Gorch Fock
Das schnellste Schiff der Flotte
Gorch Fock

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Gorch Fock

Finkenwärder: die Heimat Gorch Focks, die stille, grüne Fischerinsel, der Hafen seiner Seele –

Finkenwärder: die Heimat auch all der mutigen, verwegenen Fischer, die mit ihren schweren Kuttern und Ewern die Nordsee pflügten, mit Tod und Schicksal auf du und du standen –

Finkenwärder: das hieß: dunkle Segel an hohen, schweren Masten, schwarz gekleidete Frauen am Deich, netzeflickende und segelnähende Fischer auf den Bänken vor schmucken Häusern, blühendes, friedevolles Land – – dieses Finkenwärder ist nicht mehr.

Das Sterben begann, als die ersten Fischdampfer aufkamen, die, schneller und sicherer als die Ewer und Kutter, die großen, griesen Segler aus Elbe und Meer verdrängten.

Es setzte sich fort, als der Hamburger Senat beschloß, Finkenwärder dem Hamburger Hafen einzuverleiben, als 1912 die Arbeiten begannen, die den Deich verschütteten. Wo früher die Elbe den Deich bespült hatte, wo die Fischerflotte, Stewen an Stewen, Mast an Mast, vor Anker lag nach ihren Fahrten, wo die Jungs von Finkenwärder mit ihren Kähnen schipperten, wurde breites Vorland künstlich aufgeschüttet, wurden Werftanlagen und Siedlungen gebaut, entstand Lärm und Großstadtbetrieb.

Und jetzt bleibt auch die letzte Ecke des Netzdeiches nicht verschont von dem fressenden Atem der Zeit: der große Hof des Netzbauern wird zerstört und damit der unberührteste, romantischste Teil der Insel, Gorch Focks Kindheitsparadies. Um Hafenerweiterungsanlagen Platz zu machen, mußten 600 Apfelbäume, unzählige Eichen, Eschen und Pappeln ihr Haupt neigen – keine Weide spiegelt sich mehr in Netzgraben und Netzkuhle –, bis weit hinaus in die Elbe wird Sand geschüttet.

Gorch Focks Finkenwärder ist tot.

Über Traum und Idyll hinweg schreitet das Leben, nüchterne Notwendigkeit.

Und als ob ein weiser Wille beschlossen habe, denen nicht allzu weh zu tun, deren Herz am meisten an dem alten Eiland hing, schloß ein milder Tod die Augen der beiden alten Eltern Gorch Focks, ehe die fordernde Zeit auch ihre Schwelle berührte. Vater Kinau starb vor zwei Jahren, 84jährig, Mutter Kinau jetzt, im 87. Lebensjahre.

*

Gorch Fock (Johann Kinau) war der älteste Sohn des Seefischers Heinrich Kinau und seiner Frau Metta Holst. Er wurde am 22. August 1880 auf Finkenwärder geboren. Über »seine Anfänge« schreibt er: »Ich bin kein Seemann, aber die See und ihre Schiffe und viele alte und junge Seeleute, Fischer und Schiffer sprechen aus mir. Meine Freude ist stets, wenn Seeleute mir sagen, ich kennte die Seefahrt wie einer von ihnen, und ich müßte selbst gefischt und gefahren haben. Das ist nur insofern richtig, als ich als Kind mit meinem Vater mehrmals auf See gewesen bin, und daß sich die Eindrücke dieser Reisen so tief eingeprägt haben, daß ich sie noch jetzt jeden Tag vor Augen habe. Alle spätere Meerfahrt verblaßt gegen diese alten Tage, auch eine Fahrt nach Norwegen, die ich (1912) machte, kommt dagegen nicht auf. ›Die Sonne scheint dem Menschen nur einmal, in seiner Kindheit‹, sagt Hebbel. Diese Sonne beschien das alte große Finkenwärder mit seiner Riesenflotte. Jene alten Seefischer und jene alten Kutter und Ewer sind es, die in meinen Büchern leben, ob ich sie gleich in die Gegenwart hineinragen lasse. Das Finkenwärder liebe ich: das neue ist mir viel fremder und steht mir beispielsweise längst nicht so nahe wie das neue gewaltige Hamburg ... Meine Mutter ist eine Altenländerin ... Sie ist heiterer Gemütsart ... und erzählt und spricht gern, sitzt auch voll von alten Sprüchen und Liedern. Von ihr habe ich den Frohsinn und die körperliche Kleinheit, von meinem ernsten, schweigsamen Vater das Gesicht und den Lebensernst. Die frühen Fahrten des Vaters und die Sorgen und Gebete der Mutter haben mich innerlich gebildet: aus der Furcht der Mutter erwuchs mir eine gewisse Furchtlosigkeit, die beständig zunahm ... Weil ich klein und schwächlich war, wollte mein Vater mich nicht auf den Ewer nehmen. Ich sollte Lehrer werden. Dazu fehlte aber das Geld ...«

So kam denn der begabte Junge, nachdem er die Gemeindeschule in Finkenwärder, immer als Erster in der Klasse, hinter sich gebracht hatte, in die Krämerlehre zu seinem Onkel nach Geestemünde, nach drei öden, dürftigen Jahren in die Schreiberei eines Expeditionsgeschäfts in Bremerhaven und von dort in eine Warengroßhandlung nach Meiningen als zweiter Buchhalter. Meiningen wurde die Stätte seiner geistigen Geburt. Im Meininger Theater wurden Shakespeare, Grillparzer, Ludwig, Freytag, Goethe, Hebbel und Ibsen für ihn Erlebnis – hier lernte er wandern, hier erkennt er seine Heimat in Sehnsucht und Traum, hier beginnt der Dichter in ihm sich zu regen. Er schreibt Gedichte, kleine Erzählungen, dramatische Versuche, alles in hochdeutscher Sprache. Über Bremen und Halle kommt Gorch Fock 1904 nach Hamburg, wo er 1905 in der Hamburg-Amerika-Linie als Buchhalter angestellt wird. 1908 heiratet er – 1910 wird sein Junge geboren (zu dem sich später noch eine Tochter gesellt) – sein Name wird bekannt – ganz allmählich kommt sein Schiff in den Wind. Das Streben, vorwärtszukommen, war ungeheuer stark in ihm, nicht nur als Dichter, auch in seinem geschäftlichen Beruf. Er lernte Sprachen: englisch, französisch, dänisch, holländisch – er las viel: Storm, Lenau, Eichendorff, vor allem Goethe, Hebbel, Nietzsche – Hebbels Nibelungen, deren Geist er sich am meisten verwandt fühlte, kannte er fast auswendig. An Arbeitsbetätigung hat Gorch Fock fast Übermenschliches geleistet. Für seine eigenen Arbeiten blieben ihm die frühen Morgen- und späten Abendstunden; oft stand er morgens um drei oder halb vier Uhr auf, um zu schreiben – und wurden abends Überstunden im Bureau verlangt, so leistete er auch die freudig und selbstverständlich.

Von 1905 – 1908 schrieb Gorch Fock etwa 50 Erzählungen, die er größtenteils in den Tageszeitungen veröffentlichte. Die ältesten sind ganz hochdeutsch geschrieben, die späteren hochdeutsch mit niederdeutschem Dialog, für den er anfangs seine heimatliche Finkenwärder Mundart wählte. Mit der Geschichte »Wat Hein Saß in'n Heben keem«, die wohl seine in der Erfindung originellste und stärkste Kurzgeschichte ist, macht Gorch Fock den ersten Versuch, eine rein plattdeutsche Geschichte zu schreiben. 1910 vereinigte er eine Reihe hoch- und plattdeutscher Erzählungen in seinem ersten Buch »Schullengrieper und Tungenknieper«, dem 191l sein einaktiges Drama »Doggerbank« folgte, trotz bühnentechnischer Schwächen doch ein ausgezeichneter Wurf. Im Dezember desselben Jahres lag sein erster Roman »Hein Godenwind, de Admirol von Moskitonien, eine deftige Hamburger Geschichte« in den Buchhandlungen aus, der ganz in niederdeutscher, und zwar jetzt hamburgischer Mundart geschrieben war. Gorch Fock bewies damit, daß er auch dieses Platt vollkommen beherrschte.

Damals, als er in Hamburg seine ersten Erfolge erlebte, kamen für die Familie in Finkenwärder traurige Zeiten: der Vater mußte seinen Ewer verkaufen, seine körperlichen Kräfte reichten nicht mehr aus, ihn zu fahren. Der Deich wurde verschüttet. Aber aus dem Schmerz um den Untergang seiner geliebten Welt erstand sein größtes und schönstes Werk, sein Roman »Seefahrt ist not!«. Alles, was an Kindesliebe, an Liebe zu Meer und Wind und Ewer und Fahrt in ihm steckte, gab er ihm mit – sein Lachen, seine Fröhlichkeit, seine Abenteurerlust und seine Kraft, seine Träume, sein Heimweh: sein ganzes, reiches, deutsches Herz. In »Seefahrt ist not!« wendet Gorch Fock sich wieder der hochdeutschen Sprache zu, aber sie ist durchsetzt und bereichert durch viele kräftige und unverbrauchte Ausdrücke aus dem Plattdeutschen. So schrieb er etwa für Beute: Büt, für Nebel: Daak, für quer: dwars, für Ecke: Huk. Der Dialog ist wieder die Heimat-Mundart Gorch Focks, nur den Knecht, Kap Horn, läßt er hamburgisch-platt sprechen.

Nach der »Seefahrt« schrieb er 1913 noch den ergreifenden Einakter »Cili Cohrs«, sprachlich und dramatisch von gleicher Stärke – er ist in reinem Finkenwärder Platt geschrieben –, gab noch zwei Bände gesammelter Erzählungen heraus: »Hamborger Janmooten«, die plattdeutsch, und »Fahrensleute«, die durchweg hochdeutsch geschrieben sind, ließ sich überreden, ein Volksstück »Die Königin von Honolulu« zu schreiben, das er selbst als schwach empfand und darum nur ungern und unzufrieden mit sich selbst aus der Hand gab – und blieb uns doch sein »Lebensbuch« schuldig, das jahrelang in ihm »mahnte« und ans Licht drängte, das über Finkenwärder und Niederdeutschland hinausgegriffen und von höherer Warte aus Leben und Menschen gestaltet hätte.Nach Focks Tode erschienen noch die erzählenden Bände »Nordsee«, »Schiff vor Anker« und die »Gesammelten Werke«.

Im März 1915 wurde Gorch Fock zum Kriegsdienst einberufen, wurde in Bremen ausgebildet und kam nach Serbien an die Front. Er erlebte den Krieg als »eine ernste, ewige Sache, ein Ding von Gott, das jedem zum Segen werden soll, wenn er nicht ein Mensch ohne Ewigkeit ist«. Und er fühlte: »Auch für Deutschland wird der Krieg ein großer Segen werden: er wird uns inneren Gewinn bringen, möge der äußere Gewinn nun groß oder klein sein. Es wird eine deutsche Volksgemeinschaft erstehen, die unser Volk auf eine höhere Stufe bringen wird.«

Im April 1916 wurde Gorch Fock auf seine dringende Bitte zur Marine versetzt – auf den Kreuzer »S. M. S. Wiesbaden«.

Im Mai 1916 starb er im Skagerrak, in der großen Schlacht des Großen Krieges, den Seemannstod – im Skagerrak, wo auch sein Großvater und Onkel »geblieben« sind –, im Kampf gegen England, für sein Vaterland. »Komme, was kommen mag: ich halte mehr in Händen, als ich je zu halten glaubte, und kann doch sterben, wenn Deutschland sterben soll! Deutschlands Schicksal ist auch mein Schicksal.«

Sterb ich auf der solten See,
Gönnt Gorch Fock ein Seemannsgrab!
Bringt mich nicht zum Kirchhof hin,
Senkt mich tief ins Meer hinab!

Segelmacher, näh mich ein!
Steuermann, ein Bibelwort!
Junge, nimm dien Mütz mol af ...
Und denn sinnig öber Bord ...

Die See hat Gorch Fock nicht behalten. Im August 1916 gab sie ihn der Erde wieder. Auf der kleinen schwedischen Insel Stensholmen, unweit von Göteborg, hat er ein schlichtes, stilles Grab gefunden.

*

Wer war Gorch Fock seinem Wesen nach?

Und was ist es, das seinen Namen so groß und leuchtend gemacht hat, über Finkenwärder, über Hamburg hinaus, über ganz Deutschland hin, der Jugend, uns allen ein hoher, edler Begriff?

Wenn wir vor seine Tagebücher treten (deren Aussprüche und Gedanken zum großen Teil in den Nachlaßbänden »Sterne überm Meer« und »Ein Schiff! Ein Schwert! Ein Segel!« aufgenommen wurden), wenn wir seine Briefe lesen, fühlen wir, daß da ein Mensch vor uns steht, der in besonderem Maße gesegnet ist. Es ist nicht nur seine Reinheit, sein Ernst, sein Eifer, es ist nicht seine Liebe, sein Lachen – es ist nicht nur ein Mensch mit den und den liebenswerten Eigenschaften, den wir da im tiefsten empfinden – es ist mehr: er ist uns eine Idee geworden – wie das Dasein für ihn eine Idee war.

›Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis.‹ Ihm war es das.

Man hat ihn einen Träumer genannt. Er war kein Träumer in dem Sinne, daß er untauglich für die nahen Dinge des Lebens war, daß er an ihnen vorbeisah – er hatte einen Wirklichkeitssinn ohnegleichen – aber er sah durch die Dinge hindurch.

So sah er die Seefahrt: »Nicht, daß die Stürme an uns vorbeigehen mögen, sondern daß wir sie bestehen.«

So sah er die Liebe: nicht ein Spiel – heiligstes Verpflichtetsein zu gegenseitiger Vollendung.

So sah er das Leben: tiefstes Leid, höchstes Glück – Wege zur Reife. »Je niedriger du das Ziel steckst, um so weniger wirst du es erreichen, denn die Kräfte nehmen ab, wenn nichts winkt.«

»Was wir selbst tun können, das dürfen wir Gott nicht überlassen.«

»Wo fängt Gott an? Genau dort, wo meine Kräfte erlahmen, nicht vorher. Er hilft nur, wo ich zu Ende bin!«

So sah er Gott: das Ziel.

Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis – – Wotan und Donar waren ihm Namen, Spiel seiner Phantasie, Ausdruck für Gewalten der Natur, Sinn-Bilder, hinter denen der Sinn aller Dinge steht: Gott.

Das Letzte, Einzige, Gültige.
Zu ihm will er gelangen.
Zu ihm gelangt er.

So sehen wir ihn: Finkenwärder, Hamburger, Deutscher –

Idee des kämpferischen Menschen, der sittlichen Persönlichkeit, Symbol und Stern über unserer Zeit – über uns allen.

So sehen wir sein Grab: einsam und fern von uns, daß wir nicht die Enge seiner irdischen Stätte empfinden, daß wir ihn wissen unter ewigem Himmel, ewigen Sternen, selbst der Ewigkeit verschmolzen.

Hamburg, April 1937.

Aline Bußmann.


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