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Es ist doch etwas Wunderbares um den Vogelzug! Mit packender Eindringlichkeit und fast greifbar deutlich rollt er sich in großartiger Anschaulichkeit zweimal jährlich vor unseren Augen ab, und doch ist er noch immer vom Zauber des Geheimnisvollen umwoben und selbst für das Forscherauge mit schier undurchdringlichen Schleiern umhüllt. Er tritt so unmittelbar an uns heran wie wenige andere Vorgänge der Natur, gibt ganzen Jahreszeiten das sie kennzeichnende Gepräge, belebt unsere Einbildungskraft, reizt unseren Verstand, und doch können mir ihm trotz regster Forschungsarbeit nicht recht näher kommen, und die Gelehrten vermochten nur hier und da den Schleier ein wenig zu lüften. Die letzten und größten Rätsel liegen ja im Zugvogel selbst, in seinem Triebleben und in seiner Psyche, und deshalb erscheinen sie für den Menschen so unergründlich. Wer sich aber erst einmal planmäßig und wissenschaftlich vertieft mit den vielgestaltigen Fragen des Vogelzugs beschäftigt hat, den lassen sie einfach nicht wieder los, der ist ihnen zeitlebens sozusagen mit Haut und Haar verfallen. Glaubt man der einen Frage auf den Grund gekommen zu sein, gleich türmt sich ein halbes Dutzend anderer hinter ihr auf. Es ist wie der Kampf des Herkules gegen die lernäische Schlange, der aus jedem abgehauenen Kopf zwei neue hervorwuchsen. Seit 40 Jahren beschäftige ich mich nun mit dem Problem des Vogelzuges, bin den Zugvögeln auf ihren Heeresstraßen nach milderen Ländern nachgereist, konnte eingehend an so hervorragend günstigen Plätzen, wie Rossitten, Lenkoran, Tanger u.a., beobachten, und doch, je mehr ich mich in die Sache vertiefe, um so mehr komme ich zu der Überzeugung, daß all mein heißes und jahrzehntelanges Bemühen mich der Wahrheit nur um einen winzigen Schritt näher gebracht hat. Es ist unter solchen Umständen natürlich ganz unmöglich, die mannigfach verschlungenen und verkapselten Rätsel des Vogelzuges im knappen Rahmen eines Kosmosbändchens auch nur einigermaßen erschöpfend zu behandeln. Ich kann vielmehr nur einige jener Fragen, die sich dem Naturfreund erfahrungsgemäß besonders aufdrängen, herausgreifen und kurz schildern, was wir nach dem gegenwärtigen Standpunkte der Vogelforschung darüber wissen.

Auch der stumpfsinnigste Philister wird unwillkürlich aufgerüttelt, wenn unter dem trüben Novemberhimmel plötzlich die lauten Schreie ziehender »Schneegänse« ertönen und er beim Aufblicken die großen Vögel selbst erspäht, wie sie in schön geordneter Keilform mit zielbewußten Schwingenschlägen ihrem fernen Ziele zustreben. Oder wie greift es ans Gemüt, wenn die gellenden Trompetenrufe wandernder Kranichgeschwader erschallen! Was trieb die Zugvögel zu pünktlichem Aufbruch, was leitet sie auf ihrer weiten Reise, welche Abenteuer mögen sie auf ihr erleben, welche Strecken täglich zurücklegen, wo befindet sich ihr Endziel, und wer sagt ihnen im nächsten Frühjahr, daß es nun Zeit sei zur Heimkehr nach den Brutplätzen? Fragen über Fragen! Wie freut sich selbst der naturfremde Mensch unseres Maschinenzeitalters, wenn im Frühjahr wieder die ersten Schwalben durch die Luft schießen und die alten trauten Lehmnester fröhlich umzwitschern, oder wenn im Walde der Kuckuck zum ersten Male wieder seinen klangvollen Namen ruft! Wo ist er den Winter über geblieben, wer zeigte ihm, der doch seine Erzeuger niemals kennen lernte, den richtigen Weg über ferne Gebirge und Meere, durch Wüsten und Urwälder? Fragen über Fragen! Und wie jubelt alt und jung, wenn eines schönen Tages Freund Adebar wieder schnabelklappernd in seiner heimatlichen Reisigburg steht! Aber welcher Mensch vermöchte mit der gleichen unfehlbaren Sicherheit wie der rotstrumpfige Langbein ohne Zögern und Schwanken den endlosen Weg von der südafrikanischen Steppe bis ins niederdeutsche Dörflein zurückzufinden! Und doch beseelt ein Gefühl des Stolzes immer wieder den Vogelkenner, der in den laternenhellen, kohlendampfigen Straßen der Großstadt nächtlicherweile vom finsteren Himmel herab die vollen Flötenpfiffe der Regenpfeifer und Schnepfenvögel vernimmt und der als »vogelsprachekundig« danach jeden einzelnen zu erkennen und deutlich im Geiste vor sich zu sehen vermag und der zugleich weiß, daß sie dem äußersten Norden entstammen, und daß nun die stählerne Kraft ihrer Schwingen sie mit rasender Eile dahinträgt über weite Länder und Meere bis ins innerste Afrika hinein oder selbst noch darüber hinaus. Unten hämmert's in Fabriken und erfindenden Menschengehirnen, und hoch über ihnen zieht der scheidende Sommer mit spöttischem Abschiedsgruß in ein glücklicheres Land. Freilich, die meisten merken gar nichts davon. – So ist die Vogelzugsforschung nicht nur unendlich schwierig, sondern auch unendlich reizvoll. Sie ist das richtige Arbeitsfeld gerade für den echten Naturforscher, der seine Tätigkeit nicht auf Hörsaal und Laboratorium beschränkt, sondern sich auch draußen zurechtzufinden versteht, mit der Flinte umzugehen weiß und etwas vom Wesen des Trappers an sich hat. Die rauhe Schale der Vogelzugsforschung birgt einen unendlich süßen Kern, und auch nur ein winziges Stückchen davon verkosten zu dürfen, bedeutet herrlichen Hochgenuß, ist wohl ein arbeitsreiches Leben wert. Wer sich eingehend mit der Vogelzugsforschung befaßt, bleibt Idealist, muß es bleiben und ist gefeit gegen den öden Materialismus unserer Zeit.

Wenn die ungemein lebhafte Tätigkeit auf dem Gebiete der Vogelzugsforschung im letzten Viertel des vorigen Jahrhunderts nicht so reiche Früchte trug, als man eigentlich hätte erwarten dürfen, so liegt die Schuld in der Hauptsache mit daran, daß man viel zu sehr verallgemeinerte und deshalb Fragen aufwarf, deren befriedigende Beantwortung überhaupt unmöglich ist. Selbst heute noch haben sich viele Vogelforscher von diesem Grundfehler nicht freimachen können. In Wirklichkeit liegen die Dinge nämlich so, daß der Zuginstinkt, der die Vögel im Herbst gen Süden jagt und im Frühjahr in die alte Brutheimat zurückkehren läßt, bei den einzelnen Vogelarten in ganz verschieden hohem Maße ausgeprägt ist. Dasselbe gilt auch von der Fähigkeit des Sichzurechtfindens, von der Begabung, die vielen Gefahren beim Zuge und die durch Wind und Wetter verursachten Schwierigkeiten zu überwinden. Die beliebten, schon so oft und heiß umstrittenen Fragen »Ziehen die Vögel mit dem Winde oder gegen den Wind?«, »Wandern die Vögel in breiter Front oder auf schmalen Zugstraßen?«, »Werden Hochgebirge überflogen oder umgangen?«, »Ziehen Junge und Alte gemeinsam oder getrennt?« usw. beruhen alle auf einer falschen Grundeinstellung und sind deshalb in dieser Form überhaupt nicht zu lösen. Jede Vogelart – selbst ganz nahe verwandte Formen verhalten sich in dieser Beziehung oft völlig verschieden – erfordert also in ihren Zugsverhältnissen eine gesonderte Betrachtung, eine eigene Untersuchung, und dadurch wird das ohnehin schon so vielgestaltige Problem natürlich noch viel verwickelter. Die Würgerarten z.B. sind recht weichliche Zugvögel, aber der Raubwürger ist ein winterharter Standvogel; die beiden Goldhähnchen sind sich so ähnlich und stimmen in ihren Lebensgewohnheiten so vollkommen überein, daß ihre Artverschiedenheit erst durch Chr. Ludwig Brehm entdeckt wurde, aber das eine ist ein ausgesprochener Zug-, das andere ein Stand- oder höchstens Strichvogel. Wir können also niemals sagen: »Die Vögel ziehen in breiter Front« oder »Die Vögel wandern auf engbegrenzten Zugstraßen«, sondern wir können höchstens sagen und beweisen »Die Rotkehlchen wandern in breiter Front« oder »Die Störche halten bestimmte Zugstraßen ein«. Wir können auch niemals behaupten »Die Vögel überfliegen die Hochgebirge« oder »Die Vögel weichen den Hochgebirgen aus«, sondern wir können nur behaupten und beweisen »Drosseln und Finken ziehen auch über Hochgebirge hinweg«, oder »Die Störche vermeiden auf ihrer Wanderung die Hochgebirge durchaus«.

Auch zwischen Wanderung und Zug müßte schärfer unterschieden werden, als dies bisher der Fall ist. Wenn nordische Schwimmvögel auf dem Meere dem Vorrücken der Eisberge ausweichen und so ganz allmählich immer weiter nach Süden gedrängt werden, wenn Hakengimpel oder Seidenschwänze bei Mangel geeigneter Nahrung im Norden solche allmählich immer weiter südlich suchen, so ist das nicht Zug, sondern Wanderung. Als solche fasse ich es auch auf, wenn sonst durchaus seßhafte Vögel wie schlankschnäblige Tannenhäher oder Steppenhühner plötzlich durch irgend welche Ursachen zum Verlassen ihrer Brutheimat genötigt werden und nun in gewaltigen Mengen, aber planlos sich westwärts in Bewegung setzen. Es ist, als seien sie von einem Dämon besessen, so drängt es sie immer weiter westwärts und läßt sie nirgends zur Ruhe kommen, bis sie in gewöhnlich schon völlig aufgelösten und zersprengten Verbänden das Meer erreichen und in dessen Fluten schließlich ein sang- und klangloses Ende finden. Namentlich bei den berühmten großen Steppenhuhneinfällen der Jahre 1863 und 1888 hat man von einer Rückkehr der fremden Gäste so gut wie nichts wahrgenommen, sondern die Teilnehmer der Heerfahrt sind offenbar ausnahmslos kläglich zugrunde gegangen. Die Zugs- und Ortsinstinkte sind bei diesen Vögeln nicht so entwickelt, daß sie sich mit Sicherheit zurückfinden könnten, sondern sie wandern sich nach Art der Lemminge einfach zu Tode. – Unter echtem Zug verstehe ich also nur das alljährliche regelmäßige Vertauschen der Brutheimat mit einer ganz bestimmten Winterherberge und umgekehrt. Die hierher gehörigen Vögel werden zur Zugzeit von ihren Zuginstinkten vollkommen beherrscht, wie wir dies in schärfster Ausprägung beim Turmsegler sehen können. Der gekäfigte Zugvogel, dem doch Nahrung und Wärme reichlich zur Verfügung stehen, tobt zur Zugzeit wie unsinnig gegen das Drahtgitter, obwohl er damit nichts erreicht, als sich das Gefieder zu zerschlagen oder sich gar blutig zu stoßen. Aber der Zugtrieb hat ihn derart in der Macht, daß er sich des Törichten seiner Handlungsweise gar nicht bewußt werden kann, sondern blindlings diesem gewaltigen Instinkte gehorchen muß. Bei bloßen Wandervögeln dagegen ist von irgendwelcher Unruhe im Käfig im Frühjahr und Herbst keine Rede, denn ihr Wandern ist ja nichts als ein mehr gelegentliches, mehr oder minder ausgedehntes Ausweichen vor den Unannehmlichkeiten einer gewissen Jahreszeit.

Sibirischer Tannenhäher macht unregelmäßige, großartige Wanderungen westwärts nach Europa, die gewöhnlich mit Sonnenfleckenperioden zusammenfallen
(Photo F. Mielert D.L.N.)

Da zieht eine Schar Kraniche hoch über den Kirchtürmen, aber gut sichtbar unter dem finsteren Herbstgewölk in der bekannten Keilform übers Städtchen, und ihre gellenden Trompetenrufe lenken die Aufmerksamkeit auch solcher Leute auf die großen Vögel, die sonst wenig Sinn und Verständnis für die Vorgänge in der freien Natur haben. Selbst dem oberflächlichsten Beobachter wird dabei die eigenartige Keilform der gefiederten Wanderschar auffallen, die wir auch bei ziehenden Gänsen, Enten, Regenpfeifern u.a. finden, und er wird sich fragen, welchen Zweck sie wohl haben mögen. Zweifellos den der besseren Kraftverwertung! Eckardt, der die Keilform als ein »aeromechanisch untrennbares Ganzes« auffaßt, das wie ein geschlossenes Luftschiff dahineilt, hat durch umständliche Berechnungen nachgewiesen, daß hierdurch die Überwindung des Luftwiderstandes um nicht weniger als zwei Drittel erleichtert wird. Das bedeutet natürlich für schwerfälligere Vögel auf dem Zuge einen großen Vorteil. Sehen wir näher hin, so bemerken wir auch, daß jeder fliegende Vogel seinen Vordermann nach außen hin um ein gutes Stück überragt, wodurch er freies Gesichtsfeld nach vorne behält und ein Aufprallen auf den Vordermann vermieden wird, falls dieser mal einen Augenblick stockt. Es ist klar, daß der an der Spitze des Keils fliegende Vogel die schwerste Arbeit zu leisten hat, und es wird deshalb in der Regel ein besonders kräftiges altes Männchen diesen Platz einnehmen. Viele Vogelforscher sind der Ansicht, daß die Vögel während des Fluges mit der Besetzung dieses Spitzenplatzes öfters abwechseln. Das klingt zwar nicht unwahrscheinlich, gesehen habe ich es aber noch nie, so zahllose ziehende Keilgeschwader ich in meinem Leben auch schon beobachtete. Noch wahrscheinlicher erscheint es mir, daß beim Aufbruch am nächsten Morgen ein anderes Männchen sich an die Spitze setzt, damit der Führer des vorangegangenen Tages es nun etwas leichter hat.

Mit langsamen, aber wuchtigen und tief ausholenden Schwingenschlägen ziehen die Kraniche ihre pfadlose Bahn durch das unendliche Luftmeer. Unter ihnen entrollt sich das Erdenbild auf weite Strecken hin wie eine Landkarte, und sie genießen denselben Anblick wie ein in bescheidener Höhe und stets unter der Wolkendecke sich haltender Flieger. Aber ihre Augen sind weit schärfer als die menschlichen, vermögen auch die geringfügigsten Einzelheiten zu erspähen und reichen viel weiter. Zwar ist die Erdoberfläche in Herbstdünste gehüllt und die Aussicht dadurch stark getrübt, aber das macht den Vögeln nichts aus. Die roten und gelbroten Ölkügelchen auf der Netzhaut ihrer Augen ermöglichen ihnen bei Tage ein viel schärferes Sehen als anderen Geschöpfen, und klar dringen ihre Blicke durch den Erdendunst hindurch. Gegen wirklichen und dicken Nebel freilich sind auch die wie farbige Filter wirkenden Ölkugeln ohnmächtig.

Aufmerksam spüren die Augen des führenden Kranichs die unter ihm befindliche Erdoberfläche ab. Von früheren Reisen her altvertraute Erinnerungsbilder werden in ihm wach und gestalten sich zu wertvollen Richtmarken. Die jungen Kraniche aber, die die große Herbstreise zum erstenmal machen, folgen blindlings der Leitung des alterfahrenen Stammesoberhauptes. Aha, da ist ja die alte Burgruine auf dem steilen Basaltkegel mitten in der Ebene! Und wenn man gerade über ihr schwebt, muß man auch schon den großen Strom erblicken, den es zu überqueren gilt, um die heutige Raststation zu erreichen. Fern am Horizont blitzt schon der ersehnte Wasserspiegel auf. Man ist also auf dem richtigen Wege. Kranichvater läßt einen befriedigten Schrei erschallen, und mit leiserem Gurren und Piepen antworten ihm die Jungvögel. Jetzt aber wird der Wind unangenehm. Er bläst steif von vorn und erschwert die ermüdende Flugarbeit, vielleicht, daß es in einer höheren Luftschicht besser ist und es sich da leichter fliegt. Auf ein Zeichen des Führers hin schrauben sich die Kraniche 200 bis 300 Meter höher, und in dieser Luftschicht ist allerdings der lästige Gegenwind kaum noch zu spüren. Dafür ist aber die Erde weiter entfernt, und man muß um so schärfer auf die Kennzeichen des Weges aufpassen. Jetzt muß gleich der kühle Hügel mit den Windmühlen kommen. Aber was ist das? Der Hügel ist wohl da, aber die Windmühlen fehlen, die man doch seit vielen Jahren immer wieder überflog, höchst verdächtig! Sollte man irre geflogen sein? Jedenfalls muß die Sache näher untersucht werden. Die Kranichschar geht also bis auf 100 Meter herunter und kreist unter aufgeregtem Trompeten mehrmals über dem verdächtigen Platz. Aber so sorgsam auch hundert scharfe Kranichaugen herunterspähen, es ist nichts Gefahrdrohendes zu entdecken, und beruhigt schlägt der alte Kranich wieder die frühere Richtung ein. Bald tauchen auch wieder anvertraute Erinnerungsbilder auf und geben die beglückende Gewißheit, daß man den richtigen Kurs nicht verfehlt hat. Etwas später heißt es besonders gut achtzugeben, weil das nun folgende Stück der Zugstraße erst seit wenigen Jahren beflogen wird und sich deshalb noch nicht so tief dem Gedächtnis eingeprägt hat, noch nicht so häufig dem Jungvolk überliefert worden ist. Man muß einen großen Bogen schlagen, auf dessen Sehne man in früherer Zeit flog. Aber da war ein furchtbares Getöse auf der Erde, wo sich die Menschen gegenseitig totschlugen, und der arglose Kranichzug geriet mitten in das Geschützfeuer der tobenden Schlacht. Kranichvater war damals auch schon dabei, und mit Entsetzen erinnert er sich noch des grausigen Anblicks, wie die Gefährten vor und hinter ihm mit zerschmetterten Leibern in die flammendurchzuckte Tiefe stürzten, seitdem meiden die Kraniche diese unheimliche Gegend und haben sich andere Pfade gesucht. Es schadet ja weiter nichts, wenn dadurch die heutige Raststation etwas später erreicht und der Dauerflug etwas länger wird. Die Sicherheit des Lebens muß allem anderen vorangehen. Endlich taucht vor den suchenden Augen der Kraniche das weite Sumpfgelände auf, in dem sie schon so manches liebe Mal behagliche Rast gehalten haben, und wird mit freudigem Geschrei begrüßt. Auf einer für Menschen unzugänglichen großen Schlammbank wollen die Vögel einfallen, aber in ihrer Vorsicht tun sie dies nicht ohne weiteres, sondern umkreisen erst in immer niedriger werdenden Spiralen den auserwählten Platz, um sich zu vergewissern, daß hier nirgends eine Gefahr droht, insbesondere kein menschlicher Jäger versteckt ist. Haben sich die großen Vögel dann endlich niedergelassen, so begeben sie sich nach kurzer Pause zu Fuß auf die Nahrungssuche, um die hungrigen Mägen zu füllen, nicht aber ohne vorher auf erhöhten Punkten aufmerksame Wachtposten aufgestellt zu haben, die unablässig die ganze Gegend durchspähen und beim geringsten Anzeichen von Gefahr das Warnungszeichen geben. Zeitig begibt sich dann die ganze Gesellschaft zur Ruhe, um die nötigen Kräfte zur Flugleistung des nächsten Tages zu sammeln.

In der eben geschilderten Weise etwa verläuft ein normaler Zugtag bei am Tage wandernden größeren Vogelarten. Daß sie sich in der Tat nach der wie eine Landkarte unter ihnen ausgebreiteten Erdoberfläche richten und sich hauptsächlich mit Hilfe ihrer Augen zurechtfinden, das habe ich oft genug und besonders genau an der Meerenge von Gibraltar beobachten können. Ich wohnte damals in einem kleinen Landhause auf dem Höhenzug hinter der Stadt Tanger. Vom Garten aus konnte ich einen großen Teil der gegenüberliegenden spanischen Küste überblicken, und namentlich die Stadt Tarifa trat bei günstiger Beleuchtung so greifbar scharf hervor, daß man an manchen Häusern die Fenster zählen konnte. In den ersten Morgenstunden tauchten bei Tarifa öfters gewaltige Storchenheere auf, die wahrscheinlich in den großen Sümpfen des Guadalquivir genächtigt hatten und die ich mit Hilfe des Feldstechers vom Augenblick ihres Erscheinens an vortrefflich verfolgen konnte. Sobald die Störche auf ihrem Wege die äußerste Spitze Europas erreicht hatten, gerieten sie offensichtlich in Unruhe und schwangen sich kreisend immer höher empor. Erst nach etwa halbstündigem Kreisen ordneten sie sich neu (die Störche ziehen nicht in Keilform, sondern etwa schwadronsweise) und kamen nun schnurstracks über das schmale Meer herüber, und Zwar m der Richtung auf den Leuchtturm am Kap Spartel, ließen also Tanger links liegen.

Der Storchenzug – Ungefähre nördliche Brutgrenze – Die beiden großen Zugstraßen – Hauptwinterquartier (für den Kosmos gezeichnet von R. Öffinger)

Auf meinen vielen Ritten längs der Westküste Marokkos habe ich dann solche wandernde Storchenheere verfolgen können bis in die Gegend südlich Mogadar und zum Kap Ghir, wo sie die Meeresküste zu verlassen und landeinwärts abzubiegen scheinen. Natürlich konnten die Störche auch ohne Höhersteigen von Tarifa aus das Kap Spartel sehr gut erblicken; sie wollten sich aber, ehe sie das Meer überquerten und sich dem fremden Erdteil anvertrauten, offenbar erst noch über den weiteren Verlauf der in ihrer Zugrichtung streichenden afrikanischen Küste unterrichten, und zu diesem Zweck erhoben sie sich in höhere Luftschichten, um ihren Gesichtskreis zu erweitern. Auf derselben Zugstraße fand ich übrigens auch zahlreiche andere Vogelarten aus englischen, westskandinavischen und norddeutschen Brutgebieten, besonders zahlreich z.B. die norwegische Form des Blaukehlchens.

Mit Löns und Kurt Graeser bin ich der Ansicht, daß nicht der Standvogel der ursprüngliche Vogeltyp war, wie die meisten Vogelforscher ohne weiteres annehmen, noch weniger natürlich der Zugvogel, sondern vielmehr der Strichvogel, und zwar in der Ausprägung, die wir heute als » Zigeunervogel« bezeichnen, hierher gehören aus unseren Breiten namentlich die Kreuzschnäbel und der Rosenstar, in abgeschwächtem Maße aber auch die Sumpfohreule und der Wachtelkönig, sogar der Kernbeißer, der zur Aufzucht seiner Jungen Maikäfer haben will. Es sind dies also Vögel mit stark spezialisierter Ernährungsweise, die planlos im Lande herumzigeunern und sich da längere Zeit aufhalten oder zur Brut schreiten, wo ihr Tisch besonders reich gedeckt ist. Ubi bene ibi patria, lautet ihr Wahlspruch. Ähnlich mögen es auch zahlreiche andere Vogelarten in Urzeiten getrieben haben, und wahrscheinlich waren sie zu einem solchen herumzigeunern geradezu gezwungen, weil die Nahrung sich ihnen sicherlich nicht in solcher Fülle und Übersichtlichkeit darbot wie heute unter unseren kultivierten Verhältnissen, wie noch heute die Kreuzschnäbel abhängig sind vom mehr oder minder reichen Zapfenansatz der Nadelwälder, wie die Rosenstare fast mechanisch den Zügen der Wanderheuschrecken folgen müssen, so mußten damals viele Arten hin- und herstreichen, um ihre Lieblingsnahrung in genügender Menge vorzufinden. Man wende nicht ein, daß die Mehrzahl der heutigen Vogelgattungen aus eidechsenartigen Vorfahren heraus doch schon in der Tertiärzeit mit unglaublicher Schnelligkeit sich entwickelt habe, daß während dieser Epoche Europa sich eines sehr milden, fast tropischen Klimas erfreuen durfte, und daß demnach für Geschöpfe aller Art doch beständig Nahrung in Hülle und Fülle vorhanden gewesen sein müsse. Werfen mir vielmehr einen Blick auf die heutigen tropischen und subtropischen Länder, so sehen wir, daß die Nahrungsquellen für bestimmte Tiere sich ihnen nicht in geschlossener Masse, sondern meist in starker Verzettelung darbieten, und daß ihr Anwachsen oder Schwinden in hohem Maße abhängig ist von Regenfällen und anderen meteorologischen Ereignissen. Wir sehen, wie sogar die Kolibris der brasilianischen Urwälder beständig streichen, um jederzeit diejenigen Blüten zu finden, denen ihr Organismus besonders angepaßt ist; wir sehen, wie kleine Sittiche und viele Prachtfinken beständig hin- und herziehen, um solche Landstriche aufzusuchen, denen befruchtender Regen üppigen Graswuchs entlockt hat, so daß es da mehlhaltige Samenkörner in unerschöpflicher Menge gibt; wir wissen, daß durch die Verteilung, das Versiegen und Wiedererscheinen guter Tränkstellen selbst Säuger zu Zigeunertieren werden, wie z.B. die großen Antilopenherden Ostafrikas. Nichts hindert also die Möglichkeit der Vorstellung, daß ursprünglich auch die Mehrzahl der europäischen Vögel eine ähnliche Lebensweise geführt hat. vielleicht hat gerade zu diesem Zweck die Natur dem Vogel das Flugvermögen verliehen oder wurde es gerade durch diese Notwendigkeit herausgebildet. Übrigens kühlte sich das Klima schon im Pliozän wieder wesentlich ab, und es wird in Europa beim Ausklingen der Tertiärzeit kaum viel anders gewesen sein als heutzutage. Das Wandern war also für alle jene Lebewesen, die ihren Unterhalt nicht durch eigene Arbeit dem Erdboden abzuringen oder durch einen Winterschlaf über die schlimmste Zeit hinwegzukommen wissen, der gegebene Zustand. Die Vögel zogen ihrer Schnabelweide nach, wobei Bequemlichkeit und Wanderfähigkeit die Reichweite ihres Schweifens bestimmten, sie waren nur dann seßhaft, wenn das Fortpflanzungsgeschäft sie notgedrungen an einen bestimmten Platz bannte. Die wiedergewonnene Freiheit und das Überstehen des Federwechsels aber wurden sofort zu neuer Ungebundenheit ausgenutzt, um die reichlichsten und leckersten Nahrungsquellen zu besuchen. Immerhin müssen wir festhalten, daß der Vogel nur da seine wahre und eigentliche Heimat hat, wo er das Licht der Welt erblickt und selbst für die Vermehrung seiner Art sorgt. Dies gilt auch für solche Arten, die wie Pirol und Turmsegler längere Zeit auf der Wanderung und im Winterquartier verbringen als am Brutplatze und die man deshalb gar nicht übel als ›Sommerfrischler‹ bezeichnet hat. Andererseits können wir uns aber die Entstehung des Vogelzugs gar nicht besser vor Augen führen, als wenn wir uns vergegenwärtigen, wie auf der Erde jederzeit Überfluß und Mangel, Fruchtbarkeit und Öde, Wärme und Kälte wechseln, so daß Geschöpfe, die keine Vorsorgewirtschaft treiben, notgedrungen dem Hunger entfliehen und gedeckte Tische aufsuchen, also wandern müssen. Standvögel im allerstrengsten Sinne des Wortes gibt es überhaupt kaum, denn selbst bei einem so abgesprochen seßhaften Vogel, wie es z.B. der Kolkrabe ist, Zigeunern doch wenigstens die noch nicht fortpflanzungsfähigen Jungvögel im Lande herum, und es ist immerhin bemerkenswert, daß sie dabei stets Gegenden aufsuchen, die südlich von den Brutplätzen liegen.

Dann brachen die verschiedenen Eiszeiten herein, die auf dem Höhepunkt ihrer Entwicklung über ganz Nordeuropa eine Eiskappe zogen und auch von den südlichen Hochgebirgen her gewaltige Gletschermassen vorschoben, so daß der für Vögel bewohnbare Raum zu einem schmalen Gürtel zusammenschmolz, in dem überdies recht strenge Winter an der Tagesordnung gewesen sein müssen. Natürlich setzten diese umwälzenden Veränderungen nicht plötzlich und katastrophal ein, sondern ganz langsam und allmählich, unmerklich sich auf Jahrtausende verteilend, öfters auch durch Rückschläge unterbrochen. Ganz von selbst erhielt aber dadurch das streichen der Vögel mehr und mehr eine bestimmte Richtung, nämlich nach Süden oder Westen, und in wärmere Länder, während es bisher nach allen Richtungen der Windrose hin erfolgt war. Aus dem Streichen wurde so allmählich ein Ziehen mit ganz bestimmten Zielen, und es ist aller Wahrscheinlichkeit nach bitterer Nahrungsmangel, prosaischer Hunger gewesen, der den ersten Anstoß zu dem wundervollen Phänomen des Vogelzuges gegeben hat. Da die erstarrenden Hochgebirge von vielen Arten sicherlich nicht überwunden werden konnten, sondern mehr oder minder umständlich umgangen werden mußten, mögen sich schon damals die ersten Vogelzugstraßen herausgebildet haben. Ich denke mir die Sache so, daß die Wanderungen anfangs sich nur über einen geringen Raum ausdehnten, daß sie aber im Laufe der Zeit ein immer bestimmteres Gepräge erhielten und über immer größere Zwischenräume sich erstreckten, je mehr die Vereisung Europas zunahm, sicherlich sind damals viel mehr Vogelarten gewandert als heutzutage, sicherlich sind manche ganz zugrunde gegangen, weil sie falsche Wege einschlugen oder sich sonstwie dem Wechsel der Jahreszeiten nicht anzupassen vermochten, allmählich bildete sich im Anschluß an diese ein Herbst- und ein Frühlingszug heraus. Unzählige Vogelgeschlechter machten so zweimal jährlich die große Reise. Das Ziehen wurde zur Gewohnheit, die vererbte Gewohnheit zum Instinkt, der immer schärfere Formen annahm.

Dieser alljährlich zweimal erwachende Instinkt ist einer der stärksten, den wir bei höheren Tieren kennen. Mit schier unheimlicher Gewalt packt er den Vogel, der sich ihm fast hemmungslos überlassen muß. Ist seine Zeit gekommen, so muß er ziehen, mag er wollen oder nicht. Manchmal gerät dabei der Zuginstinkt mit dem Fortpflanzungs- und Elterninstinkt in Widerspruch, wie ich dies namentlich bei Uferschwalben beobachten konnte. Der Sommer war naß, kühl, unfreundlich und insektenarm gewesen, und es gab deshalb viel verspätete Bruten. In den Nistlöchern einer großen Uferschwalbenkolonie, die sich in einer alten Kiesgrube niedergelassen hatte, saßen noch zahlreiche kleine Junge, als schon die Zugzeit gekommen war. Die alten Vögel wurden von ersichtlicher Unruhe ergriffen und zeigten eine merkwürdige Aufgeregtheit, Nervosität und Unsicherheit. Zunächst fütterten sie noch, aber immer lässiger und in immer größeren Abständen. Es zog sie zu den großen Versammlungsplätzen, zu den lustigen Flugübungen. Und eines Tages waren sie nicht mehr da. Vergeblich schrien und gierten die treulos verlassenen, dem Hungertode geweihten Jungen. Hier hatte also mit der fortschreitenden Jahreszeit der Zuginstinkt die Oberhand gewonnen über Fortpflanzungsinstinkt und Fütterungstrieb. Doch ist auch der umgekehrte Fall namentlich bei Rauchschwalben nicht selten. Dann harren die Alten unter Umständen bis zur äußersten Grenze des Möglichen bei ihren noch hilflosen Kindern aus und suchen sie trotz der immer knapper werdenden Nahrungsmittel wenigstens bis zum Ausfliegen und Selbstfressen zu bringen, um erst nach diesem Zeitpunkt an die eigene Reise zu denken. Oft haben sie aber darüber den richtigen Aufbruchstermin versäumt, geraten dadurch in Vorwinter und frühzeitige Schneestürme und gehen massenhaft am Fuße der Alpen zugrunde, die zu überfliegen sie nicht mehr die nötige Kraft haben, während die Jungen überhaupt nur zu Schwächlingen sich entwickeln konnten, deshalb den Anstrengungen der Reise von vornherein nicht gewachsen und so mit Sicherheit einem frühzeitigen Tode verfallen sind. In einem solchen Falle hat einmal die bekannte Vogelschützerin Frau Lina Hähnle am Nordfuß der Alpen massenhaft die ermatteten Schwälbchen aufsammeln lassen, sie mit Mehlwürmern und anderen Kraftfuttermitteln gestärkt, in Körbe warm verpackt und dann durch einen Vertrauensmann mit dem Schnellzuge durch den Gotthard-Tunnel nach dem sonnigen Italien bringen lassen, wo man dann die Vögel schleunigst fliegen ließ. Möchten sie ihr Reiseziel glücklich erreicht haben! Der Fall der bis zur Selbstaufopferung bei ihrer Nachkommenschaft ausharrenden Rauchschwalben berührt das menschliche Gefühl sympathisch, während das geschilderte Verhalten der Uferschwalben uns grausam vorkommt. Und doch ist im Interesse der Art das Letztere entschieden das Richtigere, d.h. Vorteilhaftere, denn es rettet unter Aufopferung der doch nur Schwächlinge liefernden Jungen wenigstens die Alten zum Fortpflanzungsgeschäft des nächsten Jahres, während im zweiten Falle nur zu oft die Alten mitsamt den Jungen dem Verderben geweiht sind, wodurch dem Bestande der Art viel empfindlichere Lücken geschlagen werden. Die Natur sorgt eben immer nur für die Erhaltung der Art, während sie sich um das Wohl und Wehe des Einzelgeschöpfes in keiner Weise kümmert. Selbst der Raub- und Ernährungsinstinkt wird zeitweise vom Zuginstinkt überwunden, denn wir sehen an guten Zugtagen Raub- und Singvögel friedlich die gleiche Bahn ziehen. Sie kümmern sich gar nicht umeinander, sondern alle sind nur von dem einen Drange beseelt, möglichst rasch vorwärts zu kommen.

Wie völlig der Zuginstinkt zu gewissen Jahreszeiten den Vogel beherrscht, das zeigt namentlich auch das Verhalten gekäfigter Zugvögel, die dann, obwohl sonst völlig eingewöhnt, wie unsinnig gegen das Gitter toben, nur getrieben von dem dunklen Drange, in weite Fernen hinauszustürmen. Man kann aus der größeren oder geringeren Stärke und aus dem längeren oder kürzeren Andauern dieses meist nachts sich abspielenden Tobens allerlei wichtige Schlüsse ziehen. Je mehr der Vogel rast, um so stärker wird sein Zuginstinkt ausgeprägt sein, je länger das Toben anhält, um so länger wird auch im Freien seine Wanderlust dauern, d.h. um so größere Strecken wird er zurücklegen, um so weiter wird seine Winterherberge entfernt sein. Eine Art, die schon in den Mittelmeerländern überwintert, wird nur kurze Zeit unruhig sein, eine andere, deren Winterleben sich in Innerafrika abspielt, viel länger. Und doch! So gewaltig und unwiderstehlich der Zuginstinkt uns gegenwärtig auch noch erscheinen mag – ich kann mich des Gedankens nicht erwehren, daß er in sichtlichem Abflauen begriffen ist. Beständig mehren sich die Fälle, wo Vögel, die früher als ausgesprochene Wanderer galten, den Winter über bei uns bleiben und getreulich in unmittelbarer Nähe des alten Nestes ausharren, andere nur streichen, statt zu ziehen. Selbst Schwarzplättchen, Rauchschwalben, Weidenlaubsänger und Störche machen freiwillig Überwinterungsversuche.

Der Vogelzug in der Dobrudscha

Bei Staren, Feldlerchen und Turmfalken lassen sich heute kaum noch sichere Ankunftsdaten mitteilen, weil man nie recht weiß, ob man wirklich die ersten Ankömmlinge oder überwinternde Stücke vor sich hat. Die milden Rheingegenden fangen für manche Arten nachgerade an, die frühere Rolle der Mittelmeerländer zu spielen. Seit den vier Jahrzehnten, in denen ich wissenschaftliche Vogelkunde betreibe, hat sich in dieser Beziehung ein deutlicher Umschwung vollzogen, ohne daß man deshalb gleich an eine »wiederkehrende Tertiärzeit« zu denken braucht, von der manche Leute faseln. Auch das Verhalten der Käfigvögel spricht dafür. Sie toben nicht mehr so stark wie in meiner Knabenzeit, als ich mir die ersten gefiederten Pfleglinge anschaffen durfte. Von meinen gegenwärtigen Pfleglingen stößt sich eigentlich nur noch der Mornellregenpfeifer im Herbst und Frühjahr die Stirnfedern ab oder schlägt sich gar ein wenig blutig. Dagegen prangt meine Singdrossel stets im tadellosesten Gefieder, jedes Federchen aalglatt angelegt, was bekanntlich bei dieser Art sonst selten ist. Niemals hat sie irgendwelche Unruhe gezeigt. Nun läßt allerdings der Umstand, daß sie von allem Anfang an sehr zutraulich war, während alte Wildfänge dieser Art recht scheu sind, darauf schließen, daß sie jung aus dem Neste genommen wurde, wofür auch ihr zwar sehr fleißiger, aber qualitativ etwas minderwertiger Gesang spricht. Ich besitze aber auch noch ein Schwarzplättchen, das sicherlich ein alter Wildfang war, sich anfangs sehr scheu zeigte und vorzüglich singt und das trotzdem noch niemals getobt hat, obwohl gerade Schwarzplättchen in dieser Beziehung in einem üblen Rufe stehen. Also auch das Verhalten der Käfigvögel läßt darauf schließen, daß der Zuginstinkt im Abflauen begriffen ist, und nach Jahrtausenden wird aus diesem Abflauen vielleicht ein völliges Verlöschen werden, und die wunderbare Erscheinung des Vogelzuges wird dann vorübergerauscht sein, wie so manches andere in der Natur. – Inwiefern die immer häufiger werdende Überwinterung von Zugvögeln in unsern Breiten vielleicht auch auf die in immer ausgedehnterem Maße zur Anwendung gelangende Winterfütterung der Vögel zurückzuführen ist, mag hier dahingestellt bleiben, aber denkbar ist es sehr wohl, daß gerade die ersten Anfänge von Überwinterung damit zusammenhängen, indem bei zeitig beginnender Fütterung mancher Vogel vielleicht veranlaßt wird, zu bleiben und den Kampf mit den Unbilden der rauhen Jahreszeit aufzunehmen.

Wie ungefähr die Tagwanderer ihren Weg finden und sich auf der Reise orientieren, das haben wir oben an dem Beispiel der Kraniche gesehen, und wir wissen auch bereits, daß es ein uralter, tief eingeprägter Instinkt ist, der die Vögel zur Wanderung veranlaßt. Schwieriger wird die Sache dadurch, daß viele Vögel nicht bei Tage, sondern bei Nacht wandern, oft sogar in recht finsteren Nächten, wo sie trotz ihrer scharfen Augen unmöglich einen weiten Überblick über das sich unter ihnen aufrollende Landschaftsbild haben können. Wie finden die sich zurecht? Nun, sie fliegen gleichfalls verhältnismäßig niedrig, im allgemeinen wohl noch niedriger als die Tagwanderer, so daß der Gesichtssinn schwerlich ganz zur Ausschaltung gelangt. Zeugen dafür sind die zahlreichen Nachtwanderer, die man tot unter dem Telegraphendraht findet, sind auch die krächzenden Reiherschreie und die schönen Regenpfeiferpfiffe, die man nachts so oft in überraschender Bodennähe hört.

Großer Brachvogel
Die überaus wohlklingenden Rufe nächtlich ziehender Brachvögel hört man oft über den erleuchteten Großstädten
(Photo Hubert Schonger)

Merkwürdig, welch zauberhafte Anziehungskraft dabei grelle Lichtquellen auf die gefiederten Reisenden ausüben. Leuchttürme werden von den durch das Blinkfeuer geblendeten Vögeln umflattert wie die Lampe von den Motten, und nur allzu viele finden dabei ein trauriges Ende. Aber auch das Lichtermeer der Großstadt wird stundenlang unter aufgeregtem Rufen und Schreien umkreist, und es ist, als vermöchten die Vögel gar nicht, sich von diesem märchenhaften Anblick wieder loszureißen. Namentlich in Breslau konnte ich dies viele Male bei durchziehenden Regenpfeifern und Brachvögeln beobachten, da ja eine große Zugstraße das Odertal entlang läuft. Wo solche auffallende Lichtquellen schon lange bestehen, ist es sehr gut möglich, daß sie im Verlauf der Jahre zu Leitmarken für die Nachtwanderer geworden sind, denn der Zug vollzieht sich ja nicht rein mechanisch und stumpfsinnig, sondern der Vogel weiß dabei sehr wohl sich für ihn ergebende Vorteile oder Nachteile zu merken und für die Zukunft auszunutzen und zu verwerten. Gerade die Nachtwanderer sind, wie z. B. Eulen, Regenpfeifer und Dickfüße, durch den Besitz großer, fernsichtiger Augen (in unmittelbarer Nähe sehen sie schlecht, wovon man sich bei gekäfigten Stücken leicht überzeugen kann) ausgezeichnet, die ihnen beim Fernsehen nachts auch sehr zugute kommen werden. Ein weiteres Hilfsmittel beim nächtlichen Sichzurechtfinden dürfte das Gehör sein, das ja bei den meisten Vögeln recht scharf ausgebildet ist. Wie wir von unseren Fliegern wissen, werden Geräusche auf der Erde noch in überraschender Höhe sehr deutlich wahrgenommen. Die Küstenwanderer z. B. werden sicherlich das Rauschen der Brandung hören, können sich also sehr gut danach richten, weiter kommt noch hinzu, daß ein so luftempfindliches Geschöpf wie der Vogel gewiß auch den Unterschied merken wird, der zwischen dem Feuchtigkeitsgehalt der über großen Wasserflächen und der über dem Binnenlande stehenden Luftsäulen vorhanden ist. Der Vogel wird also immer wissen, ob er über den Wassern oder über dem Lande oder über der Grenzscheide beider schwebt, und selbst beim Überfliegen der Kontinente wird ihm das Vorhandensein von Strömen und großen Flüssen, von Teichen und Seen, von Sümpfen und Morästen zum Bewußtsein kommen.


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