Gorch Fock
Das schnellste Schiff der Flotte
Gorch Fock

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Der Krämer

(aus »Fahrensleute«)

Ich komme vom »Imperator« her, dem größten Schiff der Erde.

Von der Leuchtturmhöhe des Bootsdecks blickte ich auf unzählige Dampfer, Segler, Kräne und Schuppen, hörte ich die lauten Rufe der Arbeit, die durchdringenden Stimmen des Handels, den großen Lärm des Verkehrs, sah ich hundert und aber hundert Schornsteine rauchen, hundert und aber hundert deutsche, englische, holländische und nordische Flaggen wehen. Wie Sturmodem der Nordsee blies der Geist der neuen Hanse, des gewaltigen neuen Hamburg mich an.

Ich komme vom »Imperator« her und sollte von einem königlichen Kaufmann erzählen, der mehr ist, als die Fugger und Welser waren. Dennoch muß ich mich hinsetzen und die Geschichte eines kleinen Dorfkrämers niederschreiben.

*

Hinrich Günt – ich sehe ihn noch, wie ich ihn sah, als er sein Leben fest in beiden Händen hielt.

Da liegt sein großes, blinkendes Boot unten am Bollwerk, tief zu Wasser, denn es ist mit Erdöl und Teer, mit Mehl und Salz, mit Zucker und Kaffee bis über den Dollbaum beladen. Hinrich Günt, der Krämer, wie ich ihn nennen muß, denn er selbst will auch nichts andres sein als ein Krämer und schilt jedesmal, wenn die Briefe und Rechnungen einen Kaufmann aus ihm machen wollen – Hinrich Günt ist gerade mit dem Ebbstrom und förderlichem Ostwind von Hamburg gekommen. Er nimmt das braune Segel herunter, bindet eine Schürze um, krempelt die Hemdsärmel auf und rollt Faß für Faß, schleppt Sack für Sack den Deich hinauf. Seine drei Jungen, der Jan, der Korl und der Hein, helfen, sie tragen die Zuckerhüte, die Kisten und die kleinen Packen nach dem Laden und dem Lager hinauf. Oben hinter der Toonbank steht die Maria, die die zahlreiche Kundschaft zu bedienen hat. Wenn sie einen Augenblick Ruhe hat, blickt sie aus dem Fenster und lächelt über ihren Mann, der mit großen Schritten durch das Gras wandert, und über ihre Jungen, die ihr unter den Kisten und Kasten wie Heinzelmännchen vorkommen.

Als letztes Stück wandert der Ölrock über den Deich, dann reinigt Hinrich Günt das Boot, hängt die Persennige zum Trocknen auf und löst Maria ab. Der Arbeitsmann ist zum Krämer geworden, wie vorher der Fahrensmann zum Arbeiter geworden war. Und der Krämer ist der lustigste von den dreien: er singt, wenn er den Fischern die Farben anrührt, er erzählt, wenn er den Frauen die Butter einwickelt, er lacht, wenn er den Kindern die Schulbücher verkauft. Die Bauern kommen mit Pferd und Wagen von ihren Wurten, die Schiffer mit Böten von ihren Ewern: etwas steht immer im Laden, und zu tun hat der Krämer immer. Erst als die Dämmerung anbricht, hat er den Deich und das Land versorgt. Nun zählt er den Tageserlös, schreibt ihn auf und tut ihn in seine Geldkiste. Dann kommt sein Feierabend: er setzt sich mitten unter die Fischer, die vor seiner Tür auf dem Staket sitzen und von Fahrten und Fängen erzählen. Und wie sein Haus der Mittelpunkt des Eilandes ist, so ist er der Mittelpunkt des Kreises, der alle Gespräche und alle Menschen zu lenken weiß. Viele Zeitungen und viele Leute sprechen aus ihm, und die Seeleute, die keine Blätter lesen, wollen von ihm wissen, was in der Welt und am Deich vorgegangen ist, während sie draußen gewesen sind. Hinrich Günt erzählt, und sein lautes Lachen schallt über das stille Wasser. Vom Fahrwasser her tutet einmal ein Dampfer. Grün, rot und gelb spiegeln sich die Lichter auf der Elbe und in den Ladenfenstern der Krämerei. Riesengroß wachsen die Masten der Fischerfahrzeuge in den Nachthimmel hinein. Der Krämer aber hat keinen Sinn für das, was um sie webt; er zählt sie und freut sich, daß ihrer so viele sind. Er wird morgen wieder einen Berg von Proviant verkaufen, denn Paul Fock und Jakob Mewes und Hein Kölln und Jan Lanker wollen morgen mit der ersten Tide fahren. Viel Teer und Schmeer wird er loswerden, denn Hinrich Schult und Matten Lüß und August Witt und Albert Rolf und Gerd Eitzen wollen teeren und schmeeren, wenn das Wetter gut bleibt, und nach dem Fremdenblatt und dem tiefen Abendrot bleibt es trocken.

»Du kannst woll lachen«, sagt der alte Jörn zuletzt, »di deit dat Woter nix, du sittst innen Dreugen as de Koptein von'en ›Fürst Bismarck‹, steckst eenen Doler no'n annern inne Tasch und lachst uns all wat ut. All dat Geld, wat wi ut de See holt, nimmst du uns af, all den Segen; ober uns Not und uns Sorgen, de nimmst du uns nich af, de lettst du uns alleen. Du nimmst bloß jümmer in, utgeben deist du nix. Wi möt för di mitbetohlen, wenn uns de Seils tweirieten dot, wenn uns de Masten ober Bord goht un wenn een von uns den Kopp op den Grund von de See leggen mutt. Hinnik Günt, Hinnik Günt, du steihst bi de See deep in Schulden, gläuf ik!«

Die Seefischer nicken, der Krämer aber lacht und geht auf andere Dinge über. Als der Deich leer geworden ist und er die letzte Haustür einklinken gehört hat, blickt er aber wie in Gedanken nach Westen, wo die See ist. Steht er wirklich als Schuldner da, er, der doch stets bar bezahlt? Empfängt er immer von dem Meer, ohne etwas dafür zu geben? Weg da, Worte! Jörn hat im Spaß gesprochen; der eine knurrt an Land und der andere auf dem Wasser, und jeder hat seinen hellen Tag und seine dunkle Nacht. Dennoch läßt der Gedanke sich nicht ganz auslöschen, und der Krämer geht ernsten Gesichtes in sein Haus hinein. Irgend etwas hat irgendwo in seiner Seele eine feine Wurzel geschlagen.

*

Die »Sagitta«, der kleine Geestemünder Fischdampfer, über den der Deichkrämer soviel gespottet hatte, ging doch nicht bankerott, sondern bekam sogar bald Genossen auf der See. Bald machte die Elbe es der Weser nach und baute einen Fischdampfer nach dem andern. Immer noch lachte Hinrich Günt, aber er erlebte es doch bald, daß viele junge und alte Seefischer sich dem Dampf zuwendeten, der besser lohnte als das Segel. Peter Jonas wollte sich einen neuen Kutter zulegen, da bekam er die Steuermannsstelle auf der »Solea« und ließ das Bauen sein – und Hinrich Günt war einen guten Kunden los. Ärgerlich stand er in der Tür, als der Dampfer tutend und flaggend im Fahrwasser elbabwärts glitt. Willem Gröhn unterließ das alljährliche Teeren, das könne nicht mehr darauf stehen, sagte er, die Fischdampfer verwüsten die ganze See, es sei nichts mehr zu fangen, und loszuwerden sei erst recht nichts mehr. Der Krämer verkaufte kaum halb soviel Blackvarnisch als sonst. Viele Fischer ließen sogar das Lohen sein und fuhren mit griesen Segeln – und Hinrich Günt konnte sehen, wie er seine Eichenrinde an den Mann brachte. Hannes Loop, der den Winter über etwas aus der See zu holen gedachte, weil der Sommer nicht gelohnt hatte, verscholl mit seinem Ewer. Der Krämer strich schweigend durch, was Hannes bei ihm zu Borg geholt hatte. Er durfte aber auch dann nichts sagen, als die Witfrau zehn Häuser von ihm einen kleinen Laden eröffnete und ihm einen Teil seiner Kundschaft abwendig machte. Jan Harm und Hans Hinnik banden ihre Fahrzeuge an und gingen zu der Baggerei über. Julius Bott nahm seinen Sohn nicht mit nach See, wie er immer gesagt hatte, sondern gab ihn dem Zimmermann in die Lehre, damit er sein sicheres Brot an Land habe. Überall bröckelt es ab, neue Schiffe wurden nur noch selten gebaut, und von den alten blieben immer mehr. Hinrich Günt fuhr schon längst nicht mehr jeden dritten Tag nach der Stadt hinauf, wie früher. Immer länger kam er mit seinen Vorräten aus.

Dennoch war er heiter wie in alten Zeiten und hatte einen festern Blick als jemals zuvor. Mit Fleiß übersah er alle Anzeichen des Niederganges und redete wie kein zweiter von besserer Zeit, die wiederkommen sollte und wiederkommen mußte. Es mußte wieder aufwärtsgehen mit dem Deich und mit der Fischerei. Mit Worten und Taten half der Krämer, ermunterte die Mutlosen, stützte die Wankenden und borgte denen, die kein Geld mehr hatten. Er tat noch mehr: alle drei Söhne ließ er Fischer werden, alle drei, weil sie es wollten. Marias Jammern hörte er nicht. Und als Jan, der Älteste, sein Schifferpatent in der Tasche hatte, ließ der Krämer ihm einen großen, starken Kutter bauen, der der See wohl zu trotzen vermochte.

»So krieg ik Kundschaft«, lachte er, als er das Fahrzeug zum erstenmal verproviantierte. Jan trat ans Ruder des schmucken Fahrzeugs und pflügte einen glücklichen Sommer die See. Große Reisen machte er, von denen sie am Deich sprachen, der Krämer am meisten. Hinrich Günt sagte es jedem, er mochte es hören wollen oder nicht, daß er recht gehabt hatte und daß die Fischerei immer noch das beste Geschäft von der Welt sei, wenn der rechte Kerl es betriebe. Wie wehte seine deutsche Flagge über dem Giebel, wenn der grüne Kutter die Elbe heraufkreuzte und seinen langen, blauen Stander im Winde flattern ließ! Mit welchem Behagen setzte er sich zu Tisch, wenn es gebratene Schollen gab, die sein Jan hinter Helgoland gefangen hatte! Wie lustig war er auf Jans Hochzeit. Wie hat er gesungen und getanzt und was hat er alles vorgetragen!

Jan Günt war ein unerschrockener Gesell, er wagte, was noch keiner vor ihm gewagt hatte, er nahm die winterliche Austernfischerei auf, das Todeshandwerk, klüste die ganzen Sturmmonde inmitten der Nordsee und verdiente Tausende, ohne irgendwelche Havarie von Belang zu machen. Das war ein Heldenstück wie das des Winkelried! Der Krämer konnte sich nicht genug damit tun, daß sein Fleisch und Blut dem Eiland den neuen Weg gewiesen hatte. Und wirklich wirkte das kühne Beispiel: es regte und reckte sich in der Jungmannschaft, und an der Aue und der Süderelbe legten die Zimmerleute die Kiele zu Austernkuttern. Hinrich Günt war wieder der Baas des Deiches geworden.

Nach einem glücklichen Sommer klingender Schollentaler blieb aber Jan mit seinem großen Kutter. Ein übergewaltiger Südweststurm packte ihn unter der englischen Küste, jagte ihn über die ganze Nordsee und drückte ihn im Skagerrak in die Tiefe. Maria verhängte die Fenster, als keine Hoffnung mehr war, und saß weinend mit ihrer Schwiegertochter in der halbdunkeln Achterdönß: der Krämer aber stand trockenen Auges und ungebeugter Gestalt hinter der Toonbank und wahrte sein Geschäft. Den Kummer fraß er nach niederdeutscher Art in sich hinein, über seine Lippen kam kein Wort der Klage. So geruhig blieb er, daß sie am Deich darüber sprachen. Nach Wochen gewann er sogar seine Fröhlichkeit zurück und segelte wie sonst mit leuchtendem Segel nach Hamburg hinauf, um seine Waren einzukaufen.

Im Frühjahr kam Korl, der zweite Sohn, von Blankenese herüber und sagte, daß er einen Macker, einen Teilhaber, aufgegabelt hätte, und einen guten Kutter hätte er auch an der Hand. »Büst nich bang worden?« war alles, was der Krämer fragte. Und als der junge Fischermann lachend verneinte, da war es gut, und er bekam das Geld, das er gebrauchte. Nur zu dem Macker sagte Hinrich Günt nebenbei, ohne einen Ton darauf zu legen, daß die Verwegenheit auf See auch nicht immer das Beste sei.

Bei der Fischerei des Zweiten lebte er dann wieder völlig auf, wenn er von Korl auch nicht soviel zu sagen und zu prahlen hatte, denn der war besonnen und mied die Stürme. Aber bei aller Vorsicht behielt Korl doch nur zwei Jahre den Kopf oben, dann mußte das Hamburger Seeamt ihn für verschollen erklären. Wieder verhängte Maria die Fenster, und wieder weinte sie wochenlang, aber in Hinrich Günts Augen kamen wieder keine Tränen, und wieder verließ er seinen Platz hinter dem Ladentisch nicht. Wieder sah ihm niemand etwas an. »Hinnik, Hinnik, ween doch mol, bed doch mol«, schrie Maria einmal mit gerungenen Händen auf, als er wieder unbewegt aus dem Fenster sah, aber er sagte nur kurz: »Dat kann ich nich!« – und würgte wieder alles in sich hinein, was sich lösen wollte. Dann schrillte die Glocke, und er ging, um zu verkaufen.

So überwand er auch diesen schweren Schlag, und beim Kaffeebrennen oder beim Teerkochen kam ihm schon bald wieder ein halbes Lied in den Sinn, soviel Tragkraft hatte seine Seele noch zu jener Zeit.

*

Hein, der Jüngste, kam vom Mariner. Ein sonnengebräunter Junggast, hatte er seine drei Jahre in China abgerissen. Fischen wollte er nicht wieder, sagte er, und der Krämer war es zufrieden, daß er sich um einen Posten beim Zoll oder bei der Hafenpolizei bemühte. Hinrich Günt ging selbst mit ihm nach den Bureaus und sprach mit den Herren. Aber es wollte nicht glücken. Hein wartete von einer Woche zur andern und fand doch keine Anstellung. Er könne ihm ja im Geschäft helfen, meinte Hinrich Günt, aber daran hatte Hein kein Gefallen. Neun Jahre hatte er zur See gefahren, um nun Tüten zu kleistern? Oder er könne ja auf den Bagger oder die Leichter gehen? Ein Schleppdampfer sei auch noch lange nicht das schlechteste Handwerk. Aber auch davon wollte Hein nichts hören: wenn er schon fahren solle, sagte er, dann wolle er auch etwas Ordentliches beschicken, dann wolle er bei seinem alten Törn bleiben und wieder fischen. Hinrich Günt widersetzte sich lange, endlich aber gab er nach, denn der Junge konnte es zu Hause zuletzt nicht mehr aushalten und wäre davongelaufen. Als Hein ein halbes Jahr auf einem Kutter gefahren hatte, sprach der Krämer mit dem Zimmerbaas und bestellte wieder einen Hochseefischerkutter. Und Hein Günt freute sich zu dem Schiff und setzte getrost seine Segel auf, ohne sich um die Vergangenheit zu sorgen. Es ging auch alles gut, Hein fischte gut und fuhr glücklich, jahrelang. Der Krämer half ihm beim Malen, beim Lohen, beim Netzmachen, alles mit dem geheimen Gedanken, die See zu versöhnen. Aber es half ihm nichts. Den fünften Herbst tat der Pastor von der Kanzel herab auch für Hein Fürbitte, ohne daß Gott den Kutter wiederkommen ließ. Dieser Schlag warf Maria aufs Krankenlager, von dem sie nicht wieder aufstehen sollte. Der Krämer aber blieb abermals regungslos in seinem Laden stehen, und keine Miene verriet, was in seiner Seele vorging, kein Wort leuchtete in ihre Gründe hinein. Der Pastor redete mit ihm, aber auch das brachte ihn nicht aus seinem starren Schweigen heraus. Nur einmal sagte er: »Ik hebb nu allens betohlt«, aber der Geistliche verstand es nicht und ging deshalb nicht darauf ein. Sie glaubten am Deich, er würde irre werden, aber Hinrich Günt blieb geruhig und vernünftig, wenn er auch nicht mehr singen und lachen konnte. Er hatte die Tür seines Herzens zugeschlossen und den Schlüssel in die Tasche gesteckt. Nur als Geschäftsmann, als Krämer lebte und sprach er noch, alles andere war für ihn nicht mehr da, und um die kranke Frau bekümmerte er sich wenig. Er hatte alles bezahlt und alles nach Krämerweise durchgestrichen. Darin irrte der Krämer aber, er hatte noch nicht alles bezahlt und erfuhr es drei Monate später, als er hinter dem Sarge seiner Frau durch den Schnee schritt, starren Blicks und geballter Fäuste. Der ganze Deich ging hinter ihm, denn Maria war eine herzensgütige Frau gewesen, und viele Frauen weinten, Hinrich Günt konnte aber auch diesmal keine Tränen weinen und kein Wort sagen, er drückte auch diesen Schmerz mit eisernen Fäusten zu Boden und ging über ihn hinweg. Mit Grauen sahen sie ihn tränenlos in das Grab blicken.

*

Nun war er nur noch Krämer. Und dem Krämer ging es noch einmal wieder gut. Sein Geschäft hob sich vorübergehend wieder, denn sein schweres Schicksal brachte ihm in der ersten Zeit viele alte Kundschaft zurück, die ihm abtrünnig geworden war. Alle wollten etwas tragen helfen. Sie wußten, daß er viel Geld bei seinen Söhnen verloren hatte, und wollten nicht, daß er verarme. Und Hinrich Günt verdiente wieder gut, und nach und nach lernte er auch wieder erzählen und hatte wieder seinen Kreis von Fahrensleuten um sich. Nur von seinen Söhnen sprach er niemals: seine Seele war mit Ketten umwunden, die niemand lösen konnte.

Nach langen Jahren erst erfüllte sich des Krämers Schicksal, da erst griffen unsichtbare Hände nach ihm und rüttelten seine Seele, bis die Ketten zersprangen. Nach langen Jahren erst. Hinrich Günt sah erst noch den großen Untergang der Fischerei, die Flucht von der See, das langsame Sterben der alten Schiffe und der alten Fischer. Und wenn er auch keinen rechten Anteil daran nahm, so brachte er doch alle alten Fahrensleute mit nach dem Kirchhof und nahm den Hut ab, wenn das letzte Vaterunser gesprochen wurde.

Auch sein Geschäft starb langsam. Wie an einem Weihnachtsbaum ein Licht nach dem andern erlischt, so mußte er eine Ware nach der andern aufgeben, weil er keine Abnehmer mehr dafür finden konnte. Aber hoch hielt er immer noch seine Krämerehre: keiner konnte etwas über seine Ware und über sein Gewicht und Maß sagen.

Eines Tages segelte er wieder einmal nach Hamburg hinauf, um einige Einkäufe zu machen. Die Sonne schien, und die blinkende Elbe war voll von Schiffen, voll von Fischerjollen, Fischerewern und Fischerkuttern. Dem alten Krämer wurde anders zumute, als er sich von allen Seiten angerufen hörte. Wie viele Segel waren auf dem Wasser! Kam die alte Zeit zurück, hob die Fischerei sich wieder, ging es abermals vorwärts? Gute Gedanken im Kopf, klopfte der Krämer die Kontore und Speicher seiner Lieferanten ab und kaufte mit dem gewissen Wort des erfahrenen Handelsmannes, der weiß, was er haben will und was er bezahlen kann. Danach lockte ihn eine Versteigerung, von der er in der Zeitung gelesen hatte, und er ging hin und hörte eine Weile zu. Ein Posten Butter kam unter den Hammer, zwölf Fässer waren es. Hinrich Günt trat mit den andern Bietern näher und kostete. Gut war die Butter, daran war kein Zweifel. »Die jeht für'n Ei un Butterbrot weg«, sagte ein Berliner. Der Auktionator setzte sie wirklich so niedrig ein, daß Hinrich Günt aufblickte. Langsam und zögernd folgten die Gebote. Da erwachte der Krämer in Günt, er sah ein gutes Geschäft vor Augen und dachte an die vielen Fischerfahrzeuge, die alle bei ihm kaufen mußten: schon hatte er mitgeboten, schon fiel der Hammer nieder und schon hatte er die zwölf Fässer Butter erstanden. Den ersten Augenblick wunderte er sich über die Schnelligkeit, mit der es gegangen war, dann aber ließ er den guten Kauf gelten, holte sich einen Löwen und brachte die Butter mit dessen Hilfe nach seinem Boot. Befriedigt, seines Handels froh, segelte er die Elbe hinunter, denn einige hundert Mark waren ihm seiner Berechnung nach sicher. Vor sich hinsummend, band er das Boot an und rollte die Fässer über den Deich. Da aber kam Regine, seine verwitwete Schwiegertochter, aus der Tür, sah die Butter und forschte erstaunt, warum er denn so viel gekauft habe, so viel Butter bei dem heißen Wetter und dem schlechten Geschäft: die würde er ja nie und nimmer los, und sicherlich verdürbe sie ihm, das könne ja gewiß nicht angehen, sagte sie.

»De wollt wi woll loswarrn«, sagt der Krämer geruhig und arbeitet weiter. Die Butter sei so billig, daß der ganze Deich angelaufen komme. Aber die Witwe gibt sich damit nicht zufrieden, sie kann die Unklugheit, wie sie es nennt, nicht begreifen, und redet und redet, daß es zuviel sei, daß es zuviel sei und daß die Butter sich nicht halte. »Wees still, Deern«, ruft der Krämer, schon etwas verdrießlich, »ik kenn mien Geschäft beter as du!« Sie ist aber nicht still, sondern jammert weiter, sie ruft die Nachbarn heran, und als diese ihm auch Vorstellungen machen, da wird er nachdenklich. Und als er erst ins Grübeln hineingeraten ist, vermag er nicht wieder herauszukommen, und er fängt allmählich an, seinen Kauf zu bereuen. Am meisten verdrießt es ihn, daß Frauen und Fischer mehr von seinem Geschäft verstehen wollen als er. Gewiß, er hat sich zuviel auf den Hals geladen, aber ist das nicht seine Sache? Was geht es andere Leute an? Kann er sein Geschäft nicht mehr versehen?

Der letzte Balken, der sein Gebäude noch trägt, beginnt zu wanken, denn es geht um seine Krämerehre. Er ist ein schlechter Geschäftsmann gewesen, davon kann er sich nicht freimachen, immer wieder wälzt er den Gedanken vor sich her, wie vorher seine Fässer.

Den nächsten Tag ist er auch äußerlich unruhig. Regine drängt ihn, nach Hamburg zu fahren und mit seinem alten Butterlieferanten zu sprechen, damit er ihm wenigstens einen Teil der Ware abnähme. Hinrich Günt geht wirklich, aber es ist ein schwerer Gang für ihn. Er kann auf dem Deich keine Leute angucken, denn er meint, daß sie ihn schon wegen seiner verfehlten Spekulation ansehen. Und zu seinem Butter, mann kommt er mit dem schlechten Gewissen eines Bankrotteurs. Aus Gefälligkeit nimmt der Lieferant ihm sofort acht Fässer ab, macht aber zur Bedingung, daß die Ware ihm der Leute wegen in der Dunkelheit gebracht werde, was der Krämer auch zusagt.

Dann kommt die Nacht.

Der Krämer rollt die Fässer heimlich über den Deich, setzt sie in das Boot und deckt sie zu, als wäre es Diebes- oder Schmuggelgut. Dann wriggt er leise aus dem Sielgraben, damit der Deich ihn nicht hören soll. Draußen zieht er das Segel auf. Es ist schon reichlich spät geworden: wenn er die Stadt vor Tagesanbruch erreichen will, muß er sich beeilen. Er will deshalb versuchen, gerade über den Schlickfall nach dem Fahrwasser zu segeln, um den Weg abzukürzen. Aber das Wasser ist schon etwas abgeebbt, und er kommt nicht hinüber: inmitten der Binsen stößt das Boot auf und bleibt sitzen. Der Krämer steht auf, ergreift den Haken und beginnt zu schieben, aber er schiebt das Fahrzeug erst noch höher auf das Trockene, und als er seinen Irrtum einsieht und zurück will, da sitzt er völlig fest, denn es ist Springtide gewesen, und das Wasser fällt sehr rasch. Der Krämer wird immer unruhiger und aufgeregter, er zieht Stiefel und Strümpfe aus, klettert barfüßig über Bord und versucht, das Boot über den Schlick zu ziehen oder zu schieben, aber es geht nicht mehr, denn der Kiel hat sich schon im Schlick festgesogen. Wie arbeitet Hinrich Günt, wie stemmt er den breiten Rücken gegen den Bug des Bootes, wie rüttelt er am Dollbaum, wie reißt er an der Ankerkette! Wie ein Tier springt er von einer Seite nach der andern. Die große Angst ist in seine Seele gekommen und dehnt sich dort ins Riesenhafte. Von allen Ecken greift es mit Händen nach ihm, überall ruft und gespenstert es, schwarze Segel wachsen vor ihm aus den Binsen, überall wanken Lichter, fern braust es wie die See im Sturm. Hinrich Günt stöhnt dumpf und qualvoll auf, aber er läßt nicht ab, immer wieder wirft er sich gegen das regungslose Boot. In diesen Stunden der Angst um das Morgengrauen, der übermenschlichen Arbeit überwältigte das Schicksal den klaren, starken Geist Hinrich Günts: alles, was sein Wille gefesselt hatte, befreite sich jetzt, kroch aus den dunkeln Ecken hervor und überfiel den armen wehrlosen Menschen, der bis an die Knie im Schlick stand und dem die Schweißtropfen von der Stirn rannen.

*

Als es Tag geworden war, brachten die Elbfischer einen irren Mann an den Deich, und der irre Mann war Hinrich Günt, der Krämer. Er war nun bankrott in seinen Gedanken, es hätte in allen Zeitungen gestanden, daß er sich verspekuliert habe, und niemand dürfe mehr bei ihm kaufen, sagte er immer wieder, er müsse nun verhungern. Dann wieder: sie kämen, um ihn zu holen. Verkaufen wollte er nicht mehr, er dürfe es nicht, sagte er, und schickte die Leute wieder nach Hause. Regine ließ die Butter beiseiteschaffen, sagte ihm, sie sei verkauft, und redete ihm freundlich zu, aber er kam nicht wieder zu sich. Nachts aber rang er mit Gott um seine Frau und seine Jungen, betete und weinte. Tag und Nacht ließen sie ihn nicht mehr aus den Augen und sprachen davon, daß sie ihn nach dem Krankenhause bringen wollten, da wurde er mit einem Male wieder still und geruhig, gab sich heiter wie in alter Zeit, bediente im Laden und tat ganz vernünftig. Da ließen die ermüdeten Nachbarn sich täuschen und gönnten sich einmal Ruhe.

In der Nacht aber stand Hinrich Günt am Dachfenster und wartete auf die Leute, die ihn holen wollten. Und als er sie schwarz den Deich entlang kommen sah, schlich er die Treppe hinab, strich alles durch, was in seinem Kontobuch stand und schrieb auf die letzte Seite: Alles bezahlt! Hinrich Günt.

Dann kroch er nach dem Boden zurück und erhängte sich.


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