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Drittes Kapitel.

Tito war nicht ungeduldig gewesen; er hatte versprochen zu warten, bis das junge Mädchen sich entschiede, der Kleinen eine Mutter zu werden; er aber hatte sofort angefangen, der Vater zu sein.

»Wir wollen sie mutig weiter lieben,« hatte Sofia gesagt, und der junge Mann ging und verkündete inmitten der Familie der Künstler die frohe Neuigkeit, daß er ein kleines sechsjähriges Mädchen, schön wie ein Engel, in sein Haus ausgenommen habe und sie mit der Zeit zu adoptieren gedenke. Keiner dieser munteren Köpfe war über die Nachricht erstaunt. Es waren alles Leute, welche in der Liebe zur schönen Form aufgingen und an das übrige wenig dachten; es geschah nicht selten – im Gegenteil – daß die Mildthätigkeit inmitten ihrer beschränkten Mittel blühte. Auch wunderte man sich deshalb nicht mehr, weil die Neuigkeit von der kleinen Lahmen, welche in das Bondische Haus geschneit war, sich schon weit verbreitet und natürlich auch die Familie der Künstler erreicht hatte. Nur verschwieg Tito den Namen der Mutter dieser verwaisten Kleinen.

Vater und Sohn waren einig darin, daß man Sofia nicht zu sehr drängen müsse; war das Warten auch eine Pein – das gute Wesen mußte sein »Ja« mit vollem Bewußtsein, in voller Freiheit geben; und inzwischen durfte keiner auch nur ein Wort darüber fallen lassen.

Tito, der seiner gewiß war, hatte doch keinen großen Glauben an die Geduld des Alten; und vom ersten Tage an bemerkte er, daß der Blinde, mit der Kleinen auf dem Schoß und anscheinend nur mit ihr beschäftigt, sobald Sofia vorbeiging oder ein Wort sprach, ihr den Kopf zuwendete und mitten in einer Liebkosung innehielt.

Sprach dann die Tante eine Weile leise mit dem Großvater, so war Tito sehr besorgt, dem Vater möchte ein anklopfendes Wörtchen entschlüpfen. Und kaum waren sie allein, sogleich fragte er: »Was hast du ihr gesagt?«

Das ging so am ersten Tage; aber am zweiten kam seine Gemütsruhe ins Schwanken, und als sie am dritten das junge Mädchen immer ernster und schweigsamer fanden, da kamen beide überein, der Zustand sei nicht mehr zu ertragen.

»Ich werde frei heraus zu ihr sprechen, und sollte ich auch eine Dummheit damit begehen. Ach, wenn meine Augen sich noch einmal wieder öffneten! Aber du, der du sehen kannst, vermagst du ihr denn nicht ordentlich ins Gesicht zu schauen, um mir zu sagen, ob ich sprechen darf? – Wer weiß, ob sie nicht bloß darauf wartet, daß man sie fragt.«

Tito blickte sie lange und oft an, ja immer, wenn er es unbemerkt thun konnte, aber er las aus dem Gesichte des Mädchens nur, daß man Gefahr liefe, die Katastrophe zu beschleunigen, wenn man spräche.

Es waren qualvolle Tage für alle, weil auch Sofias Ausdruck von einem lebhaften inneren Kampfe zeugte.

Hätte nicht die Kleine bei Tische das Gespräch ein wenig im Gange erhalten, so würde man schweigend gespeist haben. Der Abend, den man bisher in heiterem Geplauder verbrachte, wurde jetzt in schweigender Uebereinstimmung ganz der Musik gewidmet; und oft, oft sprach die Sonata appassionata zu Mattia und Tito von der Pein einer Seele, welche mit einem Gedanken ringt; bis eines Abends Bianca, die immer aufmerksam zusah, wie die Hände der Tante es machten, um den Tasten des Instrumentes so schöne Musik zu entlocken, ihre Augen zu Sofias gedankenvollem Gesicht aufschlug, darauf zum Großvater lief und ihm ganz leise sagte: »Sie weint.«

Mattia erhob sich sogleich und trat neben die Spielende. Inzwischen hatte die Kleine dem Papa ihre Entdeckung wiederholt, und Tito nahm ohne weitere Ueberlegung Bianca auf den Arm und ging mit ihr ins Nebenzimmer.

Der Greis und das junge Mädchen blieben allein im Salon zurück.

Sofia hatte bemerkt, daß der Blinde neben ihr stand, daß Tito sich mit dem Kinde entfernte; sie spielte jene klagende Musik weiter bis zur letzten Note. Als sie geendet hatte, legte der Blinde die Hände auf ihre Schultern.

»Genug jetzt; kommen Sie mit mir, Sie sollen mir etwas sagen.«

Er setzte sich auf das Sofa, und während er die Hände des jungen Mädchens umschlungen und den Kopf zu sich erhoben hielt, als könne er mit seinen erloschenen Augen die unschuldige Seele durchdringen, sprach er mit gedämpfter Stimme, wie um sich recht in ihr Vertrauen zu schmeicheln: »Wollen Sie es mir wohl sagen, warum Sie bei Beethovens Sonate geweint haben?«

Sofia war einen Augenblick verlegen, aber lügen konnte sie nicht.

»Ja, ich will es Ihnen sagen; mir ist sogar, als müßte ich es Ihnen aussprechen, der Sie so gut sind und Nachsicht für mich haben. Ich komme mir undankbar gegen Sie beide vor. Signor Tito hat ein Wort zu mir gesprochen, das mich bis zu ihm erhebt, und dennoch konnte ich mich noch nicht entschließen. Sie werden mich für ein stolzes, albernes Mädchen halten – nicht wahr?«

»Nein, gewiß nicht. Aber mein Sohn, der Sie innig lieb hat, ist betrübt, daß Sie ihn nicht wiederlieben.«

»Ich habe ihn ja so lieb,« bekannte demütig die Aermste; »doch sagen Sie ihm das nicht. Ich muß erst noch weiter darüber Nachdenken – o, sagen Sie auch mir nichts; alles, was Sie mir erwidern könnten, habe ich mir selbst schon oft wiederholt. Aber ich hörte auch auf andre Worte, die in meinem Gewissen laut wurden ...«

»Und die waren – möchten Sie es mir nicht sagen?«

Sofia drückte dem Blinden die Hand.

»Ich werde schon allein damit fertig werden,« entgegnete sie; »mein Gewissen muß mir erst gestatten, so überglücklich zu sein.«

»Sie ist ein seltsames Mädchen,« sagte Mattia zu seinem Sohne, als die Kleine und die Tante sich in ihr Zimmer zurückgezogen hatten; »sie hat Gewissensbedenken, die sie mir vorenthält; übrigens ist es sicher, daß sie dich liebt.«

Tito zweifelte daran.

»Ich sage dir, sie ist dir innig zugethan; ich sage dir, sie liebt dich. Mich dünkt, das sollte dir genügen. Laß uns bis morgen warten; dann ...«

»Dann?«

»Dann wollen wir irgend einen Schritt thun; ich denke, wir werden etwas auffinden, um sie zum Entschluß zu bringen.«

Der folgende Tag verging, ohne andres zu bringen als eine noch tiefere Traurigkeit Sofias und ein Briefchen, welches Bianca der Mama zu schreiben begehrt hatte.

Die Kleine las es vor, ehe es abgeschickt würde. Es lautete:

»Mein schönes Mamachen!

Mir geht es gut hier; alle haben mich lieb, und ich habe sie alle sehr lieb. Du hattest mich das ABC schreiben gelehrt; von Tante Sofia habe ich auch Wörter schreiben gelernt, und dieser erste Brief ist an Dich, mein süßes Mamachen. Jetzt kann ich auch bis hundert zählen, und rückwärts, was sehr schwer ist. Ich erwarte Dich alle Tage, und Du kommst nie. Mein Husten war fort, aber gestern ist er wieder gekommen, nur ganz wenig. Ich schicke Dir viele Küsse und Grüße von Tante Sofia, vom Papa Tito und vom blinden Großpapa. Weißt Du? Er kann gar nichts sehen. Schreibe bald.

Deine kleine
Bianca.«

Dieses Briefchen brachte Mattia eine Aufklärung.

»Hast du das wirklich so hübsch geschrieben?« fragte er und streichelte ihr vergnügtes Gesichtchen.

»Gewiß, ich; aber die Tante hat mir ein bißchen geholfen.«

»Sie wollte immer an die Mama schreiben, und da habe ich ihr beigestanden.«

»Und nun,« setzte das Kind hinzu, »müssen wir es ihr auch gleich hintragen.«

Tito bemächtigte sich des Briefes und steckte ihn gelassen in ein Couvert. Bianca klatschte in die Hände.

»Die Adresse,« sagte er dann, »wird die Tante schreiben; aber wir können den Brief nicht hintragen – denn die Mama ist nicht in Mailand: sie ist fortgereist.«

»Wohin denn?«

»Weit fort; aber der Brief wird sie doch finden, wenn ich die Freimarke daraufgeklebt habe. So. Jetzt wird die Tante ihn adressieren.«

Sofia schrieb den Namen und fragte, ohne aufzublicken, nach dem Orte.

»Schreiben Sie Barcelona.«

Sofia that es.

Die Kleine wollte noch wissen, ob es sehr weit bis zu der Stadt wäre und wann der Brief ankäme; dann entfernte sich Tito, um ihn, wie er sagte, zur Post zu tragen.

Sofia wußte noch nicht, was sie denken solle; nur als der junge Mann zurückkam und sagte, er habe den Brief durch Tomaso in den Kasten werfen lassen, ward ihr klar, daß auch er nicht wußte, wohin Cesira gegangen sei.

Noch an demselben Abend sprach Mattia zu seinem Sohne: »Du begreifst es recht gut, ebenso wie ich; sie fühlt sich nicht sicher, daß Cesira nicht früher oder später zurückkehre und sich von neuem zur Herrin deines Herzens mache. Es war eine teuflische Schlauheit, sich nicht ins Gesicht blicken zu lassen!«

Auch Tito erschien es so. Aber sie täuschten sich beide.

*

Am folgenden Morgen fühlte Sofia das Bedürfnis, ihre ärmliche Wohnung wiederzusehen, ihr Bett, in welchem sie so manchen Traum geträumt, den so schwachen Vater, welcher ihr teuer war, die so starke Schwester, vor der ihr ein wenig bangte. Aber sie fand nur Giuditta daheim.

»Du kommst eben recht; ich fange an, auch an den Spiritismus zu glauben, denn sicherlich hat euer Nero dich geschickt. Also freue dich: ich heirate.«

Nachdem sie diese effektvolle Nachricht so unversehens auf Sofia abgefeuert hatte, ließ sie ihr nicht einmal zum Erstaunen Zeit und erklärte in einem Atem, welche Kunstgriffe sie angewendet hatte, um den alten Wechselmakler zur Erklärung zu bringen.

»Die alten Männer,« versicherte das schlaue Mädchen, »sind alle mehr oder weniger Schwachköpfe; aber mein künftiger Gatte ist doch stärker, als ich glaubte. Es kostete einige Mühe. – Aber laß dich einmal ansehen; du hast ja gar keine frohe Miene. Man möchte glauben, du freuest dich nicht, daß ich mich verheirate. Geh nur, kleine Schleicherin, du bist ja auch auf gutem Wege.«

Und wahrlich, Sofia sah nicht froh aus. Und wie hätte sie heiter sein können, da ihr kindlich einfaches Herz ärger denn je von einem der vielen tückischen Gedanken ihrer schlaflosen Nächte bestürmt wurde? Der war es, daß die Welt sie auch für eine Schleicherin halten würde, die auf ein gutes Geschäft ausging. Ihr war, als höre sie schon hinter ihren Schritten die Reden: Jene andre hatte wenigstens ihre Schönheit, diese aber hat doch auch gar nichts.

Giuditta glaubte nicht, daß einer aus ihrer Familie anders als zufrieden mit dem ihr zu teil gewordenen Glück sein könne, und so wie Sofia nur fragte: »Es ist also eine ausgemachte Sache?« antwortete sie vergnügt: »Mehr als ausgemacht! Mein Alter hat keine Zeit zu verlieren; das Aufgebot wird nächstens stattfinden, dann halten wir schnell Hochzeit. Uebrigens sage ich nur so: ›mein Alter‹, er zählt noch nicht fünfzig Jahre. Wenigstens versichert er es mir; der Aermste fürchtet, es könne mir leid werden, ihn zu nehmen, wenn er volle fünfzig wäre.«

Dieser Cynismus war so unbefangen, daß selbst Sofia mitlachte.

»Nun laß uns von deiner Angelegenheit sprechen, denn, siehst du, ich habe fortwährend daran gedacht. Rede, rede.«

»Aber ich habe nichts zu sagen.«

»Du heuchelst ein wenig, nimm's nicht übel – als ob ich nicht alles wüßte –«

»Und was weißt du?«

»Ich weiß, daß der Signor Tito sterblich in dich verliebt ist, und daß es nur noch an deinem Entschluß fehlt – o bitte, mache nur kein solch betrübtes Gesicht, denn es ist vergebens – ich weiß es vom Papa; dem Papa hat es dein Verehrer selbst gesagt, als er es eines Tages nicht mehr unterdrücken konnte. Papa wollte dir sogleich den Kopf zurechtsetzen, aber dein Signor Tito bat ihn, noch nicht mit dir darüber zu sprechen. Und wirklich, um kein Wort gegen dich fallen zu lassen, besucht dich der Vater seit fünf Tagen nicht. Jeden Morgen sagte er: ›Entscheidet sie sich heute nicht, so gehe ich morgen und sage ihr meine Meinung‹«.

»Darf ich hineinkommen?« unterbrach eine bescheidene Stimme hinter der Thür.

»O Tonio! Was verschafft uns das Vergnügen?«

»Papa Salvi ist mir auf der Straße begegnet und hat mir die frohe Neuigkeit mitgeteilt,« sprach der junge Mann in leichtem Tone; »ich bringe dir meinen besten Glückwunsch.«

»Schönen Dank,« antwortete Giuditta; »ich nehme ihn gern an, denn ich weiß, daß du mir immer zugethan warst und daß du aufrichtig bist. Hast du meinen Zukünftigen schon gesehen? Nein? – Schön ist er nicht, nicht einmal jung, aber man kann nicht alles haben, was man möchte.«

»Was liegt an der Schönheit? Die Schönheit kann einem den Kopf verdrehen, aber glücklich macht sie nicht.«

Dieser Ausspruch war schon halb über Tonios Lippen, als er empfand, daß er seine alte Liebe verletzen könne; dennoch brachte er ihn, nicht ganz ohne Selbstgefälligkeit, zu Ende.

Giuditta verstand sehr gut, und ohne des Vetters Gleichgültigkeit übelzunehmen, drückte sie ihm die Hand und sagte: »Ich freue mich recht, daß du so sprichst.«

»Und du, Sofia, wie geht es dir?« fragte der junge Mann.

Sofia ging es gut: aber sie hatte schon zu lange verweilt, und der Blinde erwartete sie.

»Spielst du auch vormittags?« fragte Giuditta.

Sofia antwortete nicht. Was die Schwester ihr gesagt hatte, lag ihr im Sinn und beunruhigte sie, ebenso daß Tonio, und gerade in diesem Augenblick inneren Kampfes, dazwischen getreten war: sie konnte es nicht erwarten, hinaus zu kommen und den Widerstreit mit ihrem Gewissen auszufechten.

»Du gehst wirklich schon?«

»Ja, ich muß gehen; leb wohl, Giuditta, leb wohl, Tonio.«

»Ich gehe auch,« sagte der Vetter.

Während das junge Mädchen die langen Treppen hinabstieg, fand sie mehrmals den Mut, sich selbst, die Zukunft, Tito, alles zu opfern und zu ihrem Gewissensbedenken und zur Welt zu sprechen: »Schweigt alle, jetzt seid ihr doch zufriedengestellt!« Und wiederum mehrmals fand sie den kühnen Gedanken, Tito, den Papa und sich selbst glücklich zu machen und freudig ihrer eignen Bedenken und des bösen Geredes der Leute zu spotten.

Tonio ging schweigend hinter ihr hinab.

»Wohin gehst du?« fragte Sofia ihn.

»Ich begleite dich, wenn es dir nicht lästig ist; es ist lange her, daß wir diesen Weg miteinander gemacht haben.«

Sie gingen weiter.

Nachdem Tonio eine ganze Strecke entlang geschwiegen hatte, begann er langsam und mit einer tiefen, zum Herzen dringenden Stimme: »Bist du noch nie inne geworden, daß ich ein Dummkopf bin? Daß ich dazu bestimmt scheine, immer zu spät für mein Glück zu kommen? Nein? Du hast das niemals wahrgenommen?«

»Ich verstehe dich nicht,« entgegnete Sofia unsicher.

»Fast verstehe ich mich selbst nicht. Ich begreife nicht, warum ich so lange damit gewartet habe, dir meine Gedanken auszusprechen, und das Bedürfnis, sie dir mitzuteilen, jetzt fühle, wo es zu nichts nutzen kann.«

Und da Sofia nicht fragte: »Welche Gedanken?« fuhr Tonio fort: »Ich weiß, daß der Signor Tito dich lieb hat und daß du es erwiderst: weiß, daß ihr glücklich sein werdet und daß niemand sich darüber so aufrichtig freuen wird wie ich. Denn auch ich bin dir gut gewesen, bin es noch und fühle, daß ich es immer sein werde. Ich möchte sagen, daß ich dich stets geliebt habe, ohne es zu wissen, während mich dünkte, ich könne nicht ohne Giuditta leben; aber mit Recht würdest du mich auslachen«.

Sofia sah den Vetter mit ihren guten Augen an, aus denen so viel Nachsicht und so viel Milde sprach.

Sie gingen noch ein Weilchen schweigend dahin; Sofia suchte nach einer Antwort für Tonio, um ihn nicht zu betrüben, um ihn zu trösten, und auch um nachher weder ihre eignen Worte noch ihr Schweigen zu bereuen. Sie wählte den Ausweg, die Wahrheit zu sagen.

»Ja, es ist wahr; Signor Tito hat mir gesagt, daß er mir gut ist, und auch ich habe ihn lieb. Aber noch habe ich seinen Antrag nicht angenommen.«

»Du wirst ihn annehmen,« sagte Tonio traurig; »du mußt es, wenn du seine Neigung erwiderst.«

Sofia schüttelte den Kopf.

»Du weißt nicht ... An meiner Stelle würdest du wie ich handeln; dessen bin ich so gewiß, wie ich sicher bin, daß du der großmütigste und aufrichtigste Mensch bist.«

»Ist das möglich? ... Ist's möglich?« ... unterbrach Tonio sie, und seine Stimme zitterte.

»So möglich,« antwortete Sofia mit trübem Tone, »wie daß ich nicht mehr an Glück glaube – ich spreche nicht von dir; daß du glücklich werden wirst, bin ich überzeugt – und du verdienst es – aber ich glaube nicht an mein Glück.«

Sie hatten die Hausthür der Bondi erreicht.

»Aber – wenn – im Fall du lehntest ab – dann?«

»Dann würde ich unverheiratet bleiben.«

Bei diesen Worten blickte sie ihren Vetter ruhig an, der ihre dargebotene Hand nahm und sie ein Weilchen schweigend festhielt.

»Ein Mädchen, das jemand beglücken kann, ist verpflichtet, es zu thun. Mache dir kein Bedenken daraus, glücklich zu werden.«

Beide lächelten wehmütig.

»Lebe wohl!«

»Lebe wohl!«

Sofia verweilte auf der Treppe, um ihre Thränen zu trocknen.

Tonio ging rüstigen Schrittes seiner Schule zu. Er ging erhobenen Hauptes dahin, wie ein Eroberer, nicht ein Muskel zuckte in seinem schwermütigen Gesicht; nur ein paar Thränen waren ihm auf die Backen gerollt, und er achtete nicht einmal darauf. Aber wohl beachteten es die Leute, welche ihn mit so vermessenem Ausdruck und mit thränenbenetztem Gesicht einherschreiten sahen.

*

»Was gibt's?« fragte Sofia den Diener.

»Ihr Herr Vater ist da, er wartet schon ein Weilchen im Salon.«

In der That schritt Papa Salvi darin auf und ab. Seine Tochter hielt ihn an.

»Du bist hier allein?«

»Ich war nicht immer allein; deine Bianca hat mir viel vorgeplaudert; auch Signor Tito war einen Augenblick hier, mußte aber in Geschäften ausgehen.«

»Und unser lieber Blinder?«

»Vor kurzem kam auch er und sagte, du habest mich aufsuchen wollen; da schien es mir am besten, dich zu erwarten.«

Papa Salvi wählte seine Worte.

Sofia begriff, daß die Stunde gekommen war, um offen zu reden; sie nahm in einem Sessel Platz und sprach mit Ergebung: »Du willst mir etwas sagen – sprich nur.«

Die ganze Zeit über, welche Papa Salvi auf und ab gehend zugebracht, hatte er sich verschiedene rednerische Künste zurechtgelegt, die ihm zu dem Herzen seiner Tochter Eingang verschaffen sollten; auch zwei oder drei kleine Szenen sich ausgedacht, in denen er Sofias Worte so gut voraussah, daß er sie selber gesprochen und sich selbst siegreich beantwortet hatte; – aber seine ganze Strategie wurde durch diesen ersten unvorhergesehenen Schachzug zunichte gemacht.

Da er nicht wußte, was antworten, trat er hinter den Sessel des Mädchens und streichelte ihr die Stirn, das Haar, das traurige Gesichtchen.

»Ich habe dir nichts zu sagen,« sprach er dann einschmeichelnd; »du hingegen müßtest allerhand mit deinem Vater zu reden haben.«

Sofia dachte einen Augenblick über diese Worte nach, dann erhob sie den Kopf, um dem Blick des Alten zu begegnen.

»Vielleicht hatte ich unrecht, gegen dich zu schweigen, aber ich that es, weil ich deine Ruhe nicht stören, weil ich allein kämpfen wollte, bis ich endlich überwunden hätte.«

»Und hast du überwunden?«

»Noch nicht,« sprach Sofia demütig, »ich hänge noch zu sehr am Glück.«

Auf diese verzagten Worte beging Papa Salvi den dummen Streich, die eingenommene vorteilhafte Stellung aufzugeben, um sich seiner Tochter gegenüber zu setzen, gerade unter ihren gutherzigen und traurigen, aber entschlossenen Blick. Indem er sich nach einem Stuhle umsah, fiel ihm ein niedriges Sitzbänkchen ins Auge, das er unbedenklich nahm. Und als er nun sein wirres Haupthaar von der Hand des jungen Mädchens gestreichelt fühlte, wuchs ihm der Mut, seine väterliche Meinung auszusprechen. Er sagte langsam: »Ich möchte deinem freien Willen nicht Gewalt anthun, aber ich muß dir sagen, diesmal ist dein Gewissen kein guter Ratgeber. Auch versichere ich dich, nicht das Gewissen ist es, was in dir spricht, sondern eine unbegründete Bedenklichkeit.«

Er ließ dem jungen Mädchen Zeit, über des Vaters Worte nachzudenken, ehe er mit seiner schon vorbereiteten Rede fortfuhr: »Sieh, Tochter, ich nehme es dir keineswegs übel, daß du nicht an die Beruhigung denkst, welche es deinem alten Vater gewähren müßte, euch beide wohlhabend versorgt zu sehen; daß du nicht daran denkst, wie befriedigt ich sterben würde, nachdem ich erst noch ein Weilchen mit meinen Töchtern gelebt, mich über ihren Reichtum gefreut hätte ...«

»Ach, sprich nicht so, liebster Papa,« unterbrach ihn Sofia; »sage es nicht, denn du denkst es nicht, du denkst das Gegenteil.«

»Doch sage ich es, und ich wiederhole es. – Ich hatte mir ausgedacht, eine Woche bei Giuditta zuzubringen und wohl zwei bei dir; Giuditta hätte Nachsicht mit mir, weil ich im Hause meines Schwiegersohnes, des Wechselmaklers, freilich nicht die künstlerische Atmosphäre fände; während im Hause meines Schwiegersohnes, des berühmten Künstlers ...«

»Schweig, Papa, schweig: du thust dir unrecht.«

»Wie das? Ich thue mir unrecht! Warum denn?«

»Weil du dein eignes Ich verleugnest. Du warst immer arm und schämtest dich dessen niemals; dein ganzes Leben hindurch kämpftest du gegen die Armut an durch den Stolz; und nun möchtest du mir vorreden, du wollest auf deine alten Tage durch den Reichtum deiner Töchter eine Tugend zerstören, oder sagen wir nicht Tugend, wenn du willst ...«

»Ja, ja, sagen wir es nur – eine Tugend, eine Tugend.«

»Oder vielmehr eine Kraft, die du so schwer errungen hast. Du kannst nicht ein andrer werden, als du immer gewesen bist; du wirst dem Stolz treu bleiben, der dich durch deine Malerei unbefriedigt gelassen hat, aber ausgefüllt durch deine Liebe zur Kunst. Deine Töchter waren Zeugen der Opfer, die du brachtest, um sie die Schule besuchen und die Musik erlernen zu lassen, und verlangen nicht, daß du dir selber jetzt so untreu werdest, wie du es thust. Wäre Giuditta hier, so könnte auch sie dir sagen, daß wir dir für alles von Herzen dankbar sind.«

Papa Salvis Augen, welche noch immer in die des jungen Mädchens blickten, hatten nicht mehr den festen, lebhaften Ausdruck; plötzlich umdüsterten sie sich, als kehre er den Blick in sein Inneres und gewahre dort etwas, das er zuvor nicht gesehen oder falsch gesehen hatte.

»O, es wird dir jetzt selbst klar, lieber Papa,« fuhr Sofia fort. »Du wolltest mir etwas einreden, das du später bereut hättest. Und du thatest es, weil du dir eingebildet hast, der Reichtum trage sehr viel zu dem Glück eines Mädchens bei und es könne ohne einen Gatten nicht leben.«

»Das glaube ich auch wirklich,« murmelte Papa Salvi.

»Aber das übrige nicht; du gestehst es ein? Nun siehst du! Und ich hatte mir sogar gesagt ...«

»Was hattest du dir gesagt?«

»Daß die reichen Heiraten deiner Töchter dir in den Augen der Welt geschadet haben würden.«

»Warum? – Ach, jetzt verstehe ich. ›Dieser Papa Salvi hat sein Schäfchen zu scheren verstanden – nie hat er ein Gemälde fertig gemacht, aber seinen Töchtern zwei Goldrahmen verschafft. Ein großer Künstler, der Papa Salvi!‹ Das ist's, was die spöttische Welt gesagt hätte, nicht wahr?«

Sofia antwortete nicht; sicherlich, das war es.

»Die Welt schwatzt viel,« suchte Papa Salvi noch zu behaupten; »aber man muß kein Gewicht auf das Gerede der boshaften Leute legen.«

»Das thue ich auch nicht; es war nur ein Gedanke unter vielen; er kam und schwand wieder. Aber andre blieben und einer läßt mir keine Ruhe.«

Der alte Salvi, der sich zum erstenmal seinem eignen Ich gegenübergestellt fand, durchforschte sein Gewissen als Mensch, als Vater, als Künstler; bei den letzten Worten des Mädchens verweilte seine Seele einen Augenblick, um dann das unruhige Suchen von neuem zu beginnen.

»Sage mir, welche Gedanken blieben? Wir wollen deine Gewissensbedenken fest ins Auge fassen,« versicherte Papa Salvi.

Aber die Kühnheit dieser Rede strafte der niedergeschlagene, zerstreute Ausdruck Lügen.

»Sehen wir ihnen denn ins Auge,« sagte Sofia traurig; »mein erstes Bedenken war, daß weil Giuditta einen reichen Gatten gefunden hat, ich nicht gerade das Paar voll machen müsse. – Es war der Stolz, es war dein Stolz, welcher mir im Blut liegt, der so zu mir sprach; doch bei längerem Nachdenken fand ich diesen Einwand unbegründet –«

»Desto besser; die Leute schwatzen gern; wenn sie können, reden sie einem alles mögliche Böse nach; aber im Grunde ist ihnen alles gleichgültig.«

»Dann kam das Bedenken, die Leute möchten dich verleumden –«

»Immer die Leute –«

»Aber um aufrichtig zu sein, es hielt nicht lange Stich. Dann – »

»Dann?« forschte Papa Salvi weiter.

»Dann trat mir Tonio vor die Seele, dem ich so gut gewesen zu sein glaubte, als – er gar nicht an mich dachte, als ich nicht – an einen andern dachte –«

Papa Salvi schwieg; er ließ diesen Gedanken von selbst vorübergehen, bevor er sagte: »Und welcher Zweifel noch?«

»Armer Tonio!« – sprach Sofia leise.

»Und welcher Zweifel noch?« drang Papa Salvi in sie. »Soll ich ihn dir nennen? Du hast gefürchtet und fürchtest noch, daß der Signor Tito ein Stück seines Herzens bei jener unseligen Frau gelassen habe, in die er sich einst verliebte. Du bist nicht recht sicher, daß diese Frau häßlich geworden ist, und dir ist bange, wenn er sie schön wiedersieht, möchte er aufs neue in ihre Netze geraten.«

Das war eine von den vielen Phrasen, welche Papa Salvi sich zurecht gemacht hatte; nur fehlte der ironische Ton, in welchem er sie vorbringen wollte, um seine Rolle gut durchzuführen; er hatte sogar mit der dumpfen Eintönigkeit eines schlechten Anwalts gesprochen, welcher nicht an den Sieg seiner Beredsamkeit glaubt.

»Gestehe die Wahrheit; ist das deine Befürchtung?«

Sofia antwortete nicht, und Papa Salvi fuhr fort: »Nun wohl, so wisse, daß Tito selbst es war, der mich, mich und Mattia Bondi, auf diesen seltsamen Gedanken einer im voraus genährten Eifersucht brachte.«

Sofia schüttelte den Kopf.

»Eifersucht ist nicht das rechte Wort, sagen wir Eigenliebe, Gefühl für Würde der Gattin.«

Kein Wort, wie es schien, drückte so recht den Gedanken aus.

»Sagen wir gar nichts; aber ich kann dir sagen, Tito ist sicher, ganz sicher, daß jene Frau sein Herz für immer verloren hat. Du glaubst es nicht?«

»Ich glaube es.«

»Weil er sich dachte, daß jener Gedanke dich beunruhigen könnte, hat er der verschleierten Frau ins Gesicht zu sehen versucht, in der Hoffnung, sie sei noch immer schön und er könne dir sagen, daß es ihn gleichgültig gelassen habe.«

»Ich weiß,« erwiderte Sofia. »Das hatte ich alles verstanden, ehe er es mir sagte.«

»Nun denn – also?«

»Also begreifst du nichts,« versicherte Sofia.

Papa Salvi durchspähte eilig seine Gedanken, ob er etwas vergessen habe; und da er nichts fand, legte er sich aufs Erraten.

»Die Kleine – Bianca? O, warum nicht gar! Was fällt dir ein, daß sie ein Hindernis deines Glückes sein soll? Oder für Titos Glück? Wenn du das kleine Geschöpfchen lieb hast – und sie verdient es, weil sie ein so gutes Kindchen und dir anhänglich ist – dann müßtest du froh sein, eine Rolle zu übernehmen, die dir ohne Anstrengung gelingen wird: die Rolle der Mutter.«

Sofia sah ihrem Vater fest ins Gesicht und sagte: »Ja, ich möchte wohl Biancas Mutter sein, ich wäre es aus aufrichtiger Zuneigung, ich werde es sein, solange es mir vergönnt ist; aber es ist unmöglich, daß ich mit Vorsatz zwischen die Kleine und ... ihre Eltern trete.«

»Aber was weißt du davon, ob ...?«

»O, sprich nicht so – man liest es in ihrem Gesicht. Und auch wenn ein Zweifel darüber bliebe, das Gewissensbedenken würde seine Stärke behalten, solange eine Möglichkeit vorhanden wäre ...«

»Welche Möglichkeit?«

»Daß diese Frau und Tito, wenn sie sich einst begegnen sollten, das Bedürfnis fühlen, in Gemeinschaft die arme Kleine zu lieben, der sie das Leben gaben. Ich will kein Hindernis sein für die Erfüllung einer Pflicht. Dies kleine Wesen hat ein Anrecht auf den Namen dessen, dem sie ihren Ursprung verdankt. Meinst du nicht auch, lieber Papa?«

Der alte Salvi ließ den grauen Kopf auf die Brust sinken. Nach kurzem Schweigen erhob er sich und küßte seine Tochter auf die Stirn.

»In dir erkenne ich die rechtschaffene Seele deiner guten Mutter wieder.«

Als er den Salon verlassen hatte, suchte er den Blinden und Tito auf und sagte mit demütigem Ausdruck:

»Ich habe kein Glück gehabt, meine Tochter hat mich unverrichteter Sache abziehen lassen.« Und als er das ganze diplomatische Gespräch mitgeteilt hatte, schloß er mit etwas größerem Selbstgefühl: »Mein Mädel bediente sich eben der Waffen, die sie daheim gefunden hat, mit denen meine Dahingeschiedene und ich gekämpft haben.«

Da aber Mattia und Tito andre Dinge im Kopf hatten, als zu erkunden, welche Waffen das gewesen seien, kam dem alten Künstler ein Bedenken, und er brachte aus Bescheidenheit den Satz nicht zu Ende. Sonst würden sie selbigen Tages erfahren haben, daß Papa und Mama Salvi die Schwerter der Gerechtigkeit und des Stolzes geführt hatten – welche Rüstzeuge die Welt, durch den Mißbrauch, den sie damit treibt, zu zwei elenden Stummeln abgenützt hat.

*

Eines Morgens verkündigte Tito dem Blinden und dem Papa Salvi, daß er sich eben auf den Weg mache, um die Anerkennung seiner Tochter ins Werk zu setzen.

»Ich glaube, es wird dazu der Zeugen bedürfen; wollen Sie einer davon sein?«

Ob er es wollte! Papa Salvi thäte nichts lieber; nur bezweifle er, daß die Sache so leicht abzumachen sei; jedenfalls könne man es versuchen; er kannte mehrere beim Standesamt Angestellte, weil er sich dort schon wegen des Aufgebotes seiner Giuditta erkundigt hatte. Er war bereit, mitzugehen, und sie machten sich auf.

Als der Blinde allein war, fiel ihm ein, daß in der Bibliothek ein Buch sein müsse, dessen er sich früher zuweilen bedient hatte, und er ging fort nach der Zimmerthür »seiner« Mädel. »Sofia! Bianca!«

»Ich kann nicht kommen, weil ich Schreibübungen mache,« antwortete die Kleine.

Sofia eilte, ihre Hände in die des alten Herrn zu legen.

»Was wünschen Sie?« fragte das junge Mädchen mit weicher Stimme.

»Sie haben geweint,« antwortete leise der Blinde, »ich höre es; kommen Sie schnell hier in mein Zimmer und sagen Sie mir, weshalb.«

Sofia ließ sich an der Hand führen, und als beide allein waren, gestand sie, daß sie viel geweint habe und es noch oft thun werde, und daß alle Thränen sie nicht zufriedenstellten.

»Und warum?«

»Weil ich eine Undankbare bin; oder wenigstens, weil Sie allen Grund haben, mich dafür zu halten; weil ich vielleicht Verrat an mir selbst übe, während ich recht zu handeln glaube und ein Unrecht gegen andre begehe.«

»Sie begehen gar kein Unrecht, Ihre Gründe sind durchaus gültige; Papa Salvi hat es auch zugegeben, und sogar mein Sohn. Sie gehen soeben beide auf das Municipium; Tito will die Anerkennung seines Kindes aussprechen, um auch dieses Hindernis zu beseitigen.«

»Seine Tochter anerkennen? Und kann er das, ohne? ...«

»Ich weiß nicht, ich verstehe nichts davon. Aber wenn Sie mir helfen mögen, so lassen Sie uns zusammen nachforschen. In der Bibliothek muß sich ein in grünen Maroquin gebundenes Buch befinden; auf dem Rücken steht: Codice Civile del Regno d'Italia. Wollen Sie es mir suchen?«

Von der Trittleiter aus las das junge Mädchen die Titel aller Bücher, welche sie mit den Augen erreichen konnte, während Mattia wartend dabei stand. Das Suchen war erfolglos.

»Und doch muß es da sein,« sagte der Blinde; »es hat mir einmal gedient, um einen Streit zu schlichten, ich erinnere mich dessen noch ganz gut. – Geduld, Tito wird bald zurück sein, und kann er uns noch nicht sagen, daß die Sache abgemacht ist, so wird er uns, denke ich, wenigstens mitteilen, daß sie ausführbar ist. Jetzt setzen Sie sich hier neben mich, lassen Sie mich hören, ob Sie wirklich zufrieden sind.«

»Mit Ihrem Sohne, ja; aber noch nicht in Bezug auf mich; ich möchte, daß jene Frau sich zeigte – dann würde mein Gewissen weniger beunruhigt sein. Ich sehe ein, daß ich eine Thörin bin – haben Sie Nachsicht mit mir.«

Der Blinde hatte Nachsicht mit jeder Schwachheit; er wußte nur zu gut, wie unerbittlich die Gegner jeder menschlichen Glückseligkeit sind, wußte, wieviel Schwäche auch in ein starkes Herz eindringen und ihm heißen Kampf bereiten kann – das alles kannte der alte Mattia und sprach es mit zärtlichen, innigen Worten aus, so, daß er sich zuletzt sagen konnte, er habe den Sieg davongetragen. Tito sagte er es jedoch nicht, als dieser vom Municipium zurückkam, wo seiner großmütigen Ungeduld von einem alten Civilstandsbeamten Zügel angelegt worden waren. Dieser hatte ihm begreiflich gemacht, daß seine Absicht so edel wie möglich sei, sich aber nicht so schnell verwirklichen lasse; es bedürfe einer königlichen Verordnung, um den Civilstandsbeamten zu dem Akt der Anerkennung zu ermächtigen, und um diese Verordnung zu erwirken, müsse man sich an das Appellationsgericht wenden, welches, nachdem es sich versichert habe, daß kein dabei Interessierter sich der Anerkennung widersetze, darüber an das Ministerium berichten würde; dies habe sich dann an den König zu wenden. Kurz, eine Ewigkeit. Und wenn nur keine Hindernisse durch die Beteiligten entstehen ...

»Welche Hindernisse können denn eintreten?«

»Die durch den Artikel 188 vorgesehenen. Du hast den Artikel 188 nie gelesen? Ich aber, und ich weiß ihn auswendig; ›Die Anerkennung kann durch den Sohn oder wer sonst dabei beteiligt ist, angefochten werden.‹ So steht es gedruckt, mir ist's, als sähe ich es vor mir.«

»Du besitzest ein Gesetzbuch?«

»Ich habe es aus deiner Bibliothek entnommen; jetzt liegt es dort auf meinem Betttischchen.«

»Und was sagt es noch?«

»Vielerlei; im wesentlichen, daß Cesira sich der Anerkennung widersetzen kann.«

»Aber sie wird es doch gewiß nicht.«

»Ich denke auch nicht; aber das Gericht wird ihre beglaubigte Einwilligung fordern, und jetzt wissen wir nicht einmal, wohin diese Frau gegangen ist.«

Während er den Sohn in Anklagen gegen das Geschick und das Gesetzbuch sich Luft machen ließ, sah der Blinde ein, daß der Augenblick gekommen war, um den letzten entscheidenden Zug zu thun, und deshalb sagte er zu Tito: »Warte hier auf mich.«

Geradeswegs, als sei ihm sein Pfad erhellt, ging er nach Sofias Zimmerthür und klopfte an.

»Ich komme noch einmal, liebe Tochter, um Sie mit gutem Gewissen zu versichern, daß Sie meinem Tito das sehnlich erwartete Wort aussprechen können; sagen Sie es ihm sogleich, denn er hat es verdient. Aber was gibt's? Was fehlt Bianca?«

»Als sie sich eben noch im Schreiben geübt hatte, wurde ihr unwohl; ich wollte, daß sie sich aufs Bett legte, und jetzt scheint ihr besser zu sein.«

»Ja, mir ist ganz wohl, lieber Großpapa,« stammelte Bianca, fieberhaft zitternd.

Der Blinde befühlte Hände und Stirn der kleinen Kranken, er streichelte ihr das heiße Gesichtchen. »Es ist nichts,« sprach er. Aber indem er vom Bett zurücktrat, sagte er wie zu sich selbst: »Das fehlte noch! Armer Tito! – Tito!« rief er laut.

»Wo ist er?«

»Drüben; ich sagte ihm, er solle mich erwarten.«

»Soll ich gehen?«

»Ja, gehen Sie.«

Das junge Mädchen durcheilte wie verstört den langen Korridor. Sie suchte nach den mildesten Worten, um Biancas Fieberanfall mitzuteilen, und fand nicht eins, das nicht schonungslos gewesen wäre.

»Nun denn,« sprach Tito, indem er auf Sofia zueilend ihre Hände ergriff und ihr tief in die mitleidsvollen Augen blickte.

»Ja, alles, was Sie wollen, alles, was die andern wollen; ich habe keinen Willen mehr.«

»Im Gegenteil, Sie sollen einen haben, den, mich lieb zu gewinnen, denn noch bin ich Ihnen nicht lieb.«

»O, sprechen Sie nicht so.«

»Ich will es nie mehr sagen, aber gedacht habe ich es oft. Also, wir sind einverstanden? – Du wirst es nicht bereuen?«

»Ich hoffe, nein; um zu bereuen, müßte ich den Kampf wieder aufnehmen, und ich habe schon so viel gekämpft. Ich will's nicht länger, das verspreche ich Ihnen. Aber versprechen auch Sie mir, daß, wenn es Ihnen binnen einem Monat leid wird ...«

»Also sind wir einig?« unterbrach Tito sie.

»Wir sind einig, daß, wenn Sie nach einem Monat mich noch wollen, ich Ihre Gattin werde. Einen ganzen Monat lang bleiben wir Freunde wie bisher. Wollen Sie das?«

Titos Antwort war das Wagnis eines Kusses, der auf die Haare des jungen Mädchens traf.

»Kommen Sie jetzt mit mir, um nach Bianca zu sehen, die unwohl ist.«

»Was fehlt ihr?«

»Sie hat ein wenig Fieber, aber es wird nichts von Bedeutung sein.«

»Und der Arzt?«

»Ich habe nach ihm geschickt; er wird gewiß bald kommen, ängstigen Sie sich nicht. Sie sollen sehen, wir machen sie schnell wieder gesund.«

Armer Mattia! Ihm war es versagt, auf dem Gesicht seines Sohnes die von der Besorgnis nur zurückgedrängte Freude zu lesen; er versuchte die Bedeutung des zärtlichen Tones zu erraten, mit welchem Tito zu der kranken Kleinen sprach, aber Sofias Schweigen schien ihm nicht natürlich; um den Zweifel zu lösen, ging er in den anstoßenden Salon und rief von da laut: »Sofia!« Das junge Mädchen eilte zu ihm.

»Liebe Tochter, vorhin sagte ich Ihnen, Sie könnten mit voller Sicherheit das von Tito ersehnte Wort aussprechen, denn schon seit längerer Zeit dachte mein Sohn daran, Bianca als Kind anzuerkennen. Was meinen Sie, wohin das Gesetzbuch gekommen war, das wir vergebens suchten! Ob Sie es wohl erraten?«

»Signor Tito hatte es genommen.«

»Jawohl, er hatte es sich geholt; und nun werden Sie ihm also sagen, wonach er so verlangt?«

Sofia lehnte schweigend den Kopf an die Brust des alten Herrn.

»Du hast es ihm schon gesagt, nicht wahr?« flüsterte Mattia ihr ins Ohr. »Dem Himmel sei Dank! Und nun wollen wir unser Kind wieder gesund machen.«

*

Da standen sie alle zu Füßen des Bettchens, während der Arzt die kleine Kranke sorgfältig untersuchte; man hörte nichts als Biancas schweres Atmen, bis der Arzt das Schweigen unterbrach und, indem er der Kleinen liebkosend über die Stirn strich, »so, jetzt bin ich fertig« zu ihr sagte.

»Nun?« fragte der Blinde.

»Es wird nichts Schlimmes sein, noch liegt nichts Ernstes vor; ich komme heute abend wieder.«

»Mir fehlt gar nichts,« sprach das Kind, vor Fieber zitternd.

»Sehen Sie, Bianca sagt es auch – aber ich komme doch wieder; ist dir's lieb?«

»Kommen Sie nur.«

Tito sagte nichts, unverwandt blickte er auf das kleine Geschöpf, dem er vielleicht das Leben gegeben hatte.

»Komm her, Papa,« befahl die Kleine, und Tito eilte zu ihr, um das fieberheiße Gesichtchen abzuküssen, während der Arzt ein Rezept schrieb.

»Lassen Sie dies sogleich machen, und geben Sie ihr halbstündlich einen Eßlöffel davon.«

Zu Sofia, welche ihn bis an die Thür begleitete, sagte der Arzt ungefragt: »Es ist ein so gebrechlicher kleiner Körper.«

Das junge Mädchen hatte die Kraft, ihn zu fragen, ob Gefahr vorhanden sei.

»Für jetzt nicht; doch es kann auch eine ansteckende Fieberkrankheit sein.«

»Masern?«

»So hoffe ich, aber möglicherweise auch Scharlachfieber, Typhus, Pocken; heute abend wird es sich zeigen.«

»Hoffen wir das Beste,« sprach Sofia gepreßt.

Aber sie hoffte nicht. So stark in ihrer Hingabe an die Idee menschlicher Gerechtigkeit, fühlte sie sich, ach, so schwach, wenn sie an das Verhängnis dachte, worin die Menschen die Gewalt des Zufalls erblicken, das aber gewiß ebenfalls Gerechtigkeit ist, nur verstehen wir sie nicht.

Auch ihr, so viel sie sich bemühte, gelang es nicht, dies grausame Gesetz zu ergründen; sie hatte nur eine unbestimmte Anschauung davon, wenn sie sich sagen zu müssen glaubte: Du bist es, welche ihr das Todesurteil gesprochen hat; ohne den Tod der armen Kleinen zu wollen, sogar von dem Wunsch erfüllt, daß sie leben möchte, um von dir und von ihrem Vater geliebt zu werden, bist du es dennoch, welche die himmlische Gerechtigkeit aufgerufen hat.

Und in der That, wenn das Kind in jene Welt hinüberginge, so wäre alles geebnet; ihr Gewissen würde sie dann nicht länger hindern, in der Verbindung mit Tito eine unbegrenzte Glückseligkeit zu finden.

Sie kehrte an Biancas Bett zurück und verließ sie fast den ganzen Tag über nicht mehr, um stets eine Liebkosung für sie bereit zu haben; nur wenn die Kleine zu einem ruhigen Schlummer die Augen schloß, suchte sie Tito und Mattia auf.

Der junge Mann hatte den Rest des Tages darauf verwendet, nach Cesira zu forschen, ob sie etwa in Mailand geblieben wäre, hatte sich aber überzeugt, daß sie an demselben Abend abgereist war, wo sie ihr Kind übergeben hatte. Wohin war sie gegangen? Zunächst nach Nizza, aber dann? Nach Marseille und vielleicht nach Barcelona. Der Polizeibeamte, an welchen der junge Mann sich wendete, versprach, sich mit der Sache zu beschäftigen, in einigen Tagen solle Tito mehr erfahren. Das war dessen ganze Ausbeute an Nachrichten.

Andre Mitteilungen brachte Papa Salvi; Giudittas Verlobung war veröffentlicht, jeder konnte es auf dem Municipium oder in irgend einer Zeitung lesen. Der Alte vermeldete es mit einer gewissen Zurückhaltung, sogar mit einiger Wehmut, und nur als Sofia sagte: »Ich freue mich Giudittas wegen,« nickte er zustimmend.

Während man den Arzt erwartete, ging Tito in das Zimmer der kleinen Kranken, bald darauf folgte ihm Sofia. Als die beiden alten Künstler allein waren, sagte der Blinde: »Hören Sie, Papa Salvi, jetzt haben wir es höchst dringend, Biancas Mutter zu benachrichtigen, denn Sie müssen wissen, daß ansteckende Fieber leicht tödlich werden. Niemand weiß, wohin die Unglückliche gegangen ist, aber wir wissen, wo sie vor drei Jahren war; in Buenos Ayres, als erste Liebhaberin engagiert. Es muß in Mailand irgend ein Journal geben, das sich mit Schauspielern beschäftigt.«

»Mindestens ein paar solche gibt es,« berichtigte Papa Salvi.

»Meinen Sie nicht, wenn wir nur wüßten, wo sich gegenwärtig die Gesellschaft befindet, zu welcher Cesira gehörte, so wäre schon ein Schritt gethan.«

Papa Salvi begriff sofort alles und wollte nach dem Büreau des Journals gehen.

»Ja, gehen Sie nur,« sagte ihm Mattia.

Als der Blinde in das Zimmer der Kleinen treten wollte, blieb er einen Augenblick auf der Schwelle stehen, weil Bianca laut sprach. Sie schien zu den Anwesenden zu reden.

»Gottes Lohn! Recht gut. Sie sagen, die Eule war eines Bäckers Tochter. Ach Herr, wir wissen wohl, was wir sind, aber nicht, was wir werden können. Gott segne euch die Mahlzeit!«

»Bravo, mein Töchterchen!« rief Mattia vergnügt aus. »Also geht dir's gut, nicht wahr? Aber was sagst du denn da Schönes her?«

Tito trat vom Bett zurück und legte seine Hand in die des Blinden, während die kleine Kranke fortfuhr: »Ich hoffe, alles wird gut gehen. Wir müssen geduldig sein; aber ich kann nicht umhin, zu weinen, wenn ich denke, daß sie ihn in den kalten Boden gelegt haben.«

»Was spricht sie?« forschte der Blinde halblaut.

Nun antwortete Tito: »Sie redet im Fieber, ein paar Sätze aus einer Rolle ihrer Mutter sind ihr im Gedächtnis geblieben.«

Sofia sagte nichts, sie erneuerte beständig die Eisumschläge auf des Kindes Stirn; zuweilen, wenn Bianca die frische Kühlung fühlte, blickten ihre Augen in die der Pflegerin, das junge Mädchen lächelte sie liebevoll an, und aus diesem Lächeln strahlte noch Zuversicht, während ihr Gedanke nur den Schmerz zu ermessen vermochte, welcher sich für dieses Haus vorbereitete.

Der angstvoll erwartete Arzt kam inzwischen. Schon das glühende Gesicht der Kleinen ließ ihn erkennen, daß die Sache sogar ernster war, als er geglaubt hatte, und das noch nicht unzusammenhängende, aber vom heftigen Fieber eingegebene Faseln des Kindes machte es ihm klar, daß wenig Hoffnung blieb. Jedoch war er vorsichtig und ließ seine Gedanken nicht laut werden.

»Hat die Kleine vielleicht mit unbedecktem Kopfe in der Sonne gestanden?«

»Nein, weder heute noch jemals; wir gingen täglich miteinander in den Garten, aber das Kind blieb nie lange auf einem Fleck.«

Die Antwort schien den Arzt zu befriedigen, denn er fragte nicht weiter.

Bevor er ging, empfahl er dringend an, ihr die ganze Nacht hindurch Eis auf den Kopf zu legen. »Es muß jemand bei ihr wachen.«

»Ich werde wachen,« versprach Sofia.

Sobald sie allein waren, schmiegte das junge Mädchen sich mit warmer Zärtlichkeit an den Blinden. »Sie sollen sehen, ihr werdet sehen, daß wir sie durchbringen.«

»Ach, möchte der Himmel es wahr machen!«

Neben dem Bett sitzend, suchte Tito dem umherirrenden und ausdruckslosen Blick seines Kindes zu begegnen, das nur mit Mühe die Augen offen hielt. Dann und wann sagte er halblaut zu ihr: »Ist dir besser?«

Und die Kleine antwortete leise: »Jawohl! Sie sagen, die Eule war einst des Müllers Tochter ...«

Spät abends kam Papa Salvi und warf einen Blick in das Krankenzimmer; zu Sofia und Tito sagte er nichts, gab aber Mattia Bondi durch Anstoßen mit dem Ellbogen zu verstehen, daß er ihm etwas mitzuteilen habe und jener ihn in einem andern Zimmer erwarten möge. Mattia ging hinaus und Salvi folgte ihm.

»Es hat mich einige Mühe gekostet, aber es ist mir gelungen. Denken Sie sich, das Büreau des Journals wird um fünf Uhr geschlossen, aber gewöhnlich um neun wieder geöffnet. Nachher habe ich von neun bis elf Uhr, ohne zu weichen, gewartet, weil der Direktor ins Theater gegangen war. Endlich kam er und war sehr freundlich gegen mich; wir haben nachgeschlagen und gefunden, daß dieselbe Gesellschaft, die vor drei Jahren in Buenos Ayres gewesen, jetzt in Barcelona ist. Könnte man nur das Verzeichnis der Gesellschaft haben, sagte ich. ›Das kann ich Ihnen heraussuchen.‹ Wirklich fand er es sehr bald, aber Cesiras Name ist nicht darin, und die Rollen der ersten Liebhaberin sind in der Hand einer andern Künstlerin, die der gute Direktor persönlich kennt. Das ist alles, was ich erforschen konnte; ich weiß nicht, ob es wenig ist.«

»Durchaus nicht wenig,« versicherte Mattia, »aber nicht ganz das, was ich hoffte. Wir müssen nach Barcelona schreiben, der dortige Direktor wird gewiß antworten, und in einer Woche können wir etwas erfahren.«

»Wenn der Direktor etwas weiß.«

»Natürlich. Wollen Sie für mich schreiben?«

Mattia Bondi und Papa Salvi brauchten nicht viel Zeit dazu, worauf Tomaso den Brief nach dem Centralbahnhof tragen mußte, damit er mit dem Frühzuge abginge.

Am folgenden Morgen hatte Biancas Fieber fast aufgehört und das Phantasieren gleichfalls; dennoch war der Arzt durch diese Besserung nicht befriedigt, welche Sofia, Tito und mehr als alle andern Mattia beruhigte, der, so oft er an das Bettchen trat, erst die eine, dann die andre Hand der Kleinen ergriff und zufriedengestellt hinwegging, um die ihm eigne kühne Meinung auszusprechen, nämlich, daß der Doktor ebenso wie die andern sei – das heißt ein rechter Esel.

»Die Aerzte,« äußerte er einmal, »übertreiben gern das Uebel, um sich des Gelingens einer schwierigen Behandlung rühmen zu können.«

Dennoch fand der Arzt Gehör, als er Sofia befragt hatte und ihr Vorsicht anempfahl.

»Wer hat in dieser Nacht gewacht? Sie, nicht wahr? Nun wohl, ich verbiete Ihnen, heute wieder zu wachen.«

Man beschloß nun, nach einer Krankenwärterin zu schicken. Sie kam noch an demselben Tage vor Sonnenuntergang, als man aus dem Sinken der Kräfte und einigen unzusammenhängenden Worten der Kleinen schließen konnte, daß das Fieber sich wieder einstelle.

Diese Pflegerin gehörte der Barmherzigen Schwesterschaft an, und als sie in ihrem nachtschwarzen Gewande von grobem Stoff hereintrat, schien sie die Verzweiflung dahin mitzubringen, wo schon die Hoffnungslosigkeit eingekehrt war; aber sie hatte ein jugendlich hübsches, wenn auch leidendes Gesichtchen, und bei den ersten sanften Worten, welche sie an die kleine Kranke richtete, sah Bianca die Neuangekommene verwundert, aber ohne Widerstreben an.

»Wie heißt du?«

»Schwester Anna.«

In dieser Nacht und während der folgenden lag Bianca im Fieber und wies jede Arznei zurück; delirierend rief sie häufig nach ihrem »schönen Mamachen«, und in dem Wahne, die Mutter habe ihr geschrieben, beschäftigte sie sich mit der Antwort, welche sie auf das Kopfkissen schreiben wollte.

Währenddessen erwartete man aus Barcelona irgend eine Mitteilung des Schauspieldirektors, und statt dessen kam aus Nizza ein Brief Cesiras.

Sie beklagte sich, daß ihr Töchterchen der Mama nicht ein paar Worte geantwortet habe, als diese ihr aus Marseille ein Briefchen geschickt; das Herz, wirklich einzig das Herz sage der unglücklichen Mutter, daß ihr Kind nicht wohl sei. Sie beschwor, ihr unverweilt beruhigende Gewißheit zu geben.

Alle hielten dies für eine der mannigfaltigen Formen des Komödiespielens, aus welchem diese weibliche Natur zusammengesetzt sei, aber keiner gab seiner Empfindung Worte; nur behauptete der gerade anwesende Papa Salvi, ihm sei noch niemals ein Brief durch die Post verloren gegangen. Und das war kein Paradoxon.

Er selbst übernahm es, der Mutter zu schreiben, wenn sie ihr Kind noch lebend in die Arme schließen wolle, so möge sie eilen, denn es sei vielleicht keine Zeit zu verlieren; und gegen diese harte Form regte sich niemands Gewissen, nicht einmal Sofias Erbarmen, so sehr waren alle überzeugt, daß Cesira nichts anders könne, als immerfort Komödie spielen.

Aber am andern Tage kam aus Barcelona die erwartete Antwort, in welcher der Theaterdirektor bedauerte, von seiner früheren ersten Liebhaberin nichts weiteres zu wissen, als daß sie seit einem Jahre der Bühne nicht mehr angehöre. Da durchaus kein Grund vorlag, an der Aufrichtigkeit dieser Worte zu zweifeln, begann man zu glauben, daß Cesira die Wahrheit gesagt habe; nun wünschte Sofia, die Herbheit von ihres Vaters Brief zu mildern, und schrieb einen tröstlicheren, worin sie versicherte, es scheine wirklich – aber in der That schien es nicht so – daß der Zustand der Kleinen sich bessere; auf alle Fälle jedoch möge sie sich beeilen, denn Bianca rufe immer nach ihr.

Nachdem die Krankheit verschiedene Formen angenommen und den Arzt viele Tage lang in Ungewißheit zwischen Gehirnentzündung und Pocken erhalten hatte, erklärte sie sich endlich als Unterleibstyphus. Der Arzt hoffte, daß das Fieber, durch Bäder und eiskalte Einhüllungen bekämpft, die zum Leben notwendigen Organe nicht versengen werde. Schwester Anna, die in Sofia eine fast ebenso wie sie selbst geschickte Krankenpflegerin gefunden hatte, machte diese Einhüllungen zweimal am Tage. »Ach, wie schön das ist!« sagte die kleine Kranke, wenn sie diese Kühlung auf dem glühenden Körper empfand. In das erfrischende Betttuch eingeschlagen, fühlte Bianca sich wieder aufleben; ihre Gedanken ordneten sich dann, ihr freundliches Geplauder und selbst ihr Scherzen kehrte zurück.

»Ich möchte euch streicheln, weil ihr beide ein so gutes Gesicht habt, aber ich kann auch nicht einmal den Arm bewegen, so dicht habt ihr mich umwickelt.«

Und alle mußten herbeikommen, um sich der Wonne mit ihr zu erfreuen.

Einmal sprach sie: »Habt ihr kein Bild von Mamachen? Zu Hause gab es so viele; da war eins im weißen Kleide, mit aufgelösten Haaren, sie nannten es Ophelia, das war sehr schön!«

Tito sagte nicht, daß er diese Frau auch oft gemalt habe; Sofia hatte es auf der Zunge, wagte es aber nicht auszusprechen.

»Mamachen wird kommen.«

»Ich glaube nicht daran, du hast mir's so oft gesagt.«

»Aber jetzt wird sie kommen, ich versichere dich.«

Tito sagte nichts; ohne das Gespräch zu unterhalten oder abzulenken, ließ er es zu Ende gehen, und sobald nicht mehr von Cesira die Rede war, holte er aus seinem Atelier eine kleine eingespannte Leinwand, Palette und Pinsel.

»Was willst du jetzt machen?«

»Was ich schon längst gethan hätte, wäre ich sicher gewesen, dich auf eine Stunde ruhig vor mir zu erhalten; ich will das Bild einer kleinen Kranken malen.«

In diesen letzten Worten zitterte die tiefe, vom scherzenden und zärtlichen Tone zurückgedrängte Bewegung.

»Was dir nur einfällt,« sagte Bianca, »mich jetzt zu malen, wo ich krank bin; wer weiß, wie häßlich ich aussehe!«

Alle schwiegen; die Künstlerhand, durch das Herz des Vaters beseelt, versuchte eine Weile, die Züge des abgezehrten Gesichtchens festzuhalten, dem das Fieber einen ungewöhnlichen Glanz verlieh: aber der Pinsel, welchem die Sicherheit schon bei der Skizze versagte, mußte sein Werk aufgeben.

»Ich kann nicht, es gelingt mir nicht, morgen will ich's versuchen.« Er legte Palette und Pinsel auf einen Stuhl nieder und beugte sich über die Kleine. Es war ein langer Kuß.

*

Eines Vormittags erschien Giuditta.

»Weißt du?« sagte sie zur Schwester, »ich wollte schon früher kommen, sobald ich vom Papa hörte, daß es mit dir in Richtigkeit sei – nein? – immer noch nicht? Na, es wird schon werden, das meiste hast du bereits gethan, und das übrige wirst du auch zu machen wissen. Und wenn du es nicht zu stande bringst, weißt du, wer es thut?«

Sofia wußte nicht.

»Die Vorsehung, an die ihr so fest glaubt; der Papa wird doch seinen Freund schon befragt haben.«

»Seinen Freund?«

»Nun ja, Nero; und Nero mußte ihm antworten, daß die menschlichen Dinge den Geistern zwar unerforschlich bleiben, solange sie fern sind, aber wenn sie in Sehweite kommen, so müsse ein Geist, der seine Sache versteht, sie mit bloßem Auge erkennen. Und mich dünkt, die Vorsehung hat die Angelegenheit in die Hand genommen.«

»Ich verstehe dich nicht,« versicherte Sofia.

»Ist auch nicht nötig; wie geht es heute mit der Kleinen?«

Nun wurde Sofia der verborgene Gedanke ihrer Schwester klar, und sie antwortete nicht sogleich; erst als Giuditta dringender fragte: »Es steht nicht etwa schlimmer als bisher?« meinte die Schwester, es gehe besser.

»Täuscht mein Wunsch mich nicht, so scheint mir heute, daß das kleine Wesen durchkommen wird. Alle haben sie sehr lieb! Auch der Papa sagte, sie mache ihm einen bessern Eindruck – erwarten wir, wie der Arzt urteilt, wir hoffen noch immer.«

Sofia schien zu flehen, daß man ihr diese Hoffnung lasse, und sie war zufrieden, als auch die Schwester sagte: »Hoffen wir es denn.«

Aber bald darauf gewann die Aufrichtigkeit der Natur Giudittas wieder die Oberhand, und sie behauptete, daß man auf die Hoffnung nicht viel Wert legen dürfe, weil die Hoffnung nur ein Spielzeug ist und die wahren Mächte des Lebens – und des Todes – andre sind.

»Je, was ich da Schönes gesagt habe! Im Munde unsers Deklamationslehrers hätte es Eindruck gemacht – dir thut es weh? Sei nicht böse; siehst du, ich bin nun 'mal so. Sprechen wir von etwas andrem. Weißt du, was der Papa sich ausdenkt?«

»Nein.«

»Ich glaubte, du wüßtest es, deswegen bin ich eigentlich gekommen. Hast du nicht etwa dem Papa eine kleine Rede gehalten?«

»Was für eine Rede?«

»Ueber die Liebe zur Kunst, über Armut, Stolz – besinnst du dich nicht? Vielleicht hast du es gethan, ohne es recht zu wissen – und seit dem Tage will der Papa nichts mehr davon hören, in meinem Hause zu leben; er werde, sagt er, sein Leben so fortführen wie bisher, auch ferner in den alten Dachstuben wohnen und höchstens, um nicht mutterseelenallein zu sein, unsre Mädchenkammer an irgend einen Künstler vermieten, der ebenso arm ist wie er. Du erinnerst dich nicht, ihm etwas gesagt zu haben, das ihm diese Thorheit in den Kopf gesetzt haben kann?«

»Allerdings – aber nicht das ist's, was ich ihm gesagt.«

»Nun gut, er glaubt aber, darauf sei es gezielt, oder ist wenigstens überzeugt, dir Freude zu machen, wenn er so handelt. Er selbst hat es gesagt: ›Sofia wird meinen Plan billigen.‹ Aber laß du mich ein paar Worte hören, daß du ihn durchaus nicht billigst, damit ich's ihm heute abend wiedersagen kann. Denke dir, welche Figur wir spielen würden, wenn wir beide reiche Männer heirateten und unsern Vater in seiner früheren Lage ließen – unter dem Vorwande, daß er immer in Dürftigkeit gelebt hat und es noch ein Weilchen länger thun will. Und wie würden unsre Gatten sich dabei ausnehmen? Meinem Zukünftigen habe ich's schon gesagt – und er geriet in großen Zorn – Zorn eines Wechselmaklers, versteht sich ...«

»Es kommt jemand,« sprach Sofia leise.

Der Arzt kam und begab sich, nachdem die Schwestern ihn im Salon begrüßt hatten, sofort in das Zimmer der Kleinen.

»Ich gehe,« sagte Giuditta, »aber wir sind einverstanden; sprich du ein bißchen mit dem Papa, auf dich hört er leicht.«

»Laß mich nur machen – leb wohl.«

Giuditta entfernte sich, und Sofia ging dem Arzte und den andern nach, die alle um das Krankenbett standen. Bianca war an dem Morgen vor Tagesanbruch erwacht, hatte, wie sie pflegte, nach Schwester Anna gerufen und eine Weile in dies gutmütige, bleiche, von einem weißen Tuche umrahmte Gesicht geschaut: hatte dann gesagt, sie sei noch müde, und schlummerte seitdem wieder.

»Mir scheint, es geht ihr besser,« versicherte Sofia.

Der Arzt erwiderte nichts, und Sofia befragte eindringlich Schwester Anna.

»Das Fieber scheint überwunden zu sein, ihre Haut fühlt sich kühler an.«

Tito und Mattia blieben mit ineinander gelegten Händen am Fußende des Bettes stehen; es war, als blickten sie beide dem Schicksal fest ins Gesicht, das endlich seinen erbarmungslosen Ausspruch thun sollte.

»Die Krankheit hat von neuem die Form der Gehirnentzündung angenommen,« sprach der Arzt langsam, »es bleibt wenig Hoffnung.«

Tiefes Schweigen folgte dieser Erklärung.

Eine Weile hörte man nichts als die schweren Atemzüge der Kranken, dazwischen dann und wann zusammenhangslose Worte; der Doktor stand nachsinnend, mit gekreuzten Armen, die andern harrten unbeweglich auf irgend eine Hoffnung. Und aus Mitleid gab der Arzt diesen verzweifelnden Herzen noch eine, indem er ein Rezept schrieb.

»Lassen Sie es sogleich machen.«

»Was ist es?« fragte Mattia.

»Eine Salbe. Sie werden ihr die Stirn damit einreiben – auf den Kopf Eis, eine große Quantität zerstoßenes Eis in einer Blase.«

Und da niemand die Frage that, welche in aller Seele war, sagte der Arzt beim Fortgehen: »Die Natur besitzt ungekannte Mittel, sich zu helfen.«

Den ganzen Tag über schien die Kleine zu schlafen; nur wenn die Eisblase gewechselt wurde, öffnete sie die Augen, als suchte sie jemand, und murmelte unverständliche Worte.

Es kam die grausame Nacht heran, für die Kranke von Delirium erfüllt, für die Wachenden voll banger Furcht. Gewöhnlich ließ Sofia um die Dämmerstunde Licht bringen; aber an jenem Tage, erregt von Gedanken an die Schwester, an das Geschick des kleinen Wesens, welches bereit schien, sich zu dem großen Fluge aufzuschwingen, blieb sie am Bette sitzen, schloß gleichfalls die Augen und versenkte sich in Nachsinnen.

»Mama!« murmelte die Kleine, und bei diesem Worte fuhr Sofia auf. Als sie die Augen öffnete, fand sie sich fast im Finstern, erriet aber, daß es Schwester Anna war, welche, an der andern Bettseite knieend, ihr Gebet sprach.

In dem Augenblicke wurde geräuschlos die in den Salon führende Thür geöffnet, und zwei schattenhafte Gestalten überschritten die Schwelle. Die eine näherte sich ohne Zögern, es war der Blinde.

»Sofia?« fragte er leise, als er das Bett der Kranken streifte.

Als jetzt der Blick des Mädchens auf die an der Thür verweilende Gestalt fiel, war ihr alles klar.

»Hier bin ich.«

»Mein Sohn bedarf Ihrer. Aber hier ist es finster – wie mir scheint.«

Ohne ein Wort zu sagen, zündete Sofia die Lampe an. »Ave Maria,« sprach Schwester Anna, welche sich soeben vom Gebet erhob; »Ave Maria,« erwiderte Sofia und ging ohne Zaudern nach der Thür.

Als sie an Cesira vorbeistrich, erfaßte diese Sofias Hand und wollte sie küssen. Ihr Gesicht trug das Gepräge der Angst, der Ermüdung, der Schlaflosigkeit; sie sah vor sich hin, nicht auf ihr sterbendes Kind, ihr Blick haftete nicht auf dem Leid, welches bereits über sie gekommen war, sondern auf einem andern, fernen, unabwendbaren. »Dank!« war alles, was sie sprach.

Tito wartete im Salon. Kaum war Sofia in seiner Nähe, so fragte er, indem er ihre Hand nahm: »Ist sie noch schön?«

»Wunderschön!«

Er fragte nichts weiter. Seine Verlobte fest an der Hand führend, ging er mit ihr in das Krankenzimmer, und Sofia gelang es erst, die ihrige zu lösen, als sie am Bette standen.

Die unglückliche Cesira, welche der Kleinen Worte der Liebe ins Ohr flüsterte, wendete den Kopf und begriff alles ohne die leiseste Mißempfindung.

»Sie erkennt nicht einmal mehr, daß ich sie liebkose,« sprach sie mit gedämpfter Stimme und heftete auf Tito die großen Augen, um derentwillen so viele Thränen geflossen waren.

Eine Flut bitterer Worte strömte Tito zu, aber er lächelte nur schmerzlich, und Cesira beugte sich über ihr Kind und bedeckte es mit Küssen.

»Mama!«

»Sie hat Mama gesagt, sie hat mich erkannt!« verkündete sie halblaut den Umstehenden. »Ja, Mamachen ist gekommen, sie verläßt dich nicht mehr; was kümmert sie die ganze Welt, wenn sie ihr Kind hat?«

Nach einer Weile sprach sie mit demselben Tone, aber ohne jemand anzusehen: »Jetzt sagt sie Papa, ihr Stimmchen ist wie ein Hauch.«

Tito, der noch, mit dem bittern Lächeln auf den Lippen, am Bette stand, rührte sich nicht.

Aber Biancas Stimme wiederholte laut »Papa!« und nun trat der junge Mann zu Häupten des Bettes, während die unselige Frau, welche der Sterbenden das Leben gegeben hatte, das Gesicht in den Betttüchern verbarg.

Sofia war im Hintergrunde des Zimmers zu dem Blinden getreten und hatte ihre Hand in die seinige gelegt, ohne zu sprechen.

»Deine Hand zittert,« bemerkte Mattia, »was ist dir? was geht jetzt vor?«

»Mir ist nichts, wirklich nichts, ich fühle mich wohl, ich fühle mich stark; lassen Sie uns einander Mut einflößen.«

»Wird sie sterben?« fragte er mit halber Stimme.

»Nein, sie darf nicht sterben; wir wollen den Himmel anflehen, daß er sie nicht sterben lasse.«

Schwester Anna, die sich ebenfalls genähert hatte, entgegnete: »Bitten wir darum!« Aber kopfschüttelnd gab sie zu verstehen, daß dies Gebet vergebens sein werde.

Sofia hingegen, mit der vollen Gewalt ihrer starken und wahren Liebe, jener Liebe, welche ganz Erbarmen ist, rief den Himmel an, daß er den kleinen Engel auf Erden weilen lasse und ihn der Zärtlichkeit seiner Eltern schenke; dem Schmerz bot sie sich zum Opfer dar.

*

Der Arzt sprach es nicht aus, daß eine Katastrophe bevorstehe, vielmehr empfand er diesen Seelen gegenüber, welche ihn um Mitleid anzuflehen schienen, eine so lebendige Teilnahme, daß er sie immer noch in ihrer Selbsttäuschung ließ.

»Sie atmet ruhiger,« bemerkte Mattia, indem er sein weißes Haupt bis zur Berührung mit dem Köpfchen der Kranken niederbeugte. »Ist das nicht ein gutes Zeichen?«

Der Arzt bejahte es; beim Fortgehen begleiteten der Blinde und Schwester Anna ihn, um ihn nochmals zu befragen.

Als so die Hoffnung zum letztenmal in den verzweifelnden Herzen aufatmete, hatte Tito einen kühnen Augenblick, wo er sich stark fühlte und das Geschick sich unterwerfen zu können glaubte.

Durch einen Blick gab er Sofia zu verstehen, daß er mit Cesira allein zu sein wünsche, die den Kopf an das Bett gelehnt und ihr Gesicht mit einem Ende des Betttuches bedeckt hielt.

»Cesira!« sprach der junge Mann.

Die unglückliche Mutter blickte auf.

»Cesira!« wiederholte Tito mit fester, ruhiger Stimme. »Dein Kind wird nicht sterben, es muß leben bleiben.«

»O, wenn der Himmel es wahr machte.«

»Der Himmel wird uns erhören, wenn wir ihm versprechen, dessen würdig zu sein, daß Bianca uns erhalten bleibe.«

Cesira verstand den Sinn dieser Worte nicht, sie heftete die großen verhängnisvollen Augen in das Gesicht des Mannes, welcher sie einst geliebt.

»Ich wollte mein Kind amtlich anerkennen, konnte es aber noch nicht, weil deine Zustimmung erforderlich war.«

»Ist es möglich? Du wolltest –? Und ...«

»Sofia war einverstanden, sie hat sogar zuerst den Gedanken in mir angeregt.«

Nach einer Pause sprach Cesira: »Das gute Mädchen! Du wirst sehr glücklich mit ihr sein ...«

Tito schnitt ihr die Rede ab. »Jetzt handelt es sich darum, was du thun wirst, was du uns zu thun gestattest, wenn unser Kind hergestellt ist. Sage, sage es schnell – wir haben keine Zeit zu verlieren – deine Worte, dein aufrichtiges Versprechen – ein guter Geist harrt ihrer, um sie hinaufzutragen!«

Der junge Mann machte den Eindruck eines Begeisterten, er beherrschte die schöne Frau, welche ihn einst besiegt hatte.

»Ich will alles thun, was du forderst,« sprach gedemütigt und zitternd Cesira.

»So gelobe dem Himmel, daß, wenn er uns Bianca läßt, du sie nicht abermals in der Welt umherführen willst.« Nach kurzem Schweigen fuhr Tito mit gedämpfter Stimme fort: »Was könntest du aus ihr machen? Eine Schauspielerin?«

»O nein! Aber mein Kind! – Ihr für immer entsagen?«

»Du würdest stets ihre Mutter bleiben, und wenn du sie aufsuchen möchtest, und wenn sie dich zu besuchen wünschte ...«

Um Cesiras Lippen spielte ein bittres Lächeln. »Sie wird es nie wünschen – ich bin gewiß, daß sie unter eurem Einfluß euch bald mehr als ihre Mutter lieben würde. Sprich, ist es nicht so, liebes Herzchen?«

Aber der Kuß, welchen sie auf des Kindes Stirn drücken wollte, erstarb in einem wilden Schrei.

»Ach, ich höre keinen Laut mehr! Sie sieht mich noch an, aber ich höre nichts – nichts mehr, mein Kind, mein Liebstes – sag mir, es ist nicht wahr, daß dein Herz nicht schlägt – sag es deinem Mamachen – sprich, sprich.«

Alle eilten herbei, um die Unglückliche zu entfernen. Nun beugte sich Tito über sein Kind und horchte lange, ob der kleine Mund nicht doch noch einen Hauch entsende. Dann erhob er sich schweigend, ohne ein Zeichen seines Schmerzes im Antlitz, und verließ das Zimmer der kleinen Entschlafenen.

»Gehen Sie, gehen Sie,« riet Schwester Anna dem Blinden und Sofia, »gehen Sie und sprechen Sie ihm zu, ich bleibe bei der armen Verzweifelnden.«

Sofia eilte Tito nach und sie ließen sich auf dem Sofa im Salon nieder, um miteinander Herz an Herz zu weinen.

*

Der Blinde war geblieben. Am Bette stehend, breitete er mitleidsvoll die Arme aus und murmelte: »Cesira!« Aber die unglückliche Mutter hörte nicht auf ihn, sie wendete sich in den Krallen des Schmerzes, bald wütend, bald leise Fragen an ihr Kind richtend. Schwester Anna, die sie mit kräftigem Arm umfaßt hielt, verhinderte den schönen Kopf auf den Bettrand aufzuschlagen, und jedesmal, wenn es Cesira dennoch gelang, erzitterte das Lager mit einem schauerlichen Klange, und der Blinde wiederholte mit Thränen in den Augen vergebens: »Cesira!« Dann wich das Toben einer gänzlichen Erschlaffung, und Cesira ließ sich völlig von Schwester Anna beherrschen, die, ohne ihr Gewalt anzuthun, sie bewog, sich in einer Sofaecke niederzulassen. Nun umschritt der Blinde das Bettchen. Als seine zitternden Hände Biancas Gesichtchen gefunden hatten, neigte auch er den Kopf über sie und lauschte lange, ob vielleicht die andern alle sich getäuscht hätten; aber das kleine Herz schlug wirklich nicht mehr. Nun streichelte er die Stirn und küßte sie. Als er sich wieder aufrichtete, sprach er nochmals: »Cesira!« aber nur Schwester Anna trat zu ihm.

»Sie hat sich beruhigt,« sagte sie leise; »lassen wir sie; gewähren Sie sich alle ein wenig Ruhe; ich besorge das Nötige.«

»Sagen Sie ihr –« sprach Mattia bewegt, »sagen Sie ihr –, daß sie auf mich zählen kann –«

Cesira hörte diese Worte und erhob den Kopf, als wolle sie sprechen, fand aber keinen andern Ausdruck als »Dank«, und der alte Herr ging hinaus, ohne sie verstanden zu haben.

Eine Weile brachte Schwester Anna damit zu, in dem Zimmer alles zu ordnen, damit der irdische Schmerz im Einklang mit der Würde des Todes sei; sie legte die Tücher beiseite, welche das fieberheiße Köpfchen gekühlt hatten; aber als sie das Kind berühren wollte, stürzte Cesira sich ihr entgegen.

»Nein, ich leide es nicht!«

Dann hörte sie, daß Schwester Anna nur die Decken lüften würde, und dabei half auch sie, ohne wilde Ausbrüche, ohne Weinen.

»Morgen thun wir das übrige,« sagte die Schwester, »folgen Sie mir. Suchen Sie ein wenig zu schlummern, legen Sie sich auf das Bett in der Nebenstube – nein? Nun dann ruhen Sie auf dem Sofa.«

»Ich kann nicht,« entgegnete Cesira.

»So lassen Sie uns gemeinsam beten, wollen Sie?«

Und ohne weiteres begann Schwester Anna. Cesira hörte ungerührt die lateinischen Sterbelitaneien an, sank aber auf die Kniee neben der Entschlafenen nieder, als die Schwester mit bewegter Stimme, die Augen zum Himmel erhoben, sprach: »Herr, der du allbarmherzig bist, erbarme dich dieser Seele, die sich in der Welt verirrt hatte und zu dir zurückkehrt.«

»Ja, Herr, erbarme dich ihrer,« murmelte Cesira.

Diesem Gebet sandte Schwester Anna ein andres und noch ein andres nach und in jedem fand Cesira etwas, und war's auch nur ein Wort, welches auf den Grund ihres Gewissens fiel und allmählich einen milderen Widerhall darin weckte.

»Schwester Anna,« sprach sie, das Gebet unterbrechend, »Schwester Anna, glauben Sie, daß der Herr eine Beichte annehmen würde, die ich hier, vor meiner entschlafenen Kleinen und vor Ihnen ablegte?«

Schwester Anna dachte einen Augenblick nach.

»Der Herr nimmt gewiß die ihm allein abgelegte Beichte gnädig auf.«

»Nun denn – Herr, ich habe viel gesündigt –«

Schwester Anna unterbrach sie.

»Nicht laut; es ist nicht meines Amtes, Sie anzuhören.«

Nach einer Pause wünschte sie zu wissen, welchem Orden die Schwester angehöre, und als ihr der Orden der Barmherzigen Schwestern genannt wurde, erkundigte sie sich, ob jeder, wer es auch sei, ein Glied desselben werden könne – womit sie meinte, ob das frühere Leben kein Hindernis für das Amt einer solchen Schwester sei.

»Wir alle bedürfen der Vergebung für irgend etwas, aber Gott ist allerbarmend,« sprach Schwester Anna ermutigend.

Kurz vor Tagesanbruch legte Cesira auf das Zureden ihrer Gefährtin den Kopf auf die Kissen des Sofas und fiel in einen unruhigen Schlummer, in dem sie ab und zu die Lippen öffnete, bis sie plötzlich auffahrend, ihrem Elend wieder ins Gesicht sah.

Die Sonne drang durch das Fenster, dessen Läden nicht geschlossen waren; mit ihr drang die Morgenluft ein, das Geschwätz der Sperlinge und die langgedehnte, eindringliche Frage des Staren, dem die entscheidende Antwort dieser Nacht noch nicht klar geworden. Als die unglückliche Mutter ihr totes Töchterchen küßte, fand sie ihre letzte Thräne.

»Du warst so schön!« sprach sie, »und ach, wie bist du nun!«

Eben trat Mattia ein.

»Sie haben nicht geschlafen?« fragte ihn Schwester Anna.

»Wer weiß? Ich kann es selbst nicht sagen,« antwortete halblaut der Blinde. »Cesira!«

Cesira ergriff schweigend seine Hand und drückte sie an die Lippen.

»Dieser Brief ist für Sie gekommen,« sprach der Blinde.

»Für mich! Wann?«

»Gestern; er ist mit den andern liegen geblieben, als niemand an die Postsachen dachte.«

Cesira sah die Adresse an und sagte gelassen, indem sie den Brief einsteckte: »Er ist von ihm, der Brief muß mit mir zusammen gereist sein und war schon vor einiger Zeit geschrieben. Ich weiß, was er enthält.«

Schwester Anna ging in die Küche, um sich durch etwas Bouillon zu stärken; sie fühlte sich erschöpft; Mattia und Cesira blieben allein.

»Nun sagen Sie mir, was Sie zu thun gedenken, sagen Sie mir, ob ich etwas für Sie thun kann?«

»Dank, vielen Dank; ich kann allein leiden, es ist besser, daß niemand mir hilft.«

»Aber –« drang der Blinde mit bewegter Stimme in sie, »die, welche mit Ihnen gelitten haben – welche um Sie gelitten haben – wollen keine Rache – verlangen nur nach Frieden. Vielleicht sind wir Egoisten,« setzte er mild hinzu, »und um zum Glück berechtigt zu sein, müßten wir die Ueberzeugung haben, daß –«

»Der Himmel mich nicht verlassen wird. – Nein, der Himmel ist großmütig, er hat mir meine Tochter genommen, weil ich sie von mir entfernt hatte, um mich einem andern zu ergeben, dem es lästig war, sie immer zur Seite zu haben; gewiß, der Himmel hat mein Kind aufgenommen, weil ich es nicht mehr genug liebte.«

Sie sprach ohne Weinen, mit gleichmäßiger Stimme, den Blick zur Erde gesenkt.

»Ja, ich liebte einen andern mehr als meine Tochter, ich habe ihn sehr, zu sehr geliebt; es war das erste Mal, daß ich wahrhaft Liebe empfand, und in meinem Herzen ist so wenig Raum dafür. Ehe ich ihn kannte, schmeichelte ich mir, stärker als andre Frauen zu sein, weil so viele mit Zärtlichkeit um mein Herz geworben hatten; und ich gab es ihm, der hart und rauh war und mir gebot, ihn zu lieben.«

Mattia erwiderte kein Wort, er ließ das peinliche Schweigen dauern, bis Cesira wieder begann: »Der Himmel ist großmütig, denn ich habe die Liebe zu meinem Kinde wiedergefunden und bin nun sicher, daß ich sie immer bewahren werde. Sie erlauben mir, diesen Brief zu lesen?«

Und ohne auf eine Antwort zu warten, öffnete sie das Couvert.

»Liebe Cesira ...«

»Nein,« unterbrach sie der Blinde, »nein.«

»Lassen Sie mich laut lesen, es ist mir eine Erleichterung.

»Liebe Cesira!

Seit lange schon lieben wir uns nicht mehr so wie einst; es ist vergebens, sich darüber zu täuschen, du reisest, und ich lese in deinem Herzen, daß, wenn du in Mailand bist, wenn deine Tochter hergestellt ist, du mir schreiben wirst, um dich von einem drückenden Bande zu befreien. Ich will dir eine Pein ersparen und schreibe dir zuerst. Empfange denn deine Freiheit zurück. Deine sämtlichen Koffer werden dir zugehen; ich verlasse Nizza in zwei Tagen und nehme die Erinnerung mit mir an die Tage der Liebe, welche du mir geschenkt hast.«

Schwester Anna kam zurück, gefolgt von Barbara mit den Wachskerzen, welche am Bett der Toten brennen sollten.

»Und was werden Sie antworten?« fragte der Blinde mit gedämpfter Stimme.

»Ein einziges Wort, der Telegraph wird es aussprechen: Dank.«

»Was thut jetzt Schwester Anna?«

»Sie zündet die Kerzen für meine Kleine an.«

Der Blinde lauschte, und als es ihn dünkte, daß die Lichter brennen müßten, wendete er sich nochmals herzlich an Cesira: »Eins möchte ich Ihnen sagen, Cesira, hören Sie mich?«

»Ja, ich höre, reden Sie.«

»Mein Sohn wird heute morgen den Tod Biancas anmelden; wenn er unsres Kindes Vaternamen nennt, so werden Sie es ihm nicht verargen, nicht wahr?«

Cesira verstand anfangs nicht ganz, dann brach sie in einen Freudenschrei aus und sank am Altar ihres entschlafenen Kindes auf die Kniee. Darauf näherte sie sich dem Blinden.

»Sagen Sie jenem guten jungen Mädchen, sagen Sie Ihrem Sohn, daß Cesira – sich würdig machen will, zu beten – und daß sie für ihr Glück beten wird.« Als sie auf der Stirn des Blinden eine gewisse Unruhe las, verstand sie sein Gefühl und fragte demütig: »Soll ich mich einen Augenblick zurückziehen?«

Der Blinde nickte bejahend.

Nun drückte Cesira einen langen Kuß auf die Stirn ihres toten Kindes und ging in das Nebenzimmer.

Von dem Blinden benachrichtigt, eilten Sofia und Tito an das Bettchen und standen eine Weile schweigend Hand in Hand, dann kniete Sofia nieder, während der Vater mit seinen kalten Lippen den so lange ersehnten Kuß fand.

Am Tage darauf war das trauervolle Drama beendet. Bianca schlief in dem kleinen Sarge, unter den Blumen, welche Waisenkinder in das Grab gestreut hatten.

Cesira, die verstohlen das Haus verließ, welches sie im Schmerz beherbergt hatte, wurde nicht wieder gesehen.

*

Vierzehn Tage darauf gelobte Giuditta vor dem Civilstandsbeamten, ihrem Wechselmakler überall zu folgen, wohin er gehen würde; und da es dem Gatten beliebte, sofort nach Paris zu gehen, so begleitete sie ihn herzlich gern dahin; denn unter den spärlichen Träumen dieses soliden, durchaus nicht träumerisch angelegten Mädchens hatte es sich diesen zur Verwirklichung in den Flitterwochen aufgespart: den Schauplatz zu besuchen, auf welchem sich so viele Romane Paul de Kocks abgespielt hatten. Aber es war Giudittas letzte Illusion; wenige Tage der Reise genügten, um sie wieder vernünftig zu machen und auf den richtigen praktischen Weg zurückzuleiten, wo die Pferdebahnwagen, die Omnibuspferde, die geschäftigen Wechselmakler, die dahinschlendernden jungen Dämchen, welche noch warten, und die gleichgültigen Damen, die gar nichts mehr erwarten, vorüberziehen.

Zu diesen gehörte Giuditta; in kurzer Zeit hatte sie ihr Leben in eine vollkommene Gleichgewichtslage zwischen Wunsch und Befriedigung gebracht, und da der Wechselmakler wirklich reich und wirklich verliebt war, so hätte Giuditta sich selbst und andern ihre völlige Befriedigung aussprechen können, wäre nicht eine fixe Idee Papa Salvis gewesen.

Dieser, welcher sich in den Kopf gesetzt hatte, sein ärmliches Leben fortzuführen, bewohnte auch ferner die Dachstuben mit den runden Fenstern, unter dem Vorwand der Unabhängigkeit, des Stolzes, der Würde und andrer volltönender Worte.

Um sich vor jeder Versuchung sicherzustellen, hatte er sogar Tonio bewogen, mit ihm zusammenzuwohnen, und Tonio war darauf eingegangen.

Am ersten Tage, als der junge Lehrer seine Hemden und seine Zeichenmappen in Papa Salvis Behausung trug, fand im Herzen des Aermsten ein großer Aufruhr schwermütiger Gedanken statt. Seinen Koffer hatte er zu Füßen von Sofias Bett niedergesetzt, seine Mappen an das Giudittas gelehnt, und nun stand er lange wie abwesend da, vermeinte, er denke an etwas, wußte aber selbst nicht woran. Als Papa Salvi ihn munter fragte, ob er sich das Bett ausgesucht habe, in welchem er schlafen wolle, antwortete Tonio ebenso munter, es sei ihm stets ganz gleichgültig gewesen, in was für einem Bett er liege. Er wählte Sofias, und fand in jener Nacht Vergnügen daran, bei Giudittas Schirmlampe einen alten Roman zu lesen, welchen das schöne, so heiß von ihm geliebte Wesen dort vergessen hatte; dann glaubte er schläfrig zu werden, aber als er das Licht ausgelöscht, blickte ihm im Dunkel das runde Auge des Fensters lange in sein entsagendes Herz.

Und wozu an Sofia denken, wenn sie doch Tito liebte, und sie sich heiraten sollten?

Es war an einem Septembermorgen; Sofias Trauung wurde ohne Aufsehen vollzogen, und die beiden Zeugen vor dem Standesamt und in der Kirche waren der Wechselmakler und der Zeichenlehrer, welcher in irgend einer Weise auch etwas zu dem Glück seiner Cousine beitragen wollte.

Aber anstatt einer Reise nach Paris wurde ein allgemeiner Ausflug nach Vaprio unternommen. Auch der Blinde nahm teil daran, fröhlicher als alle. Auch der Zeichenlehrer war eingeladen und hatte seinem unerbittlichen Geschick nicht widerstehen können, der vollen Glückseligkeit andrer und seinem eignen Elend ins Gesicht zu schauen.

Er war ziemlich sicher, daß die beiden Gatten von allem unterrichtet seien, denn wie sollte die erste vertrauliche Mitteilung der Gattin nicht darin bestanden haben, die Liebe des armen Tonio zu offenbaren? So flüsterte ihm ein Gedanke zu, in welchem keine Bitterkeit, nur ein harmloser Skepticismus lag. Aber als er dem Wechselmakler und dem Künstler in die Augen gesehen, wurde er inne, daß Sofia es für ihre Pflicht gehalten hatte, ein Geheimnis, welches nicht sie allein betraf, zurückzuhalten, Giuditta jedoch alles ausgeplaudert hatte, nicht aus Prahlerei, sondern in der fixen Idee, aufrichtig sein zu sollen, die eine der Formen menschlicher Selbstsucht ist.

Bei Tische wollte jeder seinen Trinkspruch anbringen. Einer war sehr heiter, der Papa Salvis, welcher auf die Zukunft seiner Kinder trank; ein andrer von wenig Worten, deren Wert aber der großen Mühe entsprach, welche er den Wechselmakler gekostet hatte, paraphrasierte den Spruch des Schwiegervaters und galt dem Wohl der eignen Kinder.

Tonio war der erste, ihm Beifall zu klatschen, und als ihn der Augenblick gekommen dünkte, auch eine Gesundheit auszubringen, erhob er sich, und über den Tisch gebeugt, näherte er sein gutmütiges Gesicht dem jungen Paare und sprach mit leiser Stimme zu ihnen: »Eine Tischrede kann ich nicht halten, ich sage euch nur: Seid glücklich!«

»Ich danke Ihnen!« erwiderte Tito; »Dank dir!« flüsterte Sofia.

Die längste Tischrede war die des alten Mattia. Er sprach mit gedämpftem Tone, inmitten der tiefen Stille, welche um sein weißes Haupt und seine Blindheit her entstand; er sprach wie ein Patriarch; er rief sich all' die kleinen Hoffnungen zurück, welche ihm als große erschienen zu der Zeit, da er zu bescheiden war, und die Siegestriumphe, welche ihn nie ganz befriedigten; er sprach von der Liebe, welche ihn in seinem Ringen um die Kunst gestärkt hatte, und schloß, indem er sich zu seinem Sohne wandte: »Liebe deine Gattin, liebe deine Kunst, liebe sie innig, wie ich gethan; aber denke nicht an den Glanz des Ruhmes, der den Lebenden selten etwas ist, und von dem wir nicht wissen, was er den Toten sein wird.«

Danach begehrte er von seinen Kindern umarmt zu werden, und das Gleiche wünschte Papa Salvi.

Ein großer Teil des Rückweges nach Mailand wurde zu Fuß zurückgelegt, in der Dämmerung; der Septemberabend sandte der heiteren kleinen Schar dann und wann leichte laue Windstöße entgegen, die Sofia und Tito wie die ersten liebkosenden Grüße des neuen Lebens erschienen.

Dann fuhr man in drei netten Wägelchen weiter; der Wechselmakler hatte sie an den Scheideweg bestellt. Als in dem einen der Blinde, Papa Salvi und Tonio Platz genommen hatten, setzte Mattia seine Patriarchenrolle fort; die Stimme erhob er zwar nur, um das Rädergerassel zu überwinden, sprach aber so beredt, daß er den alten Kollegen bewog, ein wenig Gastfreundschaft von ihm anzunehmen.

»Hören Sie mich an,« sagte er; »früher arbeiteten wir zu zweien, ich und mein Sohn; jetzt arbeitet Tito für sich allein, und ich sitze stundenlang da und erträume mir Bilder, die ich nicht mehr malen kann. Sie, der Sie das Augenlicht haben, warum treten Sie nicht ein in den Wettstreit um die Kunst? Jeder muß ihr das Beste weihen, was er vermag, nicht wahr? Also kommen Sie, an meiner Statt zu kämpfen.«

Dem direkten Angriff dieser Versuchung gegenüber wollte Papa Salvi zuerst den Bescheidenen spielen, indem er versicherte, der Kunst bereits alles gewidmet zu haben, was er könne; es sei nicht seine Schuld, daß er nicht fähig sei, mehr zu thun; dann aber machte er seine übertriebene Demut wieder gut.

»Gewiß, wenn ich ausreichende Mittel gehabt, wenn mein Geschick sich ein wenig früher erweicht – wenn mir jemand geholfen hätte; wenn ...«

All diese »Wenn« endigten mit einem Händedruck, und der Pakt war geschlossen. Papa Salvi würde also täglich das Atelier aufsuchen, würde an Mattias Staffelei und mit der Palette des berühmten Künstlers arbeiten.

In einem der andern Wagen hatten die beiden Schwestern Platz genommen; im dritten die Schwäger.

»Verzeih,« sagte Giuditta, »wenn ich dir auf ein Stündchen den Gatten raube; aber mich dünkt, auch du wirst das Bedürfnis haben, an diesem großen Tage mit deiner Schwester einen Augenblick allein zu sein.«

Sie begann sogleich, von all den Freuden und all den Unannehmlichkeiten zu sprechen, auf welche die Schwester gefaßt sein müsse; sie hatte gehört, daß die Mutter der verstorbenen Kleinen gekommen war, und wußte auch, daß sie schön sei – jawohl, sie wußte alles, denn man erfährt ja immer alles; auch wenn die Schwestern, anstatt sich vertraulich auszusprechen, es für gut halten, zu schweigen, so hat die Welt tausend Zungen zum Plaudern und mindestens zweitausend Ohren zum Hören. Allerdings, auf das Gewesene wird keiner etwas geben, aber jedenfalls bedurfte es in Sofias Falle einer gewissen Vorsicht.

»Es gibt hundert Arten, sich die Liebe des Gatten zu sichern,« behauptete Giuditta; »willst du mir sagen, wie du es machen wirst?«

»Ihn von ganzer Seele, ihn wahrhaft lieben.«

Giuditta wollte am Hochzeitstage nicht wehe thun und begnügte sich zu sagen, auch das möchte ja eine ganz gute Art sein. Sofia hörte gelehrig die durch Erfahrung bewährten Worte der Schwester an; schließlich, als sie diese überzeugt hatte, daß die Lektion in wohlbereitetes Erdreich gefallen sei, that auch sie eine Frage, auf welche Giuditta sich beeilte, scherzhaft zu antworten.

»Glücklich? Und ob! Glücklich ich, glücklich er! Ich bin eine rechtschaffene Gattin, und es wird mir nicht schwer werden, meinem Alterchen die Treue zu bewahren; vielleicht würde er es gar nicht einmal so streng verlangen. Aber es liegt in meinem Temperament, treu zu sein.«

An jenem Tage hatten Sofia, Tito und Mattia mehr als einmal der Schauspielerin gedacht, aber sie war nie erwähnt worden; zu Hause erwartete sie eine Ueberraschung, ein Brief Cesiras.

Sie sandte von Genua aus den Neuvermählten ihre Glückwünsche und teilte mit, daß sie im Begriff sei, sich von der Eitelkeit der Welt loszusagen.

»Sie hatte es schon gegen Schwester Anna ausgesprochen,« sagte unbefangen Sofia.

Der Blinde äußerte nichts, aber Tito ging in seinem Skepticismus so weit, daß es herzlos klang.

»Ihre Worte scheinen anzudeuten, daß sie Nonne werden will; aber Cesira ist noch zu schön; Frauen wie sie weihen sich Gott erst später.«

Sofias Hand verschloß seinen grausamen Mund.

Ein neues Leben begann für alle. Papa Salvi, dessen Adern von jugendlichem Blute durchströmt schienen, stand ganze Stunden an der Staffelei und malte die »Illusion«. Sein Modell war Mattia; dieser Kopf, leuchtend im Silberhaar seines fleckenlosen Alters, in der noch immer rosigen Gesichtsfarbe, diese Augen, welche nur noch die ideale Schönheit suchten, konnten wahrlich zu einem Meisterstück anreizen.

Auch Tito seinerseits war es nicht schwer geworden, einen Vorwurf zu finden; er hatte sich das Porträt seiner Frau erwählt, und am Schluß jeder Sitzung küßte er sein Modell und fragte: »Wie kommt es, daß du mir immer schöner erscheinst, je länger ich dich betrachte? Hätte ich dich immer so gesehen, wie ich dich jetzt sehe, du hättest mir noch viel mehr Leiden bereitet!«

»Ich habe dir Leiden bereitet?«

»O, wie viele! Aber du wirst deine Strafe bekommen, wenn auch du einst nicht umhin kannst, mich sehr, sehr lieb zu haben.«

»Aber ich liebe dich sehr und leide nicht.«

»Du wirst mich noch besser lieben lernen – warte nur.«

Diese selbstzufriedene Eitelkeit war ein ganz eigentümliches Merkmal seiner neuen Glückseligkeit.

Primo Salvi vollendete sein Bild; endlich einmal vollendete er eins!

Aber während er davon befriedigt war, lobte keiner der Künstler, die eingeladen wurden, um es zu bewundern, das Werk aufrichtig; dagegen priesen alle die Gemälde, welche Papa Salvi nicht fertig gemacht hatte.

Als er nun eines Morgens mißgestimmt erwachte, eilte er geradeswegs hin und wischte die »Illusion« aus. Und jetzt fand sich mehr als einer, der da sprach: »Schade darum!«

Ende.

 


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