Theodor Fontane
Stine
Theodor Fontane

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Drittes Kapitel

Während die Pittelkow oben bei Stine war, um sich dieser für den Abend zu versichern, ging Olga die Invalidenstraße hinauf, um erst den Brief abzugeben und dann auf dem Rückwege bei Konditor Bolzani die Torte zu bestellen. Es war ihr Eile befohlen, aber sie kehrte sich nicht dran, freute sich vielmehr, eine Stunde lang ohne mütterliche Kontrolle zu sein, und getröstete sich, »daß es noch lange hin sei bis Abend«. An allen Läden blieb sie stehen, am längsten vor dem Schaufenster eines Putzgeschäfts, aus dessen buntem Inhalt sie sich abwechselnd eine rote Schärpe mit Goldfransen und dann wieder einen braunen Kastorhut mit Reiherfeder als Schönstes wünschte. Diesen Wunsch in Erfüllung gehen zu sehen war freilich wenig Aussicht vorhanden, aber es schadete nicht viel, weil sich ihre nächste Zukunft unter allen Umständen angenehm genug gestalten mußte. Wanda, wie sie von Tante Stine her wußte, hatte meistens Sandtorte, ja mitunter sogar Schokoladenplätzchen in ihrem Schrank, und wenn sich beides auch nicht erfüllte, so blieben doch immer noch die Gerstenbonbons. Solchen Betrachtungen hingegeben, kam Olga bis an die Chausseestraße, wo, wie gewöhnlich in dieser kirchhofreichen Gegend, ein großes Begräbnis die Straßenpassage hemmte. Olga, weitab davon, irgendwelchen Anstoß an dieser Wegestörung zu nehmen, wünschte ganz im Gegenteil, dieselbe so lange wie möglich andauern zu sehen, und stellte sich, besseren Überblicks halber, auf eine vor einem Öl- und Spiritusgeschäft angebrachte Steintreppe. Der Wagen mit dem Sarge war schon eine Weile vorüber, so daß sie nur noch das versilberte Kreuz über einem Meer von schwarzen Hüten hin und her schwanken sah. Kutschen fehlten im Zuge (so wenigstens schien es), dafür aber folgten allerlei Baugewerke mit Bannern und Musik, und während noch aus der Front her der Trauermarsch der Zimmerleute bis weit nach rückwärts tönte, klang schon aus der Mitte des Zuges und vom Oranienburger Tor her ein zweiter und dritter Trauermarsch herauf, so daß Olga nicht wußte, worauf sie hören und welchem Geblase sie den Vorzug geben sollte. Neben dem eigentlichen Gefolge drängten breite Volksmassen mit vorwärts und ließen nur allemal eine schmale Gasse frei, wenn reitende Schutzleute von der Queue her bis an die Spitze des Zuges und dann wieder zurück sprengten. »Wer es nur is?« dachte Olga, in deren Herzen etwas wie Neid aufkeimte, so schön begraben zu werden; aber soviel sie horchte, sie konnte es bei den mit ihr auf der Steintreppe Stehenden nicht mit Bestimmtheit in Erfahrung bringen. Einer versicherte, daß es ein alter Maurerpolier, ein anderer, daß es ein reicher Ratszimmermeister sei, während eine mit braunem Torfstaub ganz überdeckte Frau, die der herannahende Zug sichtlich beim Abladen unterbrochen hatte, von nichts Geringerem als von einem Minister für Maurer und Zimmerleute wissen wollte. »Dummes Zeug«, unterbrach sie der nebenan wohnende Budiker, »so was gibt es ja gar nich.« Aber das Torfweib ließ sich nicht stören und sagte nur: »Warum nich, warum soll es so was nich geben?« Und so stritt man sich hin und her. Endlich aber war der Zug vorüber, und Olga passierte nun den Damm und bog hundert Schritte weiter abwärts in die Tieckstraße ein.

Nummer 27a war das dritte Haus von der Ecke: fünf Fenster Front, drei Stock und eine kleine Mansarde. Der Wirt, ein Kupferschmied, hatte den Hof in eine halboffene Werkstatt verwandelt, in der nun den ganzen Tag über auf oft zweimannshohen Braukesseln herumgehämmert wurde, bei welchem Gedröhn und Gehämmre Wanda ihre Rollen lernte. Es tat ihr nichts; ja, sie hätte nirgends lieber wohnen mögen, und der Kupferschmiedegeselle, der auf der obersten Kesselrundung oft stundenlang herumritt und sich dabei in platonischer Liebe (der einzigen, die Wanda so kleinen Leuten gestattete) verzehrte, war jedesmal ihr guter Freund. Ihre von Glasermeister Schlichting abgemietete Wohnung lag nämlich nach dem Hofe hinaus und hatte hier ihren eigentlichen Auf- und Eingang. Hier befand sich denn auch ihre Klingel und ihre Karte: »Wanda Grützmacher, Schauspielerin am Norden-Theater.«

Und dieses Titels durfte sie sich rühmen wie manche Berühmtere. War sie doch ein Liebling der Bühne, die das Glück hatte, sie zu besitzen, und nicht nur ein Liebling des Publikums, sondern auch des Direktors, der, persönlicher Beziehungen zu geschweigen, vor allem das an ihr schätzte, daß sie, mit Ausnahme der Gage, vollkommen prätentionslos war und alles spielte, was vorkam. »Immer tapfer in die Bresche,« war einer ihrer Lieblingssätze. Sie war überhaupt für Leben und Lebenlassen, behandelte delikate Vorkommnisse von einem gewissen höheren Standpunkt aus und hatte stereotype, dem urältesten Berliner Witzfonds entnommene Wendungen, in denen sich ihre Stellung zum »Ideal« ausdrückte. Sie zog dementsprechend »ein gutes Gehalt einer schlechten Behandlung vor,« und wenn ihr bei Soupers mit Bourgeoiswitwern, einer ihr besonders sympathischen Gesellschaftsklasse, die Speisekarte gereicht wurde, so zeigte sie mit einem sie kleidenden und seine Wirkung nie verfehlenden Ernst auf das rasch als Bestes und Teuerstes Erkannte, jedesmal feierlich hinzusetzend: »Dafür laß' ich mein Leben.«

So Wanda Grützmacher, Tieckstraße 27a.

Olga, die sonderbarerweise noch nie Bestellungen bei der Schauspielerin zu machen gehabt hatte, klingelte zunächst vorn bei Schlichtings, und Fräulein Flora Schlichting erschien denn auch, halb verschlafen, an der Tür und öffnete.

»Is Fräulein Wanda zu Haus?«

»Zu Haus is sie; ich glaube, sie schläft. Hast du was abzugeben?«

»Ja, aber ich soll es ihr selber geben.«

»I, gib man...« Und damit griff sie nach dem Brief.

Olga zog aber energisch zurück. »Nein, ich darf nich...«

»Na, denn komme morgen wieder.«

Wanda, trotzdem sie nicht Wand an Wand mit der Schlichtingschen Vorderstube wohnte, mußte trotzdem von dieser Unterhaltung gehört haben; denn als eben die Tür zugeworfen werden sollte, war sie, wie aus der Erde gewachsen, da und sagte: »Gott, Olgachen. Was bringst du denn, Kind? Mutter is doch nich krank?« Olga hielt ihr statt aller Antwort den Brief entgegen. »Ach, ein Brief. Na, denn komm in meine Stube, daß ich ihn lesen kann. Hier is es ja stockduster un wahrhaftig nicht zu merken, daß man bei 'nem Glaser wohnt.«

Dabei nahm sie das Kind bei der Hand und zog es mit sich durch die mit jedem Schritte dunkler werdende Schlichtingsche Wohnung bis in ihre Hinterstube hinein. Hier mußte sie lachen, als sie den sonderbaren Briefverschluß ihrer Freundin Pauline sah; dann aber öffnete sie die verklebte Stelle mit einer aus ihrem dicken, schwarzen Zopf genommenen Haarnadel und las nun mit sichtlicher Freude:

»Liebe Wanda. Er kommt heute wieder, was mir sehr verkwehr is, denn ich mache gerade reine. Jott, ich bin so ärgerlich und bitte Dich bloß: komm. Ohne Dir is es nichts. Stine kommt auch. Komm Klocker acht, aber nich später und behalte lieb

Deine Freundin
Pauline Pittelkow
geb. Rehbein.«

Wanda steckte den Brief unter die Taille, schnitt Olga ein großes Stück von einem in einer Fayenceterrine mit Deckel aufbewahrten altdeutschen Napfkuchen ab und sagte dann: »Un nu grüße Mutterchen und sag ihr, ich käme Punkt acht. Mit'm Schlag. Denn wir von's Theater sind pünktlich, sonst geht es nich. Und wenn du wiederkommst, Olgachen, so kannst du gleich die kleine Hoftreppe raufkommen, bloß drei Stufen, da brauchst du vorn nich durch un is kein Fräulein Flora nich da, die dich anschreit und wegschicken will. Hörst du?« Und in einer Art Selbstgespräch setzte sie hinzu: »Gott, diese Flora; je weniger Bildung, je mehr Einbildung. Ich begreife diese Menschen nich.«

Olga versprach, alles zu bestellen, und eilte mit ihrem Beutestück ins Freie. Kaum draußen, sah sie sich noch einmal um und biß dann herzhaft ein und schmatzte vor Vergnügen. Aber schnöder Undank keimte bereits in ihrer Seele, und während es ihr noch ganz vorzüglich schmeckte, sagte sie schon vor sich hin: »Eigentlich is es gar kein richtiger... Ohne Rosinen... Einen mit Rosinen ess' ich lieber.«


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