Gorch Fock
Das schnellste Schiff der Flotte
Gorch Fock

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Sturm

(aus »Seefahrt ist not!«)

In der engen, niedrigen Kajüte schwelte die Lampe und zitterte und schwankte in ihren messingenen Ringen hin und her, dann und wann so stark, daß das Glas ein Klingen angab und daß das Licht blitzartig aufzuckte. Trübe war ihr Schein, eben daß das Barometer zu sehen war, das seit Mittag noch ein Stück gefallen, eben daß er zu lesen war, der silberne Spruch:

In allen Stürmen, in aller Not,
Wird er dich beschirmen, der starke Gott!

Eben daß die beiden Bilder zu erkennen waren, die hüben und drüben über den Kojen hingen. Hier wie dort ein frisches Mädchengesicht, reiche, dunkle Flechten, hier wie dort große, unschuldige Kinderaugen, hier Geeschen und dort Geeschen.

Geeschen Saß! Die war ein Kind, das spielte und lachte, gab jedem der beiden ihr Bild, sprach gleich freundlich mit dem anderen und mit dem einen, setzte sich sorglos zwischen sie...

Nun war der Sturm geboren!

Nun flackerte die Lampe, nun scheuerten die Bilder an der Bordwand, nun flogen Pütt und Pann von einer Seite nach der andern, nun prallten die Seen furchtbar gegen die Steven und ergossen sich über Deck, und der Wind heulte durch Taue und Wanten.

Nacht war es, eine Herbstnacht auf der kleinen Fischerbank, weit... weit hinter Helgoland.

Da müssen sie an Bord sein: Bibel, Kompaß und Menschenwille; anders ist dem armen Fischerkutter nicht zu helfen. Mit einem Male schrie der Sturm lauter, die Kap wurde aufgerissen, eine weiße See schäumte herüber und schlug prasselnd auf die Lohnen, dann ließ sich ein Stampfen hören, das Luk wurde zugeschoben, und ein Fischer fiel schwer auf die Bank nieder. Junge, wat süht dien Jack ut!... Alles troff von Wasser, das junge Gesicht, der Südwester, der Ölrock. Was für eine Gelegenheit! Immer in Gesicht und Schaum stehen und bei jeder überkommenden See sich an den Wanten anklammern... das macht müde... Und dabei die Kälte, die bis ans Herz griff!... Die hereingebrochene Nacht... was mochte die nun noch bringen? Er sah wie verzagt nach der Lampe, dann beugte er sich vor und drehte sie höher. Doch ein Stückchen Licht noch auf der Welt... Wäre es doch nur erst Morgen... nur erst wieder still...

Drehte das Fahrzeug sich um? Flach auf der Seite lag es ja bald... Nein – es richtete sich wieder auf. Der Junge erhob sich: lieber oben an Deck schwimmen, als hier unten lebendig begraben sein. Damit aber besann er sich, daß er essen sollte, und suchte im Wandschrank Butter und Brot und im Kessel schwarzen Kaffee. Dann kaute er, die Füße gegen das Ende der Bank gestemmt, um einen Halt zu haben. Die beiden Brüder da oben, ob sie nun auch noch aneinander vorbeisahen? Er guckte nach den Bildern. Die sollte schuld sein! Die war es, die beide haben wollten, und einer konnte sie doch bloß kriegen. Hol's der Deubel – er, Hinnik Rust, hätte sich gleich den ersten Tag für Jan entschieden, denn erstmal war der der ältere und dann der größere und der stärkere, der ruhigere, der vernünftigere...

So in Gedanken schraubte er das Licht hinunter und ging nach oben. Mit ihrem wildesten Gebrüll und Gekeuch empfing ihn die nordische See.

*

Nicht lange glomm das Licht so trüb. Eine Menschenhand drehte den Docht wieder hoch. Jan stand in dem kleinen Raum und schüttelte das Wasser ab und knöpfte den Rock auf. Sah nach dem Wetterglas und bemerkte, daß der Zeiger noch wieder drei Striche heruntergegangen war. Blickte ernst nach dem Silberspruch und nickte. Und schaute das Bild an, das über seines Bruders Koje hing. Das Mädchen kam ihm fremd vor, war gar nicht seine Geeschen gegenüber...

Ein Riese war er, dieser Jan. Wenn er in der Kajüte stand, wußte er nicht, wohin er mit dem Kopf sollte, und saß er, dann hatte er mit den Beinen seine Not... Immer heiteren Sinnes, dieser Jan, still, gelassen und besonnen wie ein Kind. Nichts brachte ihn aus der Ruhe. Auch damals lachte er vor sich hin, als sie ihm von Geeschen und Harm erzählten, und sagte nur: »Schall woll so wesen: een Mudder, een Schipp, een Deern.«

Nur heute war es anders, und so wenig man es ihm ansah: in seiner Brust war alles gelöst, alle Muskeln spannten sich an, das Herz schlug schneller, und die Sinne waren ins Ungemessene gewachsen. In seinem Kopfe arbeiteten die Gedanken... Nicht Angst war es, nicht Furcht, die ihn durchjagte, Sorge, bange Sorge um die Mutter am Deich, die auf ihre alten Tage nicht plätten und reinmachen sollte für fremde Leute, um Geeschen, die nicht schwarz gehen und nicht weinen sollte, um den Bruder, der immer sein Bruder blieb, um den Jungen, um sein stolzes Fahrzeug, um sich selbst. Der Wille zum Leben, der war es. Was stand dagegen?... die kleine Fischerbank, der schwache Junge, der Bruder, dem alles gleichgültig geworden war, und der ebensogern die Hände in die Taschen steckte, als daß er beim Neffen half... Was stand dafür?... ein neues, starkes Schiff, neue Segel, neue Masten und ein sturmgewohnter Mann – er selbst!

Damit kroch das Licht wieder zusammen, und er ging an Deck...

Dunkel, dunkel... und nun war wohl das Ende da? – Stand der Kutter steil in der Luft? Überschlug er sich wie ein Tümmler, der heisterkopf schießt? Rissen Geisterhände Geeschens Bild herunter und warfen es zu Boden?

Es schien nur so; das Fahrzeug stand wieder auf. Nur das Bild blieb liegen unter den Glasscherben ...

Die knirschten unter den schweren Seestiefeln. Harm bückte sich, griff nach dem Bild und richtete sich jäh auf. Ein Wutgestöhn entrang sich ihm, als er den Platz über seiner Koje leer fand. Nicht einen Augenblick kam ihm der Gedanke, daß es hinuntergeschleudert sein könne – – er, Jan, hatte es heruntergerissen und ihm vor die Füße geworfen. O – der Hund der! Er sah das Bild an. Ja, die Geeschen, die wußte vor Angst nicht, wen sie nehmen sollte... Also – – – mußten sie sich darüber einig werden!

Vor Angst? Dann also liebte sie ihn, Harm! Denn liebte sie Jan, so brauchte sie vor dem Bruder nicht bange zu sein: der riesige Jan nahm es ja mit jedem auf – er war der Stärkere. Hier, hier hatte er oft gestanden und den Atem angehalten, wenn Jan schlief. Und sich auf ihn werfen wollen, aber die Vernunft hatte ihn jedesmal zurückgehalten... Da lag das Bild ... Jan konnte machen, was er wollte... Was Sturm und Lebensgefahr! Wenn sie blieben – seinetwegen! Kamen sie zurück, dann nahm Jan sich Geeschen, gingen sie unter, dann kriegte sie wenigstens keiner. Einen anderen Weg gab es nicht! Gab es nicht? Er hielt an ... wenn er allein heimkam ... wenn Jan nicht mit zurückkehrte... wenn er über Bord schlug? Das wäre ein Unglück... aber wenn er dem Unglück den Arm lieh ... ein Stoß ... ein Schlag ...

Rief da einer? War es schon geschehen? Das Unglück?... Hastig steckte er das Bild in die Koje, dann schritt er nach oben.

*

Novembersturm.

Sargdunkel der Himmel, kein Mond, kein Stern, keine Wolke zu sehen. Sargdunkel die See, kein Licht, keine Leuchte, kein Segel zu erblicken. Nur im Umkreise von zehn Faden geistern die weißen Häupter der Wogen auf. Gespenstisch flackert der rote Schein des Steuerbordlichts bald hier, bald dort auf dem Wasser. Von allen Seiten wälzen sich die Seen über das Deck, das ein Gischt und ein Schaum ist. Eine Sprühflage nach der andern saust herüber. Der Kutter stampft und zittert in dem kochenden Wasser. Bald saust er gegen den Himmel, bald schießt er tief hinunter, bald liegt er glatt auf der See. Wie wild hauen die gerefften Segel, wie toll hämmern die Schoten, ängstlich knarren die Gaffeln. Um alles aber rast der Sturm, sausend, stöhnend, heulend, brüllend.

*

Der Kompaß suchte zitternd seinen Pol. Hinter ihm, im Steuergang, stand Jan. Er hatte sich mit einem Tau an den Besanmast gebunden, und auch das Steuer hatte er mit zwei Stroppen in der Gewalt. Unaufhörlich brachen die Seen über Deck. Der Gang konnte sie nicht so rasch verschlucken, so watete er bis zum Knie im Wasser. Das aber beachtete er nicht: ihn kümmerten der Kompaß und die Segel und die See.

»Fastholn!« rief er jedesmal, wenn er eine große Woge heranfegen sah. Dann stürzte sie auch schon über den Setzbord.

»Fastholn!« scholl es immer wieder.

Der Junge umklammerte bei jedem Stoß die Ducht des Bootes mit beiden Armen und machte die Augen zu. Auch er hatte ein Tau um den Leib.

Nur Harm war nicht angebunden. Er stand an der Fockschoot und griff mit der Hand nach den Wanten, wenn er es weiß und hochgetürmt ankommen sah.

»Goh man dol«, rief er dem Jungen zu. Der antwortete nicht, tat, als ob er nichts gehört hätte. Jan aber hatte es vernommen.

»Man dol, Hinnik, ehr du uns ober Burd kummst«, grölte er, und auf das Wort knotete Hinnik Rust sich los und ging nach unten.

Harm lachte kurz auf. So ... nun war er allein mit ihm. Nun konnte es kommen, wie es wollte. Wie er es wollte...

Jan wischte sich mit dem Ärmel die Augen. Dwars ab – blinkte da nicht ein Licht – oder trog es ihn? – Es trog! – – In dem kleinen Hause am Deich ... da brannte wohl Licht. Da saß wohl nun die alte Frau und horchte auf das Brausen des Windes und legte den Strumpf beiseite und holte das Psalmenbuch her und las mit bebenden Lippen... Harm! Harm! Was beugst du dich vor? Was siehst du nach dem andern? Das ist dein Bruder. Harm! – – – – – – – – – – – – – –

Die große See, die große See! – – – – – – – – – – – – –

Wie Eisen stieß sie gegen den Steven, wie Eisen rollte sie über das Deck und – Harm nahm sie mit ... Mit beiden Armen hatte Jan ihn gefaßt und hielt ihn fest. Im Nu hatte er sich über die Reling geworfen, als er den Bruder stürzen sah, und ihn noch eben gepackt. Weit über Bord gebeugt, lag er auf dem Achterdeck. Das Tau hielt ihn. Schwer wie Blei hing Harm an seinen Armen. Hin und her warf ihn die See, und Woge über Woge ging über ihn hin. Auch Jan mußte viel Wasser schlucken. Er versuchte sich aufzurichten, aber es ging nicht, der Bruder war zu schwer. Wieder und wieder reckte er sich – vergebens. Seine ganze Kraft bot er auf – und mußte sich wieder ermattet sinken lassen. Er hing zu weit über, und der Körper war zu schwer. Er fühlte, wie seine Macht nachließ, wie seine Hände in dem eisigen Wasser erstarrten. Aber er hielt den Bruder.

Der war schon fast matt und rührte sich kaum noch. Nur einmal bat er: »Lot mi los, Jan!«

Aber der tat es nicht.

Er rief nach dem Jungen mit überlauter, gellender Stimme, doch der Sturm ließ den Laut nicht weit kommen. Er wollte sich wieder aufrichten, aber seine Arme erlahmten ... Es ging zu Ende ... Er fühlte es ...

Das Tau schnürte ihm den Körper zusammen ... Das Tau? ... Wenn er sich losmachte und es dem Bruder unter die Arme durchlegte? Aber er mußte einen Halt haben. Den Polder! Mit beiden Beinen klammerte er sich daran fest, dann machte er sich die rechte Hand frei und hielt den Bruder mit der linken. Jetzt durfte keine große See kommen! Dann waren beide geliefert. Hastig knotete er das Tau los... wie eiserne Krampen umschlossen die Beine den Polder ... schlang es um den Körper, knotete fest... dann löste er die andere Hand ... der Bruder versank. Jan richtete sich auf und stellte sich hoch und breitbeinig hin und griff nach dem Tau. Und nun er auf den Füßen stand, war es ihm möglich, Harm an Deck zu ziehen.

*

Der Junge erschrak, als er den Besuch eines halbtoten Mannes bekam, dann aber zog er ihn aus, rieb ihn, gab ihm ein paar Tropfen aus der Medizinkiste und suchte ihm trockenes Zeug her. Und freute sich, als Harm wieder zu sich kam.

Gerade war er auf der Diele zugange, und Harm starrte wie träumend vor sich hin, da holte das Schiff gewaltig über – und die andere Geeschen lag zersplittert am Boden.

Harm sah es – dann besann er sich – langte nach den Stiefeln und zog den Ölrock an, und als der Junge verwundert fragte: »Geiht all wedder, Harm?« – da ging er schon die Treppe hinan.

Um seinen Mund aber lag es wie Feiertag, und in seinen Augen glänzte eine heilige Freudigkeit. Das machte, er war ein Mensch geworden.

Jan stand angebunden am Steuer.

Er streckte ihm die Hand hin: »Jan!«

»Harm!«

Was wollte da noch der Sturm?


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