Gustav Theodor Fechner
Vorschule der Ästhetik Teil 1
Gustav Theodor Fechner

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I. Die Ästhetik von Oben und von Unten.

Die doppelte Weise, wie sich die menschliche Erkenntnis zu begründen und zu entwickeln strebt, macht sich auch in der Ästhetik, der Lehre vom Gefallen und Mißfallen oder nach Andern der Lehre vom Schönen, geltend. Man behandelt sie nach einem kurzen Ausdrucke von Oben herab, indem man von allgemeinsten Ideen und Begriffen ausgehend zum Einzelnen absteigt, von Unten herauf, indem man vom Einzelnen zum Allgemeinen aufsteigt. Dort ordnet man das ästhetische Erfahrungsgebiet einem, von obersten Gesichtspunkten aus konstruierten, ideellen Rahmen nur ein und unter; hier baut man die ganze Ästhetik auf Grund ästhetischer Tatsachen und Gesetze von Unten an auf. Dort handelt es sich in erster und zugleich höchster Instanz um die Ideen und Begriffe der Schönheit, der Kunst, des Stils, um ihre Stellung im System allgemeinster Begriffe, insbesondre ihre Beziehung zum Wahren und Guten; und gern steigt man damit bis zum Absoluten, zum Göttlichen, den göttlichen Ideen und der göttlichen Schöpfertätigkeit hinauf. Aus der reinen Höhe solcher Allgemeinheiten steigt man dann in das irdisch-empirische Gebiet des einzelnen, des zeitlich und örtlich Schönen herab, und mißt alles Einzelne am Maßstabe des Allgemeinen. Hier geht man von Erfahrungen über das, was gefällt und mißfällt, aus, stützt hierauf alle Begriffe und Gesetze, die in der Ästhetik Platz zu greifen haben, sucht sie unter Mitrücksicht auf die allgemeinen Gesetze des Sollens, denen die des Gefallens immer untergeordnet bleiben müssen, mehr und mehr zu verallgemeinern und dadurch zu einem System möglichst allgemeinster Begriffe und Gesetze zu gelangen.

Beide Behandlungsweisen lassen sich auch wohl als philosophische und empirische unterscheiden. An sich stehen sie nicht in Widerspruch mit einander, insofern eine richtige und vollendete Erkenntnis der obersten Prinzipien des Seins, der göttlichen und menschlichen Dinge, auch die Prinzipien einer richtigen Betrachtung der ästhetischen Verhältnisse einschließen muß, gegenseits eine richtige Verallgemeinerung der erfahrungsmäßigen Tatsachen und Gesetze des ästhetischen Gebietes in diese Erkenntnisse hineintreten muß. Beide durchmessen dasselbe Gebiet nur in entgegengesetzter Richtung; und überall ergänzt sich die Möglichkeit der Bewegung in einer Richtung durch eine solche in entgegengesetzter Richtung. Es haben aber beide Wege ihre besondern Vorteile, Schwierigkeiten und Gefahren.

Der erste Weg stellt uns so zu sagen von vorn herein an das Ziel, dem man auf dem zweiten erst zustreben muß, gewährt von da aus den allgemeinsten Blick, die höchsten Gesichtspunkte; aber man gelangt auf ihm schwer zu einer klaren Orientierung über die Gründe des Gefallens und Mißfallens im Einzelnen, um die es uns doch auch zu tun sein muß; es bleibt mehr oder weniger bei unbestimmt schwebenden, in ihrer Allgemeinheit das Einzelne nicht leicht scharf treffenden Begriffen. Dazu setzt dieser Weg, um richtig zu führen, einen richtigen Ausgang voraus, den man im Grunde nur in einem vollkommenen philosophischen und selbst theologischen Systeme finden kann, was wir beides noch nicht haben. Nur viele Versuche derselben haben wir, und so haben wir auch viele Versuche, die Ästhetik damit in Beziehung zu setzen, die alle noch viel zu wünschen übrig lassen, aber doch dem Bedürfnis allgemeinster und höchster Gesichtspunkte entgegenkommen, und, wenn sie dasselbe nicht vollständig befriedigen, doch beschäftigen und wach erhalten. Auch haben sich diese Nachteile wie Vorteile in allen sehr zahlreichen Darstellungen der Ästhetik und Behandlungsweisen ästhetischer Fragen, welche in Abhängigkeit von Schelling, Hegel und selbst von Kant, die Richtung von Oben bisher eingeschlagen haben, mehr oder weniger fühlbar gemacht.

Der andere Weg hingegen, der Weg von Unten, gewährt oder verspricht wenigstens unmittelbar eine klare Orientierung nicht nur im Felde der Begriffe, welchen sich das Gebiet des Gefallens und Mißfallens unterordnet, sondern auch über die Gründe des Gefallens und Mißfallens im Einzelnen und Nächsten; aber man gelangt auf ihm schwer zu allgemeinsten Gesichtspunkten und Ideen, bleibt leicht in Einzelheiten, Einseitigkeiten, Gesichtspunkten von untergeordnetem Wert und untergeordneter Tragweite befangen, wie sich dies namentlich bei den Engländern (als wie Hutcheson. Hogarth, Burke, Hay u. A.) zeigt, welche vorzugsweise den Weg von Unten eingeschlagen haben.

Nach Vorstehendem werden überhaupt die Versuche, die seither mit Behandlung der Ästhetik im ersten Sinne gemacht sind, mehr den befriedigen können, welcher sein Hauptinteresse in der Unterordnung der Dinge unter allgemeinste Begriffe oder Ideen sucht, und in irgendwelcher Gestaltung derselben Befriedigung findet, ohne die Ansprüche an Klarheit und Sachlichkeit höher zu stellen, als ihnen nun eben genügt ist; indes ein Versuch, die Ästhetik im zweiten Wege zu behandeln, mehr den zu befriedigen im Stande ist, dem es vor Allem auf eine leichte und klare Orientierung im Nächstliegenden ankommt, und der seinerseits keine größere Höhe und Allgemeinheit beansprucht, als bis zu der nun eben angestiegen ist. Im Allgemeinen kann man sagen, daß an eine Ästhetik von Oben sich von vorn herein höhere Ansprüche stellen, indes die Ästhetik von Unten die niedrigeren, die an sie zu stellen, leichter befriedigt.

Soll nun überhaupt einmal eine Ästhetik von Oben zu Stande kommen, welche das recht leistet, was durch die bisherigen Versuche derselben vielmehr angestrebt als erreicht worden ist, so wird meines Erachtens zu den höchsten und letzten Prinzipien, von denen auszugehen, selbst erst mittelst vorsichtigen langsamen Aufsteigens nicht nur durch das ästhetische Gebiet, sondern alle Einzelgebiete menschlicher Erkenntnis unter Mitrücksicht. auf praktische Forderungen gelangt sein müssen. Von da wird sich dann allerdings wieder zu den einzelnen Erkenntniszweigen und durch sie hindurch absteigen lassen, wobei nicht nur jeder Erkenntniskreis von selbst in Abhängigkeit von höheren Gesichtspunkten treten wird, als die sind, zu welchen im bloß aufsteigenden Wege durch ihn allein hatte gelangt werden können; sondern auch sein Inhalt durch den Zusammenhang mit anderen Erkenntniszweigen noch in anderer Weise wird motiviert und erläutert erscheinen, als auf dem aufsteigenden Wege ins Licht treten kann. Eine solche Ästhetik aus höherem Gesichtspunkte bleibt aber eine Sache der Zukunft, und die bisherigen Versuche derselben sind vielmehr geeignet, die an sich gerechtfertigte Aufgabe derselben zu bezeichnen und präsent zu erhalten, als zu erfüllen.

Es wird also zwar in demselben Sinne eine philosophische Ästhetik höheren Stils über der empirischen geben können, wie es eine Naturphilosophie über der Physik und Physiologie geben kann, wenn schon noch nicht gibt. Aber wie die rechte Naturphilosophie, auf die zu hoffen, diese Lehren nicht wird ersetzen oder aus einem aprioristischen Grunde herausgebären können, vielmehr derselben zur Voraussetzung und Unterlage bedürfen wird, ohne sich selbst in ihre Spezialitäten zu verlieren, so steht es mit dem Verhältnis der philosophischen Ästhetik höheren Stils zur empirischen. Nun aber fehlt es leider noch gar zu sehr an der empirischen Unterlage; und so scheinen mir alle unsre Systeme philosophischer Ästhetik Riesen mit tönernen Füßen.

Man sieht hieraus wohl, daß ich eine Ästhetik von Unten selbst zu den wesentlichsten Vorbedingungen der Aufstellung einer Ästhetik von Oben rechne; und da ich, bei der bisher unzulänglichen Erfüllung dieser wie anderer Vorbedingungen dazu, den Weg von Oben eben so wenig klar, sicher und erfolgreich einzuschlagen vermöchte, als ich ihn bisher eingeschlagen finde, so werde ich vielmehr durch strenge Einhaltung und Verfolgung des Weges von Unten ein Scherflein zu dieser Erfüllung beizutragen suchen, womit ich zum Voraus alle wesentlichen Vorteile desselben in Anspruch nehme, ohne den, in dessen Wesen liegenden, Nachteilen entgehen zu können. Den bloßen Gefahren desselben zu entgehen, darauf soll wenigstens das Streben gerichtet sein.

Wohl kann man fragen, ob sich nicht die Vorzüge und Vorteile beider Wege dadurch vereinigen lassen, daß man den Gang von Unten mit Ideen von Oben beleuchtet oder nach Prinzipien von Oben richtet. Das klingt allerdings schön, und wirklich wird der Weg von Unten neuerdings mehrfach so begangen, oder der Weg von Oben selbst in diesem Sinne verstanden. Nun werden die allgemeinsten Formalprinzipien des Denkens und Forschens der Ästhetik von Unten wie von Oben mit allen Gebieten der Forschung gemein bleiben; im Übrigen aber möchte es auch hier mit der Ästhetik wie mit der Physik sein, die bisher noch durch jedes Licht, wodurch die Naturphilosophie sie zu klaren und zu führen versucht hat, verwirrt und geirrt worden ist. Wer Licht erst sucht, und der Weg von Unten ist ein Weg solchen Suchens, kann diesen Weg nicht mit schon fertigem Lichte beleuchten wollen.

Als wesentliche Aufgaben einer allgemeinen Ästhetik sind meines Erachtens überhaupt zu bezeichnen: Klarstellung der Begriffe, welchen sich die ästhetischen Tatsachen und Verhältnisse unterordnen, und Feststellung der Gesetze, welchen sie gehorchen, wovon die Kunstlehre die wichtigsten Anwendungen enthält. Die Behandlungsweisen der Ästhetik von Oben aber haben vorzugsweise nur die erste Aufgabe vor Augen gehabt, indem sie die Erklärung der ästhetischen Tatsachen aus Gesetzen durch eine solche aus Begriffen oder Ideen zu ersetzen statt zu ergänzen suchen.

In der Tat sieht man die meisten unserer Lehrbücher und allgemeinen Abhandlungen über Ästhetik an, — die meisten aber verfolgen den Weg von Oben, — so bilden Erörterungen und Streitigkeiten über die richtige Begriffsbestimmung der Schönheit, Erhabenheit, Häßlichkeit, des Angenehmen, Anmutigen, Komischen, Tragischen, Lächerlichen, des Humors, des Stils, der Manier, der Kunst, der Kunstschönheit und Naturschönheit, Unterordnungen des Einzelnen unter diese Begriffe, Einteilungen des gesamten ästhetischen Gebietes aus dem Gesichtspunkte derselben, den Hauptinhalt der Darstellung. Aber damit erschöpft man doch nicht die Aufgabe der Ästhetik. Denn bei Allem, was uns ästhetisch angeht, wird die Frage nicht bloß die sein: welchem Begriffe ordnet es sich unter, an welchen Platz stellt es sich im System unserer Begriffe — man hat das allerdings zu fragen, es gehört zur klaren Orientierung in unserem Erkenntnisgebiete; — aber die am meisten interessierende und wichtigste Frage wird doch immer die bleiben: warum gefällt oder mißfällt es, und wiefern hat es Recht zu gefallen oder zu mißfallen; und hierauf läßt sich nur mit Gesetzen des Gefallens und Mißfallens unter Zuziehung der Gesetze des Sollens antworten, wie sich auf die Frage: warum bewegt sich ein Körper so und so und wozu haben wir ihn zu bewegen, nicht mit dem Begriff und einer Einteilung der verschiedenen Bewegungsweisen, sondern nur mit Gesetzen der Bewegung und Betrachtung der Zwecke, worauf sie zu richten, antworten läßt. Und solange sich die begrifflichen Erklärungen der Ästhetik nicht mit einer Erklärung durch Gesetze erfüllt haben, bleiben sie ein hohler Rahmen.

Auch in der Weise der Begriffsbestimmungen selbst aber unterscheidet sich der Weg von Oben von dem hier einzuschlagenden Wege von Unten. In letzterem Wege kommt die begriffliche Bestimmung bloß darauf zurück, den Sprachgebrauch festzustellen, und, wo er schwankt, sich über Wahl und Weite desselben zu erklären, so daß man wisse, um was es sich bei der sachlichen Untersuchung handelt, ohne aber in der Begriffsbestimmung das Resultat solcher Untersuchung vorwegzunehmen oder in Wesensbestimmungen vorweg einzugehen, womit es leicht ist, Klarheit und Allgemeinverständlichkeit zu erzielen; indes der Weg von Oben die Wesensfrage gleich aus dem Begriffe und im Begriffe zu beantworten sucht, hiermit aber die Schwierigkeit einer klaren Feststellung der obersten Begriffe auf alle abgeleiteten Begriffe überträgt.

Unter den Deutschen hat die Bearbeitung der Ästhetik im Wege von Oben in Abhängigkeit von Kant, Schelling, Hegel weit das Übergewicht über die Bearbeitung von Unten erhalten und bis jetzt noch behalten. Mit den Einflüssen jener Philosophen aber fangen neuerdings mehr und mehr solche von Herbart, Schopenhauer, Hartmann an sich zu mischen; andrerseits aber doch auch die Ästhetik, sei es noch unter philosophischem Einflusse oder in mehr selbstständiger Richtung und Entwickelung auf den Weg von Unten mit einzulenken (Hartsen, Kirchmann, Köstlin, Lotze, Oersted, Zimmermann); und ist dies schon teils nicht in so reiner Durchführung, als ich bei voriger Charakteristik im Auge hatte, teils nur in beschränkter Ausführung geschehen, so kann man doch nicht mehr sagen, daß dieser Weg bei uns überhaupt verlassen sei. Dazu kommen dann noch schätzbare empirische Untersuchungen der Neuzeit in ästhetischen Spezialgebieten als von Brücke, Helmholtz, Oettingen u. a.Zeising, obwohl in der Hauptsache der Richtung von Oben huldigend, kann dabei insofern nicht vergessen werden, als er die philosophische Begründung des goldnen Schnitts durch eine empirische zu ergänzen und zu unterstützen gesucht hat.; endlich kunstkritische Betrachtungen in Fülle, die sich mehr oder weniger nach einer oder der andern Seite neigen, auf was Alles jedoch ausführlicher einzugehen hier nicht die Absicht, und nach historischen Hauptbeziehungen auf die Geschichtsdarstellungen der Ästhetik von Lotze und von Zimmermann zu verweisen ist.


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