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Diese von Herrn Geheime Regierungsrat Professor Dr. Herman Grimm verfaßte Vorrede ist nicht für die vorliegende Uebersetzung geschrieben, sondern der »Nationalzeitung« entnommen und wird auf Wunsch des Herrn Salvatore Farina und mit der gerne erteilten Zustimmung des Verfassers hier wieder abgedruckt.
Die Verlagshandlung.
Farinas neuestes Werk ist einfach. Die diesmal von seiner Hand gezeichneten Figuren erscheinen beinahe als nur skizzenhaft hingeworfen. Mit so feinem und zugleich sicherem Stifte aber sind die Linien gezogen, daß aus dem, was wir in scheinbar flüchtigen Umrissen empfangen, die Meisterschaft eines Schriftstellers herausleuchtet, der kein Wort umsonst und keines zu wenig sagt, und in jedem, das er sagt, die geeignete Wahl traf. Diese Sicherheit der leitenden Autorität empfinden wir auch da, wo man sie mehr ahnt als sich über sie Rechenschaft zu geben im stande wäre. Man gerät bei der Lektüre in die Empfindung hinein, daß des Dichters Phantasiearbeit und die von ihm angewandten sprachlichen Mittel einander decken, und zugleich, daß jeder gelesene Satz als Anstoß zu eigener, weiterbildender Phantasiearbeit innerhalb unserer selbst wieder wirksam werde. Bei der uns vorgespielten, der äußeren Bewegung nach höchst geringfügigen Komödie – ich wähle diesen Titel, obgleich es sich um eine Novelle handelt – identifiziert man sich so sehr mit der Denkweise der agierenden Personen, daß man in die Zentralstelle ihrer inneren Lebensarbeit gelangt zu sein vermeint, wo das Räderwerk des Charakters unverhüllt arbeitet. Was Salvatore Farina uns hier liefert, ist reines Extractum vitae humanae. Vielleicht zu rein! Bei der dem Dichter angeborenen Aufrichtigkeit hat er nicht unausgesprochen lassen wollen, es sei, was er bringe, weder Roman noch Novelle, sondern er gebe scene quasi vere: Ausschnitte aus dem Leben in natürlichster Beleuchtung. Vielleicht daß sich daraus der Vorwurf ergeben könnte, es habe bei dem Bestreben, die Wirklichkeit zu wiederholen, die künstlerisch abschließende Form gelitten, es fehle dem Rahmen, der diese Erlebnisse umschließt, etwas an Stärke. Ich für mein Gefühl wieder würde diesen Vorwurf nicht erheben. Mir ist alles recht wie es dasteht und ich habe manche Seite gleich zum zweitenmale gelesen, in der Hoffnung, es möchten hier oder da einige Worte von mir übersehen worden sein, die sich noch einheimsen ließen.
Um zu zeigen, was hiermit gemeint sei, lasse ich die Uebertragung einer Szene folgen, die weder die beste noch die entscheidende neben den übrigen ist, aber die Art der Darstellung anschaulich macht.
Held der Erzählung ist ein siebzigjähriger Maler, den wirkliche Leistungen, günstige Zufälle und die Künste einer guten, gescheiten Frau sein lebenlang im Vertrauen erhalten hatten, zu den Größen seines Faches zu gehören. Signor Mattia geht somit bis beinahe zum Abschlusse seines Daseins im guten Glauben an seine Berühmtheit dahin; als die Frau aber gestorben ist, merkt er, anfangs in nur ungewisser Empfindung, daß ohne weitere Unterstützung dieser Glaube doch nicht mehr aufrecht zu halten sei, und beruft seinen auswärts studierenden Sohn Tito nach Hause, ebenfalls Maler, aber Realist, während Mattia ein Idealist der alten Schule ist, die mit korrekten Linien und verschwommenen Ideen operiert. Der Sohn, pietätvoll und gut, sucht die Rolle der Mutter weiterzuspielen, was ihm der traurige Umstand erleichtert, daß Mattia erblindet. Nun sitzt der alte Herr im Atelier des Sohnes und wird bei allem, was an ihn herantritt, in der Ueberzeugung bestätigt, ein in seiner Laufbahn unterbrochener großer Künstler zu sein.
Einer der Hauptwünsche Mattias ist, der Sohn möge sich verheiraten. Tito aber hat Unglück gehabt. Mit einem Modelle, Cerisa, einem von den dämonisch schönen Mädchen, die Farinas Spezialität sind: ein zeitweise in Glut geratender Eiszapfen, die dem jungen Maler für einen Tag von vierundzwanzig Stunden sich hingegeben und ihn dann auf Nimmerwiedersehen verlassen hat. Cerisa, die aus dem Herzen Titos nicht weichen will, antwortet nicht mehr auf seine Briefe und hat ihm Freude und Hoffnung geraubt. Nun nimmt die Erzählung den Lauf dahin, daß Sofia, die Tochter eines in fast dürftigen Umständen lebenden Malers, zum alten Mattia ins Haus berufen wird, um ihm allabendlich gute alte Musik vorzuspielen. Zwischen Sofia und Tito entsteht ein Zustand wechselseitigen Vertrauens, das beide Teile um so sicherer für reine Freundschaft ansehen, als auch das junge Mädchen eine Art unglückliche Liebe im Herzen trägt: ein tiefes Mitgefühl für den jungen Lehrer Tonio hat sie ergriffen, der seinerseits wieder als hoffnungsloser Liebhaber der blonden schönen Schwester Sofias, Giudittas, welche gar nicht daran denkt einen armen Lehrer zu heiraten, jeden Abend Sofia erwartet, um sie nach Hause zu bringen (er ist der Cousin der beiden Mädchen) und um ihr auf dem Wege über Giudittas Grausamkeit klagen zu dürfen. Zu diesem armen Jüngling also hatte Sofia eine stille Neigung gefaßt und ihr Geheimnis Tito anvertraut. Man sieht, in wie bescheidenen Kreisen die Dinge sich ereignen.
Nun weiß Farina allmählich das Gefühl in den Leser einschleichen zu lassen, Tito sei getröstet ohne es zu wissen, und eigentlich sei auch Sofia bereits von Tonio zu Tito übergegangen, und eine der Szenen, in denen dies zum Durchbruche kommt, soll in der Uebertragung nun folgen.
Eines Abends also, nachdem Sofia dem alten Mattia Cimarosa oder Mozart vorgespielt hat, tritt Tito in hoher Aufregung mit einem Briefe herein, worin die längst verschollene Cerisa meldet, sie sei in unglücklich verlassener Lage und werde nächster Tage erscheinen, um ihm sein und ihr Töchterchen zu bringen, das er nun nicht verstoßen werde. Die fast in Schatten versunkene Schönheit steht als Mutter eines Tito gehörigen Kindes plötzlich wieder auf dem Kampfplatze! Für Tito und Sofia war die Stunde jetzt gekommen, sich klar zu werden, wie sie beide zu einander standen. Der Leser erwartet eine Erklärung und Farina scheint sie vorzubereiten. Es entsteht eine Art von Schwüle zwischen den drei Personen, die zusammensitzen und den Brief gelesen haben, bis Sofia, der ihre Gefühle zu übermächtig werden, aufsteht: sie wolle nach Hause gehen. Früher als sie gewöhnlich zu gehen pflegte. Man hält sie nicht und fragt nicht, warum. Sie macht sich fertig.
Hören wir nun das Weitere. Die Bescheidenheit, mit der Farina verfährt, die Gedämpftheit des Tones, in dem er erzählt, kennzeichnet seine Art und Weise.
»Ich gehe mit Ihnen zur Hausthüre hinunter,« sagte Tito.
Als sie unten waren, fügte er hinzu: »Fräulein, ich begleite Sie bis zu Ihnen ... Sie erlauben es mir?«
Das junge Mädchen gab keine Antwort.
»Dürfte ich Ihnen etwas sagen?« ... fährt Tito fort.
»Mir?« fragt Sofia mit unsicherer Stimme. Und, als suchte sie einen Schutz gegen etwas, von dem sie sich eisern eingeklemmt fühlte, sagte sie leise: »Tonio!«
Sofort aber auch bereute sie, Tonios Namen mit diesem Accent genannt zu haben, und setzte in ziemlich kunstloser Unbefangenheit hinzu: »Tonio bringt mich jeden Abend ja nach Hause; heute aber gehe ich früher als gewöhnlich. Vielleicht ist er noch nicht da. Wir wollen nachsehen.«
Sie machte die letzten Stufen der Treppe fast einen Sprung hinunter und zog die Hausthüre auf, damit ihr die kalte Nachtluft ins Antlitz schlüge.
Auch Tito sah die stille Straße hinunter.
»Niemand da,« sagte er. »Ich gehe also mit Ihnen?«
Dem Mädchen aber fiel ein, daß wenn Tonio doch vielleicht später käme, er dann in alle Ewigkeit hier stehen würde.
»Wir wollen aus ihn warten. Ist es Ihnen recht?«
Sie standen ein paar Augenblicke im äußeren Raume der Hausthüre; im Dunkeln fand Tito Sofias Hand. Aber er sagte noch immer das nicht, was er, wie ihm schien, dem Mädchen jetzt zu sagen hätte. Dann tönten schnelle Schritte durch die schweigende Straße heran.
»Tonio!« rief Sofia aus und machte sich von Titos Hand los, die sie zurückhielt. Jetzt, wo der Abschied dringend bevorstand, brachte Tito sein Geständnis hervor. Er sprach dem Mädchen dicht ins Ohr: »Sofia, was ich Ihnen zu sagen hatte, war nur dies, daß ich Sie liebe – daß ich dich liebe – daß ich jetzt gewiß bin, dich immer geliebt zu haben.«
Tonio war bis auf zwei Schritte heran.
»Gute Nacht,« preßte das Mädchen hervor und lief Tonio entgegen.
»Schon hier!« sagte der junge Mann, als er Sofia auf ihn losstürzen sah.
»Ja. – Ich wollte früh zu Bette gehen. – Signor Tito wollte mich begleiten. An der Thür aber sah ich dich.«
»Was hast du? Dir ist nicht recht wohl?«
»Sehr, sehr wohl!«
Sofia ging vorwärts. Sie ging, als hätte sie es sehr eilig. Ihr Begleiter hatte Not, ihr nachzukommen. Die Sache kam ihm fragwürdig vor.
»Sofia,« sagte er nach einer Weile, »du hast wahr und wahrhaftig nichts Unangenehmes erlebt?«
»Nichts; ich bin nur etwas aufgeregt. Ich könnte die Nacht ein bißchen Fieber bekommen. Fühle einmal ...«
Tonio machte Halt, um seiner Cousine den Puls zu fühlen. Es dauerte eine Weile. Er sagte, eigentlich verstehe er nichts davon, aber es komme ihm allerdings vor, als ob ...
Das junge Mädchen fing wieder an fast zu rennen und Tonio hinterher. So kamen sie an ihre Hausthüre. Jetzt nahm Sofia das Wort.
»Tonio,« sagte sie, »warte abends da nicht mehr auf mich. – Weißt du, ich hatte nie daran gedacht, daß du da manchmal lange zu stehen hättest.«
»Warum nicht?«
»Aus verschiedenen Gründen. – Und außerdem, ich will nicht in Begleitung gehen. Und dann ist auch sehr zweifelhaft, ob ich noch wie früher regelmäßig abends dahin gehe. Und wäre das dann nicht der Fall, dann ständest du unnötigerweise da und wartetest. Ich danke dir recht herzlich für alles Frühere und für alles was du in Zukunft gerne noch für mich gethan hättest. Hier aber soll nun ein Abschluß sein. Es ist mein entschiedener Wille.«
»Dein Wille?« fragte Tonio, der nicht wußte, was er denken sollte.
»Mein Wille! Wille ist das Wort dafür.«
Der junge Mann sah dahin und dorthin, als wartete er auf Worte für etwas, das nicht recht herauskommen wollte. Endlich sagte er mit schwächlicher Betonung: »Ich komme morgen – um zu hören, ob du Fieber gehabt hast.«
»Werde kein Fieber haben. Alles ist vorüber. Sieh.«
Tonio fühlte ihr wieder den Puls. Es sei ihm doch nicht unzweifelhaft, daß nachts nicht ein ganz leichter Anfall käme.
»Ich komme doch morgen.«
»Nun, so komm. Gute Nacht.«
Meine Phantasie wird durch den einfachen Wortwechsel in hohem Grade angeregt. Ich vernehme alles, ich sehe die jungen Leute vor mir. Ich höre Sofias Herz schlagen. Ich sehe sie ihre Schritte beschleunigen. Ich empfinde, wie sie, noch ohne zu wissen, was sie Tito antworten solle, sich symbolisch von Tonio loszumachen sucht. Man ahnt, daß Tonio selber begonnen habe, Sofia mehr um ihrer selbst willen allabendlich zu erwarten. Und wie Sofia das gleichfalls nun ahnt und wie sie, jetzt sicher wissend, daß Tito sie liebe, zugleich schon von neuen Bedenken sich bedrängt fühlt, die aus Titos Verhältnis zu Cerisa als Mutter seines Kindes hervorgehen: was ich hier bewundere, ist nicht die Erfindung dieser einfachen Erlebnisse, sondern die vollendete Kunst Farinas, sie uns verständlich zu machen, ohne sie auszusprechen.
Wie beinahe unmöglich aber, diesen Gesprächen in unsrer Sprache gerecht zu werden. Tito sagt zu Sofia: » la cosa che io le doveva dire è solamente questa, che le voglio bene. che le voglio bene tanto, che ora sono proprio sicuro di averle sempre voluto tanto bene.« Welcher Unterschied ist zwischen voler bene, mit der Steigerung voler tanto bene, und amare? Die Wörterbücher erklären voler bene richtig mit amare. In manchen Fällen ließe es sich mit gut sein, oder mit lieb haben übersetzen. Amare ist um eine Spur pathetischer, es drückt das vollendete Gefühl aus, voler bene mehr nur erst den Weg dazu. Der Schluß der Novelle bringt ein kurzes Gespräch zwischen Tito und Sofia. Ma io t'amo molto e non soffro, sagt sie. Mi amerai anche di più ... vedrai – antwortet er. Warum heißt es hier nicht ma io ti voglio bene tanto etc.? – weil amare hier eingestandene Liebe als fertigen, feststehenden Zustand meint, voler bene aber nur Sehnsucht, die der eine und der andere hegt, das noch unausgesprochene Gefühl, das erst zum amare werden wird, bedeutet. Wie aber hätte ich in unserem Falle ohne »lieben« oben auskommen sollen? Hätte ich übersetzt: Was ich dir sagen wollte, Sofia, war nur dies: daß ich dir von Herzen gut bin, daß ich dich lieb habe, daß du mir teuer bist, daß du etc. Alles das würde hier die rechten Dienste nicht geleistet haben. Und dann sagt er, che le doveva dire, worin nicht nur liegt, daß er sprechen wollte, sondern auch zu sprechen sich verpflichtet fühlte, und zwar eine Mitte zwischen beiden, an sich ja völlig nichtbedeutenden Wendungen. Dennoch liegt in dem simplen doveva gerade deshalb hier so viel, weil Titos Gedanken sich dadurch offenbaren; in der Umschreibung würde doveva etwa lauten »die Dinge sind so weit gekommen, daß ich nicht mehr schweigen darf: meine Pflicht ist, mich auszusprechen, deine, mich wenigstens anzuhören« etc. Mancher andre Schriftsteller hätte genau die gleiche Phrase schreiben können » la cosa che io le doveva dire« ohne daß es uns einfiele, den Klang der Worte in Betracht zu ziehen, es sind Worte wie andre Worte: hier aber erwägt man sie! Le voglio bene wird unzählige Male von italienischen Lippen hingesprochen: hier aber, bei der Fassung dieses Geständnisses kommt es auf sie an, als seien sie nie zuvor gebraucht worden. Tito will zu dem jungen Mädchen nichts von einer Leidenschaft sagen, die sie ihm einflöße, sondern nur auf das Eindringlichste aussprechen, daß sie ihm jetzt näher stehe, als jedes andre sterbliche Geschöpf; darauf kommt es hier eben an, daß dies von ihr empfunden werde, Amare hätte hier litterarisch kalt geklungen, viel intimer mußte das rechte Wort lauten, und so sagt Tito denn le voglio bene, und fährt fort: le voglio bene tanto, eine Steigerung, die, wenn wir le voglio bene mit »ich liebe dich« übersetzen, wiederum im Deutschen nicht zu erreichen war. Jeder kennt das Volkslied mit dem Refrain: Ti voglio ben assai, ma tu non pens' a me – wie sollte dem vollen Umfange nach das deutsch gegeben werden? Welcher Unterschied waltet zwischen assai und tanto? Es ließe sich erwidern, daß beide Worte hier durchaus dasselbe ausdrücken und vielleicht täusche ich mich nur, wenn ich trotzdem einen Unterschied empfinde, Ti voglio ben assai, heißt abschließend, ich liebe dich sehr; ti voglio ben tanto besagt: so sehr, daß – und ein Rest von Gedanken, der unausgesprochen bleibt. Wie wir sagen: ich liebe dich so sehr! – keine abgebrochene Phrase, aber als solche zu denken. Vielleicht sind das alles viel zu fein empfundene Unterschiede. Der eine Autor aber reizt uns, solchen Deutungen nachzugehen, der andre übt diesen Reiz auf uns nicht aus.
Möglich sogar, daß ein Italiener sagen könnte, es würde hier nach minimalen Effekten von mir gesucht, die vom Dichter nicht beabsichtigt seien. Jedenfalls aber wird, wo es sich um so zarte Accente handelt, die Sprache von Autoren ersten Ranges in der Uebertragung stets einbüßen. Vielleicht genügt für das rechte Verständnis hier nicht einmal die Kenntnis des Italienischen, die langes Studium und lebendiger Gebrauch dem Nichtitaliener gewähren, sondern der Leser müßte ein geborener Italiener sein, um einem modernen italienischen Autor ganz gerecht zu werden. Dennoch habe ich mich kaum jemals getäuscht, wo ich das Phänomen erlebte, daß einfache Worte in gewissen Fällen sich mit einem Gedränge von unausgesprochenen Worten gleichsam umgaben, aus denen nach verschiedenen Seiten sich neue Perspektiven eröffnen. Dichter vermögen Worte in einen Zustand von Elektrizität zu versetzen, daß sie Funken sprühen, wenn unsere Blicke sie berühren. Ich erinnere als an den vielleicht höchsten Effekt dieser Art, an Dantes quel giorno più non vi leggemmo avante. Wie nichtssagend dieser Satz und von wie erschütterndem Inhalte für die, die zu empfinden im stande sind, was an Gedanken von diesen sieben Worten an dieser Stelle umschlossen wird. Ich will Dantes berühmte Stelle natürlicherweise nicht mit irgend einer andern und somit am wenigsten mit dem in Vergleich bringen, was Tito der guten Sofia im Dunkeln vor der Hausthüre atemlos ins Ohr sagt, sondern ich führe Dantes Verse hier nur an, um zu beweisen, wie gewöhnliche Worte durch das, was ihnen der Dichter an umfangreicherer Bedeutung mitgibt, in ihrer Wirkung erhöht werden können.
Diese Mitgabe muß einer ganzen Dichtung eigen sein, wenn sie ein ideales Ziel verfolgt. Farina sagt in der Vorrede, die seinige wolle nur in einige Falten des menschlichen Herzens hineinleuchten, in die der Einblick selten offen stehe. Wir müssen sie mit den übrigen Arbeiten des Autors vergleichen, um zu gewahren, welche Aufgaben er sich diesmal stellte und wie er in deren Aufstellung wie Lösung sich zu immer höherer Vollendung erhebt. Wir bemerken dieselbe Sparsamkeit der angewandten Mittel zugleich mit Erreichung desselben Eindruckes auf unsere Phantasie bei der Szene der Zuführung des Kindes, welches Mattia, der blinde Großvater, und Sofia in Empfang nehmen. Auch hier nur ein reporterhaft kahler Bericht unbedeutender kleiner Handlungen, aber der Leser glaubt dabei zu sein. Man empfängt ein Gefühl des liebevoll vertraulichen, aber, wenn man in die weiteste Zukunft voraussehen wollte, frech angelegten Charakters des Kindes. Man sieht es vor sich bei seiner Krankheit, bei seinem Tode, der dann Sofia von dem letzten Skrupel befreit, Tito angehören zu dürfen. In meisterhaft launigem Tone ist auch erzählt, wie zu gleicher Zeit die schöne Giuditta, nur um reich zu werden, einen reichen Börsenagenten heiratet, einen gutmütigen, verspätet jugendlichen Mann, dicht vor fünfzig, der bei geringen Ansprüchen sterblich in sie verliebt ist. Ueberall nur wenige andeutende Worte. Die Führung der Novelle auch in der Richtung, daß der blinde alte Mattia endlich dahinter kommt, er sei kein »großer Künstler« und habe sich in Demut mit dem genug sein zu lassen, was ihm an Glück und Zufriedenheit trotzdem zu teil werde, ist vortrefflich. Nur reiche Lebenserfahrung, verbunden mit natürlicher, großer Güte des Herzens, konnten einen Schriftsteller befähigen, diese, fast möchte man sagen, gleichgültigen Lebenserfahrungen so freundlich in ihren feinsten Wurzeln zu verfolgen und vor uns auszubreiten. Ich wüßte auch unter den heutigen Schriftstellern (ich würde Claude Tillier, den in Frankreich so gut wie unbekannten größten französischen Humoristen ausnehmen, wenn er nicht bei jungen Jahren lange schon gestorben wäre) keinen, dem wehmütiges Lächeln hervorzurufen gegeben wäre, wie Salvatore Farina. Wie eine leichte Lasur bringt er den Hauch dieser Stimmung hier und da über Teile seiner Erzählung. So, wie er Titos unschuldige List beschreibt, am Neujahrstage durch Zumischung von Karten aus früheren Jahren seinem nur durch Tasten die Dinge erkennenden Vater das Gefühl zu schaffen, ein unvergessener, von Leuten hohen Ranges noch aufgesuchter Mann von Ruf zu sein. Und wie Mattia in unschuldiger Prahlerei sich die abgegebenen Visitenkarten vorlesen läßt, und der alte Salvi, Sofias Vater (resigniert ehrgeiziger und verkannter Maler auch er seines Zeichens) nicht begreifen kann, daß Leute, die schon vor zwei Jahren gestorben seien, jetzt noch bei Mattia Neujahrsvisiten abstatten. Und wie zartfühlend Mattia dann vor Tito verbirgt, daß er den frommen Betrug entdeckt habe, sich für sein Teil aber das Seinige daraus zu ziehen weiß. Oder wie Salvi selbst endlich einmal an einen Fremden, der im Hotel Manin wohnt, ein Bild verkauft hat und wie er den Glücksfall in bescheidenem Selbstgefühl seinen Töchtern mitteilt, mit dem Entschlusse zugleich, dem Gemälde nun noch, ehe er es aus den Händen gebe, einige letzte Meisterstriche zuzufügen, und wie die beiden Mädchen sich still sofort verständigen, dies müsse durchaus verhindert werden. Und wie klug und siegreich sie den Vater dann auch von der Idee abbringen, sein (älteres) Werk ohne diese letzte Vollendung abzuliefern. Oder wie, nachdem Giuditta und auch Sofia endlich verheiratet sind und der alte Salvi dem armen Tonio, der weder die eine, noch die andere bekommen hat, das nun unbenutzte Zimmer der Mädchen vermietet, und wie er ihm beim ersten Abend sagt, dies sei Giudittas und dies daneben Sofias Bette: Tonio könne sich legen, in welches er wolle. Und wie der Schulmeister, endlich in Sofias Bette ausgestreckt, aus der ihn umgebenden Finsternis in das runde Mansardenfenster hineinsieht, das ihm gerade gegenüber ein paar Dutzend Sterne ihm in die Augen leuchten läßt. Es ist nicht so leicht, ein Zimmer so zu beschreiben, daß man sich wirklich darin empfindet. Ein Zimmer hat seinen besonderen Geruch, ist oft ein bißchen zu hoch oder zu niedrig, zeigt, wenn nachts die Laternen die Fensterkreuze durcheinander oben an die Decke malen, wunderliche Konstellationen schwachheller Flächen und Linien, oder läßt Ecken von Bilderrahmen im Halbdunkel schimmern und erweckt Gefühle von Behaglichkeit. Direkt läßt sich das nicht beschreiben, ein Schriftsteller deutet die Dinge unmerklich an: plötzlich sieht man alles vor sich, als sei man Jahre da aus und ein gegangen. Dieses Schlafzimmer der Mädchen mit dem runden Fenster kennt man gleich wie sein eignes. Schon früher hat der Dichter Sofia in ängstigenden Gedanken im Dunkel dasitzen und lauschen lassen, ob vom Lärm der Straße nicht ein Ton heraufdröhne, oder ob nicht das alte Bild ihrer seligen Mutter, sei es auch nur durch das leiseste Knistern, zu erkennen gebe, was nun zu thun oder nicht zu thun sei. Salvators Farina weiß uns, wohin er uns führt, heimisch zu machen. Und wenn man nachforscht, wie ihm das gelungen sei, findet sich nichts Besonderes.
Damit dies alles möglich würde, bedurfte es für Farinas Dichtungen eines festen provinzialen und städtischen Grund und Bodens, dem die Ereignisse und Menschen entwüchsen. In der gesamten Reihe seiner Dichtungen repräsentiert er das, den deutschen Reisenden manchmal so glänzend, manchmal aber auch so ungemütlich anmutende Mailand, die reiche Stadt, in der das italienische Leben heute am gesundesten sich manifestiert. Rom ist die politische Hauptstadt Italiens, der ein Wust von Bildung und Roheit, ein Knäuel von gemeinen und edeln Interessen, und die ungeheure Bewegung der zufällig hier zusammengewehten energischsten Elemente Italiens die Ruhe nicht gewährt, deren es für geistige Produktion echter Art bedarf. Auch dem oberflächlichen Lärmmacher kann es hier wie in Paris oder Berlin gelingen, sich für den Moment Gehör zu verschaffen. Florenz ist die süße klassische Schwätzerin, die sich das ewige Märchen von ihrer eigenen literarischen Größe wiederholt: in Florenz schreibt man literarisch am wohlklingendsten, hat am wenigsten aber zu sagen, als würden diese sanften Sätze nicht nur Lebenden vorgetragen, sondern zugleich längst dahingegangenen Generationen in ihre Grabstätten hineingeflüstert. Mailand ist der Ort, wo Italien am frischesten arbeitet und am gesundesten denkt. Ohne Zweifel darf die »Perseveranza« als das vernünftigste italienische Blatt gerühmt werden. Mailänder und mailändische Frauen beleben Farinas Erzählungen, Mailänder Gespräch und Geschwätz klingt uns daraus ans Ohr, die lombardische Ebene und die Riviera sind der Schauplatz ihrer Erlebnisse. Diese Mailänder und Lombarden unseres Dichters sind anders geartet als die Bewohner der südlichen Teile der Halbinsel. Ihr Land ist nicht durch das umschließende Meer auf sich beschränkt, sondern mit dem festen Kerne Europas dicht verbunden. Sie arbeiten anhaltender. Sie wissen nichts von klassischen Vergangenheiten. Sie grenzen an germanisches Land und es zeigen sich, wo sie einander berühren, gemeinsame Interessen und gemeinsames Verständnis. Es ist kein Zufall, daß Salvators Farinas Werke in Deutschland so gern gelesen werden. Fast wird einem zu Mute, als hätten seine idealen Figuren mehr als über die Hälfte deutsches Blut in den Adern. Vielleicht ist dies der Grund auch, warum Farinas Ruhm in Rom und Toskana weniger Gedeihen findet als bei uns. Die Tiefe der Empfindung, die er seinen Gestalten verleiht, die Unfähigkeit, die sie oft befällt, Worte für ihre Gefühle zu haben, die Zurückhaltigkeit, die Freude am Inneren des Hauses, der Genuß am Leben der Bäume und Blumen sind Eigentümlichkeiten, die sie mit den Römern und Florentinern nicht teilen, welche in der blühenden und grünenden Natur mehr das Dekorative im ganzen bewundern, ohne den feineren Unterschieden der Erscheinungen gerecht zu werden. Diese Anschauung tritt schon bei Dante, Raphael und Michelangelo als Repräsentanten des mittleren Italiens hervor. Das Detail entging ihnen nicht, bei der Darstellung der Dinge aber ordnen sie es dem Allgemeinen unter. Nirgends haben Raphael oder Michelangelo Blumen angebracht, die etwas von botanischer Vorliebe bezeugten, nirgends bei Gewändern den Stoff, aus dem sie bestehen, oder bei Händen und Füßen ihrer Figuren individuelle Eigentümlichkeiten hervortreten lassen. Nirgends auch hat Dante etwas von dieser Kleinbeobachtung, so scharf realistisch seine Beobachtungen sowohl als auch die Worte sind, in denen er sie niederlegt. Dagegen Lionardo, dem Mailand die letzte Entwickelung gewährte, hat diesen Zug nach naturwissenschaftlicher Treue, dem er sich, in seinen Zeichnungen zumal, in überraschender Weise zuweilen hingibt. Sollte zu Lionardos Zeiten schon diese Art, die Dinge zu betrachten und darzustellen, den Bewohnern der Poebene im Blute gelegen haben? – die miniaturhafte Wiederholung dessen, was die feinsten Adern des natürlichen Wachstums dem liebevollen Blicke gewähren? Werden zukünftige Physiologen in dem Auge der Nationen und sogar der einzelnen Provinzialen eines Landes Unterschiede des Baues und der Nerventhätigkeit nachweisen, die diese Verschiedenheiten als notwendige und konstante Faktoren erklären? Sicherlich fungieren die Sehorgane eines Deutschen anders als die eines Italieners. Farben und Linien stellen sich den Blicken je nachdem schwächer oder stärker dar und die Unterschiede der Werke der bildenden Künste sind hieraus zu erklären. Und die Verschiedenheit der Schulen innerhalb Italiens und Deutschlands geht auch auf solche Differenzen zurück. Ein venezianisches Auge sah anders als ein florentinisches, und Rubens anders als Dürer. An die zarte Ausführung der Dürerschen Kupferstiche erinnert Salvators Farinas Manier zuweilen. Dürers »Hieronymus im Gehäus« wäre ein Werk, das seinem Sinne entspräche: sonntägliche Ruhe mit Sonnenschein im Zimmer. Stille eines Winterabends oder einer Frühlingsnacht weiß er wunderbar zu schildern, wo man eine Nachtigall schlagen hört, ohne daß davon geschrieben worden wäre. Auf ganz leisen Sohlen wandeln die Gefühle oft, die er schildert, durch die Menschenseele.
Er hat keine Tendenz in seinen Schriften, obgleich er es manchmal uns einreden möchte. Er will immer auf das hinaus, was gut und schön und friedlich ist. Das Verderbte stellt er nur als Abwesenheit des Guten dar, das versteckt immer da ist und den Hintergrund bildet, von dem die Dinge sich abheben. Er will, auch wo er das Schreckliche schildert, kein Erfinder erschütternder Ereignisse sein, sondern nur ein freundlicher Berichterstatter. Er erinnert an Dickens, der auch der gute Freund seiner Geschöpfe ist und der eines jeden seiner Leser sein möchte. Salvatore Farina würde sich scheuen, denen, die seine Schriften etwa lesen möchten, auch das Geringste vorzusetzen, das der inneren Wahrhaftigkeit entbehrte. Ich glaube, daß dies Element des wirklichen Daseins, das er so durchdringend beobachtet und schildert, seinen Werken Dauer verleihen wird. Es liegt etwas Jugendliches in ihnen, das langes Leben verspricht.
Wie oft freilich hat solcher Anschein sich als Täuschung erwiesen. Die ganze ungeheure Dorfgeschichtenlitteratur, von deren historischer »Mission« einst gesprochen wurde, löst sich auf in den künstlich erzeugten Anschein einer Existenz, die niemals war und niemals sein kann. Die Verbrecherlitteratur, die, zu derselben Epoche etwa, aus dem Vorbilde der Sueschen »Geheimnisse von Paris« herausgesponnen wurde, hat ebensowenig realen Untergrund gehabt. So fein ausgearbeitete Schurken bringt die Natur nicht hervor, deren Modellierhölzer ganz anders arbeiten. Und so wird sich vielleicht auch einmal herausstellen, daß Turgenjews und seiner Schule angefaulte russische Nationalfiguren einen größeren Prozentsatz an Pariser Salonblut in den Adern haben, als man heute noch aussprechen darf. Sollte die Bewohnerschaft des russischen Reiches wirklich in einzelnen Exemplaren so viel Geist und so viel blank ausgemünzte Verderbtheit liquide haben? Die russischen Dichter haben früher mehr Byron, und heute mehr Balzac in sich ausgenommen, als wir in Anschlag bringen. Wird jemals aber behauptet werden, Goldsmiths Vikar of Wakefield sei nicht ein treues Abbild englischen Daseins, oder Dickens, dieser geniale Phantast, lasse, was Wahrheit und Wirklichkeit anlangt, etwas zu wünschen übrig?
Es gibt eine liebevolle Beobachtung der Menschen und der Dinge, die nicht veraltet. Der klargeschliffene Spiegel einer Künstlerseele fängt Menschen und Dinge auf und aus den Abbildern dieser Bilder entsteht ein Kunstwerk. Ein Künstler, der Bleibendes schafft, hat keine Absichten. Er ist kein Professor, der etwas erklären oder beweisen will. Ein Drang und eine Fähigkeit unbekannter Herkunft nötigen ihn zur Arbeit und gewähren die Mittel dazu. Die Resultate solcher Arbeit, die in bester Qualität zu schaffen nur wenigen vergönnt sein kann, gehören zum allgemeinen nationalen Reichtume und ihr innerer Besitz ist für jedermann vorteilhaft.
Mir scheint, als würden Salvatore Farinas Erzählungen unter die Zahl dieser Arbeiten später einmal ausgenommen werden. Ob meine Vermutung zutreffe, kann heute nicht entschieden werden. Viele Autoren erleben nicht, daß ihr definitives Gewicht festgestellt wird. Unser Neujahrgruß an den Dichter lautet: Möge Salvatore Farina in vielen folgenden Werken seinen Landsleuten und uns zeigen, wie viel weiter noch das Reich der Phantasie sei, das er beherrscht, im Vergleich zu den schönen Provinzen, die er uns daraus bis jetzt erschlossen hat.
Den 31. Dezember 1887.
Herman Grimm.