Autorenseite

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Siebtes Kapitel

 

»Ich erlaube Dir, jetzt wieder Sosias zu sein.«

Deyden

 

Heinz Kiwitz

Sie gingen heim vom Begräbnis der Muhme und Großmuhme Thalerin: der Bauer Spatt und seine Tochter Monika; hinter ihnen ein kleiner, in seiner sauberen Gewandung aber würdig aussehender Zug, die Knechte und Mägde des Hofes, aus deren Haufen um eines Hauptes Länge der Knecht Enak ragte.

Ach, alle waren sie gewesen am Grabe, ihr die letzte Ehre zu geben, alle die vom Spatzenhof, nur jener eine, den die arme Petronilla wohl am liebsten dort gesehen hätte, der Herr Rat Asio, der hatte gefehlt. Denn der Herr Rat war, als er am Morgen der Petronilla Tod und die Abgängigkeit des falschen Guntram gemerkt, ohne ein weiteres Wort und recht finster abgereist in die Stadt.

Und auch die andre, die der Petronilla Thalerin auf dem ganzen Hofe die Liebste gewesen war, ihre Schülerin und geringe Mitzauberin, die Elster Zilli, hatte nicht zum Kirchhof mitgehen können: mit einer recht passenden Magenverstimmung lag sie zu Bette, denn die Hexen, wenn es auch nur kleine Gelegenheitshexen sind, können den Anblick eines Pfarrers nur schwer ertragen und ein laut gesprochener Segen gar bereitet ihnen arge Schmerzen.

Die Leute hinten tuschelten leise miteinander. Noch hatte sich keines von ihnen so recht satt reden können an dem Wunder, das sich mit der Petronilla im Tode begeben, wie sie dagelegen sei in dem schwarzen Mantel junger Haare, und wie dieser Mantel dahingeschwunden sei bei der Einsegnung des Herrn Pfarrer, bis die Tote wieder kahlköpfig dagelegen habe und man ihr den künstlichen weißen Scheitel und das Häubchen hatte aufsetzen müssen. Ja, dies war ein grausiges Wunder gewesen, und nicht umsonst war der städtische Herr Rat mit dem gelben Blick so rasch von dannen gefahren – ohne Schuld an diesem Tode und diesem Wunder war der bestimmt nicht!

Während sie hinten so tuschelten, sprach vorne die Monika zu ihrem Vater: »Ja, lieber Vater, nun ist sie tot und begraben, und wenn ich auch nicht ganz, wie es sich gehört, am Grabe über ihrer Leiche habe weinen können – denn richtig lieb haben wir uns nie gehabt, und ich weiß kein einziges Mal, daß sie mich in ihre Arme genommen und geherzt hätte, – fehlen wird sie uns doch im Hause! Wer wird mich jetzt nach dem Breitlauf des Zuckers fragen und nach der großen Kugel –?! Und das Rezept ihrer Essigpflaumen, das ich immer einmal aufschreiben wollte, habe ich nun auch nicht. Wenn nun der Steintopf im Keller leer gegessen ist, wirst Du keine mehr vorgesetzt bekommen, lieber Vater.«

Kummervoll seufzte der Bauer, aber nicht wegen der Essigpflaumen, sondern er sagte: »Ach, Mönchen, liebes Mönchen, mir ist so schwer ums Herz wie noch nie. Wenn es nicht eine Sünde wäre, dies auf dem Heimweg vom Friedhof zu verlangen, würde ich Dich fast bitten, mir einmal Dein altes Harmonikalachen vorzulachen, – es würde mir sicher leichter. Der Herr Rat Asio ist ein sehr mächtiger Mann in der Stadt, und es ist kein Zweifel, daß er im Zorn von uns gereist ist, hat er mir beim Abschied doch weder die Tagesstunde geboten noch die Hand gereicht.«

»Wir sind nur kleine Menschen, Vater«, sprach die Tochter tröstend, »und der Herr Rat ist nun wieder in der großen Stadt und hat unsere kleinen Geschäfte längst vergessen.«

Kummervoll schüttelte der Bauer den Kopf: »Daß ich es Dir gestehe, Mönchen, seit er fort ist, fehlt in meinem Schreibschrank die Urkunde, durch die den Spattens der Hof zu freiem Eigentum verliehen ist. Ich fürchte sehr, mit schlimmen Plänen geht der arge Mann um.«

»Lieber Vater«, antwortete das schöne Mädchen herzlich, »was sorgest Du Dich doch so unnötig! Wir tun das Rechte und wir wissen darum, daß es mit uns auch recht werden wird. Kommt einmal eine schlimme Zeit, so werden wir sie schon überstehen und uns um so mehr auf die sicher nahen guten Tage freuen. Merke, daß ich fast täglich der lieben Mutter einige Zeilen von uns schreibe. Früher spürte ich sie fast nie, aber in den letzten Tagen ist es doch, als weile sie fast ständig bei mir. Was kann dem geschehen, der von solcher Liebe beschirmt wird?«

Über diesen vertrauenden Worten richtete der Bauer den Kopf fester auf, straffte den Rücken grader. »Du hast ja recht, mein liebes Mädchen«, sagte er. »Ich will mich auch nicht mehr sorgen. Kleinmut war es von mir, auf das geschriebene Papier hin mit dem Asio paktieren zu wollen und Dich dem häßlichen Pieper anzuvertrauen. Da hätte ich Dich doch lieber dem anderen geben mögen, der war ein rechter Bursche mit offener Stirne – aber der ist fort, über alle sieben Berge, und wir werden ihn nicht wiedersehen.«

Rot färbten sich bei des Vaters Worten die bräunlichen Wangen des Mädchens, aber einer Antwort – und vielleicht einer kleinen Notlüge – ward sie enthoben, denn unterdessen waren sie ins Haus getreten. »Was ist das?!« rief erschrocken der Bauer, denn tosender Lärm scholl aus dem Dachgeschoß. »Sind, als wir ferne weilten, Räuber ins Haus gedrungen und metzeln die arme Zilli?!«

In ganz unziemlicher Hast liefen trotz der Trauerkleidung Vater und Tochter nach oben, eilig folgte das Gesinde, neugierig, was sich nun wieder begeben. Aber nicht in der Zilli Kammer brauste der Lärm, sondern aus Monikas Stube klang das Geräusch wilden Kampfes. Mit einem frommen ›In Gottes Namen‹ öffnete der Bauer beherzt die Türe, und da sah er nun freilich, daß sie es dieses Mal weder mit Räubern noch mit Zauberei zu tun hatten, sondern daß bloß eine verlaufene Katze, ein häßliches, einäugiges Vieh, auf der Monika Sperling Jagd machte. Und so gänzlich versessen war das Tier auf seinen Fang, daß es, der Zuschauer nicht achtend, mit einem großen Satz vom Schranksims nach der Decke sprang, unter der, ängstlich flatternd und fast völlig erschöpft, der Spatz sich hielt. Aber der sah gleich die Rettung, mit einem fröhlichen Piep flog er der Monika auf die Schulter und schmiegte seinen zitternden Leib an ihre Wange, indes die Katze schwer zu Boden fiel.

Dort haschte sie der Knecht Enak und hielt die sich mit Krallen und Zähnen zur Wehr Setzende fest in seinen großen Händen. »Es ist die Katze vom Müller Packan, Bauer«, sagte er. »Ich erkenne sie, so schlimm sie auch zugerichtet ist, seit wir uns zuletzt gesehen haben, an dem schwarzen, wie ein Schürhaken geformten Fleck auf der Hinterbacke. Ein wahres Höllenvieh ist das, Bauer, eine Stromerin durch die ganze Gegend, und ich hoffe, der Herr erlaubt mir, sie, so wie ich sie hier halte, in den Brunnen zu werfen. Denn einen ehrlosen Tod hat sie zehnmal verdient.«

Kläglich miaute die Katze, und der Bauer sprach verweisend: »Daß ich solche Reden nicht noch einmal von Dir höre, Enak! Dies ist nicht unsere Katze, und nie war es der Spatten Gewohnheit, sich an anderer Leute Eigentum zu vergreifen. Sofort steckst Du das Tier in einen Sack und trägst es zum Windmüller. Sage ihm ein Kompliment vom Bauern Spatt, und er möge sein Tier besser hüten, sonst könne es doch einmal sein, daß es ihm in Verlust geriete. Und, Enak«, setzte der Bauer warnend hinzu, »laß es Dir nicht einfallen, der Katze irgend etwas zu Leide zu tun! Ich kenne Deinen störrischen und rachsüchtigen Sinn; kaum erst habe ich Dir die Mißhandlung des Gastes verziehen, bist Du mir aber wieder ungehorsam, bist Du mein Knecht gewesen.«

Brummend wollte sich der Knecht mit der Katze entfernen, da rief ihm noch die Monika zu: »Sorge Dich doch nicht, Enak, um das Totenmahl! Von allem, was es gibt, lasse ich Dir warm stellen, und macht Dir der weite Weg in der kalten Luft auch noch so viel Hunger: aufessen sollst Du nicht können, was Dir zurückgestellt wird.«

Aus dem Brummen wurde ein Lachen, lachend drückte der Knecht die Katze fast zärtlich an sich und rief: »So will ich denn diese Unheilstifterin ihrem Herrn so ungekränkt abliefern, als sei sie die fleißigste, bravste Mauserin. Ich verspreche es.«

Damit ging er. Die andern aber stiegen hinab zur Diele, eilig trugen die Mägde, was im Backofen und in der Wärmeröhre bereit gestanden, herbei. Gerade hatte der Bauer das letzte Totengebet gesprochen und die Hände faßten schon nach Löffel und Messer, nun wieder dem Leben sein Recht zu geben, da klopfte es derbe gegen die Tür, und als man öffnete, traten ein der Herr Asio, fest an der Hand den falschen Guntram. Hinter ihm aber stand der prächtig gekleidete Weibel mit zwei Stadtsoldaten.

»Hier!« rief der Rat und entfaltete in hämischer Freude ein Blatt Papier, »bringe ich Euch, hochverehrter Herr Ex-Bauer Spatt, rechtskräftiges Urteil und Spruch des Gerichtes, daß Ihr zu räumen habt noch in dieser Stunde den Spatzenhof, den Ihr zu lange schon ungebührlich besessen, die vater- und mutterlose Waise, das Bruderkind, arglistig beraubend. Räumt Ihr gutwillig, so sollen Euch Eure mannigfachen Vergehen und Fehle in Gnaden verziehen sein; seid Ihr aber, wie ich aus Eurer Zornesmiene errate, gewillt, widerspenstig zu sein, so haben diese Krieger den Auftrag, Euch in Ketten zur Stadt zu führen und in das dunkelste Verließ des Hungerturms zu verwerfen.«

Zornig murmelte ob der frechen Rede das Gesinde, und das große Bratenmesser in des Bauern Hand blitzte bedrohlich. Leicht war blutiger Kampf möglich, denn der Weibel schüttete schon Pulver auf die Pfanne seines Pistols, indes die Soldaten ihre breiten Schwerter entblößten.

Doch beherzt trat Monika zwischen die Männer und sprach sanft zum Vater: »Lieber Vater, ich bitte Dich herzlich: weiche doch nur der Gewalt! Sieh, leicht wäre es Euch möglich, jetzt diese Büttel in die Flucht zu schlagen. Aber morgen wären sie wieder als reisiger Bann da, unzählbar, und würden Euch mir fortführen. Soll ich denn zur Mutter auch noch den Vater verlieren? Oder wollt Ihr mich, wie ein ehrloses Mädchen, mit dem Burschen dort zusammenkuppeln, der feige, halb ohnmächtig schon vom Geruch des Pulvers, hinter den Schößen des Rats zittert – bloß um den Hof zu retten?! Der Hof bleibt uns erhalten, gerade wenn wir stille von hinnen gehn. Ich habe Euch doch gesagt, wer jetzt stets um mich ist; diese Stimme sagt mir: weiche und Du wirst gewinnen!«

Lange stand der Bauer in schwerem innerem Kampf, gespannt sah das Gesinde in sein Gesicht, das Messer in seiner Faust hob und senkte sich – dann legte er es zurück auf den Tisch. »Ich will tun, liebe Tochter, wie Du sagst!« sprach er. »Einmal habe ich in Zornesmut meine Pflicht vergessen, und der Bruder starb mir fast darüber. Leicht möchte ich jetzt die Tochter verlieren. Es wird mir vergönnt sein«, fragte er den Weibel, »in den Stuben zusammenzupacken, was mir und meiner Tochter Eigentum ist?«

»Auf dem Papier«, sprach der Weibel bereitwillig, »steht nur von Haus und Hof geschrieben. Packet immer ein, verehrter Herr Spatt, was Euch persönlich gehört, und glaubet nicht, daß wir Euch drängen. Ist am Abend der Hof übergeben, ist es frühe genug. – Manche Pflicht«, so setzte er leiser hinzu, »scheint auch dem harten Vollstrecker der Gesetze widrig; aber wie der Befehl ist, muß der Gehorsam sein.«

»Ich aber«, rief der Rat eilig, »will dabei stehn, wenn gepackt wird, sonst möchte es sein, daß mein Eigentum sich in fremden Laden einnistet. Vor allem aber, Mädchen Du, gib mir den Spatzen wieder, den ich da auf Deiner Schulter sehe. Du weißt wohl, er ist mein Eigentum und mir von Dir nur geraubt.«

Ängstlich griff Monika nach dem Vogel, der aber, als habe er die Worte verstanden, flog eilig zur offen gebliebenen Tür. Über die Köpfe der Soldaten fort schwang er sich ins Freie.

»Schießt, Weibel, schießt!« schrie der Rat in wildem Zorn. »Das ist ein wahrer Höllenvogel, und lieber wollte ich ...«

Unwillkürlich hatte der Weibel das Pistol gerichtet und abgedrückt. Dröhnend fuhr der Schuß aus dem Rohre. Mit einem Wehschrei sank der falsche Guntram, als sei er getroffen, ohnmächtig zu Boden, der Spatz aber schwang sich triumphierend piepend unversehrt in die Lüfte und entschwand rasch den Blicken.

»Gehn wir also packen«, sprach ernst der Bauer. »Ich errate, Herr Rat, daß dies nicht Euer einziger Fehlschuß bleiben wird.«

Doch der Herr Rat Asio hörte ihn gar nicht. Eilig lief er treppauf, um die Elster Zilli zur Verfolgung des Geflohenen zu entsenden.

 

Heinz Kiwitz

Fünftes Einsprengsel

 

 

 

Von dem Zwiegespräch zwischen
der Zauberkatze Mimi und dem Knechte Enak

 

Während diese Dinge sich auf dem Spatzenhofe ereigneten, marschierte der Knecht Enak ganz munter den langen Weg durch den Wald zur Packan'schen Mühle. Eisig pfiff ihn der Nordwind an, aber vergnügt dachte er des reichen Mahles, das seiner wartete, und schwenkte den Sack mit der Katze im Takt seiner Schritte. Doch je weiter er ging, je weniger konnte er überhören, daß es in dem Sacke gar jämmerlich miauzte. Schließlich wurde es ihm zuviel des mißtönenden Klagegeschreis, vor sich legte er den Sack auf die Straße und mahnte ernst: »Benimm dich manierlich, du Katze, und laß ab von deinem Klagegeschrei! Mich deucht, recht gut bist du abgekommen von deinem Frevel, da ich dich mit heiler Haut ungekränkt zu deinem Herrn tragen muß.«

Leise, mit heller Stimme lispelte es da aus dem Sacke: »Enak, höre mich an ...«

»Ohaua – haua – ha!« rief da Enak verblüfft. »Reden die Katzen jetzt deutsch?! Das ist mir eine gottlose Mode, ich möchte wohl wissen, was der Herr Pfarrer dazu sagen würde.«

»Enak«, sprach es wieder hell aus dem Sack. »Ich bitte Dich, trage mich nicht zum Müller, der wegen eines vernichteten Taufschmauses großen Zorn auf mich hegt und mich erbarmungslos erschlagen würde. Ich bin gar keine Katze, sondern ein verzaubertes Mägdlein.«

Heinz Kiwitz

»Da soll doch der Teufel sich selber küssen!« rief Enak und kratzte sich den Kopf. »Das ist eine harte Nuß für einen ehrlichen Knecht. Denn bist du keine Katze, so bindet mich mein Wort an den Herrn nicht, und ich muß dich gewißlich wegen deiner Freveltaten erschlagen. Bist du aber eine Katze, so muß ich dich dem Müller geben, der dir flugs das Fell über die Ohren streifen wird.«

»Laß mich frei, guter Enak!« bat es wieder aus dem Sack. »Und ich will es Dir auch ewig danken.«

»Ich errate, Katze«, sprach wieder der Enak, »daß du mich bedrümpeln möchtest. Bist du erst frei, wirst du gleich wieder auf die Jagd nach dem Lieblingsspatzen meines Mönchen gehen, auf den du einen großen Zorn zu hegen scheinst.«

»Ich leugne es nicht«, sprach die Katze Mimi, »daß dieser Spatz mir völlig verhaßt ist. Um seinetwillen habe ich ein Auge eingebüßt und das Fell ist mir gegerbt worden, als läge es schon in einer Lohegrube. Aber wenn Du mich frei lässest, will ich jeder Rache entsagen, ja ich will Dir verraten, wie der höchste Wunsch Deiner lieben Herrin zu erfüllen und die Ränke des Herrn Rat Asio zu stören sind.«

»Ich möchte dir trauen, Katze, und ich mag es doch nicht!« sagte Enak unschlüssig. »Sage mir erst an, was der höchste Wunsch meines Mönchen ist, dann wollen wir weiter sehen.«

»Der höchste Wunsch Deines Mönchen ist«, sprach die Katze aus dem Sack, »daß sie nicht Dein Mönchen sei, sondern des Stadtschreibers Mönchen werde, der jetzt zum Spatzen verzaubert auf ihrer Schulter sitzt, aus ihren Händchen pickt, in ihrem Bettchen schläft.«

»Wohl, wohl«, rief zornig der Knecht, »und du meinst, das war klug geredet, Katze?! Ich meine, das war sehr dumm geredet! Mir anzusinnen, daß gerade ich mein Mönchen in den Arm des anderen legen soll, ist ein rechter Katzenstreich. Nein, Katze, nun gehn wir wieder weiter, und freue dich nur auf die Begrüßung des Müllers Packan.«

Damit nahm er seinen Sack und marschierte, kräftig ausschreitend, los, und die Katze in dem Sack verhielt sich auch muckskatzenstill. Mählich aber wurde sein Schritt immer langsamer, und als nun gar die Windmühle in der Ferne auftauchte, stellte er gänzlich das Gehen ein, legte mit einem schweren Seufzer den Sack wieder auf die Straße und starrte in ihn. Aber im Sack blieb es so ruhig, als liege nur ein dummer Kopfkohl drin. Endlich konnte er sich nicht länger bezwingen, er stieß den Sack sachte mit dem Fuß an und sagte: »Katze, sprich doch was!«

»Was soll ich denn sprechen?« fragte die Katze recht schnippisch. »Trage mich nur zum rohen Packan, daß er mich umbringt und daß die schöne Monika vor Kummer ins Wasser springt.«

»Ach!« seufzte der Knecht. »Es ist recht hart, Katze, was ich tun soll.« Aber darauf gab die Katze keine Antwort. Wieder nach einer Weile fragte der Knecht: »Katze? Kannst du in die Zukunft schauen?«

»Nein, das kann ich nicht«, antwortete die Katze. »Aber das kann ich Dir sagen, daß ein Reh und ein Ochse ein schlechtes Paar abgeben.«

Wieder seufzte der Knecht, aber nicht über die Grobheit der Katze. »Katze«, sagte er schließlich, »ich sehe, ich muß tun wie du vorschlägst. Ich möchte ja doch nicht ein ganzes Leben herumlaufen und das Mönchen immer bleicher und ihre Augen immer röter werden sehen. Viel lieber will ich dann doch ihre Kinder auf den Knieen schaukeln.«

»Hoho!« spottete die Katze. »Du hast es ja gewaltig eilig, Meister Enak. Noch ist Deines Mönchen Liebhaber ein Spatz und findet Ihr nicht den weisen Schuhu, wird es mit dem Kinderschaukeln nichts werden!«

»Und wo ist der weise Schuhu?« fragte Enak.

»Ehe ich Dir das sage, Enak, mußt Du mir geloben, mich auf der Stelle aus dem Sack und ungekränkt ziehen zu lassen.« Der Knecht Enak aber gelobte das eifrig und schwor der Katze, ihr nichts zu Leide zu tun. »Der weise Schuhu«, sprach da befriedigt die Katze, »sitzt zwischen hier und der Stadt in einem wilden Gestrüpp, zwischen vielen Edelsteinen. Schicke Du nur den Spatzen aus, er wird ihn schon finden.«

»Ich danke dir, Katze«, sprach Enak einfältig und band den Sack auf. »Springe also davon und treibe nicht zu viel Unfug.«

Die Katze stieg gravitätisch aus ihrem Sack, reckte und streckte sich, leckte sich das Mäulchen und sah den Knecht mit ihrem einen funkelnden Auge an. Dann sprang sie mit einem Satz auf den nächsten Baumast, streckte den Schwanz wie einen Siegeswimpel steil in die Lüfte und rief spöttisch: »Angeführt, dummer Enak, doch angeführt! Sintemalen der weise Schuhu wegen seiner Sünden versteint ist, und keiner von Euch weiß die Zauberformel, die ihn löst.«

Damit sprang die Katze eilend von dannen, denn der Knecht hatte schon, uneingedenk seines Schwures, einen Stein von der Straße gehoben, sie zu treffen. Er lief ihr nach, warf, bettelte, drohte, aber eilend huschte die Katze immer vor ihm durch die Zweige, bis sie dem Ratlosen im wildesten, weglosen Walde völlig entschwand. –

Ende des fünften Einsprengsels

 

Viele Tage nun schon lebten die Leute aus dem Spatzenhof in dem kleinen Holzfällerhause am Rande der Forst, das ihnen der Herr Reitender Förster eingeräumt hatte. Es waren ihrer nur noch drei: der Bauer, seine Tochter und der Knecht Enak. Denn als es zur Stunde der Entschließung gekommen war und der Bauer mahnend gesagt hatte, ein jedes solle es sich gut überlegen, denn nicht nur mit dem Jahreslohn, auch mit den duftenden Braten und fetten Suppen des Spatzenhofes werde es in Zukunft rar aussehen, da hatte sich das eine verlegen murmelnd sachte aus der Tür gedrückt, das andere aber hatte gar eindringlich von einem steinalt, lieb Mütterlein erzählt, das nun schon Jahre warte und zu dem es flugs wandern müsse, sonst zwinge es ihm das Herz ab. Doch als der Bauer schließlich ein wenig bitter zu dem einzig noch dastehenden Enak gesagt hatte: »Nun, Enak, was ist das mit Dir? Da stehst Du noch und lutschest doch auch lieber an einem Schinkenbeine als an einer trockenen Brotkruste« – Da hatte der Knecht ganz treuherzig gesprochen: »Bauer, gebt mir die Lade da auf den Rücken und den Griff von diesem Koffer in die eine, vom andern Koffer aber in die andre Hand. Den Sack dort mögt Ihr mir noch unter den Arm stecken, und dann laßt uns unverweilt losgehen, denn vor Nacht muß noch vieles beschickt werden.«

›Oh Du getreuer Knecht‹, hatte der Bauer da leise gesprochen und nicht gewußt, daß er vom Knechte nicht gemeint war.

Auf dem Spatzenhofe selbst aber hatte nicht eines von den Dienstboten bleiben wollen, so verlockend der Rat seine Angebote auch gemacht hatte – einzig die Pflegetochter Zilli hatte gesprochen: »Warum soll ich denn nicht hier bleiben? Der Herr Rat Asio ist ein sehr ansehnlicher Mann. Das bißchen Essenkochen und Wamsflicken für Dich, das schafft die Monika auch allein, Vater!«

Dem Bauern wollten Zorn und Kummer fast den Atem abwürgen, wenn er bedachte, wie viel Gutes und Sorge er dem Mädchen erwiesen, seit es die Muhme Petronilla als schreienden Findling ins Haus getragen. »Daß sie so gar keinen Funken Liebe zu uns im Herzen trägt!« hatte er zu Monika geklagt.

Doch sie hatte ihm den Arm um den Hals gelegt. »Wie kann es denn anders sein, Vater?« hatte sie gefragt. »Haben wir sie denn recht geliebt? Ist sie nicht stets wie ein Fremdes bei uns gewesen? Liebe kann nur aus Liebe erwachsen.«

»Also laß es Dir wohl ergehen, Zilli«, hatte der Bauer gesprochen.

»Dank Dir das gleiche, Vater«, hatte das Mädchen geantwortet und sich daran gemacht, für den neuen Besitzer und seine Soldaten ein Essen zu richten.

So war der kleine, dreischichtige Haushalt in dem kleinen Holzfällerhaus begründet worden, und ein wahrer Segen war es, daß der grobe Knecht der dritte geworden war. Denn die Holzarbeit, welche die Männer um kargen Lohn zu verrichten hatten, war schwer und der Körper des Bauern, dem die Dienstboten manche Jahre alles Lästige abgenommen hatten, ihrer nicht mehr gewohnt. So aber nahm Enak immer das Schwerere auf sich, und tat es nicht des Rühmens halber, sondern aus Selbstverständlichkeit.

Allmählich aber, je mehr der Bauer sich an die grobe Arbeit gewöhnt hatte, um so fröhlicher wurde er. Machte es der gute, würzige Tannenduft im Walde, das Sausen des freien Windes in den Zweigen, die frische Luft – wenn sie da einen Riesen von einer Tanne bezwungen hatten und der Stamm lag schön astrein und schier im Schnee, daneben aber türmten sich, säuberlich geschichtet, die Berge von Reisig; da konnte der Bauer zu Enak sprechen: »Ja, Enak, das war heute ein guter Tag, einen besseren wünsche ich mir nicht.«

Und saßen sie dann am Sonntag in der einzigen Stube zusammen, alles war schön aufgeräumt und blinkte und blitzte aus aller Armut und der Hasenpfeffer, den ihnen die Monika aus einem Waldhäslein bereitet, das der Herr Förster heimlich hereingereicht, duftete noch sanft mit seinem Würzlein durch die Stube, da konnte der Bauer von seinem Fensterplatz aus wiederum sprechen: »Ja, da unten liegt der Spatzenhof, Mönchen. Aber wenns nicht der Hof vom Vater und Urgroßvater wäre, der Hof, um den der Bruder fast vom Leben gekommen – ich würde ihn dem Schuften am liebsten lassen, denn friedlicher als hier haben wir es nie gehabt!«

Die beiden stimmten ihm zu und auch der Spatz piepte ein kräftiges Piep. Ja, der Spatz wohnte auch hier, gleich am Abend ihres Einzuges hatte er sich bei ihnen eingefunden und war seitdem ihr Hausgeselle gewesen, so daß eigentlich von einem vierschichtigen Haushalt zu reden ist. Dem Bauern war die Wirtschaft um den dürftigen Vogel erst gar nicht recht gewesen und er hatte heftig davon gesprochen, daß es hier nun nicht wieder mit dem heidnischen Vogel- und Zauberwesen anfangen solle, das dem Herrn Pfarrer sicher nicht recht sei. Aber da hatte, statt des verstummten Mädchens, der Enak gesprochen: »Bauer, wie Ihr doch grämlich seid! Lasset dem Mädchen doch seine Freude! Hat doch unser Herrgott auch die Spatzen erschaffen, wie können sie da Heidenwesen sein?«

»Du bist ein Narr, Enak«, hatte der Bauer geantwortet. »Aber ein grundguter.« Und mit diesem Spruch war der Spatz als Hausgesell aufgenommen worden. Freilich, davon wußte der Bauer nichts, was alles für Heimlichkeiten es um diesen kleinen graubraunen Vogel gab. Gleich am zweiten oder dritten Tag nach dem Einzug, als der Bauer, ermattet von der ungewohnten Arbeit, auf der Ofenbank in Schlaf gesunken war, hatte der Enak dem Mädchen flüsternd von seinem Gespräch mit der Zauberkatze Mimi berichtet, und der kleine Vogel hatte vor ihnen gesessen, eifrig mit den Flügeln geschlagen, mit dem Köpfchen genickt und manch kräftig zustimmendes Piep gesprochen.

Am nächsten Morgen aber, kaum waren der Bauer und Enak in den Wald gegangen, hatte der Spatz gar eifrig das junge Mädchen umflattert, immer wieder war er zur Türe geschossen und hatte so fordernd gepiept, daß sie ihm schließlich aufgemacht und gesprochen hatte: »So fliege denn hin und suche, Spätzlein. Aber nimm dich vor den bösen Raubvögeln in acht und komme mir wieder, daß ich nicht deinetwegen noch Kummer habe.«

Fröhlich aufjubelnd war der Spatz aus der Türe geschossen und erst am späten Nachmittag, kurz vor der Heimkehr der Männer, zurückgekehrt. So hielt er es alle Tage, unermüdlich flog er aus auf die Suche; fragte ihn aber das schöne Mädchen: »Hast du ihn noch immer nicht gefunden, deinen weisen Schuhu?«, dann ließ er betrübt die Flügel zur Erde hängen, senkte den Kopf und piepte recht schuldbewußt.

Aber trotzdem flog er den nächsten Morgen mit neuer Hoffnung wieder aus, und stöberte der Schnee einmal gar zu sehr, heulte der Polwind zu wild und sprach das Mädchen: »Nein, Spätzlein, heute bleibst du mir zu Haus. Hast du doch kein Röcklein zum Wechseln, wenn dieses naß wird« – so saß der Spatz eine Weile betrübt im Winkel. Bis sie ihm schließlich erlaubte, auf ihre Schulter zu hüpfen, sich an ihre Wange zu schmiegen und ihr bei ihrer Arbeit zuzuschauen.

Dann vergaß das schöne Mädchen fast völlig, daß in dem kleinen Vogelbalg ein großer Mann steckte, und der Mann, den sie liebte, dazu. Wie einem lieben Kameraden erzählte sie von ihrem Leben, von dem Vater, von den Feldern, welches die bessern und welches die minderen seien, von den Kühen, dem Hunde Hektor – und manchmal auch von der entschlafenen Mutter. Dann drückte sich das Spätzlein immer fester an sie, und traulichere Stunden als diese, wenn der Winter draußen raste und der kleine Vogel verständig Piep antwortete, konnte sie sich nicht denken.

Unterdessen hatten ein Wildhüter, ein Holzweiblein, ein versprengter Kaufmann gar seltsame Kunde aus dem Dorf vom Spatzenhofe hinaufgetragen. Der Herr Rat Asio, ohne den sie wohl in der großen Stadt gar nicht leben konnten, hatte den alten Habergreis auf dem Hofe zum Verwalter eingesetzt. Da zerrissen sich die Leute nun gewaltig die Mäuler, wie der filzige Geizhals Boden und Vieh zu betrügen suchte, das eine um Dünger und Aussaat, das andere um sein Futter. Wie er immer, ein großes Schlüsselbund in der Hand, tags wie nachts, durch Scheunen und Keller schleiche, den Knechten die Bissen in den Mund zähle und den Mägden das Stroh aus den Schlafsäcken zupfe, um es den Schweinen als Streu zu geben. Da habe es schon manch schlimmen Streit zwischen dem Habergreis und der Zilli gegeben, eines bestehle immer das andere! Habe die Zilli ein Brot gebacken, habe der alte Knacker es auch schon versteckt; und wer in diesem Kampfe Sieger werde, sei nicht abzusehen.

Ganz schlimm aber sei es um den wahren Erben, den jungen Guntram Spatt bestellt, er werde ständig eingeschlossen in seiner Kammer gehalten, sogar das Fenster sei mit Gitterstäben verrammelt. Menschliche Kost esse er gar nicht, aber nachts bringe ihm der alte Habergreis heimlich Körner und ekles Gewürm. Manchmal schreie er stundenlang wie ein Vogel jämmerlich Piep, dann hülfe nur, daß die Zilli hinaufsteige und ihm den Kopf kraule, davon werde er still. Die Leute flüsterten sich zu, er sei gar nicht der echte Guntram Spatt, sondern ein verzauberter Spatz, und der Pfarrer habe auch schon zu ihm vordringen wollen, sei aber schnöde abgewiesen.

Recht traurig machten die Monika diese Geschichten. Sie konnte gar nicht mehr an den alten lieben Hof denken, als sei es der alte liebe Hof, sondern wie an eine rechte Höllenstätte. Und wenn sie sich dann vorstellte, daß die hübsche Kammer, in der die Ehrengäste sonst behaglich geweilt, jetzt zum Gefängnis für einen armen Pieper, der sich nach seinem freien Vogeldasein sehnte, geworden, mußte sie rasch einmal ein paar Tränchen weinen. Sie war nur froh, daß der Vater den ganzen Tag im Walde bei der Arbeit war und darum nichts von diesem widrigen Geklatsche und Getratsche erfuhr.

Unterdessen war das liebe Weihnachtsfest vorüber gezogen; der Januar war wie immer, grimmig kalt, dunkel und voller Schnee gewesen; der Februar hatte, wie es seine Pflicht war, sieben Sonnentage gebracht und der März schon zehn; im April war das erste junge Grün zu sehen gewesen und im Mai hatte es davon schon so viel gegeben, daß die Maienbäume nicht knapp waren – kurzum, der Frühling war in das Land gezogen. Aber immer noch kehrte der Spatz Nachmittag für Nachmittag unverrichteter Sache von seinem Fluge heim. Längst hatte das Mädchen alle Hoffnung aufgegeben, daß der alte Bubo noch zu finden sei, herzlich hatte sie den armen Schelm bedauert, der, den Lügen der frechen Katze vertrauend, immer weiter suchte, und doch hatte sie ihm seine Hoffnung nicht nehmen wollen.

Eines Tages aber kam der Spatz früher denn je nach Haus. Aufgeregt flatterte er um Monika und so eifrig piepte er und schlug mit den Flügeln, daß das Mädchen, plötzlich wieder hoffnungsvoll, fragte: »Nun, hast du ihn gefunden? Den richtigen Bubo –?! Ach, Spätzlein, Spätzlein, wie ist das schön! Da müssen wir wohl morgen ganz in der Frühe losgehen?« Eifrig piepte und flatterte der Vogel. »Ja«, sagte das Mädchen, »und wenn wir nun noch das Zauberwort erfahren, das ihn erlöst, sind wir gemachte Leute, was?«

Wie jubelte und tanzte da der Spatz!

Am nächsten Morgen nun, kaum waren die Männer aus dem Haus, band sich Monika ein Tuch übers Haar, steckte ein Brot in ihre Schürzentasche, fuhr eilig in ihre Schuh – und los gingen die beiden. Das heißt, nur die Monika ging, der Spatz flatterte ihr voraus. Und so eilig war er, daß das Mädchen bald ins Laufen geriet, schließlich aber atemlos stehen bleiben mußte und schalt: »Spätzlein, treibe es nicht zu arg! Ich habe nur Menschenbeine, fliege mir langsam voraus!«

Das tat der Spatz dann auch, und immer tiefer kamen sie nun in die dunklen, schweigenden Forsten, in ganz entlegene Bezirke, in die kaum je der Förster kommt. Immer wilder wurde der Wald, immer dichter verstellten die dunklen Tannen den hellen, leuchtenden Frühjahrshimmel, und das Mädchen hatte wohl recht, staunend zu rufen: »Oh, Spätzlein, jetzt verstehe ich, daß du so lange hast suchen müssen. Wie hast du nur in dieser Wildnis etwas finden können –?!«

Nun war es aber so, daß der Spatz Guntram wirklich nichts gefunden hatte, sondern daß ihm der rechte Platz erst gezeigt worden war. Der Wald ging stundenlang in die Länge und Breite, und einen versteinerten Uhu darin zu finden, unter der Decke der dichten Zweige, im Schatten der großen Steine, das war fast unmöglich. Aber mit zäher Geduld hatte Guntram immer weiter gesucht, wußte er doch, daß seine Erlösung und, was ihm viel mehr wert war, die Vereinigung mit dem lieben Mädchen allein vom Auffinden des Schuhus abhing.

Als er nun eines Tages recht abgemattet und verzweifelt auf der Spitze einer großen Tanne saß und gerade darüber nachsann, wie viel Spatzenlebensalter wohl dazu gehörten, unter jeder der Millionen Tannen nach einem Uhusteine zu sehen, flog plötzlich geschwind eine Elster an ihm vorüber, die etwas Glitzerndes in ihrem Schnabel trug. Nun waren ihm die Elstern recht verhaßte Vögel, seit er wußte, die falsche Zilli sei manchmal eine, und das Glitzernde im Schnabel schien ihm auch etwas zu bedeuten. Er beschloß also aufzupassen, ob der schwarzweiße Vogel wieder einmal hier vorüber komme, und Morgen für Morgen bezog er seinen Luginsland im höchsten Tannenwipfel. Viele Tage mußte er vergebens harren, und schon war er entschlossen, den vergeblichen Ausguck zu verlassen und seine mühselige Suche wieder aufzunehmen, als der Vogel ein zweites Mal, und dieses Mal in der andren Richtung, an ihm vorüber strich.

Eilig hob er die Flügel und flog der Elster nach. Aber nie hätte er auf einem weiteren Weg dem schnellen Vogel mit seinem ungeschickten, dicklichen Leib folgen können. Doch so glücklich war die Fügung, daß gerade, als die Elster seinen Augen entschwinden wollte, sie sich hinabließ auf eine kleine Lichtung.

Vorsichtig folgte ihr der Spatz, und er hatte gut daran getan, vorsichtig zu sein, denn als er lautlos durch die Zweige sich näher schlich, sah er sie auf dem Boden sitzen und mit argwöhnischem Auge Himmel und Baumwerk absuchen. Doch Guntram war gut versteckt, und im nächsten Augenblick hatte die beruhigte Elster sich in die Zilli verwandelt und suchte unter dem Reiserwerk emsig nach etwas. Nun glitzerte es zwischen ihren Fingern, mit einem Schrei des Entzückens hielt Zilli einen funkelnden Edelstein gegen das Licht. Dann aber bückte sie sich, versetzte einem rötlichen Fels mit der Faust derbe Knüffe und rief, in ihrem Triumph keine Entdeckung mehr fürchtend: »Dummer Bubo! Häßlicher Bubo! Nehme ich Dir Deine schönen Edelsteine?! Siehst Du, Du steckst im Fels und kannst mir nichts tun, ich aber nehme Dir Dein Liebstes!« Wieder versetzte sie ihm Streiche und rief: »Warte nur, morgen sitzen der alte Habergreis und der Herr Asio wieder beisammen, neue Ränke zu spinnen. Da komme ich nochmals und hole Dir Deinen letzten und schönsten Stein!« Dabei lachte sie laut auf, verwandelte sich wieder in eine Elster und flog, den blitzenden Stein im Schnabel, eilig davon, ohne den Spatzen zu bemerken.

Der aber, nachdem er sich vergewissert, der böse Vogel sei wirklich fort, hüpfte nun seinerseits auf die Lichtung. Da sah er nun freilich, daß er noch tausend Jahre nach dem Stein hätte suchen können, ohne ihn zu finden. Denn ungenau nur, wie eine Ahnung nur, trug er die Gestalt eines Vogels. Lange saß er vor ihm und ermunterte den Stein mit herzlichem Piep. Schließlich aber machte er sich auf die Suche nach dem letzten, kostbarsten Edelstein, von dem die Zilli gesprochen, fand ihn auch schließlich und verbarg ihn in einem Baumloch, ihn sorglich mit Moos bedeckend.

Nach dieser verschollenen, kleinen Waldlichtung also ward Monika vom Spatzen Guntram geführt, und als sie dort nach stundenlangem, mühseligem Marsch angelangt waren, sah das Mädchen recht enttäuscht auf den unförmigen, rötlichen Stein, den der kleine Vogel umflatterte. »Ach, Spätzlein!« rief sie betrübt. »Irrst du dich wohl auch nicht? Dies ist ein uralter Stein, wie ihrer Tausende im Walde herumliegen. Schon wächst Moos auf ihm und halb ist er in die Erde versunken – soll das wirklich der Schreiber Bubo sein?«

Der Spatz aber piepte eifrig sein Ja und flatterte schon empor zum Baumloch, um für das ungläubige Mönchen den Edelstein zu holen – da sah er aus der Ferne einen Vogel heraneilen. Schnell flog er wieder hinab und trieb das erstaunte Mädchen mit Flügelschlägen, ja, mit kleinen Schnabelstößen hinter die tiefhängenden Zweige einer alten Tanne. Und kaum war sie einigermaßen geborgen, da senkte es sich aus der Luft und eine schöne, sauber schwarz und weiß gefiederte Elster landete neben dem Stein.

Dies Mal mußte es die Zilli sehr eilig haben, vielleicht fürchtete sie, ihre beiden Herren daheim möchten ihr Fehlen merken. Ohne sich weiter viel umzusehen, verwandelte sie sich aus der Elster in die böse Cäcilie und versetzte dem Stein einen Stoß, daß er wackelte. »Ja, Du dummer, alter Schuhu, da bin ich wieder! Und nun nehme ich Dir Deinen letzten und schönsten Stein! Nicht wahr, Du platzest vor Wut?!«

Der Stein tat nichts dergleichen, aber die Monika hinter dem Baum entfärbte sich vor Kummer, Bestürzung und Zorn, schon wollte sie vortreten. Aber da hatte Zilli sich zur Erde gebückt und ein paar Zweiglein zur Seite geschoben und dazu gesprochen: »Soll ich ihn Dir noch einmal zeigen, das Glitzerdings, den Blitzerstein? Dummer Schuhu, tausend Jahre sitzest Du hier noch, alle Ewigkeit steckst Du im Stein und hast nicht einmal den Trost, daß Du bei Deinen Schätzen hockest.«

Doch da hatte sie schon gemerkt, daß der verborgene Stein verschwunden war; auffahrend sah sie wild um sich. Ihr Auge flackerte vor Wut und zornig rief sie: »Ich bin bestohlen! Einer war hier! Oh, mein schönster Stein, mein liebster Stein, mein glitzernder, funkelnder Herzensstein – wo bist Du?«

Da trat schon Monika zwischen den Zweigen hervor (doch der Spatz ließ sich nicht sehen) und klagte: »Zilli, liebste Schwester Zilli! Wie sehe ich Dich hier?! Treibst unchristlich Zeug im Gewande des gierigsten und neugierigsten Vogels, der Elster! Schmähst einen Unglücklichen, der in einen Stein gebannt ist, und stiehlst fremde Edelsteine? Zilli, schämst Du Dich denn gar nicht!? Denke doch einmal daran, wie wir auf der Bank hinter dem Spatzenhofe saßen und sagten einander alle Sprüche her, die wir nur kannten.«

Doch zornig rief die Ziehschwester: »Die Monika, die fromme, brave, scheinheilige Monika spürt mir nach! Hätte ich es mir doch denken sollen! Du, Du machst mir mein sauber schwarz und weiß Federröcklein schlecht und hast doch selber einen gemeinen, plustrigen Dreckspatzen ständig um Dich, ja sogar im Bett! Du magst es wohl gar nicht abwarten, daß er sein häßlich Gewand abwirft und als schöner Jüngling Dich umfängt?«

»Zilli –!« bat Monika.

Aber noch zorniger rief die andere: »Ja, jetzt denkst Du, die Erlösungsstunde ist nahe, weil Du den versteinten, dummen, häßlichen Schuhu gefunden. Aber der Stein hilft Dir garnichts, denn Du weißt den Zauber nicht! Und wüßtest Du selbst, daß ein unschuldig Mägdlein echte Tränen über den Steinkopf zu weinen hat, Du könntest doch nicht ...«

Hier litt es den Spatzen nicht länger. Daß die Erzürnte das Geheimnis verraten, erfüllte ihn mit Triumph. Mit jubelndem Piepen brach er aus dem Geäst, steigend und fallend tanzte er einen Siegestanz um das Haupt der Geliebten, und sein Piep schmetterte wie eine Kriegsdrommete.

Wütend fuhr Zilli auf ihn los: »Oh, du gemeiner Dreckspatz!« rief sie. »Du Gassenkehrer! Du Roßäpfelkoster! Du, du allein hast mich verraten, gib mir meinen Edelstein heraus, du Dieb, oder ich ermorde dich!«

Steigend und fallend entrann der Spatz ihren greifenden Händen, aber rasch verwandelte sich das Mädchen wieder in eine Elster und drang mit spitzem Schnabel auf den Feind ein. Schreiend suchte der Schutz bei seiner Freundin, und mit sanften Händen, dessen eingedenk, daß in dem Federkleid die Ziehschwester stecke, wehrte Monika den angreifenden Vogel ab. Doch der wußte von solcher Rücksichtsnahme nichts. Mit kräftigen Flügelschlägen, ja mit spitzen Schnabelstößen griff die Elster an. Schärfer schon mußte Monika zurückschlagen, um nur die Augen zu sichern. »Zilli«, bat sie, »meine liebe Schwester, sei doch gut! Sieh, ich muß Dir ja weh tun ...«

Aber die andere hörte kein gutes Wort mehr. Schon blutete Monika aus der Wange, dem Ohr. Nun ging ein scharfer Dolchstich mit dem Schnabel scharf am Augapfel vorüber und verletzte die Braue. »Ich kann nicht mehr anders!« rief das Mädchen und schlug den Vogel hinab in das Gras. Während die böse Elster betäubt am Boden lag, rief Monika eilig den Spatzen, der sich bis dahin in ihrem Rücken versteckt, auf ihre Schulter, knotete den Schuhu-Stein in ihr Kopftuch und machte sich fliegenden Fußes auf den Rückweg.

Doch noch war sie erst wenige Minuten gegangen, so war der Vogel wieder da. Wieder erneuerte er seinen Angriff, wieder versuchte sie es mit Abwehren und sanften Worten – aber nichts half: wieder mußte sie ihn zur Erde schlagen. So ging es den ganzen Heimweg. Bald in Elstergestalt mit zornigen Angriffen, bald als Mädchen Zilli mit überredenden oder bösen Worten tauchte die Ziehschwester neben ihr auf und verlangte den Edelstein. Gerne hätte Monika ihr den gegeben, aber sie hatte ihn nicht und sie wagte nicht, den Spatzen nach ihm auszusenden, fest überzeugt, die Elster werde ihn, habe sie erst den Stein, ermorden. So schwankte ihr Herz zwischen dem Kummer um die verlorene Schwester und der Sorge um den verzauberten Liebsten, und sie atmete erst auf, als sie die Tür des kleinen Waldhauses hinter sich schließen konnte.

Lange noch hallten durch Fenster und Türspalt die zornigen Verwünschungen des Mädchens, das Unheil und Tod über sie und alles, was ihr lieb, herabrief. Endlich aber wurde es still, die Schwester, die zur Feindin geworden, hatte sich, wohl ihrer Arbeit eingedenk, entfernt.

»Spätzlein«, sprach die schöne Monika ernst. »Eines bitte ich mir aus und verlange ich auf das Ernsteste von dir: Fliege mir jetzt nicht mehr aus der Hütte! Eine Stunde oder auch zwei magst du dich gerne an der frischen Luft im Flügelspiel vergnügen, wenn ich mit meiner Arbeit vor der Tür sitze. Aber wage dich nicht allein hinaus, die Feindin sinnt auf Mord, und ich möchte meinen Kameraden im einsamen Walde doch nicht entbehren.« Sie errötete ein weniges und fuhr darum um so strenger fort: »Du hast zu Lustfahrten in den Wald auch gar keine Veranlassung mehr, denn dort steht der Stein, den du so lange gesucht. – Wie ich ihn freilich erlösen soll, das weiß ich nicht, denn daß ich über einen Schuhu oder gar im Andenken an den alten, grauhäutigen, mürrischen Schreiber Tränen vergießen sollte – das geht über meine Kraft!«

Statt aller Antwort zerrte und stieß der Spatz in der Kiste unterm Tisch an einer gelben Schale. Dann schaffte er es, und keuchend schleppte er eine Zwiebel vor das Mädchen. »Ach, Spätzlein«, sagte sie gerührt und kraulte ihm den Kopf. »Meinst du, die geheimen Mächte rechnen uns Menschlein die Zwiebeltränen an? Echte Tränen hat sie gesagt, du hast es doch gehört. Ohne Sorge, ohne Kummer und Herzeleid auch keine Erlösung, so ist es gemeint und nicht anders. Wie aber«, fuhr sie sinnend fort, »kann ich wegen des alten Schreibers Herzeleid haben? Ja, du dauerst mich, Pieper, und ganz gerne sähe ich dich wieder in anderer Gestalt, doch meinen Tränen kann ich nicht befehlen.«

Heinz Kiwitz

»Fleißig rannen ihr die blanken, hellen Tränen die Backen hinunter und die Nase entlang, –«

So sprach sie, aber der Spatz beharrte auf seinem Willen und zerrte die Zwiebel an ihrem fleischigen dicken Keim nur um so dringender vor das Mädchen. Da sie aber eben rasch ein Essen für die bald heimkehrenden Männer rüsten mußte, so entschloß sie sich für Bratkartoffeln mit Zwiebeln. Eifrig zerschnitt sie die Knolle und eine zweite und noch eine, und fleißig rannen ihr die blanken, hellen Tränen die Backen hinunter und die Nase entlang, der Spatz aber saß ihr gegenüber auf dem Schüsselrand und piepte ermunternd zu der Tränenflut. Als es aber recht floß und tropfte, sprach das Mädchen, weinenden Auges lächelnd: »So wollen wir denn die Wunderkraft der Zwiebeltränen erkennen, Spätzchen« und hielt, nun auch von einer leisen Hoffnung bewegt, das betaute Gesicht über den harten Stein. Träne fiel um Träne und feuchtete den Scheitel des verhärteten Vogels, aber der Stein war Stein und blieb Stein. Da hüpfte der Spatz betrübt, mit hängenden Flügeln und gesenktem Kopf, in einen dunklen Winkel, Monika aber sprach, nicht entmutigt: »Habe ich es dir nicht gesagt, Spatz? Aber ich habe den Spatzen bei mir und der Stein ist auch gefunden. So wird der liebe Gott schon dafür sorgen, daß uns eines Tages die echten, rechten Tränen fließen. Also unverzagt, mein Spatz!« Aber der Spatz blieb mürrisch in seiner Ecke.

Später kamen die Männer von der Arbeit nach Haus und aßen mit rechtem Hunger ihr Essen. Nur der Spatz ließ sich nicht sehen, so daß der Bauer ganz verwundert fragte: »Was ist denn mit Deinem Spatzen, Mönchen? Warum fordert er heute nicht seinen Anteil?« – Worauf das Mädchen schalkhaft erwiderte: »Vielleicht liebt er die Zwiebeln nicht.« Aber an diesem Abend konnte Herrn Guntram kein Scherz aus seinem Schmollwinkel locken.

Als dann der Vater schlief, berichtete Monika dem erstaunten Enak die ganze Geschichte von dem Zauberstein, der Elster und dem Edelstein, von den Zwiebeln und dem am Leben bedrohten Spatzen. Da schüttelte Enak gewaltig den Kopf, schwur hoch und heilig, er hätte dem bösen Mädchen den Schlund abgedreht, gleich, ob es gerade ein Menschen- oder ein Elsterhals gewesen sei. In den nächsten Tagen aber dachte und grübelte er gewaltig, und als der liebe Sonntag gekommen war und sie alle nach dem Essen schön behaglich ausruhend beisammen saßen, da hob er aus seiner Truhe ein altes dickes Gesangbuch, und scheinheilig sagte er, ihn dürste so recht nach einer Herzenserbauung und einem Seelentrost. Dann schlug er das Buch bei den Begräbnis- und Sterbeliedern auf und begann, mit düsterster Stimme vorzulesen.

Der Bauer schaute diesem Beginnen recht verwundert, Monika aber mit lachenden Augen zu, und als der Enak nun anfing zu lesen – doch war er kein fixer Leser und brach bald hier, bald dorten einem Wort ungescheut das Genick –, als er nun also las, und über dem Lesen immer wieder bedeutungsvolle Blicke nach der Monika Augen und dem Stein im Winkel schoß – da lächerte es die Monika mehr und mehr, und wenn es auch eine Sünde war, bei den frommen, alten Totenliedern zu lachen, sie mußte, ob sie wollte oder nicht. Das Lachen brach kollernd und glucksend und helle wie ein eiliger Bergbach aus ihr heraus, sie warf sich in den Stuhl zurück, und die Tränen liefen ihr die Backen hinunter ...

Da ließ der Knecht das Gesangbuch fallen, in die Ecke sprang er zum Stein, hielt ihn vor sie –: »Mönchen, Mönchen, laß sie fallen, es sind echte Tränen –!« Weil aber das Mädchen nur abwehrend die Hände bewegte und das Lachen garnicht bewältigen konnte, fuhr er ihr mit den groben Händen ins Gesicht und rieb die erhaschte Feuchte auf den Stein ...

Monika lachte immer toller, der Bauer schalt und meinte, sein Knecht sei aberwitzig geworden – der Stein aber blieb ein Stein!

Schließlich beruhigten sich alle wieder, und der Bauer konnte fragen, was diese Narreteien denn bedeuteten. Da mußte endlich die Wahrheit gesagt werden, denn mit Frage um Frage drang er weiter und weiter. Schließlich, als er alles wußte, schwieg er lange. Besorgt sahen die Tochter und der Knecht auf ihn, und auch der Spatz hatte sich ängstlich in den äußersten Winkel hinter dem Ofen zurückgezogen. Als das Schweigen sehr lange gewährt hatte, hob der Bauer den Kopf, sah Monika und Enak an und sprach: »Ganz wie Ammenmärchen, ganz wie das dumme abergläubische Geschwätz alter Weiber klingt, was Ihr mir erzählt habt. Wenn nicht Ihr beide es wäret, von denen ich es höre, würde ich darüber lachen. Aber so will ich denn doch eine Probe machen, die Wahrheit zu erkunden, und so rufe ich denn: Spatz, du da, auf dem Ofen! Bist du mein Neffe Guntram, so fliege auf meine Hand.«

Alle drei sahen gespannt auf das Spätzlein, das aber hockte dort oben auf der grünen Lasur, als sei es sehr schläfrig.

Zum zweiten Mal aber rief der Onkel mit stärkerer Stimme: »Spatz, bist du meines Bruders Sohn, so fliege herbei zu deinem Ohm!«

Da streckte der Spatz seine Flügel, legte sie hübsch lose an den Leib und steckte das Köpfchen darunter, um einzuschlafen. Der Bauer aber sah seine beiden überlegen lächelnd an und sagte: »Was habt Ihr mir doch da für tolles und ungereimtes Zeug erzählt! Ist es doch fast, als wäre ich nach dem fetten Essen in einen schweren Schlaf verfallen und hätte geträumt wie ein Narr. Wäre auch nur ein Körnchen Wahrheit in all den Geschichten, so wäre der Spatz auf meine Hand geflogen. Nun verbiete ich Euch aber strengstens, je wieder an diese Dinge zu denken. Den gemeinen Hausspatz will ich hier noch dulden, weil er Dir nun einmal lieb geworden ist, Mönchen, und weil er weiter nichts ist als ein Spatz. Der dumme Stein aber muß mir sofort aus der Stube.«

Damit faßte der Bauer den Stein und schritt aus der Tür. Zuerst wollte Monika Einspruch erheben und dem Fortschaffen des so mühselig gesuchten, so gefahrvoll heimgetragenen Steines widersprechen, und nicht nur ihr Respekt vor dem Vater hielt sie zurück. Sondern sie bedachte, indes sie unter der Tür stand und sah, wie der Bauer mit dem Stein ein Stück weiter ging und ihn dann auf einen Haufen anderer Steine am Wegrande warf – sie bedachte, daß sie doch nie ehrliche Tränen über den versteinerten Schuhu würde weinen können und daß darum dieser Weg zur Erlösung und Errettung versperrt sei.

Darin aber irrte sie. Immer wendet sich das Leben anders, als wir Menschenkinder meinen, und eines Tages werden wir da lachen und dort weinen müssen, wo wir es nie gedacht. Der Spatz Guntram nämlich war recht listig auf dem Ofendach sitzen geblieben, er hatte längst bemerkt, daß der Onkel dem kleinen Freunde der Tochter nicht recht wohl wollte; als sei er fast eifersüchtig, hatte er den armen Pieper oft von der Schulter des Mädchens in den Winkel gejagt, ja, er hatte es der Monika manchmal mit harten Worten verwiesen, den Spatzen von ihrem Tellerchen mitpicken, aus ihrem Becherchen mittrinken zu lassen. War der Onkel aber schon dem hilflosen Graurock böse, wie mußte er da erst dem in einen Spatzen verwandelten Neffen zürnen, dem er das ganze Zauberwesen, das ihn um den Hof gebracht hatte, als Schuld anrechnete!

So steckte er denn lieber den Kopf unter die Flügel und tat, als ob er schliefe. Er schlief aber nicht, sondern er dachte wieder einmal darüber nach, wie dem Onkel und dem Mönchen, und dem Knechte Enak auch, aus der jetzigen bedürftigen Lage zu helfen sei. Dafür aber schien der schöne Glitzerstein im Baumloch das beste Mittel. Die Base Monika hatte immer auf dem Dorfe gelebt, das billige blaue Steinlein in ihrer seligen Mutter Ring war ihr der schönste und kostbarste Stein auf der Welt. Er aber hatte in der großen Stadt oft die Händler mit seltenen Pretiosen und kostbaren Steinen in die Häuser der Reichen gehen sehen, ihre Gesellen hinter sich und ihre Scharwache um sich. Dabei hatte er wohl erfahren, daß um einen solchen Stein zwei stattliche Höfe, ja, gar zwölf oder zwanzig zu haben seien – so unermeßlich groß war ihr Wert! Saßen der Onkel und die Base aber erst wieder einmal recht behäbig im auskömmlichen Eigentum, so würde die Monika schon dafür sorgen, daß die weisesten Männer zu seiner Entzauberung gerufen würden.

Freilich hatte es ihm nun die Monika strenge verboten, allein auszufliegen, und zu einem andern Ausflug zu zweien war sie nach dem Mißerfolg mit dem versteinten Schuhu sicher nicht zu bewegen. Aber der Spatz Guntram meinte, dieses Verbot habe nur wegen der mörderischen Elster gegolten, und da die sich seit jenem Tage nicht mehr hatte sehen lassen, so dürfe er es wohl wagen. Doch so recht vor den klaren Augen des geliebten Mädchens davon zu fliegen, das wagte er nun doch nicht. Sondern er wartete, bis einmal ein überkochender Topf sie vom Zuschauen bei seinem Lust- und Freudentanz draußen vor der Hütte abrief – und als sie wieder kam, war das Spätzlein fort!

Oh, wie rief und lockte da die Monika, wie lief sie den einen Waldweg hinauf, den andern hinunter! Wie winkte sie mit ihrem Tuch, mit wie zärtlicher Stimme, mit welch herzgerührter Besorgnis bat sie den Ausreißer, doch wieder heim zu kommen! Weiter und weiter fliegend, hörte der sie noch lange, und beinahe hätte es die sanfte Gewalt in der eigenen Brust über ihn vermocht, wieder umzukehren. Doch er war nicht nur ein Liebender, sondern auch ein Mann – und steckt denen erst etwas im Hirn (und sei es ein Spatzenhirn), muß es getan werden.

Recht traurig verrichtete die Monika ihre Hausarbeit, und daß sie an diesem Tage den Speck schälen, die Kartoffeln aber ausbraten wollte, das merkte sie fast gar nicht. Immer wieder trat sie unter die Tür der Hütte und spähte in den blauen Frühsommerhimmel – viele Lerchen lobten als kleine, schwirrende Pünktchen, fallend und aufsteigend, den Tag, aber ihr Spätzlein war kein solch Pünktlein. »Ach, du Böser«, klagte sie. »Hattest du es nicht warm und gut bei mir, und habe ich dir nicht jeden Tag alle Freiheit zu deinem Federspiel gegeben?! Habe ich dir nicht alles erzählt, was ich durfte, und haben dir nicht meine Augen gesagt, was ich nicht erzählen durfte?! Nirgend auf der Welt fandest du eine bessere Statt als bei mir – du aber fliegst mir schnöde fort! Aber eben: du bist nicht nur ein Spatz, du bist auch ein Mann. Die zärtlichste Liebe kann euch nicht halten; je behaglicher ihr haust, um so stürmischer drängt ihr ins Kalte, in die Welt, zu den dummen und unnützen Abenteuern! Ach, Spätzlein, du bist mein Freund nicht mehr – nun habe ich keinen frohen Gesellen mehr auf der Schulter, keinen Mitschmauser auf dem Tellerrand, keinen Backenwärmer abends im Bettchen!«

So klagte das schöne Mädchen, und wenn ein Ast sich bewegte, lief sie hin – es war aber nur der Wind! Und wenn am Waldrande etwa ein Geräusch laut wurde, lief sie hin – es war aber nur ein Tannzapfen, den der Eichkater abgeworfen! »Eichkater, Rotrock«, rief sie. »Kannst du mir nicht sagen, wohin mein Geselle gelaufen ist? Du eilst so geschwinde durch die Zweige, lauf ihm doch nach und sage ihm, daß ich auf ihn warte und um ihn trauere – du sollst auch im Herbst die schönsten Nüsse von mir bekommen, Buschschwanz!«

Der Eichkater sah sie mit seinen blanken, schwarzen Augen neugierig an und sprang dann auf einen andern Ast, sich mit seiner Gefährtin jagend, traurig ging da Monika in ihre Hütte zurück. Die Sonne stieg und stieg, und nachdem sie ihre gemessene Zeit am Himmel emporgestiegen war, begann sie, gegen West zu sinken – aber der Spatz ließ sich nicht sehen. Noch einmal trat das Mädchen unter die Tür, rief, lockte und winkte – doch wiederum vergebens. Da sprach sie zornig: »So will ich mich denn auch nicht mehr um ihn bekümmern, ihm macht ja auch mein Schmerz keinen Kummer! Einmal schon hat er schnöde an mir gehandelt, als er mich küssen wollte, als sei ich irgend ein beliebiger Honigtopf, von dem jeder schlecken kann. Und jetzt kränkt er mich wiederum! Nein, nun setze ich mich mit einer Näharbeit auf die Ofenbank, und er kann vor der Türe betteln und flehen, ich lasse ihn garnicht ein.«

Damit nahm die Erzürnte ihr Nähzeug, eine Hose vom Enak dazu, in die der Zweig eines fallenden Baumes ein Loch gerissen, und begann zu stopfen, ohne wieder hoch zu sehen. In ihrem Zorne aber – und vielleicht nicht nur in ihrem Zorn – hatte sie die Hüttentür offen gelassen, so daß dem heimkehrenden Herumtreiber ihr Schwur nicht viel Beschwer machen konnte. Da saß sie nun und stopfte ihren Zorn in Enaks Hosenriß, und wenn sie immer eifriger darauf einstach und am Faden zog und zerrte und dabei schalt: »Du unnütz Ding – verquack und verquer!« – so meinte sie nur die Hose und sonst nichts.

Plötzlich aber hörte sie ein ängstliches Piepen und Flattern, böse erklang ein triumphierendes ›Schackerack!‹ – hastig ließ sie alles fallen, uneingedenk ihrer Vorsätze, und stürzte unter die Tür. Da sah sie ihren kleinen Spatzen aus der Luft auf die Erde taumeln, mit spitzem Schnabel aber stieß, siegreich ›Schackerack‹ schreiend, die Elster auf ihn ein, daß die Federn stoben! Sie lief hinzu und scheuchte mit lautem Zuruf den bösen Vogel. Der aber achtete ihrer garnicht, sondern stieß immer nur schärfer auf den ermatteten Pieper, daß das blasse Blütlein floß und daß der Vogel sich immer tiefer zwischen Stein und Gras verkroch, aber doch nicht dem scharfen Schnabel der Feindin entrann.

Mit der Hand schlug sie nach der schlechten Pflegeschwester. Die aber hüpfte seitwärts, rief noch einmal voller Hohn ›Schackerack‹ und entfloh, etwas Blitzendes im Schnabel. Bei dem kleinen, zerhackten Geliebten kniete das gute Mädchen, müde regten sich noch einmal die Glieder. Er suchte das Köpfchen gegen sie aufzuheben und vermochte es doch nicht mehr. »Mühe dich nicht, Lieber, Liebster!« rief sie weinend. »Ruhe dich aus! Oh, wie hat doch die böse Zilli dir dein Leiblein zerhackt! Was soll ich denn anfangen ohne dich, Spätzchen?! Guntram, du warst doch der Schein im Dunkel und die Fröhlichkeit in der Trauer!«

So klagte sie und reichlich flössen ihre Tränen um den Entseelten. Da aber rührte es sich im Grase: aus einem Stein ward ein Uhu und aus einem Uhu der Schreiber Bubo. Der aber krächzte recht grämlich: »Was ist das doch für ein klägliches Gewinsel und Geschrei?! Du müßtest doch der Elster Zilli von Herzen dankbar sein, hat sie Dich doch dazu vermocht, mir endlich den Scheitel naß zu weinen – lange genug steckte ich in dem verhaßten Stein.«

»Aber mein Spätzlein ist tot!« rief das Mädchen zornig. »Nicht um Deinetwillen habe ich geweint, Du alter böser Bubo Du!«

»Tränen sind Tränen«, knarrte der Bubu recht gleichmütig. »Und dies waren welche von den echten, die die Engel da droben zählen. Was aber Deinen Spatz anlangt, so habe ich in meinen zehntausend Lebensjahren schon schlimmere Wunden gesehen, die ein heilkluger Finger doch wieder schloß – sieh nur!«

Damit fuhr er mit seinem verstaubten, grauen Finger über das zerhackte Federkleid und – siehe! – als habe er nur geruht, schwirrte der Spatz auf und jubelnd ihr um den Kopf. »Spätzlein, oh du mein Spätzlein!« rief sie freudig. Der Vogel aber tanzte um sie, als sei er freudentoll, legte bald seinen Leib an ihre Wange, küßte bald ihre Lippen mit dem Schnabel und rief unermüdlich sein Piep!

»Da hat man es«, sagte der Schreiber sehr griesgrämig. »An nichts wird gedacht von Euch Liebesleuten. Der kostbare Edelstein ist fort, aber das kümmert ihn nicht mehr, seit er darum beinahe gestorben – nun wird Mündlein geschleckt!«

»Wie Ihr doch garstig seid!« rief Monika errötend. »Er ist doch nur ein Spatz.«

»Nun, nun«, meinte Bubo. »Ich will nicht sagen, was Ihr tätet, stellte ich jetzt mit einem Wort Deinen echten Guntram neben Dich, Mädchen. Das Schlecken hat es an sich, daß man stets schleckriger davon wird. – Doch die Zeit drängt, in zwei Stunden geht die Sonne zur Ruhe, bis dahin muß viel getan sein. Sei mir nicht böse, Schöne, wenn ich Dir den Liebsten noch einmal entführe, es ist gewiß das letzte Mal, und als fröhlicher Bursch kehrt er heute abend zu Dir zurück. – Komm, Spatz, setze Dich auf meinen Rücken.«

Der weise Bubo aber war so schlimm nicht wie er tat: er ließ den beiden noch Zeit zum Abschied. Nur in einem war er unerbittlich: einen Guntram wollte er ihr nicht, und sei es für eine Sekunde nur, vor das Angesicht stellen. »Heute abend, nicht eher!« brummte er. »Sonst kommen wir nie fort.« Damit verwandelte er sich wieder in einen Schuhu, faßte mit dem krummen Schnabel den Spatzen und setzte ihn sich auf den Rücken. Eilig entschwebte er, hinunter zum Spatzenhof, und das Mädchen sah den beiden nach, weinend und lachend, voller Liebe und Furcht, bis sie ganz in blauer Sommerluft zergangen waren. Dann trat sie zurück in das Haus, hob das verstreute Nähzeug auf und stopfte, aber nun fein sachte und liebevoll, weiter an des Enak Hose. – Kurz war der Flug nur bis zu der großen Linde mit den drei abgestorbenen Zweigen am Spatzenhof, und hätte unser Spatz, Herr Guntram Spatt, gewußt, daß dieses der letzte Flug seines Erdenlebens sei – mit anderen Augen hätte er hinabgeschaut auf das von der sinkenden Sonne milder beschienene Land. So aber dachte er nur seines Mädchens, das er, kaum wiedergefunden, schon von neuem hatte verlassen müssen, und gar unfreundlich klang ihm die Stimme des weisen Schuhu im Ohr, der ihn auf dem abgestorbenen Lindenast neben sich Platz nehmen hieß und also sprach: »Spatz, Du frecher! Höre mich an, unbesonnener Guntram! In Deine Hände allein ist nun das Schicksal von Dir, dem Mädchen Monika und dem Ohm Spatt gelegt. Mir ist nur der Auftrag geworden, Dir Deine menschliche Gestalt zurückzugeben und sie gegen alle Zaubersprüche der schwarzen Magie für alle Zeiten fest zu machen. Von dem, was Du nun in den nächsten Stunden tun wirst, von Deiner Bedachtsamkeit, Deiner Klugheit und Deinem Mut, wird es abhängen, ob Du den Hof aus den Klauen der arglistigen Feinde dem geliebten Mönchen retten und damit die Braut Dir gewinnen wirst.«

Aufmerksam lauschend sprach der Spatz manch freundliches Piep.

»Aber merke wohl«, fuhr der weise Schuhu ernst fort, »bis die Sonne unter den Horizont gesunken ist, muß das Werk vollendet sein. Was bis dahin nicht ausgetrieben ist, bleibt im Spatzenhofe nisten. Vater und Onkel haben es einstens, trotz deutlicher Anzeichen und Warnungen, versäumt, die böse Eulin Petronilla auszutreiben, ja, sie haben sogar noch den Wechselbalg Zilli von ihr einschleppen lassen – handle Du nun nicht so! Lasse Dein Herz nicht von Weibertränen oder einer hübsch gerundeten Schulter erweichen – läßt der Mensch dem Übel auch nur eine kleine Stätte in Haus oder Herz, wird es bald alles überwuchern. Sei hart, Guntram Spalt!«

Zustimmend piepte der Spatz.

»Ich selbst darf Dir nun nicht mehr helfen«, sprach recht verdrießlich der Schuhu. »Doch werde ich mit nicht geringer Spannung hier in der Linde sitzen und das Ergebnis Deiner Taten abwarten. Wegen eines kleinen Versehens nämlich«, fuhr der große Vogel fast verlegen fort, »bin ich verurteilt, in den nächsten zehntausend Jahren die kostbarsten Edelsteine der Erde zu sammeln und sie mit Hilfe eines Esels in einer gemeinen Mühle zu Sand zu zermahlen. Eine recht widrige, ja, mein Herz empörende Aufgabe! Gelingt Dir aber die Austreibung alles Bösen, werde ich frei zu besserem Werke!«

Stille schwieg der weise Schuhu. Und stille saß neben ihm der Spatz. Schließlich raffte sich der große Bubo aus seinem trüben Sinnen, schüttelte das Gefieder und sprach: »Du kennst das Fenster dort im weißen Giebel, hinter ihm hast Du einst eine Nacht als Gast gehaust. Nun ist es mit gekreuzten Latten enge vernagelt, denn gefangen schmachtet dahinter Dein Nebenbuhler, der gemeine Dreckspatz. Durch eine der Lücken werde ich Dich schieben, Dich entwandeln – und dann weise ans Werk!« Er rollte seine großen Augen gegen den kleinen Federgefährten und sprach sachter: »Viele Jahre, lieber Bruder, hast Du mir am Schreibtisch gegenüber gesessen, Papier besudelnd und Aktenstaub atmend. Immer hast Du junges Blut mich gedauert, daß Du Dein Leben bei so trockener Beschäftigung vertun solltest, und immer hat Dein freundliches, offenes Wesen mir gut getan. Sei weise, kleiner Freund – wir sehen uns nun nicht wieder!«

Damit packte der krumme Schnabel den Guntram, hob ihn auf, die großen Fittiche trugen ihn lautlos zum Fenster. Durch die Latten fühlte er sich geschoben und flatterte gegen den Kammerboden. Noch einmal krächzte die vertraute Stimme: »Piff-Paff-Puff – werde auf ewig der Guntram Spatt!« – und er fühlte, wie sich seine Glieder dehnten und streckten. Auf fuhr er zu ungewohnter Höhe gegen die Decke, daß er den Kopf einzog in Furcht, er möchte ihn an dem Tragebalken zerstoßen. Frei und grade stand er dann im Raum, ein Mensch wie seit Monaten nicht mehr. Ängstlich versuchte er ein paar Schritte, mutiger ging er wieder zurück, stolz wanderte er hinwärts, aufrecht zurück – ah, wie schön war der fest auf den Boden gesetzte Schritt des Menschen, wie lächerlich dagegen das leichtfertige Gehüpfe der Spatzen! War es ihm doch, als sende die gute Mutter Erde ihren Lieblingskindern, den Menschen, immer neue Kraft durch die Sohlen in den Leib. Er schwenkte die Arme, er freute sich auf den Kampf! Nichts Geringes war es, ein Mensch zu sein, mochten sie immer in vielfältigen Verwandlungen ihn umtanzen – siegreicher als alles war der Mensch!

Aus der Ecke des durch die Vergitterung fast dunklen Gemaches drang ein schwaches, hinsterbendes Piep. Sachte trat er näher, und das nun an die tiefe Dämmerung gewöhnte Auge sah: Er sah sich selbst; hockend auf einer dicken Stange, nach Spatzenart, saß er selbst da im Winkel. Ein graubrauner Mantel war um die abgemagerten Glieder geworfen wie ein zu loses Gefieder. Ins vertraute, fremde Menschenantlitz hingen die zottligen Haare, die Arme waren eng an den Leib gelegt, als seien es die Flügeldecken. Erschüttert rief Guntram: »Bruder Spatz, ermuntere Dich! Die Zeit der Plage ist vorüber. Über ein Kleines fliegst Du draußen wieder in der frischen, freien Luft, nicht mehr mache ich Dir Dein graubraunes Gefieder streitig!«

Doch nur mit einem kläglichen Piep antwortete der Unselige, der Gefangene. Wo waren sein frecher Mut, der Glaube an seine Überlegenheit, die Unbekümmertheit? Alles war zerbrochen und vergangen, und hartnäckig war ihm nur der eine Gedanke geblieben, auch in Menschengestalt nichts zu sein als ein Spatz. Sein leichtes Federwerk hatten sie ihm fortzaubern, seinen frechen Mut hinter Gittern ersticken können, aber er war ein Spatz und er blieb ein Spatz; mit Menschenzunge sprach er doch nichts als ein Piep!

»Komm hervor aus Deinem düsteren Winkel, Bruder Spatz!« rief Guntram ermunternd. Aber teilnahmslos hockte der Spatz auf der Stange und sah sein menschlich Ebenbild nicht einmal an. Dem fiel es ein, wie der weise Schuhu ihn gewarnt, weich zu sein, ihm geboten hatte, Härte zu beweisen; mit kräftiger Hand hob er das menschliche Ebenbild von der Sitzstange, trug es unter das Fenster, ließ es dort hinsitzen. »Hier ist doch ein wenig mehr Licht, Bruder!« rief er. »Schau empor, es findet sich schon eine Rettung.«

Und siehe! vom matten Schein des Lichtes getroffen, hob der Unglückliche den Kopf gegen das Gitter, flügelschlagend bewegte er die Arme, mit den Füßen stieß er sich ab vom Boden – umsonst! Mit einem wehen Piep sank er wieder, in die menschliche Form gebannt, auf den Boden. Ratlos sah Guntram auf ihn hinab, dann auf das Fenster, als erwarte er den weisen Bubo mit Ratschlag oder Hilfe. Doch kein Bubo kam, nur ein Spatzenfederchen bemerkte er, das wohl vorhin beim Durchschieben im Lattenwerk hängen geblieben war. Leise spielend bewegte sich das zarte Gefieder im Luftzug. Mit vorsichtiger Hand löste er die Feder, sah nachdenklich auf sie, dann auf den fast ohnmächtig Liegenden. Unwillkürlich beugte sich Guntram, legte ihm das Federchen vor die Nase – und sie, die kaum sich im schwachen Atemzug des fast Entseelten bewegt, rührte sich schon mehr. Stärker ging der Odem beim Aus- und Einatmen. Unter dem losen Mantel bewegte sich kräftig die Brust; es war, als wehe aus dem Federchen frischer Mut in den erschöpften Leib.

Staunend sah Guntram die Verwandlung, unter seinem Blick wurde die Nase spitz und spitzer, die gelblichen Wangen wurden weich hellgrau, nahe rückte der Schädel an die Nasenwurzel – »Piff-Paff-Puff – werde auf ewig ein Spatz!« rief es Guntram dem Meister Bubo nach. Und schon hob es sich, befreit piepend, von der Erde, kaum eine kleine Weile, so wirbelte es fröhlich durch die Luft. Dann breitete der gemeine Spatz, passer domesticus, die Flügel; ganz seinen frechen Gewohnheiten wiedergegeben, beschmutzte er kräftig die Schulter des Befreiers und fuhr aus dem Fenster, lustig der Sonne entgegen piepend.

Heinz Kiwitz

»Hier ist doch ein wenig mehr Licht, Bruder!«

Mit dem braunen losen Mantel, den der Flüchtige verschmäht, säuberte sich Guntram lächelnd die Schulter. Dann machte er sich an eine Untersuchung der Kammer, so gut es die Dämmerung eben zuließ. Er fand, daß man dem Gefangenen zu Liebe alle Möbel entfernt, nur war an jeder Ecke eine kräftige Sitzstange angebracht, daß der verzauberte Spatz in der Erinnerung an sein freies Dasein ein wenig hüpfen könnte. Auf dem Boden der Kammer standen noch zwei Schüsseln, die eine mit Körnern, die andere mit Wasser, sonst enthielt das Gemach nichts.

Zornig rüttelte Guntram an der fest verschlossenen Türe, kräftig knallend schlug er mit den Stiefeln gegen das knackende Holz, laut schrie er: »Hunger! Hunger! Gebt mir Brot und Braten, Ihr Lauser! Butter herbei und Speck! Schnell, es eilt!« Und so sehr füllte er das Haus mit seinem tosenden Lärm, daß er bald einen Schlürfeschritt auf dem Gang hörte, Schlüsselklirren vernahm, und dann klagte eine brüchige, hohe Stimme: »Was machst Du doch für einen Lärm, ungezogener Spatz! Warte, wenn der Herr Rat Asio kommt, der hackt Dir die Augen aus! Willst Du gleich ruhig sein – was sollen denn die Nachbarn vom Hoferben denken!«

Doch unermüdet schrie Guntram auf seiner Seite der Türe: »Essen will ich! Hunger hab ich! Bringt mir Essen, bin ich still, sonsten schrei ich, wie ich will!«

»Aber, Spätzlein!« schmeichelte der alte Habergreis angstvoll. »Sei doch vernünftig. Hat Dir Deine Freundin Zilli nicht einen ganzen Napf schönster Körner hingestellt? Unmöglich kannst Du sie schon gepickt haben. Sag, soll ich sie rufen, die Zilli, daß sie Dir wieder Dein Köpfchen kraut gegen die böse Melancholie?!«

Aber noch lauter schrie Guntram: »Körner hab ich, Braten will ich! Stellst Du mir nicht Essen rein, werd ich immer lauter schrein!«

Doch wieder bat der alte Habergreis: »Spatz, seit wann pickst Du Braten?! Hast Du doch so schöne Körner, das ist die rechte Spatzenweide!«

Und wieder Guntram: »Mit Körnern ist es jetzt vorbei! Den Braten schafft mir mein Geschrei!« Und dabei trommelte er so heftig gegen die Türe, daß ihr Holz in allen Fugen krachte und die Eisenbänder ächzten und quietschten. Nachgebend schrie der Alte in den Lärm: »Ich renne ja schon, ich fliege, Spätzlein! Einen Augenblick nur Geduld! Braten haben wir zwar nicht, aber es mag sein, daß ich noch einen Zipfel Wurst in meiner Lade finde. Der wird Dir köstlich munden, warte nur, ich reibe auch den Schimmel schön ab!« Damit schlurfte der Greis mit zitternden Beinen von dannen, indes Guntram stets weiter lärmte.

Und wirklich verging keine lange Zeit, da wurde der Schleiche- und Schlurfeschritt wieder hörbar, und der Alte bettelte an der Tür: »Schlag doch nicht so gegen das gute Holz, Spatz, es nützt sich doch ab. Sieh, ich habe Dir auch einen schönen Schnabelbissen mitgebracht, eine dicke Käserinde, gut hart fürs Picken.«

Der listige Guntram, dem es nur darum zu tun war, daß Habergreis ihm das Verließ öffnete, rief: »Auch Käserinden lieb ich sehr, gib mir nur rasch die Rinden her!«

»Gleich, gleich«, rief es. »Stelle Dich nur fein unters Fenster, Spätzlein, daß ich Dich durchs Schlüsselloch sehe, ehe ich öffne. Der Herr Rat Asio würde mir wohl ewig zürnen, ließe ich Dich entflattern.«

Nicht gern folgte Guntram dem Wunsch, doch stellte er sich gehorsam ins Hellere, denn er bedachte, daß der Alte, sobald er den Schlüssel ins Schloß gesteckt, nicht mehr nach ihm spähen könnte. Und kaum hörte er das vorsichtige, leise Schieben und Reiben des Schlüssels, eilte er lautlos zur Tür und stand mit angehaltenem Atem bereit loszuspringen, sobald die Tür nur um einen Spalt wiche! Aber der alte Geizhals war auch schlau; ehe er die Tür öffnete, fragte er nochmals ängstlich: »Stehst Du auch noch unterm Fenster?! Piepe doch einmal kräftig!«

Hurtig hielt Guntram das Ärmelloch gegen den Mund und piepte hohl hinein. »Oh, wie piepest Du doch so hohl und fremd, Spatz!« rief der Alte mißtrauisch.

»Weil Hunger ihn im Leibe kniepet, der Spatz gar so erbärmlich piepet«, hauchte Guntram in seinen Ärmel. Da wich die Tür – mit einem Stoß stieß Guntram sie vollends auf, die köstliche Käserinde fiel zu Boden. Und mit den Armen wie mit Flügeln schlagend, mit dem Kopfe hackend, drang er auf den zu Tode erschrockenen Alten ein: »Gibst Du nicht Dein Geld heraus, pick ich Dir die Augen aus!« Jämmerlich kreischte der alte Habergreis auf, floh eilends; aber ununterbrochen hüpfte Guntram hinter ihm her, den mahnenden Vers rufend. Und dieses Mal ließ er es nicht mit Drohungen sein Bewenden haben, manch kräftiger Stoß und Schlag traf den Geizhals Habergreis, der einen so unbarmherzigen Kerkermeister für den armen Spatzen abgegeben hatte. Mit dem immer jammervoller wiederholten Schrei: »Der Spatz ist los! Hilfe, der Spatz ist los!« eilte der alte Wucherer den Gang hinab, stürzte sich halb fallend die Treppe hinunter, und entrann doch weder Schlägen noch Geschrei: »Rennst Du nicht zum Haus hinaus, mach ich gleich Die den Garaus!«

Über den Hof mit seiner Miststatt ging die wilde Jagd zum Hintertor hinaus gegen den Rand des Waldes zu, in dem der Greis, jammervoll ächzend und klagend, verschwand. Was aus dem bösen alten Steinherzen geworden, davon gibt es keine sichere Kunde. In die Stadt jedenfalls, zu seinen Schätzen, ist der alte Habergreis nicht wieder heimgekehrt. Vielleicht aber meinen die Leute ihn, die da erzählen, bei nächtlicher Wanderung würden sie manchmal im Walde von einem jämmerlich klagenden Greis angesprochen, der sie um eine milde Gabe bitte. Bis an den Waldrand mitkommend, lasse er nicht ab mit Betteln, Greinen, Weinen. Da aber zergehe er in die Luft. –

Schweißtriefend kehrte Guntram auf den Hof zurück. Recht sehr hatte es ihn doch gewundert, daß keine Seele sich auf das Hilfegeschrei des Greises gezeigt hatte! Aber wie emsig er auch in Haus und Stall suchte, niemanden fand er. Doch mußte sein Suchen auch umsonst sein, denn gerade am Tage zuvor hatten alle Dienstboten, müde des ewigen Hungers, den Hof verlassen. Doch wohl erbarmte ihn des Viehs, das mit herausstehenden Rippen und hängenden Köpfen in den Futtergängen stand. Mit dem Schlüsselbund, das der alte Habergreis droben auf dem Gang verloren, öffnete er die fest verrammelten Kisten, schüttete den Pferden Hafer, den Kühen Schrot, den Schweinen Futtermehl in die Tröge, sah den aufglimmenden Lebensfunken in ihren Augen, als sie sich gierig ans Fressen machten, und stellte sich dann ans Fenster zum Garten, abzuwarten, bis das Getier seinen ersten Hunger gestillt und ihm eine zweite Mahlzeit zu geben wäre.

Wie er da nun aber aus dem Fenster in den Garten sah, merkte er bei der Laube, die ihm zuerst bei seiner Ankunft Unterschlupf gewährt, ein starkes Glitzern. Aufmerksamer schaute er hin, und nun sah er eine Elster aus der Laube heraushüpfen mit einem Edelstein im Schnabel, den sie sorgsam in den Sand legte. Nun hüpfte der Vogel, mit dem langen Schwänze wippend, eitel und gierig um seine funkelnden Schätze. Er rückte hier ein wenig, schob da ein bißchen und war so vertieft in das bläulich-gelblich-diamantene Gefunkel, daß er den heranschleichenden Guntram garnicht bemerkte.

Den gelüstete es sehr, den Vogel zu fassen und ihm mit einem kräftigen Griff den Hals umzudrehen. Denn er dachte nicht nur daran, daß dieser böse Vogel ihn ohne des weisen Bubo Hilfe und seines Mönchen Tränen fast vom Leben zum Tode und aus aller Liebe gebracht hätte. Sondern er erinnerte sich auch dessen, daß diese Pflegeschwester der Monika mit so viel Undank und Herzlosigkeit die empfangene Guttat von Ohm und Base vergolten hatte.

Doch wieder besann er sich auf des Schuhu Mahnung, bedachtsam und weise zu sein, und so griff er nicht nach dem Vogel, sondern nach den Steinen, die er mit einem raschen Griff in seine Hand raffte. Mit einem erschreckten ›Schackerack‹ flatterte die Elster auf, und im nächsten Augenblick stand die Zilli vor Guntram. »Gib mir meine Steinlein wieder, Spätzlein«, sprach sie schmeichlerisch. »Schöne Körnlein sollst Du auch von mir haben, und immerfort will ich Dein Köpflein krauen! Wie bist Du denn aus Deinem hübschen Bauer gekommen, mein lieber Spatzenvogel?«

»Du sprichst nicht«, antwortete Guntram finster, »mit dem dummen Spatzen, Zilli. Sondern der wahre Guntram steht vor Dir, böse Elster, den Du vor zwei Stunden für tot liegen gelassen hast, von Deinen Schnabelhieben zerfetzt. Nun ist es vorbei mit Deinen hübschen Steinlein, und auch Dein hübsch schwarzweiß Gefieder wird der Meister Hämmerling zu Asche brennen.«

Todesblässe überzog das Gesicht des Mädchens, Tränen der Angst stürzten aus ihren Augen. Auf die Knie fiel sie vor ihm, faßte bittend seine Hand und flehte: »Ach, lieber guter Herr Guntram, seid doch nicht gar so hart zu mir! Nie habe ich Euch und der schönen Monika etwas Böses tun wollen. Herzlich lieb wart Ihr mir beide, und alles, was ich getan habe, tat ich nur auf das Geheiß des bösen Asio und der Muhme Petronilla, in deren Fängen ich von Jugend auf jämmerlich lebte!«

»Du lügst, Böse!« sprach Guntram ernst. »Deine Tränen können mich nicht erweichen. Einst saß ich als Spatz in dieser Laube unter der Bank und hörte, wie Du den braven Enak zu einem Anschlag auf mein Leben anstiften wolltest. Auch ist mir wohl bewußt, wie grundlos Du den versteinten Bubo geschmäht und geschlagen – und diese Glitzersteine, sage doch an, hast Du sie für den Herrn Rat Asio gestohlen oder für Dich?«

Stärker weinte das Mädchen, beschwörender rief es: »Es ist ja alles wahr, was Ihr sprecht, hoher Herr Guntram. Ja, ich war böse und ich habe gerne das Böse getan. Aber trage ich allein die Schuld? Höret doch, wendet Euer Gesicht nicht fort, ich beschwöre Euch! – Ist es nicht schlimm für ein klein Kindlein, wenn der Pflegevater der eigenen Tochter alle Liebe spendet, daß für das angenommene Kind nichts über bleibt? Wer hat mich denn je auf den Arm genommen? Wer hat mich geherzt und geküßt, in mein Bettlein gelegt, warm zugedeckt und gesprochen: Schlafe gut, mein liebes Kind?«

Seine Hand ihrer klammernden zu entziehen, wandte sich Guntram ab; weicher wurde ihm der Sinn, denn er fühlte, viel Wahres sprach sie.

»Hört mich noch einmal an!« bat sie dringender. »Ich gelobe Euch mit allen Eiden, ich will mich bessern! Ich will gut werden! Viel kann ich Euch helfen! Merket wohl, Ihr vermöget nichts und nie etwas über den Herrn Asio, wenn Ihr nicht die Papiere habt, die in der Eisentruhe unter dem Kanapee des Wohnzimmers liegen. Dreimal müßt Ihr mit dem Knöchel des kleinen Fingers der linken Hand gegen den Deckel klopfen und sprechen: ›Bleibe zu, Decklein!‹ – dann tut er sich auf! Seht, nicht einmal der Herr Rat weiß, daß ich sein Geheimnis, listig als Elster spähend, erlauscht – Euch aber sage ich es!«

Weich sah Guntram auf die Weinende, zur Verzeihung war sein Herz bereit, und sie fühlte es wohl. Liebevoll hob sie ihr Gesicht zu ihm auf, sie flüsterte: »Schenket mir doch meine Steinlein, Herr Guntram!« Lieblich wölbte sich ihm der Frauenmund zu, mit einer leisen Bewegung löste sie die Schulter aus ihrem Gewand, das zurückglitt und den reizendsten Busen entblößte.

Doch als Guntram das perlmutternglänzende Fleisch, die zarte Rosenknospe gewahrte, gedachte er nicht nur der Warnungen des weisen Schuhu und des Spruches: Küssemund ist ungesund. Auch seines eigenen lieben Mädchens gedachte er, das sich so schämig stets vor ihm bewahrte. »Schamlose!« rief er und riß sich von ihr los, daß sie taumelnd hinglitt. »Nun sollst Du sehen, wo Deine Glitzersteine bleiben!«

Eilend lief er zu Hof und Ziehbrunnen, indes die Arge ihn, schon wieder zur Elster verwandelt, schreiend umflatterte. Über dem Brunnenrund öffnete er die Hand, in der Sonne aufblitzend wie ein Regen kalten Feuers fielen die Steine hinab in das Dunkel. – Kläglich klagte die Elster, vergeblich suchte sie, mit dem Schnabel wenigstens einen der fallenden zu erhaschen ... umsonst! Auch der letzte fiel, leise plätschernd, in das Wasser, und mit einem ›Schackerack!‹ stürzte ihm die Elster ins Dunkel nach.

Lange stand Guntram noch, rufend und lockend, über den Brunnen gebeugt. Aber der Vogel kam nicht wieder, ertrunken ruhte er wohl unten im lichtlosen Wasser bei den Schätzen, die einzig sein Herz geliebt. –

Langsam ging Guntram zurück in das Haus. Der Geizhals Habergreis war vertrieben und die Elster Zilli ertrunken, aber die schwerste Aufgabe, den Rat Asio zu besiegen, stand ihm noch bevor. Ob an den eben gehörten angstvollen Worten der Zilli etwas Wahres gewesen, ob es die eiserne Truhe wirklich gab, ob sie sich öffnete, ob sie wichtige Urkunden enthielt, das wollte er nun erkunden.

Mit einem Gefühl fast bänglicher Ehrfurcht betrat er die kleine Wohnstube, in der Ohm und Vater so gern geweilt. Bescheiden zog er auch im leeren Gemach die Kappe vom Kopfe, aber recht abgestanden und kalt legte sich ihm die eingeschlossene Luft auf die Lunge. Hastig stieß er die Fenster auf, aber auch der einströmende, würzig durchwärmte Frühsommerhauch vermochte ihm das Gefühl, er sei widerrechtlich hier eingedrungen, nicht zu nehmen. So hob er, als werde sein Tun dadurch rechtlicher, das Gewehr vom Haken, stieß vorsichtig die Patrone aus der Jagdtasche mit dem Ladestock hinab, schüttete ein wenig Pulver auf die Pfanne und legte sich die Waffe griffbereit auf den Tisch.

Dann erst beugte er sich unter das Ruhebett, ergriff ohne viel Umhertasten die eiserne Truhe, die aber nur ein Trühlein war, und setzte sie sonder Anstrengung vor sich auf den Tisch. Zitternd klopfte er mit dem kleinen Finger der linken Hand gegen den Deckel und rief: »Bleibe zu, Decklein!«

Da ächzte, krächzte und raxte die Eisentruhe ganz erbärmlich, langsam hob sich der Deckel, und aus dem Innern quoll es von Papieren und Pergamenten und Urkunden, alten und neuen. Seltsam wurde dem Stadtschreiber zu Mute, der Geruch, den er so viele Jahre gerochen, umfing ihn; ihm war, als müsse er nach der Feder greifen und – frischzu! – abschreiben. Hatte nicht der hohe Herr Asio ihm eben diesen Papierberg auf den Tisch gelegt, ihm strenge gebietend, sofort mit der Abschrift zu beginnen und sie eiligst zu fördern? Völlig benommen griff er sich hinters Ohr, faßte statt der Feder ein Kopfhaar, tunkte es rasch in die Zündpfanne des Gewehrs und begann flugs auf der Tischtafel zu schreiben, was ihm aufgetragen. So saß er, wie manches Jahr vordem, versunken in seine Arbeit. Rascher und rascher sank der Sonnenball dem Horizonte zu, und umsonst blies der Wind dem Eifrigen manchmal, die Haare ihm verwirrend, pustend in den Nacken – er schrieb und schrieb. So hatte er, wie von fremden Menschen schreibend, den Auftrag des Stadtschreibers Guntram Spatt an den hohen Herrn Rat Asio geschrieben, er möge alles tun, ihn in den Besitz des ihm arglistig geraubten Vatererbes zu bringen; er hatte eine Nachlaßverfügung desselben Guntram Spatt geschrieben, daß im Falle seines Ablebens nicht seine Leibeserben, sondern das gute Mädchen Cäcilie allein erbberechtigt sein solle. Und nun griff er nach einem alten, gelblichen Pergament, auf dem ein Vater seinem Sohne Guntram berichtete, wie der Vatersbruder ihn, um ihm das Erbe zu nehmen, in eine tiefe Schlucht herabgestürzt habe; ihm dann aber, als er gemerkt, daß in dem Schwerverletzten doch noch Leben sei, den Eid abgenommen habe, für ewig und alle Zeiten auf den Hof zu verzichten, widrigenfalls er ihn elend im Schluchtengrunde umkommen lassen werde. Nun aber solle der Sohn sich nicht an diesen gegen Gott und Menschen erzwungenen Schwur gebunden halten, im Gegenteil solle er alles aufbieten, den mörderischen Vatersbruder und dessen Tochter vom Hofe zu treiben. Das gebiete ihm der sterbende Vater aufs strengste.

Fleißig begann Guntram loszuschreiben. Aber seltsam, unter seinen Augen verwirrten sich die einfachen Schriftzüge immer labyrinthischer. Jetzt waren es schon die Zweige eines Waldes, seltsam ineinander verschlungen, es dunkelte, große Vögel hoben sich von den Ästen, sahen ihn funkelnd mit ihren großen Augen an und krächzten: ›Guten Abend, Gevatter Spatz! Wünsche wohl gespeist zu werden!‹

Während sich aber alles andere immer toller und dunkler verwirrte, leuchtete ein Wort auf der Urkunde ihm mit bleibender, ja, wachsender Klarheit entgegen. ›Monika‹ las er. Nun wuchs aus dem Wort ein Rosenstrauch, viele rosa und rote Rosenknospen schwankten im Winde. Den Papierdunst vertrieb süßester Rosenduft, und eine holde Stimme rief aus der Ferne wie eine Glocke: ›Guntram, ich warte Dein!‹

Da fuhr der Stadtschreiber wie aus tiefstem Schlafe auf. Recht narrenhaft sah er sich selbst am Tische sitzen, mit einem dünnen Haar über das gelbpolierte Holz fahren, das er ganz vergebens in das Pulver einer Zündpfanne getaucht. ›Ei, da soll doch das liebe Wetter hineinfahren‹, rief er unmutig. ›Habe ich denn Zeit zu schlafen und tolles Zeug zu träumen –?!‹ Durch das Fenster sah er, daß der untere Rand der Sonne fast schon den Horizont berührte, hastig blickte er zurück auf den Tisch und auf den unheilvollen Brief des Vaters, der ihn für immer von der Geliebten trennen wollte. Doch wie ward ihm, als sein fliegendes Auge nichts von alledem las, ja, nicht einmal die Schrift des Vaters erkannte, sondern es stand dort in recht geschwungener Schreiberhand geschrieben, daß der Spatzenhof gehalten sei, für ewige Zeiten dem Herrn Pfarrer zu Weihnachten drei fette Gänse und zu Ostern drei Schock frische Eier zu liefern.

Schon griff er zornig nach der Urkunde, die ihn so genarrt, sie zu zerreißen, da schwebte es, die Sonne verdunkelnd, zum Fenster herein, und eine ungeheure Eule faßte mit dem Schnabel nach dem Papier. – »Habe ich Dich endlich, Du Teufelsvogel!« rief Guntram, griff nach dem Gewehr und brannte los. Wie eine Wolke rieselte ein unaufhörlicher Regen feinster Federn zu Boden, und als sich der Qualm verzogen, sah Guntram sich allein im Gemach.

Wieder wollte er nach der Urkunde greifen, um sie zu zerreißen, da tat sich krachend die Türe auf und herein trat der Büttel, ein urmächtiger, stiernackiger Mann, und sagte barsch: »Was treibt Er hier im fremden Haus, Herr Nichtsnutz? Knallt und stiehlt Er, was? Reich Er mir einmal seine Händlein, daß ich ihm sein gebührend Ehrengeschmeide anlege!«

Damit hob er die klirrenden Ketten, um sie dem verwirrten Guntram über die Hand zu streifen, doch von neuem tat sich die Türe auf und herein trat eilig, vom Laufen erhitzt, der getreue Knecht Enak und rief: »Gott zum Gruß, Herr Guntram. Die Base Monika schickt mich, weil sie meint, Ihr brauchtet Hilfe, wenn es Röcke zu walken gibt!«

Und mit verstelltem Erstaunen wandte er sich an den Büttel: »Ei sieh da, Meister Büttel, seid Ihr es denn wirklich? Eben sah ich Euch doch noch auf der Bank vor Euerm Haus geruhig schlafen, ein Hühnerbein im übersatten Maule. Nein, nein, Euer Rock muß zuerst gewalkt werden, hängt er doch hinten völlig voller Eulenfedern!«

Damit versetzte er dem Sprachlosen einen kräftigen Schlag in den Rücken und, siehe, dieser Schlag ging durch den schweren Mann völlig hindurch, als sei er aus Luft. Fedrig stäubte es wiederum auf, aber der Luftzug von der offenen Stubentür zum Fenster wehte die Federchen hinaus in das Land. Mehr und mehr schwand der kräftige Mann, zum Schluß sahen noch die beiden bösen Augen glotzend aus der Wolke – »Das war ja der hohe Herr Rat Asio!« rief Guntram verblüfft – aber da war er auch schon zum Fenster hinaus geweht!

»Und nun eilig zu, mein lieber Herr Guntram!« rief Enak freundlich. »Überlasset mir nur gänzlich das Vieh; und Feuer unter dem Wasserkessel werde ich auch anlegen. Noch scheinet die Sonne ein wenig: holet, wer wartet!«

Eilig und ohne dem Retter auch nur zu danken, lief Guntram los. Schnurstracks den steilen Pfad, die bequemere Straße verschmähend, lief er bergan zur Holzfällerhütte. Und wenn auch seine Brust keuchte, so leicht und so fröhlich war ihm nicht einmal bei seinem ersten Spatzenfluge zu Mute gewesen, wie in dieser Minute.

Wer ihm aber zuerst auf seinem Dauerlauf begegnete, war der Bauer Spatt, und nicht minder hastig lief der biedere Mann bergab nach seinem geliebten Hof als der fröhliche Neffe bergauf zur Liebsten. Als er aber des Neffen ansichtig ward, hemmte der oben seine Schritte und rief: »Wir wissen schon alles, lieber Guntram! Soeben ritt der alte Schreiber Bubo auf einem Esel an unserer Hütte vorbei. Staunend haben wir vernommen, welche Taten Du verrichtet und wie Liebe Dich standhaft gemacht hat. Nun, laufe nur weiter, Neffe, sie folget mir mit etwas mädchenhafterem Schritte.«

Schon sprang der Bauer wieder bergab, doch noch einmal hielt er an und rief: »Ein bedauerliches Ende für solch würdigen Herrn wie den hohen Herrn Rat! ›Aus einem Asio ist ein Asinus geworden‹, sprach der Schreiber zu uns, und wirklich trug der Esel ein recht rätlich Gebaren an sich!«

Eilig lief er weiter, langsamer aber stieg Guntram hinan. Eine tiefe Scheu und Verwirrung hemmte seinen Schritt, da er nun zum ersten Mal ganz menschenhaft als Bräutigam Guntram vor die Braut Monika treten sollte. Schien es ihm doch fast schmachvoll, daß er so lange als niedriger Spatz bei ihr gelebt, von ihr abhängig und ihr untertan und am Ende gar allein durch ihre Liebestränen zum Leben wiedererweckt. Zögernder und zögernder wurde sein Schritt, und als er gar ihr helles Kleid schon durch die Büsche blinken sah, blieb er ganz stehen und ließ in Scham den Kopf sinken.

Doch das schöne Mädchen wußte von alledem nichts. »Spätzchen! mein Guntram!« rief sie. »Bist Du endlich wieder da?! Bist Du endlich da, im richtigen Gewande, Du mein Spatz?!« Schneller und schneller lief sie hinab zu ihm, und er mochte wollen oder nicht, er mußte sie in seinen Armen fangen. Da lag sie an seiner Brust, hastig atmend, liebevoll sah sie zu ihm auf, liebevoll sprach ihr Mund: »Da hast Du mich, nun halte mich auch. Ach, Guntram, mein liebster Schatz, warum stehst Du so still? Küsse mich doch! Bist Du denn jetzt ein anderer als der kleine Spatz, der gar so gern an meinen Lippen gepickt?!«

»Ach, liebste Monika«, sprach Guntram stockend. »Ich denke der bösen Stunde, da Du mir gesagt, Du könntest mir nicht mehr vertrauen – ich setzte mir denn ein ander Herz in die Brust. Es ist immer noch dasselbe Herz, mein Mönchen!« fuhr er traurig fort.

»Oh Du dummer, Du dummer Spatz!« rief sie und riß ihn fest an den Ohren. »Als ob das nicht rechte Männerart ist, einem armen Mädchen aus einem hitzigen Wort eine Kette zu schmieden! – Aber, Guntram, Schatz, Spatz, ich liege ja doch in Deinen Armen, also vertraue ich Dir wohl! – Ich bitte Dich ja um einen Kuß, also glaube ich wohl an die Liebe in Deinem Herzen!«

Heinz Kiwitz

Da war es ihm, als dehnten sich die Himmel, von der untergehenden Sonne schossen feurige Freudenfackeln in den Äther. Friedlich summte das heimkehrende Vieh mit seinen Glocken. Von den Lippen des geliebten schönen Mädchens wehte ihn der ewige Atem des Lebens selber an, näher zog er sie an sich, dann küßte er sie.

Und plötzlich fing die grüngoldige Schaukel an zu schwingen, von der er in der ersten Nacht auf dem Spatzenhof geträumt. Nur saßen sie nicht sittsam nebeneinander auf dem Polsterbänkchen: in den Armen einander haltend, schwangen sie höher und höher in den Abendhimmel, in alle Himmel hinein.

»Ach!« rief Guntram fröhlich zur schönen Monika, »was brauchet der Mensch denn Flügel – hat er doch die Liebe!« Sie aber sprach garnichts mehr, sondern flog in seinen Armen – bis in die Seligkeit des siebenten Himmels hinein.

 

 

Heinz Kiwitz

»Was brauchet der Mensch Flügel – hat er doch die Liebe!«


 << zurück