in Heinrich Witukind einstmals Bilder erweckt hatten wie von Tempeltrümmern im Abendrot. So, abgetrennt von ihrer leiblichen Gegenwart, fern ihrer Heftigkeit, ihrer bei seiner Schwerhörigkeit scharf gewordenen, plötzlich überschlagenden Stimme, stumm so viel beredter, als wenn sie in Wirklichkeit sprach und stritt, sah er sie erstehen. Und begriff nun, ohne es doch in Worte zu fassen, daß auch sie entbehrte. Dann aber weckte ihn irgendein Geräusch, er fuhr sich über die Stirn und zog einen Brief aus der Tasche seiner blauen Leinenjacke; einen Brief des Mäzens, der eine Autogarage im Parthenonstil bei ihm bestellte.

Auch von Frau Witukind kamen Briefe, kurz und ziemlich unbeholfen; aus dem Gebirge, wo Mingo, wie durch Zauber aufgeblüht, von den Wiesen, den Kühen und Kälbern gar nicht loszureißen war und selber wie ein Kälbchen am Euter sich Kraft und unerwartete Schönheit trank. Was Lena Witukind sonst in ihre Musik hineingegossen, dieses Glühen, unirdisch in festlichem Opfertod, hatte sich dort in der Einsamkeit, in der Hingabe blühender Wiesen alles zu Mutterfrieden gewandelt; und ob sich auch noch manches Mal ihre Augen verdunkelten, wenn im Kurgarten gewisse Ouvertüren gespielt wurden die ihr wie 263 Brandstätten ihrer Traumpaläste erschienen – wenn sie dann am Abend Mingos kurze krause Zöpfe flocht und ihr dabei im Spiegel zunickte, sie im Bett zur guten Nacht küßte und die weichere Rundung ihrer Schultern, ihres schüchtern schwellenden Busens, der Dunst ihres sanftgelösten Körpers den Durchbruch der nahen Blüte kündeten – da spürte sie nur noch fern, fremdgeworden, den Gram, der daheim mahnte und bohrte, sobald alles um sie her still war; daß sie so manches Mal den glühenden Kopf in die Nacht hinausgestreckt hatte und hinaufgestarrt zu den Sternen, die fremd und höhnisch wandelten; bis dann Herr Witukind kam mit Pantherschritten, schmalhüftig, stahlblauen Aug's wie ein Seeräuber und sie zurückriß; dem sie sich ergab, ob auch mit Sträuben, und beschämt, daß er's trotz Mißverstehen und Fremdheit vermochte ihr wildes Blut zu sänftigen.

Nun sah sie – wenn auch kaum bewußt – im endlichen Aufblühen des verkümmerten Kindes ein beiderseitiges Glück, etwas, das sie mit Frieden, wie mit Mondlicht, erfüllen würde, dem sie sich hingeben könnte ohne Scham, ohne Grübelei . . . Aber als die ersten vier Wochen um waren, schrieb sie an Adriana in Angst, denn es sei nicht genug, der Arzt spräche von einem Vierteljahr, Mingo müsse gefestigt werden. Wohl täten die schäumenden Bäder, der Hauch des Tannenwaldes Wunder an ihr; aber noch lange müsse sie in diesem Umkreis bleiben. Adriana sprach mit Herrn Witukind 264 ruhig, ohne Umschweife. Und siehe, Herr Witukind begriff, er mahnte den Mäzen, er brachte ein Päckchen ausländischer Banknoten, er fuhr sich seufzend durch den grauen Schopf, er gab sie hin. Es schien ihm neu und wohltuend, so, ganz einfach, ohne Bitterkeit, ohne verborgenen Stachel, als Vater um Hilfe angegangen zu werden. Adriana fühlte ihre Augen brennen. Es war doch schlecht eingerichtet, wie fast immer die Ehe aus zwei freien, stolzen Menschen zwei Lasttiere macht. Die Tiere machten es besser. Als sie mit dem Gelde zur Post ging, sah sie Herrn Witukind im Hof stehen, wie er dem Unhold ein Zusammenlegspiel erklärte, an dem er selbst tagelang geschnitzt und gepinselt hatte. Uli saß trüben Blicks, ein Fleischklotz, und ließ die Unterlippe schnurren. Bis Herr Witukind die Spieluhr aufzog: »Ja, das Gold ist nur Schimäre«, sang Robert der Teufel. Uli legte den Kopf etwas zur Seite; er lächelte, er sah fast schelmisch aus. Der Schatten des Nußbaums tanzte über dem Pflaster, am Dachfirst gurrten Tauben, es war alles so friedlich. Aber über Herrn Witukind kam die graue Stunde; seufzend ging er zurück an seinen langen Zeichentisch und versenkte sich in den Entwurf einer Autogarage im dorischen Stil.

 

V.

Dann wurde es allmählich herbstlich. Die Sonne brannte nicht mehr, sie streichelte; gern öffnete man ihr Tür und Haus. Auf dem Markt und in den 265 Gärten war es bunt von Astern und Dahlien und späten Levkoien, und durch süße Duftwellen tat sich das Reseda kund. Aber auch die Landstraßen sahen schmuck aus mit ihrer Doppelreihe rotglühender Ebereschenbäume. Bis auf die Kartoffeln war alles abgeerntet, nur die Kürbisse lagen noch, zu Riesen gemästet, auf den Komposthaufen. Die Vögel rüsteten zur Abreise und doch gab es hier noch viel für sie, ausgefallenes Korn zwischen den Stoppeln, ja ganze hängengebliebene Ähren in den Baumwipfeln, wo die schweren Erntewagen sie abgestreift hatten; und so mancher Hagebuttenstrauch leuchtete am Wege, oder hier und dort eine stehengebliebene, braungebrannte Sonnenblume.

Adriana war den Rain hinaufgeklettert und ging am Eisenbahndamm entlang; wenn ein Zug in der Ferne sichtbar wurde, konnte sie beizeiten wieder hinunterwitschen; hier oben sah man ihn von weither kommen. Die Schienen, die in der Ferne in eine silberne Linie zusammenliefen, hatten etwas Beruhigendes; als müsse das so in alle Ewigkeit weitergehen. Schafgarbe, Hasenklee und kleine gelbe Immortellen wuchsen zwischen dem Schotter, Hummeln flogen wichtigtuerisch nach Hummelweise von einem winzigen Kelch zum andern; hier konnten sie nicht mehr schlemmend sich vergraben, wie in der fetten Distel- und Glockenblumenzeit.

Adriana ging und ging. Sie wollte bis zum nächsten Bahnwärterhaus und dann durch die Wiesen 266 zurück, auf denen das Grumt lag und dörrte und mit ihm all die Tausende von Herbstzeitlosen, die noch vor wenigen Tagen alles lilarosa überschimmerten.

Ein Zug kam ziemlich gemächlich vorüber, Gesichter an den Fenstern, unverbildete Seelen der dritten und vierten Klasse, die sich an Stoppelfeldern und schnatternden Gänsen freuten und mit ihren Taschentüchern unbekannten Menschen zuwehten; das war der Zug, mit dem sie selber nun bald . . . ja, sobald Frau Witukind wieder daheim war . . .

Herr Witukind hatte wieder Arbeit. Sie sah den Schein seiner Lampe noch spät in der Nacht, wenn sie ihre letzte Runde machte. Auch sie brauchte wenig Schlaf in diesen Tagen, fühlte sich wie ein bis zum äußersten gespannter Bogen, stählern, elastisch. So ging sie zwischen zwölf und eins immer noch einmal an Ulis Tür, öffnete, hörte ihn tief und schnarchend atmen – ach, alles was der Unselige tat hatte etwas Tierisches. Im Schweinekoben, in reichlicher Strohschütte hätte er sich ja viel wohler gefühlt als in dem Bett mit Kissen und Decken, und wieviel glücklicher wär' er gewesen, wenn er mit Händen und Rüssel in seinem Futter hätte wühlen dürfen, daß alles aufspritzte, anstatt daß Adriana oder die Tischlersfrau ihm Bissen um Bissen einzeln in den Mund steckten. Welche Heuchelei – dachte sie. Solche Geschöpfe sind Tiere, und man sollte sie nicht mit Dingen plagen, die 267 einem Tiere unnatürlich sind. Aber nun hatte sie Lena Witukind versprochen, alles so weiter zu halten wie es bisher gehalten worden war.

Herr Witukind war mehrmals verreist. Adriana wußte, was sein Zweck dabei war. Er sah sich Häuser und Heime an, Privatanstalten die sich für Uli eignen könnten, aber immer hoffnungsloser kam er zurück. Entweder es wurden Preise verlangt die weit über seine Mittel gingen, oder er empfand, gewitzigt durch seine frühere Erfahrung, tiefes Mißtrauen vor Ernährung und Pflege. Und doch sah er jetzt in der Einsamkeit ein, wogegen er sich bei den aufgeregten Anklagen seiner Frau gewehrt hatte, daß es so nicht weiterging. Nun schickte er Anfragen an Institute, wo Wärterinnen für ähnliche Fälle bereitgehalten wurden – auch hier waren die Ansprüche größer, als auf die Länge erfüllbar. Frau Witukind aber schrieb nun, fast in den Tönen einer Löwenmutter, um weitere Geldsendungen, denn Mingo hatte sich bei plötzlichem Wettersturz erkältet, und der Arzt drang zur weiteren Festigung auf eine Winterkur.

Als Unterbrechung dieser für den rechnenden Kopf und das impulsive Herz gleich anstrengenden Zeit war nun plötzlich Herr Biesendahl aufgetaucht – im grauen, unscheinbaren, aber für den Kenner als außer Konkurrenz stehenden Auto. Herr Biesendahl in Staubmantel, Haube und furchtbar ausladenden Brillengläsern, angetan wie ein schauerlicher Taucher oder ein ins Riesenhafte 268 vergrößerter Nachtfalter. Ohne Haube ein fetter Cäsarenkopf, mit tiefer, etwas breiiger Stimme und den breiten Handbewegungen eines römischen Tribunen. Auf einem jener riesenhaften Rosse, mit kleinem Kopf und breitem Hinterteil, wie Rubens und seine Schüler sie malten, hätte er in Erz gegossen ein groteskes, aber das Volksempfinden befriedigendes Standbild abgegeben. So, in einem von Hamburgs bestem Schneider verfertigten Reiseanzug aus irischer, handgewebter Wolle, die einen penetranten Duft nach Schafstall und schwelendem Torf ausströmte, saß er überlebensgroß in Lena Witukinds spärlich möbliertem Salon und äußerte mit erstaunlicher Sanftmut seine Wünsche in betreff der Garage.

Adriana brachte eine der letzten Flaschen jener so verbreiteten Weinsorte, die unter dem Namen Zeltinger verkauft wird und aus einem Gemisch von Essig, Vitriol und sehr viel Wasser besteht, und Herr Biesendahl goß ein Glas davon mit der Grandezza eines Colleoni hinunter, der den Pokal leert, den ein Tributpflichtiger ihm darbieten läßt, holte sogar mit sybaritischem Schlürfen der Unterlippe die letzten sauren Tropfen von dem bürstenartigen Schnurrbärtchen herunter, hob dann aber dankend seine große, jedoch nicht unedle Hand, eine Gebärde, die, ohne zu verletzen, jede weitere Zufuhr abschnitt. Sein Blick unter breitgeschnittenen Lidern verfolgte Adrianas Gestalt. Er war ein Mann ohne höhere Schulbildung, aber er reiste 269 viel und hielt die Augen offen; so hatte er sich in merkwürdig kurzer Zeit eine Art Kultur angeeignet, die wohl hauptsächlich darauf begründet war, daß ihm von vornherein von allem nur das Beste angeboten wurde. Darum auch ließ er sich selten durch gleißendes Mittelgut blenden. Hatte ganz selbständig Herrn Witukind in der kleinen Kreisstadt aufgespürt, und wenn er diesen auch manchmal durch seine architektonischen Einfälle in Verzweiflung brachte, so erkannte er doch sein Unrecht sobald ihm eine bessere Lösung der Aufgabe, säuberlich in Tusche ausgeführt, vorgelegt wurde. Wohl kam es gelegentlich zu heftigen Auseinandersetzungen, wobei das Übergewicht an massiver Ausdrucksweise durchaus auf seiten Herrn Witukinds lag, der sowohl auf alemannisch als auf niedersächsisch dienen konnte; doch immer wieder hatte Herr Biesendahl die Hand zum Frieden geboten.

Jetzt eben trat ihm in Adriana ein Ergebnis jahrhundertalter, bester Zucht entgegen: »triomphe d'élevage«, wie es in Katalogen genannt wird, gleichviel ob es sich um Vollblutpferde, Bantamhühner oder hochstämmige Edelrosen handelt. In dieser unbefangenen Einfachheit, diesen ruhigen, zielbewußten Bewegungen, der leisen und doch metallischen Stimme erkannte er etwas, das nur die Zeit, nicht sein Geld hervorbringen konnte, wenn er und seinesgleichen es mitunter auch damit kaufen. Es erfolgte eine ziemlich ziellose 270 Unterhaltung, die mit einer Einladung auf sein Landhaus, verbunden mit einer Fahrt in dem unscheinbar kostbaren Auto, schloß. Dann entschwand Herr Biesendahl zu einer kurzen und diesmal durchaus friedlichen Sitzung in Herrn Witukinds Arbeitszimmer, und bald darauf trat er wieder, als Ungeheuer mit Libellenaugen vermummt, die Rückfahrt an.

Adriana hatte sich an den Abhang gesetzt, den Rücken an den Rain in all die trockenen Blümchen gelehnt, vor ihr die gemähten Wiesen, weiterhin Torfmoor. Flach und eintönig alles; aber wie köstlich strich die warme Septemberluft dahin, sie kam so rein und unbehindert über Heiden und Wälder, große, spärlich bevölkerte Ebenen gezogen.

Ja, dachte Adriana, in Herrn Biesendahls Auto würde man auch solche Reisen machen können wie der Septemberwind; in einen weiten, warmen Reisemantel gehüllt, mit großen Libellenaugen aus Glas und – ja das Auto war groß – auch Alf und Adi könnten mitfahren. Herr Biesendahl war noch zweimal dagewesen. Er hatte sich's nun einmal in den Kopf gesetzt, Adriana sein Landhaus zu zeigen, die Treibhäuser, die japanischen Zwerghühner und eine in Deutschland noch unbekannte Art schottischer Terriers, die hinter Gittern sich planvoll vermehrten. Herr Biesendahl hatte sich für diese nach einem richtigen Kennelman aus England umgesehen, und das Gehalt, das er bot, »würde ja 271 wohl dem Beefeater die Stellung im Hunnenlande annehmbar machen«, sagte er und lachte gutmütig, wenn auch ein bißchen fett.

Herr Biesendahl war im übrigen geneigt, in Herrengesellschaft etwas zweideutige Anekdoten zu erzählen; diese Geschmacksverirrung haftete ihm aus den Zeiten an, als er noch für eine Firma »reiste«, die er später aufgekauft und wieder verkauft hatte. »Er hat die Mentalität eines Weinreisenden,« sagte Herr Witukind; aber es war doch etwas mehr dabei; eine ausgesprochene Individualität, ein ganz naives Herrenmenschentum, das er harmlos zur Schau trug, als sei das eine Lehre an deren Richtigkeit man doch überhaupt nicht rütteln konnte; ein freundlicher Despot seinen Untergebenen, gewiß, aber ein Despot. Mussolini, dem er ähnlich sah, wenn auch mit reichlicher Polsterung, begann damals sein Haupt zu recken. »Der Mann ist nach meinem Herzen,« sagte Herr Biesendahl. »Bleibt die Gefahr des Größenwahns – da geht dann die Geschichte meistens in die Brüche, weil die Sorte nie merkt, wenn sie anfängt komisch zu wirken.«

Herr Witukind behandelte Herrn Biesendahl mit Humor, was dieser wohl merkte und mit gleicher Münze heimzahlte. Jener hatte zwar eine geheime Vorliebe für den Gegenstand seiner spöttischen Bemerkungen; das, was er an ihm »das Kondottierehafte« nannte, sprach zu seiner Phantasie; aber gerade deshalb gingen ihm seine weniger 272 angenehmen Eigenschaften so entsetzlich auf die Nerven. Wenn er auch selbst einfachstem Handwerkerstand entsprossen war, ihn hatte die Arbeit geadelt, und man konnte sich ihn in der Renaissancezeit denken, wo die großen Bauherrn auch zuerst Mörtel gerührt und Steine getragen haben. Diesen harten, saubern Weg aber war Herr Biesendahl nicht gegangen. Als junger Mensch war er »Reisender« gewesen, und die Kalauer, das Gummiballartige, die notgedrungene Jovialität jener Zeit haftete ihm immer noch etwas an; für Herrn Witukinds verletzliche Künstlerhaut wie die Berührung eines glühenden Eisens. Nach dem Tode seines geizigen, vorsichtigen Vaters hatte Herr Biesendahl mit seinem Erbteil glücklich spekuliert. Während und nach dem Kriege ebenso, wenn ihm auch nichts nachgesagt werden konnte, worüber, wie er's ausdrückte, »seine Weste hätte erröten müssen«. Im Kriege hatte er als Führer eines Automobilparks gedient und in den Etappen Gutes gewirkt; trotz seiner Lebenslust keinerlei Exzesse begangen, war bei jeder Gelegenheit, wenn nötig mit Schärfe, für die Rechte der Mannschaft wie auch für die der feindlichen Bevölkerung eingetreten, trotzdem bei seinen Untergebenen beliebt, da er dienstliche Streitigkeiten wenn irgend möglich nicht auf gesellschaftliche Beziehungen übergreifen ließ. Seine Feinde nannten ihn Snob, Schieber, Ausdrücke, mit denen damals freigebig verfahren wurde, seine 273 Freunde aber ein organisatorisches Genie, einen Napoleon mit goldenem Herzen, was alles nicht stimmte, oder jedenfalls stark übertrieben war. Ebenso irrten sich Herrn Biesendahls Widersacher, wenn sie, nach gründlicher Zerfetzung seines äußeren und inneren Menschen, achselzuckend hinzusetzten: »natürlich Jude – daher der Erfolg«; womit die Diskussion für sie mit derselben Endgültigkeit geschlossen schien, als ob, nachdem man pro und contra über den guten Ruf einer Dame gestritten, ein unwiderlegbarer Zeuge gesagt hätte: übrigens hat sie zwei uneheliche Kinder im Findelhaus. Herr Biesendahl aber entstammte einer kleinbürgerlichen, streng katholischen Familie des Rheinlands; seine Schwestern waren Klosterfrauen; seine brünette Komplexion und schweren Augenlider verdankte er einer wallonischen Großmutter. Er war nun schon lange im Norden ansässig, sorgte jedoch ausgiebig für die Angehörigen die ihm am Rheine lebten.

Adriana hatte zuerst etwas Abstoßendes, dann aber auch Faszinierendes gespürt wenn Herr Biesendahl sich ihr näherte, er war so groß und umfangreich, er benahm ihr die Luft, ähnlich wie damals, in der Kinderzeit, wenn Adrian, hinter einem riesenhaften Plumeau versteckt, Eisbär spielte der sie und Anna fressen wollte, und sie kreischend vor Entsetzen unter Tisch und Sofa krochen. Aber dann wieder war in Herrn Biesendahls großer, wohlgepolsterter, trockenwarmer 274 Hand etwas Geheimnisvolles, das Ruhe und Zuversicht ausströmte. Es war ein Genuß, ihn das Kursbuch oder die Automobilkarte handhaben zu sehen, es geschah ziemlich rasch, sicher und mit größter Ruhe. Gewiß war Herr Biesendahl im Moment der Gefahr, der Konfusion, des Gedränges ein Ruhepol. In Konzerten und Theatern zum Beispiel, wenn am Schluß die Garderoben gestürmt werden, gehörte er sicherlich zu jenen von allen Garderobenfrauen zuerst und mit süßem Lächeln Bedienten und Bevorzugten, die wie Elefanten durch Tropenwälder, unaufhaltsam, massig und dennoch federnd sich ihren Weg bahnen und, ebenso wie jene Dickhäuter mit dem Rüssel, der eben einen Palmbaum entwurzelte, eine Nähnadel aufzuheben vermögen, es verstehen, den ihnen Anvertrauten den Mantel behutsam umzugeben, den Hut mit fast frauenhafter Zärtlichkeit aufzusetzen. So auch konnte man sich ihn an der Spitze seines großen Betriebes denken, spekulativ, sogar brutal, wo ihm eine innere Stimme es zu sein gebot, dann wieder nüchtern, die Zügel unmerklich, ohne gefahrbringenden Ruck kürzer ziehend. Adriana aber wußte instinktiv, daß sie nur die Hand auszustrecken brauchte, und dieser Mussolini, dieses Plumeau, dieses Ungetüm in der glotzäugigen Taucherkappe, wenn er ihr auch nicht zu Füßen sank, aber er würde die großen schmiedeeisernen Tore seiner von Herrn Witukind in edlem Barockstil ihm erbauten Villa über der Elbe 275 auftun, daß sie hineinschritt und nie, nie wieder herauskäme.

Ganz unmöglich, dachte Adriana, und hatte beschlossen, bei seinem nächsten Besuch, den ja das Schnaufen des Motors rechtzeitig verkündigte, durch den Hof zu entfliehen, um einer Begegnung auszuweichen. Aber ähnlich wie ihre Mutter in Gedanken mit Unmöglichkeiten jonglierte und plötzliche Glücksfälle für ihre Kinder erdachte, stellte auch sie sich Bilder dar, die doch alle auf der nämlichen Voraussetzung beruhten: Mingo in Arosa, Titta auf der Universität, Herr Witukind an der Spitze einer Architektenschule, von anbetenden Jüngern umringt; sie selbst aber mit Lena reisend, Musik genießend, wobei sie wie bisher Lenas Wäsche ausbessern, Lenas Schuhbänder knüpfen, ihr wirres, schwarzgraues Haar am Abend flechten und küssen würde. Daß Herr Biesendahl, wenn auch noch so langmütig, bei diesem allen auch ein Wort mitzureden hätte, verdrängte sie auf solchen Gedankenreisen an den äußersten Rand ihres Bewußtseins, so wie man bei einem Ausflug nach der Hauptstadt den Besuch beim Zahnarzt zu vergessen strebt, der doch streng genommen der eigentliche Anlaß der Reise gewesen ist.

Sie stand auf . . . hatte eine Turmuhr schlagen hören; es war hohe Zeit heimzugehen. Uli hatte seit zwei Tagen einen Bronchialkatarrh, was ihn nicht anziehender machte. Die Schreinersfrau von 276 nebenan hatte versprochen, nach ihm zu sehen, aber nun mußte sie sie wieder ablösen. Was hatte sie da auch zusammenphantasiert! Auf die Art dachte der dicke Biesendahl doch wohl nicht an sie; es machte ihm Spaß, ihre Hand etwas länger festzuhalten als ein Mann mit besserer Kinderstube es getan haben würde, nun, und seine Einladungen und Anerbietungen waren nur das Überlaufen einer exuberanten Natur. Er war der geborene Weihnachtsmann; trotz Mussolini-Allüren.

Im Flur war es kühl und totenstill. Sie warf ihren Hut auf den Tisch, der in der Mitte stand, und ging rasch den Gang zu Ulis Zimmer hinunter. Die Tür war angelehnt, sie hörte Stimmen. Am Bett stand Herr Witukind mit dem Arzt. Dieser richtete sich eben aus gebückter Stellung empor. Er hielt das Stethoskop in der Hand und sah auf den fieberroten, sich hin und her wälzenden Uli hin. »Ich werde eine Wärterin schicken,« sagte er, »es müssen Umschläge gemacht werden. Fräulein von Wehra kann damit allein nicht fertig werden. Ich werde beim Vorbeigehen in der Apotheke alles bestellen. Mit der rechten Lunge sieht es bös aus, die linke muß es schaffen. Ich sehe in zwei Stunden wieder nach.«


An jenem Abend, oh, wie schossen die Nachtmotten um die Lampe – ein großer, brauner Pelzrock besonders, wie er summte! Warm kam 277 die Luft durch die Läden, vom Widerprall der Mauern, des Pflasters im Hof durchbeizt . . . kein bißchen Wind, der Nußbaum ließ die verdorrten Blätter sinken; wenn doch endlich ein Gewitter käme!

Seit drei Tagen hatte sich Ulis Fieber gelegt, jetzt war's Herzschwäche die gefährlich wurde; die bekämpft werden mußte mit allen möglichen Stärkungsmitteln. Heute löste wieder Adriana die Wärterin ab, die mehrere Nächte gewacht hatte. Herr Witukind wollte es übernehmen, aber der Arzt hatte abgelehnt; der Mann war zu überarbeitet, bei Handgriffen zu ängstlich. Doch schlief er auf dem Sofa im Wohnzimmer, um bei der Hand zu sein wenn es nötig würde.

Adriana hatte es weder ihm noch dem Arzt gesagt, was ihr die Pflege so besonders widerlich machte, so schwer auf ihrem Posten auszuharren. Uli war von einer dumpfen, beharrlichen, man möchte sagen klebrigen Zärtlichkeit für sie ergriffen. Erst hatte sie's wie von einem blöden ungeschlachten Kinde entgegengenommen, dankbar, daß er ihr gehorsam war und ohne Kampf, wenn auch immer erst nach langem Zureden, die Mittel einnahm die sie brachte. Aber einige Male, wenn sie mit ihm allein war, hatte er sie unter irgendeinem Vorwand gerufen – Dada war sein Name für sie –, und dann, wenn sie sich niederbeugte, hatte er sie gepackt, hatte versucht sein vom Fieber gedunsenes Gesicht, seinen schrecklichen 278 Mund dem ihren zu nähern. Nur mit Mühe riß sie sich los, denn damals in der Fieberzeit hatte er Kräfte. Die Wärterin, die wie ihresgleichen solche Dinge berufsmäßig kühl, ja humoristisch erlebte, nahm ihr dann auf ihre Bitte alle persönlichen Dienste ab, es sei denn, daß sie zu zweit den ungefügen Klotz umbetten mußten. Jetzt waren derartige Überfälle nicht mehr zu befürchten. Uli lag, rasch und leise atmend, matt und klaglos. Er war geschoren und rasiert worden und sah einem monströsen Baby ähnlich, wie er da im Halbschlaf lächelnd vor sich hin glotzte, die Knie ein wenig hochgezogen, und den Finger in den Hügeln und Tälern der Bettdecke spazierengehen ließ. Gott weiß, welche Märchenlandschaften er da erblickte, aus Erinnerungen an Bilderbücher und Spazierfahrten im Rollstuhl kaleidoskopartig zusammengesetzt! Vielleicht waren's getürmte Abendwolken über den Spargelfeldern gewesen, die sich nun vor ihm zusammenballten zu Götterburgen, zu schneeigen Kuppeln, zu gleitenden Dünen! Oder irgendein Waldweg ins Dunkel hinein erwachte in seiner Erinnerung, wo ein Sonnenbalken die Stämme erglühen ließ und er – ein einziges Mal in seinem Leben – ein Eichkätzchen gesehen hatte. Wer wußte denn das letzte Wort des Rätsels, wer kannte den Schlüssel zu diesen Labyrinthen? Die so hoffnungslos stumm erscheinen denen außerhalb, und vielleicht doch irgendeinen Funken, ein Lebensgefühl bergen, etwas leise 279 Zwitscherndes wie ein Vogel im finstersten Dickicht: das unerforschte Menschenhirn . . .

Adriana saß in einiger Entfernung an dem Tisch mit den Medikamenten. Ein aufgestelltes Notenbuch hinter der Lampe ließ Ulis Bett im Dämmerschatten. Sie las zum drittenmal Lena Witukinds Brief, den die Nachmittagspost gebracht hatte.

»Wenn Du die Kinder sähest, o meine Adrie! Sie werden alle Tage schöner,« schrieb die Mutter, »Titta steigt über die Felsen wie eine Gemse, wie ein Räubermädchen, sie ist ganz braun gebrannt. Arm Mingochen ist schrecklich lieb, aber die Liegekur ist so langweilig, stundenlang lese ich ihr vor, sie wird nun ganz und gar Mutters Kind – ach Adrie, aber der Arzt so geheimnisvoll, so sarastromäßig, erst immer optimistisch, dann aber, wenn man ihn festnagelt, wegen der Zeit – immer wieder die Grenze weiter zurückgesteckt. Heut früh ist er nun damit herausgerückt, erst durch die Wintersonne geschähen die Wunder. Wenn ich Mingo zu Weihnachten wegnähme, müßte sie nach sechs Wochen doch wieder herauf. Gott, er ist sonst ein ganz freundlicher Mann, mehr wie ein alter Schiffskapitän, mit so lustigen Grogäugelchen, aber wenn er da unten in seiner Höhle thront, mit all den Apparaten und der widerlichen Assistentin im weißen Kittel, die so süffisant tut, wenn man laienhafte Ansichten äußert – ich wollt' mal sehen, wie sie dastünde, wenn ich sie 280 aufforderte, mit mir vom Blatt zu singen – nun also, Adrie, jedesmal, wenn ich da hinunter muß, ist's als ginge es zum Menschenfresser! Und doch, ich sehe es wohl, es ist das einzige. Nun sitze ich und rechne. Titta muß wieder nach Hause, schon der Schule wegen – aber auch so – wie soll man's schaffen! Ach um meine Stimme! Sechs Konzerte und das Geld wäre beisammen! Mingo muß auch später noch gepäppelt werden mit lauter teuern Sachen. Und nun Ulis Krankheit, Arzt, Wärterin, und Heinz schreibt, es soll jetzt für immer eine Wärterin bei ihm sein. Ach Gott – solche Erlösung wär's – aber wie soll man das bezahlen! Wenn die Bestellungen von Biesendahl zu Ende sind, ja was dann! Vielleicht bekäme man eine Freistelle für Mingo, aber ohne mich hier oben stirbt sie ja vor Heimweh. Wenn Uli nicht wäre, dann verkaufte man dort alles und finge hier in der Nähe etwas Neues an. Heinz bekäme hier eher Aufträge als in unserem armen ausgemergelten Land. Aber was hilft's, solche Dinge sich auszumalen, wir müssen unsere Last weiterschleppen, unsere schwere, und schleppen uns daran zu Tode. Meine kleine Mingo! Ach Adrie, wenn man hier so junge Menschen dahinsterben sieht – in der Nacht, in den Korridoren, da hört man sie husten, und eines Tages hört man, sie seien abgereist – ja, weiß Gott, das sind sie . . . aber man spricht nicht darüber. Und dann dieser Unglückselige, der nichts vom Leben hat, der immer fetter wird 281 und unförmlicher und wie er schlingt . . . und das Fieber hat er nun auch überwunden und hatte über 40, und Mingo hat nur 37,6 und stirbt daran! Laß mich schweigen, man wird so bitter, wenn man die Schicksale bedenkt.

Wärest Du hier! Ich sitze am offenen Fenster, man hört die Kuhglocken – die Herden bleiben draußen die ganze Nacht. Die Sterne glitzern so kalt dort oben. Die kümmern sich nicht um Menschenschicksal, was auch die Astrologen sagen mögen. Wir stehen fremd in der Welt, keiner weiß vom andern. Und der einzige Wegweiser in diese Weiten ist die Musik. Aber mir wurde sie genommen. Neulich war hier ein Konzert zu wohltätigem Zweck. Die Weiß von der Stadtoper sang; erst Arien – dann ein paar Lieder. Viel Modernes, das ich nicht kannte. Aber zum Schluß dann als Zugabe: Du bist Orplid mein Land!

Ach, wie habe ich das gesungen! Besser als sie – ganz anders! Tausendmal anders, tausendmal besser! Dir kann ich's sagen, Du wirst es verstehen, daß es nicht Eitelkeit ist, sondern Gram – um ein Entrissenes! Oben in meinem Zimmer, da hat mich's geschüttelt; wenn wilde Tiere weinen könnten, dann weinten sie so! Denn das war doch das Kostbarste in meinem Leben . . . Und dann hörte ich Mingo husten und da riß mich's wieder zu ihr. Und ich dachte, das Unglück kommt nie allein, erst tick und dann tack – muß ich Mingo auch hergeben wie ich das andere 282 hergegeben habe, erst das Licht und nun auch die Wärme? . . .«

Adriana hatte das Kinn auf die Fäuste gestützt, sie starrte ins Licht, ohne Blinzeln. Oh, wenn man sich doch eine Ader öffnen könnte und sagen: »Da, trinkt euch gesund, nehmt alles bis zum letzten Tropfen, ihr macht mich selig dadurch!« Aber die Zeit der Wunder war vorbei, war vielleicht nie gewesen. Nun fing sie an zu rechnen; aber sie kannte ja so gut die engen Grenzen, die jeden Drang ins Weite, jedes Verlangen nach Freude, nach Fülle, hoffnungslos machten.

Die Uhr tickte plötzlich laut in die Stille. Sie blickte nach Uli hin; jetzt war die Zeit, ihm seine Tropfen einzugeben, ein Schlückchen Tokaier machte ihn willfähriger. Sie stand auf, sie goß den Wein in die kleine Schnabeltasse, zählte die Tropfen ab, näherte sich seinem Bett. Er lag regungslos, aber zwischen den Lidern glitzerte ein suchender, ein tastender Blick nach ihr hin. »Uli trink, sei brav,« sagte sie. Er ließ sich die Spitze der Tasse zwischen die Lippen stecken, seine Augen öffneten sich. Plötzlich stieß er mit einer Hand die Tasse weg, daß sie zu Boden fiel, die andere schlang er um Adrianas Hals. O wie fürchterlich war ihr der Dunst seines Körpers, seines Atems. Aber er hatte keine Kraft, mit einem starken Ruck wand sie sich los. Er war zurückgesunken, er wurde plötzlich leichenblaß. Auf dem Tisch stand mancherlei, Wein, Medizin, Kampfer und Koffein und ein 283 winziges Spritzchen für solche nicht unerwarteten Schwächeanfälle. Adriana füllte das Spritzchen. Sie kehrte zurück ans Bett. Uli hatte die Lider gesenkt, aber darunter kam der Blick hervor: unsicher, irrend. Plötzlich senkte sie die Hand, die die kleine Spritze umklammerte. Da öffnete Uli die Augen ganz. Es war etwas Hilfesuchendes, Erstauntes, wie eine tastende Frage darin. Er schien zu warten. Zugleich verzog sich der eine Mundwinkel, was beinah wie Lächeln aussah, Lächeln eines Kindes, das dicht am Weinen ist . . . Zwischen den Lippen, beim Ausatmen, erschien ein Schaumflöckchen. Noch einmal; und noch einmal. Nun nicht mehr. Adriana stand und rührte sich nicht . . .

 

VI.

Der Koffer war, sparsamer Tradition gemäß, als Frachtgut gegangen. Eine Handtasche stand gepackt und nur wenige, täglich gebrauchte Dinge lagen noch umher; das Zimmer hatte den abwehrenden Ausdruck angenommen, den die Dinge annehmen, wenn unser Bedürfen, unser Mitgefühl von ihnen läßt; sie ziehen sich zurück, verstummen, bis wieder ein Mensch kommt, der sie weckt, weil er ihrer bedarf.

Adrianas Zimmer lag im oberen Stockwerk; von unten tönte Lena Witukinds Klavier zu ihr empor; die Appassionata. Wie ganz paßte dies Fluten, dies Brausen zu Lenas wilder Mähne, ihrem 284 meerblauen Blick. Appassionata . . . konnte so nicht eine Gallionsfigur heißen, die die Brust dem Meerschaum bot? Und Herr Witukind ließ nun die Tür seines Arbeitszimmers offen, hörte träumend bei der Arbeit dem Seegang zu. In Adrianas Brust wurde es kalt. Hier war nun alles friedlich; »détente« heißt so etwas in der Politik. Frau Lenas Mutterherz war nicht mehr – wie sie's ausdrückte – »eine arme halbtote Fledermaus, angenagelt ans Scheunentor«, die schönen, lieben Kinder würden etwas mehr Luft haben; wie umgepflanzte Rosen ihre Wurzeln ausbreiten in milderer Erde; ach, nicht so sehr, weil die materielle Not gelindert war, sondern weil dies schreckliche, elektrische Vibrieren aufgehört hatte, das sie, unbewußt oder nicht, mit ihren krankhaft feinen Nerven empfunden hatten. Der Mißton – wo war er hin?

Und sie – ging nun zurück ins Elternhaus. Briefe – ja, die würden noch eine Weile hin- und hergehen, aber sie würden anders sein als bisher, keinen Trost mehr konnte sie geben, denn es würde keiner mehr von ihr verlangt. Und ihr schien als sei ihr Herz ebensolch kahles, aufgeräumtes Zimmer geworden während der letzten Tage.

Durch die Luft ging ein tiefes, einhüllendes Brummen. Die Glocken der alten Stadtkirche. »Es war ein Kind, das wollte nie zur Kirche sich bequemen« – zehnjährig hatte sie's auswendig lernen müssen, zur Strafe, weil sie statt zum 285 Kindergottesdienst beim befreundeten Prediger der Kolonie, mit Adrian auf den Weihnachtsmarkt gegangen war. Auch hier war sie nur anfangs ein paarmal zum Gottesdienst gewesen, weil die daheim es von ihr erwarteten. Dann hatte sie's aufgegeben. Frau Witukind und die kleinen Mädchen gingen auch nicht zur Kirche, sie waren viel zu froh, einmal ordentlich ausschlafen zu können; da würde es ihr unfreundlich, ja dünkelhaft vorgekommen sein, allein mit dem Gesangbuch loszuziehen, am einzigen Vormittag, daß die Kinder zu Hause waren und man sich bei einem späten Frühstück mit aufgeröstetem Brot und Honig aus Nachbar Schreiners Bienenkörben die Zeit so recht sybaritisch um die Ohren schlagen konnte.

Aber nun hatte Frau von Wehra in ihrer diskreten aber doch beharrlichen Weise die Tochter darauf hingewiesen, nicht nur in ihren Schubladen Ordnung zu machen und vor der Abreise alles, was sie entbehren konnte, an noch Ärmere zu schenken, sondern auch in ihrem inneren Menschen aufzuräumen und wegzutun, was das helle Sonnenlicht nicht vertrug: »Denn glaube mir, geliebtes Kind,« so schrieb sie, »woran wir alle kranken, das ist der Ballast. Nicht nur der äußere. Freilich auch dieser. Und das eine Gute hat dieser unselige Krieg gehabt: wir haben mit vielem aufgeräumt. Mit Vorurteilen – mit Menschenfurcht – auch mit viel unnützer Habe. Wie gut, daß all die Portieren und betroddelten Decken in die 286 Schützengräben kamen! Heilige, kostbare Zeit, die allein beim Ausstäuben und Einmotten aller dieser Asthmaherde draufging! All die Minuten über die wir einst Rechenschaft ablegen müssen. Und mit den Kupferkasserollen war's ebenso, und ich schäme mich meines Widerstrebens, als Papa mir auch noch den Mörser abverlangte. Und meinen silbernen Haarbürsten weine ich erst recht nicht nach. Wie mühsam wäre es jetzt, ohne dienstbaren Geist sie blank zu halten, in dieser Zeit wo es, wie Euer Vater sagt, nur auf inneren Wert und Tüchtigkeit ankommen sollte. Aber auch im Gemüte sitzen solche schwarz anlaufenden Dinge, solche Staubfänger, und ich sage fort damit, und frische weiße Tünche an die Wände!« Denn bei zunehmender Hinfälligkeit und langen einsamen Stunden der Einkehr war in Frau von Wehra der Blutstropfen des edlen Coligny mächtig geworden, der mütterlicherseits in ihren Adern rollte, und wenn auch nicht mündlich – das wäre ihr wohl selber komisch vorgekommen – so doch brieflich fing auch sie ein bißchen an zu eifern und zu predigen; die kleinen, sentimentalen Ausschmückungen aber, an denen früher ihr Leben reich gewesen, schwanden, fielen ab. »Und wenn nun auch,« so ging der Brief weiter, »in Groß-Nebekow die unverfälschte Lehre nicht verkündet wurde, in die der unvergeßliche Lancillon – dank Papas Weitherzigkeit in diesem Punkt – die Kinder eingeführt hatte, sondern die Augsburger Konfession mit ihrer 287 zweideutigen, beinahe katholischen Auffassung des Abendmahls, so empfehle sie ihr doch, den dortigen Gottesdienst regelmäßig zu besuchen; bei Orgel und Gesang und bei den ehrwürdigen Gebeten, die der ganzen Christenheit gemeinsam, würden die Gedanken frei und das Herz still.«

War sie doch in ihrer langsam zehrenden Krankheit hellhörig geworden, die arme Frau von Wehra, nachdem schon der stillgetragene Kummer um die Verlorenen ihre inneren Sinne geschliffen und geschärft hatte; und wenn sie die Briefe ihrer Tochter in der Hand hielt, war's, als spüre sie okkulte Kräfte, als könne sie wie Hellseher, wenn sie versiegelte Briefe an die Stirn drücken, erraten, was da Halbgedachtes, unruhig Flatterndes zwischen den Zeilen stand. Wenn sie das Kind nur erst wieder bei sich hätte! Einstweilen empfahl sie es in Gottes Hut; es würde schon alles wieder gut werden, die Jugend hat eine gute Heilhaut, dem Himmel Dank dafür; einzig der Tod – da stand man vor der eisernen Tür, machtlos, trostlos, trotz Glauben und Verheißung.

Adriana blickte über das weiße Treppengeländer hinunter in den Flur: sie sah Herrn Witukind in das Wohnzimmer gehen, beim Öffnen der Tür strömte ein stärkerer Wogenschwall herauf; das letzte Aufrauschen der Appassionata, wo Schmerz und Triumph sich mischen und endlich verschäumen in seliger Ermattung. Leise kam sie die Treppe herab, öffnete die Haustür, über deren schöngeschweiftem 288 Sims das Sonnenhaupt aus friderizianischer Zeit seinen Kranz goldener Pfeile ausbreitete, und ließ sie langsam hinter sich ins Schloß fallen. Die Straßen waren leer, ihre Schritte hallten auf dem besonnten Pflaster. Auf dem Marktplatz, wo ein steinerner Bischof mit dem Krummstab, noch aus katholischer Zeit, einer Gerechtigkeit gegenüber stand, die mit verbundenen Augen, die Wage in der Hand, über einem achteckigen Brunnenbecken thronte, häuften sich schon die gelben Lindenblätter an der Erde. Die Orgel tönte ihr entgegen als sie die schwere Tür öffnete und eintrat. Sie schlüpfte in die nächste freie Bank, merkte aber, daß ihr Eintritt Befremden erregte; denn der erste Teil vom Gottesdienst war beendet, der zweite hatte begonnen; noch ein Lied, dann folgte die Abendmahlfeier. Obgleich sie daran nicht teilzunehmen gedachte, mochte sie doch nicht wieder hinausgehen. Still und matt blieb sie sitzen. Die Kühle, das gedämpfte Licht taten ihr wohl. Oben, zu beiden Seiten der Orgel, setzten eben die Schulkinder ein, herbe, etwas nasale Töne, die sie fast schneidend aufschreckten, vielleicht weil Erinnerung an Berliner Wintermorgen – als ihre Welt weiß und unschuldig war – in ihr erwachte. So in der Adventszeit, wenn aus dem Hof die Kirchenlieder der Kurrende emporschallten und Mama sie mit der großen Kaffeekanne und frischem Stollen hinunterschickte zu den kleinen, verfrorenen Sängern im Schnee, und noch eine 289 Zugabe erbat: »Macht hoch die Tür, die Tore weit«, oder »Jerusalem du Hochgebaute . . .«

In der Kirche herrschte der kühl-muffige Geruch, der protestantischen Kirchen eigen ist. Die ehrgeizigen, aber wie üblich geschmacklosen Stadtväter hatten kurz vor Ausbruch des Krieges vermocht, den vergnüglichen Hochaltar aus der Barockzeit mit seinen Gipswolken, posaunenden Engeln und Schwalbennestkanzel abzureißen; er war durch eine in der Bau- und Möbeltischlerei des Orts angefertigte Konstruktion im Spitzbogenstil ersetzt worden; aus braunlackiertem Eichenholz das an Aachener Printen erinnerte. Nur in den Seitenschiffen blieben hinter schmiedeeisernen Gittern ein paar verräucherte Überbleibsel aus katholischer Zeit, als die Kirchen noch unbekümmert draufloswuchsen und jedes Jahrhundert etwas von seiner Eigenart dazugab, wie Schichten die allgemach ein Gebirge bilden.

»Herzliebster Jesu, was hast Du verbrochen,
Daß man Dir solch hart Urteil hat gesprochen«,

sangen die jungen schrillen Stimmen aus der Höhe. Der Pastor hatte sich zurückgezogen, der alte versereiche Choral bildete den Übergang zur Feier. Diese herben Intervalle und Harmonien hatten etwas Prickelndes wie eisenhaltiges Wasser, sie waren überraschend, ließen nicht recht zur Ruhe kommen. Nein, in jener Zeit machten sich die Menschen aus ihrer Religion keine Ruhebank; 290 versuchten nicht ihrem Gott ein X für ein U zu machen. Wie es für Missetaten, die heutzutage entschuldigt, ja beinah gerechtfertigt werden, damals gleich Rad und Galgen gab, so auch rissen sich die Bußfertigen die Hülle von der Seele, wenn sie vor Gott standen und bekannten.

»Was ist doch wohl die Ursach' solcher Plagen?
Ach, meine Sünd' hat Dich ans Kreuz geschlagen,
Ich, ach Herr Jesu, habe dies verschuldet,
Was Du erduldet«,

sangen über ihr die Kinder.

Ja, und die Alten hatten recht. Sich selbst konnte man nichts weiß machen. Aber . . . man konnte mit sich fertig werden. Gab es doch auch eine Ruhe des Angeklagten: »Nun ja, ich hab's getan, nun will ich die Folgen tragen.«

Das friedlich gewordene Haus mit dem Sonnenantlitz über dem Eingang, dessen veränderte Stimmung sie aufgerichtet, wenn auch ein wenig fremd berührt hatte, war das nicht Trost genug, war's nicht beinahe Rechtfertigung? Woran sie sich klammerte all die Tage? Lena Witukinds schweres grauverwirrtes Haupt, wie es an ihrer Schulter gelehnt hatte, erst in leidvoller Selbstanklage – auf einmal wieder kam ihr der Vergleich mit Azucena, wenn der arme Troubadour zum Richtplatz geführt wird –, dann aber, ebenso impulsiv, ebenso rasch beruhigt durch die bequemen Trostworte, die ihr von rechts und links 291 entgegentönten: »Es ist besser so, der Arme, nun hat er Frieden«, und dergleichen mehr, die Lena aufschnappte wie der Fisch den Köder . . . das alles stand vor ihr wie im Nebel. Aber deutlich, deutlich sah sie nun das Haupt des Unholds, des armen Unholds, der für seine Gräßlichkeit nicht konnte, wie er, in ewigen Schlaf übergehend, zwischen den Lidspalten sie angeblickt hatte, zum erstenmal mit einem Schimmern des Erkennens, ja des Durchschauens, einem traurigen »Also so bist Du« um die Lippen, um die vom Sterben schmal geknifften Nasenflügel. Wie er so vor ihr lag, halb Ungetüm, halb kleines Kind – nein, eigentlich wie ein Berg, im Untergrund versinkend, eingeschluckt . . . eingeschluckt . . . dessen Gipfel noch geisterndes Licht umspielt: Warum mußt' ich geboren werden, bloß um zu sterben? Was konnte ich dafür?

Ja, Frau Witukinds Verzweiflung bei Anblick des toten Riesenkindes, die von Bekannten und Freunden für inkonsequent, ja sogar für unaufrichtig gehalten wurde, sie begriff sie gut. Sie fand es nicht unnatürlich und übertrieben, dies plötzliche Zurückstellen aller Sorgen um das eigene, gefährdete Kind, dies plötzliche Trostsuchen bei Herrn Witukind, der, weil er sich Uli gegenüber nichts vorzuwerfen hatte, dessen Ende still, fast dankbar hinnahm und in dem Hause auf einmal den Ruhepunkt bildete, von dem aus auch den anderen Ruhe zuströmte. Lenas plötzliche, 292 leidenschaftliche Trauer um den einstigen Zankapfel war zur Brücke geworden zu dem verwundeten Herzen des Mannes; er erkannte ihre spontane Aufrichtigkeit und Wärme und war viel zu anständig, um ihres früheren Abwendens noch zu gedenken. Nein, er legte seine schöne, sensitive Hand auf ihren wirren Kopf und redete ihr zu: »Laß nur, Lenachen, denk dir, wenn er alt geworden wäre, uns am Ende überlebt, was hätte er dann vielleicht noch erlitten!« Dann sah sie ihn dankbar an und ihre großen Augen wurden wieder jung unter Tränen.

Ja, dachte Adriana, war's dann nicht gut so? Sie krampfte die Hände zusammen, versuchte zu denken, aber es war alles wirr. Ach, ganz im dunkeln, von Erbarmen getrieben, hatte sie sich verstrickt in die Spinngewebe, gut und böse zusammengedreht im selben Faden. Wer oder was hatte ihre Hand regiert, sie gelähmt, als sie vielleicht noch hätte helfen – retten können?

»Ich werde Dir zu Ehren alles wagen,
Kein Kreuz nicht achten, keine Schmach noch Plagen,
Nichts von Verfolgung, nichts von Todesschmerzen
Nehmen zu Herzen . . .«

Wie rein, wie erbarmungslos rein schallten die Knabenstimmen! Lauter kleine zweischneidige Schwerter der Gerechtigkeit, die dem Eingang zum Paradiese wehren. 293 Eine Starrheit legte sich über sie; was nun dort beim Altar vor sich ging, es rührte sie nicht. Vielleicht, wenn sie ganz allein gewesen wäre in halbdunkler Kirche, oder sich allein gefühlt hätte in einem großen unpersönlichen Gewoge; wenn allmählich eine unsichtbare, weich lastende Macht all dies hin- und herflatternde Warum und Wofür in ihr besänftigt, gebieterisch unterdrückt hätte . . . Vielleicht . . . wer weiß . . . so ein flüsternder Beichtstuhl, wo man einem Unbekannten, Unsichtbaren alles sagt? Hier war's zu hell, zu schrill. Hier sollte man über sich selbst zu Gericht sitzen, Aug' in Aug' mit Gott. O wie konnte man das, wie konnte man wissen ob man sich selber richtig erkannte? Aber hier gab's nur eins: Bekenntnis – Buße – und auch dann nur, wenn sie Hand in Hand ging mit felsenfestem Glauben; dann, ja dann fing eine reine Seite an in Gottes Schuldbuch. Aber das war's ja gerade. Wußte sie denn, ob sie bereute? Ach, die Tat, das Unwiderrufliche ist immer furchtbarer, als man ahnt. Weil immer noch anderes dazu kommt, an das man nicht gedacht hat. Wie in dem schrecklichen russischen Buch, wo der Mann die Nichte von der alten, bösartigen Pfandleiherin auch noch erschlägt, erschlagen muß, um nicht verraten zu werden. Wenn er nur die alte Pfandleiherin erschlagen hätte, vielleicht hätte er gar keine so arge Reue verspürt? Und wenn sie in Gedanken zurückging, Tag um Tag, ganz kühl und klar, – ja, aber wie konnte sie klar denken mit 294 solchem dumpfen Kopf? – so war's eben doch gut . . . gut so. Ja, wenn es heute wieder vor ihr stünde, listig gefügt beinahe, daß sie gar nichts zu tun brauchte, nur etwas nicht tun, nicht ganz schnell tun, was vielleicht . . . vielleicht . . . ihn gerettet hätte – ja, wenn dieser selbe Augenblick wieder käme – es fuhr ihr kalt schmerzhaft, aber doch befreiend durch die Seele – genau so würde sie wieder geschehen lassen, was geschah! Und wenn sie nun auch nie wieder von Herzen froh sein konnte – das war eben der Preis, den sie bezahlen mußte, wollte, damit Lena . . . die kleine Mingo . . .

Das Blut rauschte ihr zum Kopf, sie glühte, und dann wieder zum Herzen, und sie war totenblaß. Geradeaus nach dem Altar starrte sie hin. Der Pastor, ein blasser, glattrasierter Mann mit feinen Lippen und weltfremdem Blick, hatte den einleitenden Teil der Feier beendet, das Evangelium verlesen, die Gebete gesprochen. Nun trat, während droben die Orgel leise begleitend modulierte, die Gemeinde vor, in kleinen Gruppen von je drei oder vier, sie knieten auf der mit einem roten Teppich belegten Stufe vor dem Altar nieder, empfingen Brot und Wein, wozu der Geistliche jedesmal die Einsetzungsworte sprach: »Dieses ist mein Leib, dieses ist mein Blut«, und jeder Gruppe, die sich wieder erhob, einen Spruch mit gab als Geleitwort: ›Sei getreu bis in den Tod‹ – ›Ich habe Dich bei Deinem Namen gerufen‹, – und so noch viele andere. 295

Die Versehenen kehrten an ihre Plätze zurück, neue Gruppen rückten nach. Die Feier näherte sich ihrem Ende. Der Kirchendiener, ein ebenfalls glattrasierter Mann, der eigentlich viel sazerdotaler wirkte als der feine, stille Geistliche, ging ermunternd, wenn auch gestreng, durch die Bänke, um die einzelnen versprengten Seelen zu sammeln. So berührte er auch Adrianas Schulter, leise mahnend. Aber sie schüttelte langsam das Haupt und sah ihn dabei wie aus einem Traum erwachend an. Und der Kirchendiener ging weiter; mit einem Blick der Befremdung und mißbilligendem Herunterziehen seiner langgefädelten Mundwinkel.

Es schritten die letzten zum Abendmahlstisch. Zu allerletzt, mühsam, eine blasse, noch junge Frau, der der Geistliche beim Niederknien behilflich war. Als sie, von seiner Hand gestützt, sich wieder aufrichtete, beugte er sich nieder und küßte sie auf die schöne geduldige Stirn; seine von schwerer Krankheit nur halbgenesene Tochter. Deren blutjunger Sohn, wenige Tage vor Waffenstillstand, gefallen war.

Da brach Adriana – sie hätte nicht sagen können warum – in heißes schüttelndes Weinen aus.

 

VII.

Die Kirche hatte einen Seitenausgang, durch den man in ein dorfartiges Gewirr kleiner Gassen, Gärten und Werkstätten gelangte. Adriana kam 296 an niederen Häuschen vorbei, wo Schnittlauchtöpfe, Fetthenne, manchmal auch ein Myrtenbäumchen vor den Fenstern standen, hier und dort von bekannten Gesichtern begrüßt, dem Sattler und seiner dicken Frau, dem Schlosser, welch letzterer im Hause Witukind seine Kunst mehr einbrecherhaft ausübte, wenn, wie so oft, ein Schlüssel nicht zu finden war und er mit einem Bund klirrender Dietriche antreten mußte. Etwas weiter kam eine Handelsgärtnerei, wohin Mingo und Titta besonders gerne gingen, denn der weißbärtige Gärtner, den sie den »lieben Gott« nannten, ließ sie die Radieschen selber aus dem Frühbeet zupfen und gab immer etwas Schönes mit, Narzissen und brennende Herzen, und später dann Zimtnelken, ganze Buschen. Der Garten stieg in Terrassen bis zum Fluß hinab, von unten aus konnte man die große Brücke ersteigen; ein Treppchen führte hinauf. Jenseits zog die Landstraße, zwischen Kartoffel- und Spargelfeldern, Stoppeln und Brache; weiter noch – mit großen Zwischenräumen – Kirchtürme, Dörfer und am Himmelsrand Kiefernwald, schwarz und scharf umrissen, wenn das Abendgelb dahinterstand, oder blau verschwommen im Dunst wie heute. Dies war das letztemal, daß sie's sah. Und sie betrachtete es mit dem plötzlichen Erkennen, das uns wird, wenn wir Abschied nehmen von Dingen an denen wir lange schlafwandelnd vorbeigegangen sind. Witukinds – ja, sie nannte sie jetzt Witukinds, sie 297 waren ein Sammelbegriff geworden wie die Gracchen oder wie die Gebrüder Grimm, ach Gott, oder wie tausend andere Ehepaare – Witukinds redeten zwar als sei gar nicht daran zu zweifeln, daß sie wiederkehren, bald wiederkehren würde; aber in ihrem Herzen wußte sie's wohl: nie mehr. Nein, solche Türe die zugeht, sanft zugeht . . . oh, nicht daran rühren! Sie mußte allein fertig werden. Aber ihr der Dankbarkeit allezeit offenes Gemüt wollte dem bescheidenen Land Lebwohl sagen, das so gar nichts aus sich hermachte und doch so reich gegeben hatte: Frühlingsabende und Amselsang, Honigatem seiner Lupinenschläge, golden bis zum Himmelsrand, Frieden seines Firmaments, ob Abendperlmutter, über den Dächern erspäht, oder ausgespannt wie hier, ungehemmt in dunstiger Bläue! Lebt wohl, sagte sie unhörbar, lebt alle wohl!

Neben der Landstraße, auf erhöhtem Rain, zog sich ein schmaler Fußpfad; dort kletterte sie hinauf: Eine Schafherde kam ihr entgegen, der Schäfer kannte sie und grüßte; dann aber weit und breit kein Mensch. Noch ein halber Tag hier, dann noch eine Nacht, und morgen früh . . . ganz früh . . . wenn alles in Tau ertrinkend, der im September so reichlich fällt, hier liegen würde, für sich gegenwärtig, für sie schon Vergangenheit . . .

Lena wollte sie durchaus zur Bahn bringen; nein, das wäre schrecklich! Wenn man doch innen wie gelähmt ist, ganz verschrumpft, dann 298 Freundlichkeit, Blumen, tausend sinnlose Fragen in der Unruhe um einen her . . . nein, das war kein Trost. Aber . . . o meine Lena . . . daß du nun bessere Tage haben wirst!

In der Ferne, geradeaus, hob sich ein Staubwölkchen, nun hörte sie schon das Schnaufen. Es kamen auch andere Kraftwagen hier vorüber, aber sie wußte es gleich, dies konnte nur Herr Biesendahl sein. Und mußte als Abschluß noch hingenommen werden; fatales, angreifendes Gefühl, halb Anziehung, halb Abwehr; aber mehr doch Abwehr. Man war eben immer auf der Defensive. »Solche Leute, eine Zeitlang sind sie ja ganz nett; aber dann, bei irgendeiner Gelegenheit, fehlt ihnen die Tenue«, würde Mémé sagen und die Colignynase erheben, die sie trotz demokratischer Anwandlungen bedeutend höher trug als der schlecht und recht konservative Vater.

Es war keine Minute vergangen, da hielt das staubgraue Gefährt. Heute hatte Herr Biesendahl die Rolle des Wagenlenkers seinem Chauffeur überlassen, einem breitschultrigen, blonden, mit Sommersprossen übersäten Hünen. Er selbst lehnte sybaritisch im Wagen – manchmal überkam's ihn, Tage, an denen er gern sultanhaft der Arbeit anderer zusah –, stieg aber sofort mit der überraschenden Grazie mancher korpulenten Leute aus, um sie zu begrüßen. Den Rain hinauf, bis zum Graspfad wo sie stand, wurde es ihm des wallenden Fahrmantels wegen schon etwas schwerer. 299

»Mein gnädiges Fräulein,« sagte er, »heut ereilt Sie Ihr Schicksal, oder der Finger Gottes, wenn Ihnen das lieber ist; steigen Sie ein, Mäntel und Hauben liegen im Kasten – wir machen endlich den langverheißenen Ausflug.«

»Nein, nein, Herr Biesendahl,« sagte sie, »ich werde zum Essen erwartet.«

»Wozu,« sagte Herr Biesendahl, »wozu haben wir Telephone? Im nächsten Dorf lassen wir uns mit dem vortrefflichen Bauherrn und Hausvater verbinden.«

»Nein,« sagte Adriana, »ich bitte Sie, Herr Biesendahl, morgen reise ich ab, es ist noch vielerlei zu tun.«

»Morgen?« sagte Herr Biesendahl und zog mit leisem Schlürfen das Bürstenbärtchen der Oberlippe in die Unterlippe. »Nun gerade deshalb werden Sie mir doch diesen Wunsch nicht abschlagen; in zwei Stunden spätestens liefere ich Sie heil bei Erwin von Steinbach und seinem Meerweib wieder ab.«

Adriana blickte ihn an. Wie seltsam, daß er Meerweib sagte. Sollte sie ihm von der Gallionsfigur erzählen!

Er hatte ihr schon einen Mantel übergeworfen, eines jener porösen federleichten Kunstwerke, deren Ursprung nur New Bond Street oder allenfalls Hamburg sein kann. Dann knöpfte er mit seinen großen ruhigen Händen die Kapuze unter ihrem Kinn zusammen. 300

»Jetzt sehen Gnädigste aus wie eine Wallfahrerin bei mir daheim. Sie wissen doch . . . Kevelaer: ›Willst du nicht aufstehn, Wilhelm, zu schau'n die Prozession!‹ Ja, dort wuselt es von solchen Gnadenorten. So, nun setzen wir uns zusammen in den Fond, Jansen fährt und wir brauchen weiter nichts zu tun als uns zu freuen der allzu flüchtigen Stunde. Hier der Kober« – er stieß mit dem Fuß daran – »enthält für alle Fälle Seelenstärkung. Ein guter Tropfen, darf ich wohl sagen.«

Schreckliche Redensart, dachte Adriana, guter Tropfen! Fehlt nur noch »erstklassig« und »tiptop«. Und sie machte sich schmal in ihrem weiten Mantel, als Herr Biesendahl, halb Plumeau, halb Diktator, neben ihr niedersank.

»Also nun zunächst, rückwärts Don Rodrigo,« sagte er zu Jansen, »und wenn möglich nicht im Graben nach Gänseblümchen suchen.«

Jansen blickte verachtungsvoll; das Auto vollführte die Wendung aufs Zentimeter genau, und nun ging's den Weg zurück, den Herr Biesendahl gekommen war.

»Ich wußte nicht, daß junge Damen so pflichttreu sind,« sagte Herr Biesendahl. »Allerhand Hochachtung, meine Gnädigste, die heutige Jugend denkt im allgemeinen anders. Übrigens könnte es Erwin von Steinbach nur gut tun, einmal wieder im tête à tête mit seiner schöneren Hälfte Mittag zu essen. Ich habe so meine eigenen 301 Theorien über die Ehe, müssen Sie wissen. Eheleute sollten ab und zu in die Wildnis gehen, in einem Wigwam wohnen, ohne Gasherd, ohne Wäscheschrank, vor allem ohne Kinder. Denn in weitaus den meisten Fällen, wenn die Geldmittel nicht sehr viel Luft und Raum garantieren, ist der Ehestand doch nichts anderes als ein langsamer Erstickungsprozeß.« Er lachte tief im Halse.

Adriana war betreten. Sie hatte ähnliches gedacht, und gerade im Falle Witukind das Lastende des häuslichen Lebens empfunden; aber in Herrn Biesendahls Munde schienen ihr diese selben Gedanken verzerrt, und sie erregten ihren Widerspruch.

»Ich weiß nicht,« sagte sie, »es ist doch etwas Schönes um die Kameradschaft, da nimmt man eben die schweren Zeiten ebenso dankbar hin wie die guten.«

»Kameradschaft . . .« sagte Herr Biesendahl, »ja, das ist jetzt so ein Schlagwort wie damals, im Anfang, ›die große Zeit‹. Kameradschaft – zwischen Mann und Weib. Na ja, wenn es junge, gesunde Leute sind, mag's eine Weile gehen. Aber im Grund ist's der Menschennatur konträr. Diese feinen Knöchelchen« – er hob einen Augenblick ihre Hand – »sehen Sie selbst! Und hier, meine Tatze! Und so auch seelisch. Schifftau und Spinnenweb. Mit Ausnahmen natürlich. Denn gewiß gibt es auch Frauen wie Cowboys und Männer wie kranke Kanarienvögel. Es gibt ja auch 302 Waschfrauen und in Bayern sogar weibliche Maurer. Aber alte Waschfrauen sind ein betrübender Anblick – arthritis deformans, meine Gnädigste, man möchte seine eigene Großmutter lieber nicht so sehen, und was nun die weiblichen Maurer betrifft, die in Manchesterhosen auf Leitern hocken, eine immer über der anderen – wie Jakobs Traum – und stundenlang Ziegelsteine in die Höhe reichen – na, ich hatte immer die Empfindung: Erde, tue dich auf!«

»Ja, das hätte sie doch auch nicht gemeint,« sagte Adriana, »ihr hätte das Walten ihrer eigenen Mutter vorgeschwebt und wie sie alles Ärgerliche und Widrige vom Vater fernhielt; oder doch mit ihm teilte.«

»Nun ja, gegen Müssen ist kein Kraut gewachsen,« sagte Herr Biesendahl. »Aber man soll nur nicht denken, daß Zustände, die aus jahrtausendalter Denkfaulheit entstanden sind, wie Stalaktiten in Tropfsteinhöhlen, deshalb ehrwürdig wären. Aber die Menschen bringen's fertig, Spucknäpfe anzubeten, weil sie nun einmal die schlechte Gewohnheit haben, in die Zimmerecken zu spucken. Begriffsverwirrung überall. Nehmen wir mal den Krieg. Da hat es Taten gegeben, Aufopferung, Treue, ja, und sonne mulschen, verfaulten Bürschchen, die auf einmal aufgewacht und forsch geworden sind, haben ihr blutiges Metier getan ohne einen Mucks, und sind standhaft gestorben wie die Veteranen. Aber deshalb wär's doch besser gewesen, diese Jünglinge hätten 303 fröhlich weitergesumpft, aber der ganze Wahnsinn wär' nicht gewesen, und das Heizen mit Mahagoni hätte nicht stattgefunden. Na – aber die Menschen haben nun einmal die Eitelkeit sich aus dem Muß eine Gloriole zu machen, und bilden sich noch Wunder was ein auf ihre Zwangsjacken, einerlei ob sie ihnen vom Schicksal oder der eigenen Dummheit angelegt worden sind – na – letzten Endes ist die eigene Dummheit ja auch Schicksal. Na – und darum wird's eben nicht besser in der Welt. Halt, Jansen, halt,« schrie Herr Biesendahl plötzlich, er war braunrot geworden vor Zorn, »dieser verfluchte Hund!« Das Auto hielt.

»Verfluchter Hund,« schrie Herr Biesendahl noch einmal, diesmal zurückgewandt, mit peremptorisch ausgestrecktem Zeigefinger. Er war nun ganz Mussolini, gar nicht mehr Plumeau. Ein Karren, an dem ein halbverhungerter kleiner Wolfshund, eigentlich schon mehr ein Wolfspitz, keuchte, stand dicht an den Graben geschoben. Mit seinem Anruf meinte er aber nicht das erbarmungswürdige Tier, sondern einen etwa vierzehnjährigen Lümmel, der in dem Karren saß und mit der Peitsche das elende Gespann dirigierte. Herr Biesendahl versetzte mit zwei raschen Handbewegungen den Insassen des Karrens in den Graben.

»Also mein Sohn,« sagte er, »dies ist Tierschinderei, damit ist Schluß. Das schreib dir 304 zunächst mal hinter deine werten Ohrmuscheln. Name und Wohnung deines Herrn Vaters stehen auf dem Karren; also kann ich mich im Notfall an ihn wenden. Nun mach mal gefälligst den Hund los; das weitere wird sich finden.«

Der Kober wurde geöffnet und sein Inhalt dem verhungerten Tier gegeben bis auf einige Brote, die der Junge erhielt, »obschon du's weiß Gott nicht verdient hast, Bengel«.

Dieser, der anfangs verbissen und höhnisch gewesen, war allmählich ins Heulmeierliche geraten und bat um Gnade.

»Also – du fährst nun den leeren Karren selber an Ort und Stelle – der Hund bleibt frei. Und morgen meldest du dich in Bötzow bei Müller Woltersdorf. Und führst ihm alle acht Tage deinen Hund vor, und wenn er sauber ist und keine Wunden mehr hat an den Füßen, und nicht mehr solch Jammergerippe, dann kriegst du was geschenkt, andernfalls kriegt dich die Polizei beim Wickel und nimmt dir den Hund weg. Und glaube nur nicht, daß man mir ein X für ein U macht, ich heiße Biesendahl, merk dir's. Überhaupt Junge, so einen hübschen Hund, sollst dich was schämen, der Hund ist von allerbester Rasse, wenn der gut gehalten wäre, könntest du Preise und Medaillen für ihn bekommen – und ein feiner Mann hält seinen Hund auch fein. Also vergiß nicht: Woltersdorf in Bötzow, und halt die Ohren steif, ich hab' meine Leute überall, die mir berichten.« 305

Als Herr Biesendahl wieder eingestiegen und sein empörtes Schnaufen verebbt war, sagte Adriana lächelnd: »Oh, das war recht von Ihnen, Herr Biesendahl, das arme gute Hundevieh, aber ist das Ihr Ernst, ist das arme Tier wirklich von so edler Rasse?«

»I bewahre, wo denken Sie hin! Scherenschleifer übelster Sorte, meine Gnädigste. Aber, sehen Sie, sobald sich die Menschen einbilden, sie besitzen was, um das sie ein anderer beneiden könnte, fangen sie an ihr Eigentum zu schätzen; und infolgedessen es auch anständig zu behandeln. Wenn ich dem widerlichen Lümmel gesagt hätte, laß den elenden Fixköter nicht verhungern, dann hätte er ihn morgen mit dem Knüppel alle gemacht – denn eine Kugel wendet solch Pack ja nicht dran. Aber nun wird er ihn relativ anständig behandeln. Sehen Sie, man muß eben die Leute bei ihren Schwächen packen; die einzige Spekulation die niemals fehl geht. Habsucht und Eitelkeit, ja und in vielen Fällen auch elende Furcht . . . wenn man versteht, diese drei anzupurren, dann hält man die Welt in der hohlen Hand. Ja, Sie sehen mich erstaunt an, meine Gnädigste, Sie sind eben noch jung. Jugend, holde Rosenzeit! Wenn Sie meine Semester hätten, würden Sie die Dinge ebenso beurteilen. Allmählich regt man sich über nichts mehr auf; man tut nur so. Ist durch die Zeiten gekommen wie ein Eisbrecher. Das gibt ein dickes Fell. Nur Tierquälerei kann ich noch 306 immer nicht ertragen. Die Menschen heutzutage, wenn sie eine Ungerechtigkeit zu wittern glauben, gleich sind da hundertsechsundfünfzig Zeitungen, die zetern und mordio schreien – und meist ist die Chose gar nicht so schlimm gewesen; dagegen die Tiere sind stumm und seit Erschaffung der Welt dauert die Tortur. Auch im Kriege. Die angeschossenen Pferde, die verhungerten Hunde, die Vögel, die in Käfigen verdurstet waren, das in Ställen verlassene Vieh, die Kühe, die niemand molk, festgebunden . . . manchmal verbrannte auch so ein Stall. Die wußten nicht, ob sie deutsch oder französisch waren, war ihnen ganz piepe, sie litten die nämliche Höllenqual. Ja, meine Gnädigste, man hat da Situationen erlebt, die man neidlos der Konkurrenz überlassen hätte . . .«

Adriana blickte auf. Es kam etwas Warmes in ihre Augen. In diesem Punkt würde Herr Biesendahl durchaus mit ihrer Familie harmonieren, mit den Zwillingen, die alle herrenlosen Hunde und Katzen auflasen, mit Papa, der jeden Sonntag morgen die Droschkenpferde am nächsten Stand füttern ging; Rübenschalen, Kohlstrünke, in letzter Zeit auch wieder Brot – alles sammelte er die Woche durch, und dann zog er los mit einer großen Tüte.

»Ja,« fuhr Herr Biesendahl in seinem Monologe fort, »man weiß nicht, was schlimmer ist: der Stumpfsinn, die Gedankenlosigkeit . . . oder wenn sie alle zugleich denken wollen – ein netter 307 Heringsalat. Die Hauptsache ist, die Zügel nicht fahren zu lassen; am Ende ist ein schlechter Kutscher immer noch besser als gar keiner – wenn's auch heißt: das Maultier sucht im Nebel seinen Weg! Aber die Menschheit will gegängelt sein. Wenn's nur ein Rezept gäbe, Führer zu züchten; aber dazu sind wohl die Werkzeuge des Schicksals nötig, die man selber nicht im Handwerkskasten hat. Und die einzigen, die das immer aus dem Effeff verstanden haben, sind die Herren Jesuiten, die ohne Vorurteil die Technik der Ereignisse für sich arbeiten lassen. Mal tick, mal tack, hier die guten, dort die schlechten Instinkte. Beides kommt zu Wort und die schlechten sind wohl die festeren Bausteine. Da ist zum Beispiel die Menschenliebe! Mein Gott, das ist einstweilen ein sehr unsicherer Baugrund. Nichts da . . . den Egoismus soll man verfeinern, auf der Saite soll man spielen; ist viel wirksamer wie Opferliebe und Himmelsgeläut. Der ganze soziale Fortschritt – was ist's? Kanalisation kontra Dunggrube. Für die Bessersituierten mit den feinen Nasen ebenso wichtig wie für die Proleten. Freilich – es ist wunderbar, wieviel Gestank der normale Mensch in sich einatmen kann ohne Übelbefinden. Ja, Freund Ignaz hatte tausendmal recht: der Zweck heiligt die Mittel. Aber natürlich nur, wenn sich der Zweck sehen lassen kann. Hier liegt der Hund begraben.«

Adriana spürte in alledem, was Herr Biesendahl äußerte, etwas Wahres und etwas Fremdes, ein 308 bißchen Unheimliches, fremd ihrem stillen, sorgenvollen Vater, fremd dem blassen Prediger und dem leisen Kuß auf seiner Tochter zerquälte Stirn. Fühlte zu ihrem Schrecken, daß sie in ihrem Geiste ihm recht gab, und doch stand ihre Seele auf und wehrte sich gegen diese Denkart, die, ebenso plumeauhaft und überwältigend wie er selbst, sie bedrängen und hilflos machen wollte, fühlte aber auch etwas Praktisch-Menschliches in dem allen; das warme Menschenherz, das an den hilflosen Tieren gelitten hatte; den Menschenkenner, der, ohne zu beschönigen, aber ohne zu verdammen, auch sie anhören und ihr vielleicht raten würde, ähnlich wie er einen Defekt am Motor, oder einen Anfangsfehler in einer langen, verwickelten Rechnung aufspüren würde, ohne deswegen Anathema zu rufen. Und halb angezogen, halb abgeschreckt saß sie neben ihm, zart und großäugig in ihrem Kapuzenmantel, und eine große Versuchung überkam sie.

Das Auto hielt.

»Wenn ich Sie bitten darf, meine Gnädigste, hier links der Ausblick – von meiner Terrasse habe ich keinen schöneren. Wollen Sie einen Augenblick aussteigen? Jansen kann während dieser Zeit wieder einmal Tee trinken, wir wollen ihm dabei nicht zusehen, es macht ihn nervös. Jansen ist nämlich leidenschaftlicher Teetrinker – im übrigen Abstinenzler, bei einem Chauffeur eine äußerst wünschenswerte Eigenschaft. So gestatte ich ihm 309 diese unschuldigen Exzesse. Etwas fürs Herz muß der Mensch haben, sagte der Irländer, und da küßte er sein Schwein. Übrigens rührt Jansen den Zucker mit dem Schraubenzieher um; ich glaube er hält Teelöffel für unmännlich . . . So, meine Gnädigste, nun, habe ich zuviel gesagt? . . .«

Es war ein wunderbarer Blick, den man von der Anhöhe hatte. Der Fluß rollte träge dahin, durch die moorigen Wiesen, die er im Frühling überschwemmte – nun ein satter Tyrann, der durch sein Reich fährt. Eichen- und Erlengehölze, dunstig glitzernd, wo die Sonne sie traf, waren mit Riesentatzen in den Gründen gelagert; der Fluß verschwand in ihnen, um weiterhin wieder aufzutauchen, seinen Weg zu nehmen durchs schwammige Torfland. Totenstille – kein Vogelschrei – vor hundert, vor tausend Jahren hatte es hier nicht viel anders ausgesehen.

»Hier,« sagte Herr Biesendahl, »steig' ich regelmäßig aus. Jansen hält schon immer von selbst.« Sie standen erhöht, der Wind ging linde über die Gräser, über die letzten Blümchen des Rains; ein erstes, noch zögerndes Mahnen des Herbstes.

»Ich kenne diese Stelle bei jeglicher Beleuchtungsart,« sagte Herr Biesendahl. »Am schönsten kurz vor Sonnenaufgang. Wenn's eben anfängt sich zu röten. Nebelschwaden überm Torf. Es könnte zur Zeit der Pfahlbauten sein. Oder noch früher. Als noch Saurier und wie die alten Burschen alle hießen, im Schlamm watschelten. Gnädiges 310 Fräulein haben doch wohl Ihren Scheffel intus: ›Es rauscht in den Schachtelhalmen‹ und so weiter und so weiter . . .« Denn Herr Biesendahl gehörte zu jener selten werdenden Menschensorte, welche Scheffel zitiert.

Er hatte sich seiner Autohaube entledigt und einen grauen Kalabreser aufgesetzt; nun nahm er auch diesen ab und ließ sich den warmen Wind ums Haupt wehen, daß sich die leicht gekräuselten Haare bewegten. Zu Hause, hatte Herr Witukind erzählt, trüge er ein türkisches Fes, rot mit einer blauen Puschel. Es fehlten nur die gelben Babuschen dann wäre Harun al Raschid komplett. Daran mußte Adriana jetzt denken. Es gab solche Bilder auf Dattelschachteln, und sie hatte sich Salomo ähnlich vorgestellt, umfangreich, fürsorglich, wie er die weitgereiste und etwas rechthaberische Königin von Saba bei sich aufnahm und es ihr in jeder Weise komfortabel zu machen suchte: mit zauberhaften Bädern, auf denen Rosenblätter schwammen, und hinterher Diwans und Fargilehs und märchenhaften Kaffee in Filigrantäßchen.

»Dort,« sprach Herr Biesendahl, und seine Baßstimme hatte etwas dumpf Vibrierendes, als ob man auf der Wagenbremse säße, »dort, gleich hinter der Anhöhe liegt mein Haus. Zwanzig Minuten noch und wir wären da, Sie ehrten meine niedere Hütte, nähmen einen bescheidenen Imbiß und begutachteten meine Zwerghühner . . .« 311

Wie er so, den Fuß auf einen Feldstein gestützt, in die Ferne deutet, ist er wieder ganz Mussolini. Oder Napoleon. Aus seiner späteren Zeit. Ja, als Napoleons-Denkmal, antik, etwas feist, mit Lorbeerkranz im Haar, wäre er gar nicht so übel, dachte Adriana. Schrecklich, diese Wehrasche Familieneigenschaft, an der sie alle krankten, dieses Gedankenzickzack, von Vergleich zu Vergleich, wie Rösselsprung; freilich verlieh es dem Leben Farbenreichtum, aber es machte zerstreut und konnte bei Gelegenheiten, wo Feierlichkeit am Platz war, peinliche Explosionen zeitigen.

»Sie sind in der Kirche gewesen, meine Gnädigste,« sagte Herr Biesendahl. »Oh, es bedarf keines Sherlock Holmes, um das zu kombinieren; erstens der zerknüllte Kirchenzettel in der Hand und dann der weltabgewandte Gesichtsausdruck: Der Mensch gehet dahin und sein Leben ist wie Heu . . . so oder ähnlich heißt es ja wohl – ich bin nicht so bibelfest wie die Leute hierzulande.«

Adriana lachte. »Ja,« sagte sie, »und ich gehe dahin wie Grumt. Aber nun muß ich Sie wirklich bitten, Herr Biesendahl, mich zurückzufahren – ich habe noch tausend Dinge zu tun, fahre ja morgen mit dem ersten Zug.«

»Na natürlich, ausgerechnet mit dem. Unausgeschlafen. Alles so unkomfortabel wie nur möglich. Und den ganzen Tag nichts Warmes zu essen. Also daraus wird nichts, so wahr ich Emil Biesendahl heiße.« 312

Emil – auch das noch, dachte Adriana, und platzte beinah los. Die Zwillinge hatten ein nervenangreifendes Lied, das sie eine Zeitlang bei jeder Gelegenheit sangen oder pfiffen:

»Emil, wo kommste her,
Wo gehste hin, wann kommste wieder . . .«

und es paßte auch so lächerlich zu Herrn Biesendahls brummerhaftem Erscheinen und Verschwinden.

Dieser, mit einer Hand seinen Staubmantel hebend, führte Adriana, die seiner Hilfe nicht bedurfte, ritterlich den Rain hinunter. Dabei hatte er etwas von der federnden Grazie eines gutgenährten italienischen Opernsängers.

»Also meine Verehrteste,« sagte er, wie sie vor dem Auto standen, »mein Plan ist folgender. Ich hole Sie morgen vormittag um 11 Uhr ab, ich bitte zu notieren in Buchstaben, elf Uhr. Der Korb, der heut zu Ihren Füßchen ruhte, wird auch morgen dabei sein. Thermos, zwei warme Gänge, und dann ein Weinchen, das nicht von schlechten Eltern ist. Servietten, Gabeln – was der Mensch so braucht. Ich wünsche nicht, daß eine mir anvertraute junge Dame genötigt sei, Schinkensemmel mit Lambrequins aus der Tüte zu speisen. Das ist gut für Lämmergeier. Um Punkt drei liefere ich Sie in die Arme Ihrer sehnsuchtskranken Familie ab. Handkuß den nicht genug zu verehrenden Eltern. Exit Emil 313 Biesendahl. Wie, was! Haben Sie Ausstellungen ? Ich nehme an, nicht. Also bong, sagte der Graf, denn er sprach perfekt französisch.«

Adriana, wie nach einem Sturzbad nach Atem ringend, versuchte zu protestieren.

»Meine liebe junge Dame, seien Sie vernünftig. Statt einer nervenzerrüttenden Fahrt im Bummelzug mit zweimaligem Umsteigen und Warten auf elenden Bahnhöfen, wo es nur schales Bier mit Fliegen gibt, diese, ich sage es ohne falsche Bescheidenheit, äußerst komfortable Limousine, Jansen, unfehlbar wie der Papst, am Steuer, Ihr gehorsamer Diener als Beschützer gegen Wegelagerer, sollte es regnen, wird der Kasten zugemacht, wenn am Wege Blumen blühen – liebenswürdige Schwäche junger Damen, daß sie alles abrupfen müssen – wird Halt geblasen. Wenn gewünscht . . . Kaffeepause in L . . . oder in S . . ., wo Backsteingotik vorherrscht, von Kennern gepriesen – ich verstehe nichts davon, liebe meinerseits roten Backstein nicht, erinnert mich immer an kaltes Roastbeef.« Sie stiegen ein. Adriana war betäubt von dieser Wortflut; aber sie hatte ja Zeit bis Nebekow, sich schlüssig zu machen; Herr Biesendahl würde gewiß zu Witukinds hereinkommen, dann konnte man den Fall erörtern; ob wohl Mémé« nicht sehr große Augen machen würde beim Anblick Herrn Biesendahls, dessen style flamboyant ihr gewiß etwas ganz Neues war? Aber sie schob alles beiseite, lehnte 314 sich zurück und überließ sich ihrer Willenslosigkeit. Es war einschläfernd, so weich und sicher dahinzufahren, Jansens breiten, vertrauenerweckenden Rücken vor sich, Herr Biesendahl nicht allzunah neben sich, aber väterlich besorgt es ihr bequem zu machen. Dann richtete sie sich auf, sah umher, seufzte leise.

»Ja,« sagte Herr Biesendahl mehr für sich, »so ein Abschied, so ein Losreißen . . . sogar in diesem Fall, wo eine liebende Familie Sie erwartet – es ist immerhin eine Sache. Ich begreife. Ein trockenes und ein nasses Auge.«

Sie sah zu ihm auf und wurde rot. Schrecklich, wie in diesen Tagen ihr die Tränen so leicht kamen. Irgendein freundliches Wort genügte; ein Blumenduft – eine Beleuchtung. Hatte sie sich in der Kirche noch immer nicht ausgeweint?

»Ach, Herr Biesendahl« – es fuhr ihr durch den Sinn ob sie denen dort nicht etwas Gutes antun könnte, ehe sie ging –, »wenn ich nun weg bin und Mingo ist auch weg, da wird Titta sehr allein sein, wenn sie jetzt zurückkommt – vielleicht nehmen Sie sie einmal mit und zeigen ihr die Zwerghühner?«

»Die Sie verachtet haben! Aber ich will edel sein. Titta Witukind soll eine Landpartie machen und einen Tag verleben, wie bei Gott Vater. Mit allen Schikanen. Aber wenn ich nicht irre, haben Sie noch Weiteres auf dem Herzen. Drei Wünsche 315 sind Ihnen frei. Vergiß das Beste nicht, Mädchen, wie's immer im Märchen heißt.«

»Herr Biesendahl,« sagte Adriana, sie hatte die Hände zusammengefaltet und sah ihn groß an – wie die Kinder im Rheinland den heiligen Nikolaus, dachte er – »wenn nun die Garage fertig ist, könnten Sie nicht noch etwas bauen lassen? Sehen Sie, Herr Witukind hat fast keine Aufträge mehr, und Mingo . . . kostet viel Geld.« Sie brach ab, war dunkelrot geworden, ach, so bitten war doch schrecklich. Für die Soldaten, während dem Krieg, war's ganz leicht gewesen, aber so . . . das Wasser schoß ihr in die Augen, sie wandte rasch den Kopf zur anderen Seite.

»Mein liebes gnädiges Fräulein,« hörte sie Herrn Biesendahl sagen – ach ganz sanft, wie im Märchen der Wolf, der die Kreide gefressen hat –, »warum nehmen Sie das so schwer? Ich bin doch kein Menschenfresser. Und Ihre Anteilnahme macht Ihnen Ehre. Herr Witukind, den ich schätze, wenn er mich auch für einen elenden Banausen hält, soll in allernächster Zeit einen Auftrag erhalten. Villa für meinen Direktor draußen; und für später schwant mir auch noch anderes. Werde ihn außerdem an meine Brüder in Raffke weiterempfehlen. Nur eins, meine kleine Gnädige! Weinen Sie nicht, sonst muß ich auch weinen. Bin darin wie ein Hund, wenn Klavier gespielt wird. Und wenn ich erst weine, kann ich nicht aufhören. Und da setzen wir zusammen die Karosserie unter Wasser.« 316

Adriana mußte lachen, aber dann klirrte es in ihr und nun wurde es ganz schlimm. Sie schluchzte, schluchzte, es schüttelte sie nur so.

»So, das wäre der Dammbruch,« sagte Herr Biesendahl, er legte den Arm über ihrem Kopf auf die Lehne und machte seine Schulter hohl. »Tut nichts, ist gut. Muß alles mal heraus. So, Sie kleine windgeschüttelte Anemone, lehnen Sie sich an, kommen Sie ins Schilderhaus, dazu bin ich ja da. Jansen – Verdeck hoch!«

Und dann, als sie wieder fuhren: »Jansen ist sowohl meine Maschine als auch mein Freund. Er weiß, was sich gehört.«

Aber Adriana hatte gar nicht an Jansen gedacht. Sie versuchte nur sich zu beherrschen. O Gott, wie hatte sie so die Zügel fahren lassen. Vor einem Fremden!

»Fräulein von Wehra,« sagte Herr Biesendahl ganz ruhig, »ich verspreche Ihnen, daß Herrn Witukinds Fortkommen von nun ab eine Herzenssache für mich sein wird. Eine Herzenssache, Fräulein von Wehra. So, das wäre dieses. Im übrigen begreife ich vollkommen, daß Ihre Nerven Sie einen Augenblick im Stich gelassen haben; nach der wochenlangen Pflege dieses unseligen Trottels kein Wunder. Es war eine Schande, einer zarten jungen Dame so was zuzumuten; Erwins ganze Weltfremdheit gehörte dazu. Ich hätte mir die Haare ausraufen können, daß ich verreist war. Ich hätte es verhindert. Ha, nun ist's vorüber, 317 gut, daß der Himmel manchmal ein Einsehen hat. Ihnen aber gebührt ein besonders blank polierter Heiligenschein. Es war unmenschlich, ja es war wider die Natur, solche Sklavendienste von Ihnen zu verlangen. Wie im Märchen etwa . . . die Prinzessin und der Drache. Na, Gott sei Dank, daß das Untier hinüber ist.«

Adriana war totenbleich geworden, ihr war als quölle ihr Herz auf zu entsetzlichem Umfang und müßte in der nächsten Sekunde ihre Brust sprengen. »Herr Biesendahl,« sagte sie leise – war's eine fremde Stimme, die da weit in der Ferne sprach? – »o ich bitte Sie, ich muß Ihnen etwas sagen. Ihr Lob brennt mich so – eine Qual – o Herr Biesendahl, und dabei . . . denken Sie . . . wenn ich nicht wäre, lebte Uli heute noch.«

Herr Biesendahl war unmerklich zusammengefahren. Er ließ seine Augen auf ihr ruhen, sie merkte es nicht, sah vor sich hin, als lausche sie auf innere Stimmen.

»Ich verstehe nicht ganz,« sagte er, »aber ich bitte Sie herzlich, sprechen Sie sich aus. Wahrscheinlich irren Sie sich, machen sich ganz unnötige Skrupeln. Aber was es auch sei, mir können Sie's ruhig sagen.«

Eintönig, klanglos kamen die Worte von Adrianas Lippen. Erst suchend, dann rasch, aber immer so grau, als läse sie eine Aufgabe von einer Wand herunter. Und wie sie zu Ende war, war ihr auch nicht leichter zumute. So, nun hab' ich's 318 gesagt, habe mich preisgegeben, dachte sie; aber was hilft's?

»Liebes gnädiges Fräulein,« sagte er, als sie innehielt, »ich will nicht erst versuchen, Ihnen etwas auszureden. Vielleicht haben Sie dem unglücklichen Kretin den Tod gewünscht. Warum auch nicht? Aber das würden wohl Ihre Pastoren Gedankensünde nennen. Dieselben Herren, die im Krieg über Hunderttausende ganz unschuldiger, gesunder Arbeiter- und Bauernsöhne aus England, Frankreich und Rußland täglich Feuer und Schwefel herabbeteten. Und auf der anderen Seite war natürlich dieselbe Kulöre in Grün. Also gut, Sie haben innigst gewünscht, daß es aus sein möchte mit diesem unseligen Halbtier. Und dann – in dem Augenblick, wo Sie vielleicht sein Leben verlängern konnten, war Ihr Arm gelähmt. Nur sekundenlang; aber das genügte. Und dann kam Ihnen das Bewußtsein zurück – und es kam die Selbstzerfleischung. Mein armes Kind! Sehen Sie doch die Sache ein bißchen objektiv an . . . was Sie auch versäumten – es geschah ja doch unbewußt.«

»Nein, Herr Biesendahl, das ist nicht die Wahrheit,« sagte Adriana, sie sah auf ihre Hände nieder, die sie im Schoß wie mit eisernen Klammern gefaltet hielt, »ich wußte, was ich tat; denn, sehen Sie, heut in der Kirche, wie da die Kinder sangen von unserer schweren Schuld, da wußt' ich's auf einmal ganz deutlich, wenn's wieder vor mir 319 stünde – ich würde wieder so dastehen und zusehen, wie der Tod – kam – –«

»Nun, erstens ist mir das sehr fraglich, ob Sie so handeln würden, nachdem Sie sich doch so den Kopf darüber zerbrochen haben, und das Herz auch . . . Aber Herrgott, warum überhaupt diese Skrupel! Da könnte ich sie mir erst recht machen. Warum hab' ich nicht schon vor vier Wochen den neuen Auftrag gegeben und einen tüchtigen Vorschuß dazu! Dann wäre das Problem Uli nicht akut geworden – und das andere Problem Mungo – Mango – verrückter Name für ein kleines Mädchen – auch nicht. Der Mensch hat keine Witterung. Der elendeste Köter ist ihm darin über. Trägheit des Herzens, wie ein von mir geschätzter Schriftsteller es nennt . . . Herrgott, Kind, sehen Sie nicht so entgeistert aus. Sie haben einen Augenblick die Geistesgegenwart verloren – das ist alles. Und das Resultat ist letzten Endes doch ein Segen. Was wär' aus dem unseligen Klotz geworden, wenn er noch dreißig Jahre weitergelebt hätte, wie so ein Schmarotzer der einen ganzen Baum aussaugt. Am Ende gar die Eltern überlebt hätte? In irgendeiner Anstalt hinvegetieren – war das etwa besser für ihn, für alle? Was waren die Spartaner für vernünftige Leute! Heutzutag nun erst, wo jeder Krüppel bei uns einem gesunden Kind das Brot wegfrißt. Wenn ich Diktator wäre, ließe ich mal vor allen Dingen die Unheilbaren und Irren und lebenslänglich Verurteilten auf 320 irgendeine schmerzlose Weise, aufs menschenfreundlichste ins Jenseits spedieren. Und steckte arme gesunde Familien in all die schönen Anstalten.«

»Ja,« sagte Adriana, »wenn Sie von den Folgen reden, haben Sie wohl recht, Herr Biesendahl. So meine ich's nicht. Wären die Folgen schlimm für die anderen, so wär's vielleicht besser für mich, denn dann könnte ich bereuen. Aber so läuft alles an mir ab wie an einem Stein.«

»Mein Gott, Sie armes Kind, was sind das für Haarspaltereien! Wissen Sie, mir scheint man soll auch seine Seele nicht für zu kostbar halten; das ist letzten Endes auch Dünkel; sonne Nippschrankeinstellung. Aber na, das ist meine Privatansicht. Wissen Sie was – Ihnen würde ich wünschen katholisch zu sein. Manche Menschen sind von Natur aus drauf eingestellt. Ich hab' es oft bemerkt, wenn meine Mutter aus der Kirche kam – sie hatte es daheim nicht leicht, mein Vater war ein gräßlicher alter Wüterich – aber wie glatt gebügelt kam sie immer nach Hause. Ja, ich weiß, die Evangelischen wollen keinen ›Fürsprech‹ zwischen sich und Gott, aber sehen Sie, mit der eigenen Verantwortlichkeit ist so eine Sache; da muß einer alle Stunde auf die Uhr sehen und schläft die ganze Nacht nicht vor Angst; während so ein gläubiger Katholik – der legt sich hin und weiß, er wird zur rechten Zeit geweckt. Ja, so ein vernünftiges Paterchen würde Sie beruhigen. Wenn 321 nicht anders dann durch Machtspruch. Aber wenn Ihnen das nicht einleuchtet, so machen Sie's anders. Denken Sie erstens ans Resultat. Frieden im Hause und der arme Teufel selbst – in Sicherheit; und das kann man ja nur von den Toten sagen; solange man lebt, steht man auf unsicherer Planke. Und dann sagen Sie sich: ich hab's gewagt! Ich glaube, so sagte der alte Moltke. Und dann: Es gibt auch ein ungeschriebenes Gesetz. Für jeden Menschen wohl ein bissel anders, und vor dem, meine ich, können Sie bestehen. So. Und nun drücken Sie Ihr Herz fest zusammen, wenn Sie nach Hause kommen, und denken Sie nicht weiter an Ihre Seele und all das Brimborium und Wichtigtuerei, sondern helfen Sie zunächst mal Ihren Eltern; ich glaube, da ist vieles zu ersetzen, Schwester und Bruder . . .«

»Meine Schwester Anna,« sagte Adriana tonlos, »ach sie, sie hätte anders gehandelt. Hätte gerettet, wo zu retten war.«

»Ja, ganz wahllos, wie ein Neufundländer. Dafür war sie Krankenschwester.«

»Nein, Herr Biesendahl – auch sonst. Irgendwie hätte sie einen Weg gefunden, hätte gewartet, hätte sich ganz aufgeopfert, und die anderen wären glücklich geworden. Sie wollte ja nie etwas für sich. Ehe sie starb, bat sie nur, man möchte ihr Bett anders stellen, es war ein Baum in dem Kasernenhof – dort in Lille, wissen Sie –:, den wollte sie gern sehen – eine Platane –, die machte 322 so schöne Schatten auf die Mauer.. . Sie hatte Grübchen, wenn sie lächelte – und immer bitte und danke, und für sich selbst immer das Schlechteste, das Geringste – gewiß auch dort, bis zuletzt . . .«

Adriana sah vor sich hin mit weitgeöffneten Augen, nun flossen ihr die Tränen langsam, unaufhaltsam an den Wangen nieder, sie merkte es nicht. Die Erinnerung an Anna war wie ein stiller, trauriger Teich, heilig wie jeder Kummer der ohne Reue ist.

Herr Biesendahl zog ein großes, feines Batisttuch aus der Tasche seines Mantels und trocknete ihr das Gesicht.

»So – so,« sagte er, fast wie eine Kinderfrau. »Ja, das arme Schwesterchen, das ist dahingegangen wie ein Held; ist nun auch in Sicherheit. Gott, Kind, das Leben wird nicht schöner mit dem Altwerden. Wundervoll, wie freigebig die Jungen mit dem Leben sind – sind eben die Herzen noch reich und fließen über; alte Menschen zählen die Tage wie Geizhälse, was weniger erhebend ist.«

Adriana lehnte den Kopf zurück, sie war müde, wie ausgewaschen; der Frieden der Müdigkeit überwältigte sie. Herr Biesendahl räusperte sich, rückte sich zurecht; man näherte sich der Stadt. Er ließ das Adagio noch ein wenig ausklingen; nun aber mußte er zum Anfangstempo übergehen, ehe sie wieder in das Bereich der Nebekower Beobachtung gerieten. 323

»Also mein sehr liebes und verehrtes Fräulein,« sagte er mit verändertem Stimmklang – er war nun wieder ganz Biesendahl, Textilwerke –, »es bleibt dabei, morgen um elf. Heut abend noch einmal Familie Witukind – etwas farblos, I guess, wie der Amerikaner sagt. Meerweib und Städteerbauer im Honeymoon; seltsam, wie unausgiebig, ja uninteressant, glückliche Ehen für den Dritten sind. Die beiden kleinen Seejungfrauen werden nun vermutlich auch in ruhigere Gewässer kommen. Allegro moderato heißen ja wohl solche langweiligen Klavierstücke. Klassiker. Gräßlich. Mein Mann war immer Wagner. Wotans Abschied . . . Leb wohl mein kühnes, mein herrliches Kind . . . tah – tah – tah–tatta tah – tah– tah! Nie in Bayreuth gewesen, meine Gnädigste? Ist auch schon wieder vieux jeu . . . aber es wird bleiben, glauben Sie mir, es kommt wieder. Ja, nun nähern wir uns dem Kulturzentrum Nebekow. Jansen, Verdeck runter!«

Noch ein paar Minuten und sie hielten vor der sonnengekrönten Haustür.

»Hübsch – so was verstanden die Alten,« sagte Herr Biesendahl, beim Aussteigen hinaufblickend. »Und ob diese hier Aufgang oder Untergang bedeutet, gleichviel: Ihr Lebensgang soll fürderhin Sonne haben, meine Verehrteste, darauf dürfen Sie sich verlassen.«

Herr und Frau Witukind standen am Fenster; Frau Lena mit verträumten Augen. Gott ja, da 324 war Adrie zurück – sie war ja wohl recht lange weggeblieben.

Diesmal war's der weltfremde Herr Witukind der eine scharfsinnige Vermutung äußerte. »Was,« sagte Lena Witukind, »der dicke Flußgott? Ach Unsinn!« Aber was ihr vor wenig Wochen einen eifersüchtigen Stich gegeben hätte, jetzt nahm sie's nur mit mildem Staunen wahr.

Herr Biesendahl hatte Eile. Schon wieder automobilistisch verkappt, rief er dem Ehepaar ein paar joviale Worte zu, verabschiedete sich von Adriana mit einem einhüllenden Händedruck und verfügte sich mit elastischem Schwung auf den Sitz neben Jansen, der wie ein Steinblock saß und die Ereignisse die ihn nichts angingen an sich verschäumen ließ. Unter warnendem Getute, vor welchem Hunde, Hühner und Kinder die Flucht ergriffen, verschwand das Auto.

»Flußgott sagst du,« sagte Herr Witukind, als er wieder im Wohnzimmer eintrat, Adriana war hinaufgegangen, »ich fand ihn heute wieder ganz pompöser Gummiball. Der Allerweltstausendsasa steckt ihm immer noch in den Knochen. Von seinen Wanderjahren her. Schade. Oft sind Menschen so nett, daß man eine Wut auf sie kriegt, daß sie nicht noch ein bißchen netter sind . . .« Frau Lena lachte. Es war jetzt immer so ein gemütliches Knurren, das ihr grauer Panther hatte.


325 Als dann am nächsten Vormittag Herr Biesendahl vorfuhr und ihm an Stelle von Adriana nur ein Brief derselben eingehändigt wurde, war er zwar enttäuscht, aber doch weniger als er sich den Anschein gab; denn ganz in der Tiefe seines Bewußtseins hatte er's nicht anders erwartet. Hatte bei Adriana unter all ihrer Nachgiebigkeit den harten Untergrund gespürt, etwas, das sich nur schwer biegen lassen würde, das auf eigene Fasson selig oder unselig sein wollte; ja, wollte. Aber, meine Herrschaften, Emil Biesendahl war auch nicht aus Butter gemacht. Er steckte den Brief ruhig ein, folgte Herrn Witukind in sein kahles Arbeitszimmer und legte dort mit ihm die vorläufigen Pläne fest zu einem Wohnhaus für den Direktor, sprach auch von künftigen Arbeiten die dem folgen sollten. Einen Imbiß lehnte er höflich, aber bestimmt ab, denn er empfand den Wunsch allein zu sein; vielleicht trug auch die Erinnerung an jenen hier genossenen Zeltinger etwas zu seiner ablehnenden Haltung bei. Auf der Fahrt, neben Jansen dem Unerschütterlichen sitzend, ließ er den Brief uneröffnet, denn wie auch der Ton desselben sein mochte, abweisend oder hoffnungsvoll, er wünschte Adrianas Antwort in Ruhe und ohne Gefahr von Unterbrechung entgegenzunehmen. Erst als er in seinem bequem und zweckmäßig, aber nicht luxuriös ausgestatteten Arbeitszimmer saß, an dessen Wänden außer einer schönen Landschaft der Worpsweder Schule 326 nur die vergrößerten Photographien seiner Eltern hingen, zog er den Brief aus der Tasche, setzte erst noch das Fes auf, denn er empfand die Lehne seines Ledersessels kalt an der Stelle, die er seine Tonsur zu nennen pflegte, lehnte sich zurück und las:

Lieber Herr Biesendahl,

wenn Sie diesen Brief in Händen haben, werden Sie gewiß – und mit Recht – ärgerlich sein, daß ich Sie die lange Fahrt umsonst machen ließ. Aber ich hatte keine Möglichkeit, Ihnen beizeiten Nachricht zu geben. Ich werde nun doch, wie es von Anfang an meine Absicht war, mit dem frühen Zuge fahren. So entgehe ich einem nochmaligen Abschiednehmen von meinen Freunden auf dem Bahnhof. Nach dem, was ich Ihnen gestern sagte, werden Sie verstehen, daß ich nur einen Wunsch habe: Allein sein. Und das kann ich, wenn es auch seltsam klingt, am besten bei meinen Eltern haben. Denn wir sind alle schweigsam über Dinge die uns bedrücken, so wird es nicht auffällig sein wenn ich still bin. Und dann – daheim haben sie genug zu tragen, und ihnen auch noch meine Last aufbürden, käme mir ebenso grausam vor, wie Ihnen gestern der Junge, der sich von seinem Hündchen schleppen ließ.

Nun will ich Ihnen noch danken für Ihre menschliche Art, mein Geständnis aufzunehmen, und Ihren Versuch mir darüber hinwegzuhelfen. Ich 327 bin in einer Denkart groß geworden – wenn ich ihr auch nicht Ehre mache –, die keine Mittelsperson zwischen Gott und Menschen will; in peinlicher Gewissenserforschung muß man sich selbst jeden Vorwand, jede Ausflucht von der Seele reißen. Das habe ich getan – und stehe beschämt vor dem Anblick. Auch ein Priester Ihres Glaubens, und wäre er noch so gut und weise, brächte mich nicht über diesen Kampf hinweg. Das kann nur jeder ganz allein. Da mir nun nicht möglich ist – meiner Eltern wegen, die genug gelitten haben – das einzige zu tun, was mir wieder Gleichgewicht geben könnte, nämlich mich selbst anzuzeigen bei Gericht – so will ich versuchen durch ein selbstloses Leben einen Ausgleich zu finden. Zunächst, was Sie selber mir rieten, meinen Eltern beistehen, freilich keine Strafe sondern mein höchstes Glück; aber mit der Zeit will ich einem Werk der Bruderliebe beitreten, wenn ich dessen auch nicht würdig bin. Es gibt Anstalten genug, wo die Entrechteten der Natur ihr trauriges Leben verbringen; dort brauchen sie Hilfskräfte, mehr denn je. Dort werde ich vielleicht mein Gleichgewicht wiederfinden. Durch Buße. Nicht durch Reue. Denn sehen Sie, das ist ja was ich nicht verstehe, was mich verwirrt, als sähe ich ein fremdes Gesicht im Spiegel, daß ich wohl fühle, meine Hände sind nicht mehr schuldlos wie die meiner Schwester es waren (ach als heut der alte Pfarrer seiner Tochter das Abendmahl reichte, trotz ihrer 328 Schmerzen, ihrer Schwäche, dieses Leuchten, wie der Vater sich zu ihr beugte . . . o wie fuhr mir's durchs Herz; denn ich erkannte, das ist nicht mehr für mich), aber daß ich, ich sag' es immer wieder mit Staunen – keine Reue empfinde, sobald ich mir alles überlege. Und es war nicht Lähmung meines Willens, wie Sie mir einreden wollten, nein, lieber Herr Biesendahl, ich wollte Uli nicht helfen, und er war mir doch anvertraut, ich pflegte ihn, so etwas ist doch Ehrensache. O Gott, wenn Anna es wüßte! Und doch sehe ich, die Folgen meiner Tat sind gut. Hier im Haus ist auf einmal Frieden und Verstehen und als sei ein giftiger Dunst entflohen . . . Aber da ist noch eines; der letzte Blick des armen Uli. Als sei auf ein paar Sekunden der Nebel fortgezogen, der seine Gedanken verfinsterte, als riefe er nach mir, und, wie ich unbeweglich blieb, als begriffe er warum ich ihm nicht half. Und da zog er den einen Mundwinkel ein bißchen hoch, grad wie er starb – das werde ich nicht wieder los. Ja, wenn ich schon katholisch wäre und das alles glauben könnte mit der Fürbitte und den Seelenmessen und Heiligen, dann wär' ein Kloster, so ein ganz strenges, wo man alles Irdische vergißt, vielleicht ganz gut. Aber so . . . würde auch das mir nichts helfen. Haben Sie Dank für Ihre guten Worte. Sie konnten mich nicht überzeugen; aber Ihre Ruhe, Ihre Menschlichkeit tat mir wohl. Und daß Sie meine Bitte, Witukinds wegen, 329 erfüllen wollen, ist auch so gut von Ihnen. Hätte ich mir früher ein Herz gefaßt mit Ihnen zu reden! Aber ich wußte nicht, wie gut Sie sind. Nun können die armen Menschen Atem holen, brauchen keine übereilten Entschlüsse fassen. Und Mingo wird wieder gesund werden.

Ich muß eilen, es wird schon hell. Ich habe die Nacht viel gedacht – wenn auch nicht gebetet. Das könnte ich erst wieder, wenn ich Reue fühlte – aber das ist's ja eben, daß ich die nicht fühle; nur etwas Schweres – besonders beim Erwachen – das mich drückt und nicht mehr froh werden läßt – wenn ich auch manchmal schon wieder gelacht habe, zu meiner eigenen Überraschung.

Nun also, leben Sie wohl.

Ihre dankbare                
Adriana von Wehra.


Herr Biesendahl las den Brief einmal, dann ein zweites Mal langsamer; nun steckte er ihn in sein Kuvert zurück und verschloß ihn in einem Geheimfach seines riesenhaften Schreibtisches, einer Art Fabeltier, aus verschiedenen edlen Hölzern gebaut, mit Stahl und Perlmutter eingelegt und mit raffinierten, wenn auch entsetzlich umständlichen Schlössern und elektrischen Vorrichtungen gegen Einbruchsgefahr reichlich versehen, 330 das ihm die Angestellten seines Betriebs zu seinem vierzigsten Geburtstag verehrt hatten.

Dann stand er breitbeinig am Fenster, die Hände in den Taschen, das kleine Fes etwas nach hinten gerutscht. Unten wurden gerade die Beete aus Hunderten von kleinen Blumentöpfen mit Begonien und bunten Blattpflanzen herbstlich erneuert. Nur ein Rondell mit Heliotrop war immer noch in sommerlicher Blüte; duftend, von Bienen besucht. Herr Biesendahl hatte eine Vorliebe für Heliotrop, für seine stille dunkle Süßigkeit. Weiter ab, auf der rechten Seite, war die große Voliere mit den Zwerghühnchen. Er seufzte; in Gedanken hatte er Adriana schon binnen wenig Wochen hier wandeln und walten gesehen. Nun würde er sich noch gedulden müssen. Aber dennoch – sagte er sich und sah zu der Photographie seines Vaters auf, eines älteren Herrn mit langer, eigensinniger Oberlippe und einer sogenannten Mauerfräse, der aus kleinen Anfängen es zu einem gut gehenden Geschäft gebracht und die Mittel hinterlassen hatte, um des Sohnes jetzigen Wohlstand zu begründen. Dennoch war das Lieblingswort des im übrigen recht unangenehmen alten Tyrannen gewesen. Außer diesem väterlichen Leitmotiv war aber noch ein bestimmter Glaube, der Herrn Biesendahl in diesem Augenblick stärkte: nämlich daß, wenn man sich etwas im Leben wünscht, ganz unerschütterlich und ohne Aussetzen, man das Schicksal zwingen kann, daß es endlich, des 331 Verneinens müde, den goldenen Apfel – oder sind's nur unsere Vorstellungen die ihn vergoldeten! – dem Wartenden in den Schoß rollen läßt.

Arme kleine kalvinistische Streiterseele! dachte er; mit all deiner Gewissenerforschung und Selbstquälerei! In seinem Herzen quoll eine große, eigentlich ganz genußreiche Rührung auf. Ein Weilchen mußte sie sich wohl noch auf Dornen wälzen. Das durfte man nicht unterbrechen. Kleiner Seelenaderlaß. Für derartige Naturen unerläßlich. Aber später dann, wenn sie matt, ausgeblutet sein würde, und ihre schönen, langen Hände überdrüssig, idiotische Kinder zu baden und zu kämmen und was dergleichen Liebesdienste mehr waren, die sie – ob sie's nun glaubte oder nicht – einer Nachfolgerin des Heiligen Franziskus viel ähnlicher machte als einer Jüngerin jenes rechthaberischen Reformators mit seiner Tellerkrause . . . ja also, wenn es so weit gekommen war, dann wollte er, Emil Biesendahl, sie ordentlich in Versuchung führen. Keine Rosen, keine Zwerghühner mehr, kein paradiesisches Landleben mit Eltern und Geschwistern zu Besuch, diesmal werden wir klüger verfahren, eine andere Fliege an die Angel hängen, meine kleine Forelle! An der See ein Heim für die – wie drücktest du's so schonend aus – die Entrechteten der Natur, Architekt Heinrich Witukind natürlich, und drinnen liebe sanfte Schwestern, Vinzentinerinnen, wenn's nach mir ginge, aber ich will dir auch Kaiserswertherinnen 332 konzedieren – was konzedierte ich dir nicht! Und du als mütterlicher Geist darüber schwebend! Mit Spielzeug und Bonbonschachteln beladen die Bettchen visitiert, und Autoausflüge mit den Gesünderen ins Grüne, und mit der Oberin kleine intime Besprechungen und immer wieder neue Verbesserungen ersonnen: Und für mich, für dein eigenes Haus wird ja doch noch Wärme genug bleiben, trotz aller christlichen Liebe – mit Augen, wie du sie hast, da ist Vorrat!

Wieder blickte er zu dem Bilde des alten Mannes mit der eigensinnigen Oberlippe hinüber: »Hab Dank, alter Herr, daß du mich beizeiten lehrtest, den Reichtum zu schätzen. Neunzig Prozent aller Leiden dieser Welt, so hast du oft geknarrt, könnten durch Geld verhindert, geheilt, jedenfalls gebessert werden.« Seine Augen waren feucht geworden. Geduld und Ausharren, dachte er wieder. Es wird alles gehen wie es muß. Kein Fluß fließt den Berg hinauf. Das Vernünftige ist doch schließlich das Natürliche. Und die Kraft ist auf meiner Seite.

Er fuhr mit der Hand über die Stirn, sah auf die Uhr; dann trat er an den Schreibtisch, nahm den Hörer vom Telephon: »Ich lasse Herrn Direktor bitten . . . so, lieber Voßler, sind Sie's selbst . . . also ich bitte, wenn möglich in einer Viertelstunde zur Besprechung.«


333 Hier verlassen wir Herrn Biesendahl; verlassen Adriana. Mit einem Fragezeichen. Wie wir auch sonst Menschen verlassen müssen, und Häuser, und Bäume – weil unsere Wege abzweigen, weitergehen. Wie wir dereinst – mit einem Fragezeichen – diese Welt verlassen werden, auf der, laut Salomo, alles eitel war, aber vieles doch so unbeschreiblich süß.

 


 


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