Theodor Fontane
Stine
Theodor Fontane

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Neuntes Kapitel

Der junge Graf wiederholte seine Besuche. Während der ersten Woche kam er einen Tag um den andern, dann täglich; aber immer blieb er nur bis Spätnachmittag. Dann ging er wieder.

Einmal kam ausnahmsweise der Abend heran, und man öffnete die Fenster und sah hinaus. Die Schwere der Luft machte, daß das Straßentreiben unten anders als sonst auf die Sinne wirkte; die Lichter brannten trüber, und das Geläute der Pferdebahnglocke klang gedämpfter herauf. Über dem Parke drüben stand der Mond und warf seinen Schimmer auf einen frei zwischen den Bäumen stehenden Obelisken; die Nachtigallen schlugen, und die Linden blühten in aller Pracht.

Der junge Graf wies darauf hin und sagte: »Das ist nun ein Park und heißt auch so. Aber ist es nicht eigentlich wie ein Kirchhof? Daß alles blüht, das hat der Kirchhof auch. Und der Obelisk sieht aus wie ein Grabstein.«

»Und ist auch so was.«

»Wie das? Ist da jemand begraben?«

»Nein, begraben nicht. Aber ein Denkmal ist es, das zur Erinnerung an die mit der ›Amazone‹ Verunglückten errichtet wurde. Hundert oder mehr, und ich habe manchmal ihre Namen gelesen. Es ist rührend; lauter junge Leute.«

»Ja«, sagte der junge Graf, »ich entsinne mich, lauter junge Leute.« Dann schwieg er wieder, und der Ton, in dem er gesprochen hatte, klang fast, wie wenn er sie mehr beneide als beklage.

Bald danach brach er auf, sichtlich bewegt von der Wendung, die das Gespräch genommen, und Stine sah, als er auf die Straße hinaustrat, daß er nicht, wie gewöhnlich, nach links hin auf die Bahnhofsbrücke zuschritt, sondern, quer über den Damm, nach dem eingegitterten Park. Da stand er nun an dem Gitter und beugte sich vor, und es war, als ob er die Namen, die der Obelisk trug, in dem Halblicht zu lesen versuche.

An diesem Tage hatte sein Besuch etwas länger gedauert; sonst blieb er nur bis Sonnenuntergang und hatte seine Freude daran, Stine bei der Arbeit zu sehen und dabei plaudern zu hören. Er nahm teil an allen Vorkommnissen; am liebsten aber war es ihm, wenn sie Geschichten aus ihrem Leben erzählte, von ihren Kinder- und Schultagen, von dem frühen Tod ihrer Mutter und von der Einsegnung, die kurz nachher gewesen, und wie die Leute im Hause gesammelt hätten, um ihr das Einsegnungskleid schenken zu können. Und wie sie dann in demselben Jahre noch in das große Woll- und Stickereigeschäft eingetreten sei – dasselbe, für das sie jetzt noch arbeite; meistens zu Haus, aber mitunter auch im Geschäft selbst –, und wie sie da lebten und Freundschaften schlössen und in der Weihnachtswoche bis in die halbe Nacht beisammensäßen und der Reihe nach eine immer vorlesen müsse. Das sei nicht bloß gestattet, das sei sogar gewünscht; denn der Herr des Geschäfts sei klug und gütig und wisse, was es wert sei, die, die arbeiten müßten, bei Lust und Liebe zu halten. Und so käm' es auch, daß sie keinen Wechsel im Personal hätten, oder doch nur sehr selten, und alle gern blieben, es sei denn, daß sie sich verheirateten. Überhaupt müsse sie sagen, es würde so viel von Aussaugen und Quälen und von Bedrückung gesprochen, aber nach ihrer eigenen Erfahrung könne sie dem durchaus nicht zustimmen. Im Gegenteil. Im Winter hätten sie Maskenball und Theaterstücke; denn ihr Geschäftsherr, wie sie nur wiederholen könne, vergesse nie, daß ein armer Mensch auch mal aus dem Alltag heraus wolle. Das Schönste aber seien die Landpartien im Sommer. Da würden ein paar Kremser gemietet, und noch vor Tau und Tage ging es ins Freie hinaus, nach Schildhorn und Grunewald oder nach Tegel und dem Finkenkrug. Oder auch zu Wasser, was freilich, solange sie da sei, nur einmal gewesen, aber ihr auch ganz unvergeßlich geblieben sei. Da wär' ein Dampfschiff gemietet worden, und die ganze Spree hinauf, an Treptow und Stralow und dann an Schloß Köpenick und Grünau vorüber, wären sie bis in die Einsamkeit gefahren, bis an eine Stelle, wo nur ein einziges Haus mit einem hohen Schilfdach dicht am Ufer gestanden habe. Da wären sie gelandet und hätten Reifen gespielt. Ihr aber sei das Herz so zum Zerspringen voll gewesen, daß sie nicht habe mitspielen können, wenigstens nicht gleich, weshalb sie sich unter eine neben dem Hause stehende Buche gesetzt und durch die herabhängenden Zweige wohl eine Stunde lang auf den Fluß und eine drüben ganz in Ampfer und Ranunkeln stehende Wiese geblickt habe, mit einem schwarzen Waldstreifen dahinter. Und es sei so still und einsam gewesen, wie sie gar nicht gedacht, daß Gottes Erde sein könne. Nur ein Fisch sei mitunter aufgesprungen und ein Reiher über die Wasserfläche hingeflogen. Und als sie sich satt gesehen an der Einsamkeit, habe sie die andern wieder aufgesucht und mit ihnen gespielt; und sie höre noch das Lachen und sähe noch, wie die Reifen in der Sonne geblitzt hätten.

Der junge Graf hörte nichts lieber als dergleichen Erzählungen, und so glücklich ihn jedes Wort stimmte, so lehrreich war es ihm auch. Er war in der Vorstellung herangewachsen, daß die große Stadt ein Babel sei, darin die Volksvergnügungen, wenn nicht mit Sittenlosigkeit und Roheit, so doch mit Lärm und Gejohle ziemlich gleichbedeutend seien, und mußte nun aus Stines Munde hören, daß dies Babel eine Vorliebe für Lagern im Grünen, für Zeck und Anschlag habe. Dergleichen verfehlte denn auch nicht, seine Gedanken immer mehr einer ihm angebotenen, allen Standesvorurteilen abgewandten Richtung zuzuwenden, und wenn Stine mit solchen Schilderungen, ernsten und heiteren, ihn in die Gemütlichkeit hineingeplaudert hatte, wurd' er zuletzt selber mitteilsam und sogar gesprächig und erzählte von seinem eigenen Leben: von dem Predigtamtskandidaten, bei dem er bis zum Überdruß Gesangbuchlieder und Bibelsprüche habe lernen müssen, weil es so das bequemste für den Lehrer gewesen, von seinen Vorbereitungen zum Examen, durch das er nur (denn er habe nie was gelernt) wie durch ein Wunder hindurchgekommen sei, und endlich, nach seinem Eintritt ins Regiment, von seinen Avantageur- und Fähnrichstagen. Das wäre seine beste Zeit gewesen, seine einzig frohe, trotzdem es bei seinem frommen und eisenfresserischen Kommandeur ein für allemal festgestanden habe: »ein Fähnrich ist ein Nichtsnutz«. Und da mit einem Male hab' es geheißen »Krieg«; ein Jubel wäre losgebrochen, und drei Tage später hab' er schon eingepfercht in einem Waggon gesessen, überglücklich, auch seinerseits aus dem Garnisonseinerlei heraus zu sein. Überglücklich, aber freilich nicht auf lange. Denn wieder drei Tage später, und er habe, aus dem Sattel geschossen, dagelegen, und als einen Halbtoten hätten sie ihn weggetragen. Und während seine Kameraden von Sieg zu Sieg gezogen seien, hätt' er sich in einem Nest an der Grenze hingequält und nicht gewußt, ob er leben oder sterben solle. Und die Natur hab' es auch nicht recht gewußt und habe sich nicht entscheiden wollen. Aber zuletzt habe sie sich entschieden, und er sei genesen. Oder doch halb. Ob zu seinem Glück? er wisse es nicht. »Es ist doch das schönste, wenn die Sonne niedergeht und ausruhen will von ihrem Tagewerk.«

Stine verstand ihn wohl und bat ihn, als er das sagte, nicht so zu sprechen. Er müsse doppelt hoffen; denn wer vom Tode gerettet sei, der lebe lange. So sage das Sprichwort, und die Sprichwörter hätten immer recht.

Er lächelte bei diesen Worten und lenkte dann auch seinerseits wieder zu heiteren Dingen über. Und bald danach trennte man sich in Herzlichkeit und guter Laune.


 << zurück weiter >>