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Drittes Kapitel

 

»Was wagt der Bursch? Verläßt die Gerstenbrühe
Und kommt bewaffnet wider seinen König?«

Altes englischer Schauspiel

 

Heinz Kiwitz

Lange noch hatte der unglückliche Guntram im Nachtdunkeln vor der zerbrochenen Fensterscheibe gehockt und voll banger Erwartung auf den Besuch des großen Schuhu Bubo gewartet. Denn wenn er es sich recht durchdachte, mußte die Erzählung des Mädchens Cäcilie lügnerisch gewesen sein: sie mußte es gewesen sein, die vom wachsamen Schuhu beim Diebstahl des Zauberhaares überrascht worden war, sie, die er schon auf der Gartenbank in der Laube finstere Pläne gegen den erwarteten Gast hatte spinnen hören. Vielleicht war es dem unheimlichen Freunde gelungen, ihr das Diebsgut wieder abzujagen, vielleicht aber hatte er auch, verjagt von den Zueilenden, unverrichteter Sache durch die Fensterscheibe fahren müssen –?

Umsonst wartete Guntram. Der Novemberwind pfiff um das Haus und orgelte in den Ästen der großen Linde, aber kein Flügelschlag trug den ersehnten Helfer herbei. Recht schwer fiel es dem jungen Mann auf die Seele, wie gänzlich er auf die Unterstützung des erzürnten Oheims angewiesen sei, wie er kläglich ohne einen Kreuzer im Beutel dastehe, und wie ihm auch die Rückkehr in die Schreibstube des Rates verwehrt sei, denn nie werde ihm der arge Mann die unbesonnene Flucht durchs Fenster verzeihen.

Endlich suchte er müde, des ergebnislosen Wartens überdrüssig, sein Lager auf. Lange noch wälzte er sich schlaflos in den Kissen, kaum faßbar wollte ihm die starke Veränderung seines Lebens erscheinen, die doch mit vielen farbigen Bildern aus dem heutigen Tage deutlich vor sein Erinnern trat. Dann hörte er über sich im Tannengeäst den gestrengen Herrn Asio schmälen, angstvoll drückte er sich dichter an den Stamm. Doch die großen gelblichen Augen hatten ihn schon erspäht, nahe drohte der mörderische Schnabel – da faßte des Vaters sanfte Hand den Verängstigten und führte ihn fort in eine enge, dunkle Schlucht. Reißend strömte das Wasser über moosige Blöcke zu ihren Füßen, grau verhängt war der schmale Himmelsriß zu ihren Häupten. »Der Bruder ist gut«, sprach beruhigend der Vater und führte den Knaben weiter fort. Doch das Wasser stieg und stieg, jetzt reichte es Guntram bis zum Knie, jetzt bis zur Hüfte. Der Vater schien dessen nicht zu achten, rüstig schritt er weiter. Das Wasser reichte bis Brust und Hals, ›Vater‹ wollte der Knabe rufen, doch brausend füllte die Flut ihm schon den Mund, erstickend bäumte er sich in seinen Kissen, indes der Vater, ferne und hoch lächelnd, entschritt ...

Der erwachte Guntram sah um sich, dunkel lag noch die Kammer, und was ihn der Traum als Brausen der Wasser hatte hören lassen, war das Sausen des Herbstwindes um das Haus. Wieder legte er sich in seine Kissen zurück, wieder schloß ihm der Schlaf die Lider, doch in welch freundliches Traumreich führte er ihn dieses Mal!

Dem jungen Guntram war, als säße er als Spatz in hellstem Sonnenschein auf einem laubigen Ast. Leicht bewegte der leise Südwind diesen, und dem kleinen Spatz wars, als schwinge er in einer großen grüngoldigen Schaukel. Schon war es eine – und die neben ihm auf der Polsterbank mitsaß und mitschaukelte war niemand anders als die schöne Base Monika. »Höher, Vetter!« rief sie jauchzend, und höher und immer höher schwang die Schaukel, bis ihr grüngoldenes Gehäuse tief unter ihnen lag wie das leere Puppenkleid, das der bunte Schmetterling verlassen. Tief unter ihnen lag, lieblich übersonnt, die alte, gute Mutter Erde. Noch erreichte die beiden wie ein fernes Freudenjauchzen der festliche Morgenwirbel der Lerchen. – »Immer höher – höher – höher!« jauchzte das schöne Mädchen. »An den Sternen ist unsere Lebensschaukel aufgehängt, in das reine, schlackenlose Feuer der Sonne schaukeln wir uns ...« – »Monika«, flüsterte der Schreiber, »spürst Du nun, daß die graue Spatzengewandung nur eine Verkleidung war –?«

Voll schlug die Schöne die Augen zu ihm auf. »Immer habe ich es gewußt, Guntram«, flüsterte sie. Ihre Köpfe näherten sich einander, ihr Atem wehte ihn an. Rauschend stürmte die Schaukel höher, bis in alle Himmel hinein – die Berührung ihrer Lippen war so leise, als sei ein Rosenblatt dagegen geweht ...

Von einem störenden Kitzeln an den Lippen erwachte der junge Guntram aus seinem schönsten Traum. Er fuhr empor. Die graue Helle des späten Novembermorgens füllte die Kammer. Von seinem Gesicht, seinen Lippen war es fortgeflattert, und jetzt saß es, ihn frech anpiepend, auf dem Rande der Waschkommode: ein Spatz, der wohl vor dem kalten Regen, der draußen niederfiel, durch die zerbrochene Scheibe in der Kammer Schutz gesucht.

»Sei mir gegrüßt, du graurockiger Vogel!« rief Guntram, gut gelaunt durch den schönen Traum, wenn auch der Rosenkuß auf den Lippen nur das vorwitzige Trippeln eines Spatzen gewesen war. »Fast kann ich Dich ja nun einen Bruder nennen, und gerne sei Dir Gastfreundschaft gewährt, bis der dreiste Besen der reinigenden Magd Dich wieder in Dein unfreundliches Element zurückscheucht.«

Fröhlich piepte zur Antwort der Spatz und sah neugierig zu, wie Guntram in seine Hosen fuhr.

»Jetzt mußt Du mir, geflügelter Gastfreund«, sprach Guntram fort, »schon den Platz an der Waschkommode vergönnen, nicht möchte ich ungewaschen und ungekämmt hinuntergehen, ein häßlicher Anblick für die schöne Base, deren Gunst ich mit allen Mitteln mir wiedergewinnen muß.«

Der Spatz flatterte, ärgerlich piepend, als sei er böse, hoch und verunreinigte dabei das Wasser des Schüsselchens. »Nicht so, Gastfreund!« mahnte noch gutwillig Guntram. »Feiner Sitten muß man sich befleißigen, ist man bei fremden Leuten zu Gast. – Ach, Du Armer«, fuhr er in anderem Tone fort, »verstehst meine Sprache nicht. Jetzt wünschte ich wohl, ich hätte das Zauberhaar noch, mit Piep und Schniep wollte ich Dir dann schon begreiflich machen, welch Benehmen sich geziemt. – Aber das ist freilich unwiederbringlich dahin.«

Recht auf jauchzte der Spatz, als freue ihn die traurige Botschaft, den Kopf des Überraschten bestürmte er, riß mit seinem Schnäbelchen am Haar und benahm sich ein zweites Mal recht ungezogen.

»Spatz, Sperling, Lüning, Passer domesticus!« sprach ernst mahnend Guntram. »Auch der mildeste Wirt muß ein Mindestmaß guter Sitten fordern. Marsch mit Dir fort! Dort auf der Gardinenstange magst Du hocken – und daß Du mir Dein Bürzel fein geschlossen hältst! Was soll denn die Magd von uns denken –!«

Doch der Spatz, recht als spotte er seiner, riß ihm mit kräftigem Ruck ein langes Scheitelhaar aus und, nochmals ihn beschmutzend, flog er mit frechem Piep auf den Sims des Ofens, von wo er den erzürnten Gastgeber betrachtete. »Spatz!« sprach der, düsterer Ahnungen voll. »Solltest Du etwa gar kein Spatz sein, sondern ein Sendbote jenes listigen Asio, der mir durch Dich ein Haupthaar zu schlechten Zwecken rauben läßt? Spatz, gib mir mein Haar wieder her!« Und umsichtig das Loch im Fenster mit einem Kissen verstopfend, trat er dem Räuber näher, der sich behutsam ganz in den Ofenwinkel zurückgezogen. »Spatz, gib mir mein Haar wieder!« Und er griff nach dem Vogel, dem das Haar quer im Schnabel hing.

Doch griff er vorbei. Der Spatz flatterte hoch und, jetzt auf dem Bettknauf hockend, erwartete er den nächsten Angriff des Feindes. Hitziger schon folgte ihm Guntram, griff wieder vorbei, lief dem Entflatternden nach, ein Stuhl fiel krachend um, fast sein Haupt berührend, schoß der Vogel hierhin, dorthin, und ließ doch nicht von dem Haar. Immer wilder und lärmender wurde die Jagd, mit Kissen und Decken bedräute Guntram den Kleinen, der doch immer wieder geschickt entflog. Am Ende erfaßte Guntram den Stiefelknecht und blindlings schlug er nach dem Spatzen, wobei er sich mit Rufen anfeuerte: »Da, nimm den! Oder diesen! Das Haar, Schurke! Du willst nicht? So nimm hier!«

»Was ist denn dies für ein toller Spuk –?!« rief von der Tür her der Onkel mit tiefer Stimme.

Beschämt ließ Guntram den erhobenen Stiefelknecht sinken. Verlegen starrte er auf den neu erzürnten Ohm, indes der Spatz, fröhlich aufflatternd, durch die offene Kammertür Gang, Freiheit und endgültig das Haar gewann.

»Ein Spatz«, stammelte der verwirrte Neffe. »Durch die zerbrochene Scheibe drang er ein, er beschmutzte mir Zimmer und Gesicht, ja, ein Haar riß er mir aus!«

Ernst blickte der Oheim auf das verwüstete Zimmer. »Ich weiß noch nicht, Neffe«, sprach er dann fast traurig, »ob ich eher einem arglistigen Gaukler zu zürnen oder einen aberwitzigen Kranken zu bemitleiden habe. Spricht man doch im Scherze manchmal von einem, der einen Vogel habe – Du aber hast uns eine ganze Vogelwirtschaft ins Haus getragen. Ich denke aber nach der Botschaft, die mich eben erreicht, daß noch der heutige Tag Klärung bringen wird. – Ordne jetzt das Zimmer ein weniges, daß wir uns nicht zu sehr zu schämen haben, und komme dann zur Morgensuppe herab, die Du freilich allein wirst essen müssen. Denn die Uhr geht schon stark auf neun, und alle andern sind seit Stunden an der Arbeit.«

Ernst und traurig hatte der Ohm gesprochen, auf der Zunge schwebte dem Neffen ein offenes Geständnis. Doch ehe er sich entschlossen hatte, war von dem beschäftigten Mann die Tür schon wieder geschlossen, und so machte sich der Schreiber eifrig daran, die Spuren der Verwüstung zu vertilgen.

›Ei freilich‹, sprach er dabei zu sich, ›muß dem Ohm mein Beginnen fast wie das eines Toren erscheinen. Allen Fleiß habe ich daran zu setzen, durch anständiges Betragen und emsige Arbeit in den kommenden Tagen den üblen Eindruck wieder wett zu machen – und bestimmt entsage ich jedem Anhang an die üble Vogelwirtschaft, die nur Böses bringt.‹ So bei sich sprechend hatte er der Kammer den Anschein von Behaglichkeit wiedergegeben und stieg dann hinab auf die große Diele. Rasch trug ihm eine Magd die große Suppenschüssel mit der Mehlsuppe herzu, dann legte sie ihm einen Laib Brot und ein derbes Stück Räucherspeck auf den Holztisch. Dieses Mal zog Guntram schon das eigene Messer aus der Tasche und so kräftig aß er von der ungewohnten derben Kost, daß der eintretende Onkel fast lächelnd sagte: »Wenn Du Dich in alles bei uns so schicken wolltest wie in das Essen, Neffe Guntram, würden wir bald zufrieden miteinander sein. Nun aber komm und zeige, was Du bei der Arbeit vermagst.«

Er schritt dem Neffen voran in den geräumigen Viehstall, wo Haupt an Haupt die rotweißen und bräunlichen Kühe standen, drückte ihm eine langstielige Gabel in die Hand, wies auf eine Karre und gebot: »Nun miste die Rinder. Entferne immer säuberlich alles vom Unrat beschmutzte Stroh und packe es fest auf die Karre. Dann fährst Du es auf den Misthaufen, stürzest die Karre dort um und breitest die Ladung säuberlich und recht eben aus, damit die Dungstätte nicht zu einem Gebirge aus Erhöhungen und Tälern werde.«

Kräftig stach der Neffe in das Stroh, zog und zerrte am Placken, aber der Onkel rief: »Halt ein! Siehst Du denn nicht, wieviel sauberes Stroh Du mit dem beschmutzten fortzerren willst?! Nicht Stroh, Mist will der Landmann auf seinen Acker fahren, darum trenne beides genau.«

Noch eine Weile stand der Oheim ratend und schaltend beim Neffen, nahm ihm auch einmal die Gabel aus der Hand und wies ihm, wie man die unverständigen Kühe mit gütlichem Zureden und mahnendem Klopfen durch die Gabel zum Beiseitetreten bringe. »Nicht anschreien darfst Du das Vieh und gar nicht es schlagen, sonst schreckt es ihm die Milch in den Leib zurück, und die Muhme Petronilla klagt über leere Satten in der Butterstube.«

Schließlich aber ging der Onkel, sachte nickend, von dannen. Eifrig schaffte Guntram am ungewohnten Werke, kräftig, doch nicht unangenehm, stieg ihm der Geruch des Mistes in die Nase. Hatte er im Anfang noch die neuen langschäftigen Stiefel vor Beschmutzung sorgfältig gewahrt, sah er bald, daß dies doch nicht durchzuführen sei, und tröstete sich damit, daß ein Guß Wasser und ein Stallbesen schon wieder die erwünschte Reinlichkeit herbeiführen würden.

Mit Schwung fuhr er über die schmalen Bretter die Karre auf den Dunghaufen, trotz der schon schmerzenden Hände ihre Holme festhaltend stieß er sie genau bis zu der Stelle vor, wohin jetzt der Dung gehörte, kippte sie um und breitete sorgfältig das in der Novemberkühle dampfende Gut aus. Dabei schielte er manches Mal verstohlen nach den Fenstern des Wohnhauses, ob vielleicht die schöne Base ihn so unverdrossen bei der Arbeit sähe. Aber die Fenster waren leer, und nur der derbe Knecht Enak blieb einmal beim Dunghaufen stehen, sah eine Weile, die Hände in den Taschen, den Kopf mit der blauen Zipfelmütze weit vorgeschoben, schweigend zu, sprach dann: »Ohaua – haua – ha!!«, spuckte aus und ging.

So mochte der Schreiber zwei oder drei Stunden gearbeitet haben und begann schon sehnsüchtig der Mittagstunde zu gedenken, denn schon schmerzten von der ungewohnten Anstrengung die Armmuskeln und schon wuchsen auf den rot brennenden Handflächen weißliche Blasen – da störte ihn das Rollen eines Wagens aus seinem stillen Schaffen auf. Zwar die Kalesche, die wohl auf der Dorfstraße gehalten, bekam er nicht zu sehen, aber wohl war ihm der schwarzbärtige Fuhrmann bekannt, der jetzt die ausgespannten Pferde über den Hof in den Stall zog. Manches Mal hatte er ihn, hoch auf dem Bocke thronend, in der Stadt vor der Schreibstube des Herrn Asio halten gesehen, den er regelmäßig zu aller ländlichen Klientel gefahren.

Doch auch der Kutscher erkannte den Schreiber, bis unter die Schwärze seines Bartes erbleichend, bekreuzte er sich hastig und rief: »Behüten mich Maria, Joseph und alle lieben Heiligen! Eben steigt mir der Musjö an der Vordertür aus dem Wagen und schon steht er hier auf dem Hof im Mist!«

Hastiger schlug das Herz des Schreibers, wilder stieß er die Gabel in den unschuldigen Dung, Unglück kündend klangen ihm die Worte des Kutschers, der vor sich hinmurmelnd im Stalle verschwand. Nicht lange mehr brauchte er zu warten, aus der Hintertür trat die Base Monika, sah suchend über den Hof, erblickte ihn, erbleichte – und die Hand fuhr ihr gegen das Herz. Doch sich sammelnd rief sie: »Er soll sogleich zum Vater in die Stube kommen!«, und als fürchte sie seine Nähe, trat sie, eilig die Röcke raffend, ins Haus zurück.

Schwerer Ahnungen voll folgte ihr Guntram. Daß der Ratsherr, dem er so unbedacht aus Arbeit und Lohn entlaufen, ihn schwer beim schon jetzt erzürnten Ohm verklagen würde, dessen war er sicher. Eine kleine Hoffnung setzte er noch auf den ältlichen Schreiber Bubo, der sich ihm bisher hilfreich erwiesen – aber wußte er doch nicht einmal, ob der mit dem Herrn Rat in der Kalesche mitgefahren! Doch am meisten beschäftigte und kränkte ihn das herabsetzende ›Er‹, das die Base statt des vertraulichen ›Du‹ zu ihm gebraucht. Solche Mißachtung glaubte er nicht verdient zu haben!

An der Küche mit den flüsternden Mägden, die verdächtige Blicke auf ihn warfen, vorüber, durch die leere Diele schritt er auf die blaue Stubentür zu, holte noch einmal tief Atem, klopfte nach französischer Sitte artig an und trat ein.

Fast zu voll schien die kleine Stube für all die Menschen, die sie bereits füllten. Zuerst fiel Guntrams Blick auf die Muhme Petronilla Thalerin, die prächtig geputzt im Ohrensessel am Fenster saß, und widriger denn je däuchte ihn ihr Aussehen mit der hängenden Zulplippe, da sie ihre Hand dem Herrn Rat Asio huldvoll gereicht, der, in würdiges Schwarz gekleidet, neben ihr stand. Doch sah der erfahrene Guntram wohl am verrutschten Toupet und am gesträubten Weißhaar, daß das süße Lächeln um die Lippen seines Brotgebers nur erkünstelt war, daß vielmehr Zornmut an seinem Herzen fraß. Ein wenig entfernt, hinter dem Tisch, stand hoch aufgerichtet der Onkel, der seine Hand beruhigend auf die Schulter der blassen Tochter gelegt hatte. Zwischen beiden Gruppen aber, doch näher dem Rat als dem Pflegevater, war das bepflasterte runde Gesicht der Cäcilie zu sehen. Ferne unter der Kuckucksuhr schließlich stand der Schreiber Bubo, mit demütiger, graufaltiger Miene hielt er die Augen gesenkt und schien die Spitzen seiner Schuhe zu betrachten. Ganz zuletzt fiel Guntrams Blick auf die Gestalt, die herausfordernd, mit gekreuzten Armen, am Ofen lehnte – ach, er leibhaftig stand dort, genau, wie er sich gestern mittag in der Schreibstube erschüttert gesehen, nur daß der andere keine ländliche Tracht, sondern einen modischen Stadtrock trug. Frech musterte der Verwandelte den Hineingetretenen, grinste ihn höhnisch an, und Guntram wollte es scheinen, als habe der räuberische Spatz am heutigen Morgen in der Gastkammer ihn mit dem gleichen frechen Blick angesehen.

Heinz Kiwitz

»Der Kutscher erbleichte bis unter der Schwärze seines Bartes und rief ...«

Laut schrien Onkel und Base auf. »Kneipe mich, Mönchen!« rief der Onkel wild. »Dort steht er – hier steht er! Kneipe mich kräftig, Mädchen, noch döller, noch döller! Ist es mir doch seit heute nacht schon, als lebte ich in einem verwirrten Traum – kneipe zu, Mönchen, daß ich endlich erwache!«

»Nicht also, würdiger Herr Spatt«, sprach der Ratsherr ernst. »Kein Traum narrt Euch, wach seid Ihr und ein Wacher spricht zu Euch. Wir in der Stadt sind diesen Anblick schon völlig gewohnt, ein gar nicht einmal seltenes lusus naturae, ein Naturspiel hat Eures Neffen Züge in einem verrufenen Gassen- und Gossenkind nachgebildet.« »Es ist nicht die Möglichkeit!« stöhnte der Ohm. »Haltet zu Gnaden, hoher Herr Rat, daß ich Euch widerspreche. Aber Ihr seid nur ein Traum und ich bin nur ein Traum, diese beiden sind auch nur ein Traum, und ein arger dazu!« »Es hat alles seine Richtigkeit«, sprach beruhigend der Rat. »Der dort unter der Tür ist der Sohn einer stadtbekannten Bettlerin, namens Passer, und so sehr er Euerm Neffen dort am Ofen im Äußeren gleicht, so verschieden sind beide in charakterlicher Bildung. Ist der eine weich, fleißig, bescheiden, wahrheitsliebend und ehrlich, so ist der andere um so zornmütiger, hitziger, aufbrausender, in wilde Schwänke und wüste Taten verliebt. Schon manches liebe Mal hat die Stadtwache den wilden Burschen ins Prison setzen müssen für eine Flegelei, die er in sinnloser Trunkenheit verübt.«

»Erinnert Ihr Euch nicht«, schrie das Mädchen Zilli, »wie er selbst uns erzählt hat, daß er den Werbeoffizier mit verstellter Trunkenheit genarrt –? Ah, er wird schon trunken gewesen sein, der volle Schlauch, der!«

»Ruhe das Frauenvolk!« gebot der Onkel. Und flehentlich bat er den Rat: »Ach, Herr Rat, helfet mir doch! In des einen wie in des andern Zügen sehe ich meines Bruders Antlitz wieder, und nicht vermag ich zu glauben, daß jener, der in verwichener Nacht so andächtig meiner Erzählung gelauscht, ein böser Betrüger ist.«

Recht kalt antwortete der Herr Asio: »Ich habe Euch bereits gesagt, hochgeschätzter Mann, daß dieser, den ich mit mir gebracht, seit über zehn Jahren auf meiner Schreibstube gesessen hat, stets fleißig und freundlich, mir als blutjunger Jüngling übergeben vom Herrn Magister Böck. Wollt Ihr freilich einer verstellt andächtigen Miene mehr glauben als meinem Zeugnis, so muß ich mich eben bescheiden und wieder von dannen fahren.«

»Besinne Dich doch, Bauer!« rief die Muhme Thalerin mahnend von ihrem Sessel. »Kränke mir nicht den Herrn Rat und lieben Freund!«

Ängstlich erwiderte der Ohm: »Ferne liegt mir die Absicht irgend welcher Kränkung, doch wird männiglich verstehen, daß ich gehalten bin, alles mit äußerster Sorgfalt zu prüfen. Wie denn«, fuhr er bedächtig fort, »hat der dort unter der Tür so genaue Kenntnis aller Umstände, des erwarteten Besuches, der Verwandtschafts- und Erbschaftssachen gewinnen können, ist er nur der Sproß einer niedrigen Bettlerin –? «

Behutsam sprach der Herr Rat: »Wie soll ich das wissen, wohlmögender Herr Spatt? In der Stadt haben auch die Wände Ohren. Vielleicht aber hat der junge Herr Guntram, in verständlichem Stolz, dem armen Ebenbild einiges vorgerühmt von der reichen Erbschaft und Sippe –? «

»I, wie will ich diesem Wicht so Wichtiges künden!« schrie hell, seltsam mit den Armen schlagend, der junge Bursche am Ofen. »Nie erblicke ich diesen Wicht, ohne vor Widerwillen – zu piepen!«

Zornesröte färbte Guntrams Stirn, nicht länger konnte er schweigend seine Verdammung und den frechen Hohn des Nebenbuhlers anhören. Mutig rief er: »Laßt Euch nicht länger täuschen, Ohm! Hast Du denn nicht eben die lächerliche Rede des falschen Neffen gehört, die mit ihren vielen I-Lauten so recht dem Gepiepe eines frechen Spatzen glich –?! Hat er nicht dabei mit den Armen geschlagen, als wolle er sich mit Flügeln in die Luft bewegen –?! Jämmerlich durchsichtig ist der Betrugsversuch jener, die Dir mit falschen Neffen, untergeschobenen Urkunden und frechen Ansprüchen die Ruhe Deiner alten Tage, ja, vielleicht die Tochter rauben möchten! Du selbst, Ohm, bist Zeuge, wie ich erst vorhin am Morgen versucht, diesem schlimmen Burschen dort das mir geraubte Haupthaar wieder abzujagen, das, ich errate es, ihm erst die Sprache verliehen! Ja, er war ein Spatz und er ist ein Spatz, und recht spätzisch klingt ihm noch das Gepiepe aus dem frechen Schnabel ...«

»Halte jetzt ein, Bursche, mit dem unsinnigen Gefabel, mit der Alfanzerei und dem Aberwitz!« donnerte der Ohm mit starker Stimme. »Seit Du in diesem Haus weilst, nimmt der Unfug mit der Vogelwelt kein Ende, und am besten wäre es wohl, ich schickte den Enak zum Herrn Pfarrer, damit Dein höllisch Wesen unter dem Weihwedel wimmernd sich krümme!«

»Ich fürchte den Weihwedel nicht«, rief unerschrocken mit kecker Stirn der Jüngling, und ihm schien, als sähen wohl alle, doch eine Geliebte nicht, mißbilligend auf ihn. »Aber es möchte wohl sein, daß unter des Weihwassers Tropfen jenes silberweiße Haar am Toupet zu Eulengefieder würde – und hast Du nicht selbst, Ohm«, rief er in plötzlicher Klarsicht, »erfahren, wie die Großmuhme Petronilla dort sich gerade das Bein gebrochen, da des Vaters Sturz die heimtückische Eule am Ständer verletzt –!? «

»Das ist Wahnsinn und Aberwitz!« murmelte erbleichend der Ohm. »Die ehrwürdige Muhme ...«

Doch scheltend unterbrach die seine Rede: »Hört doch den frechen Burschen, den losen Vogel! Das Pech, was ihm selbst anpickt, möchte er nun anderen anschmieren. Wunderbares hat mir Elsa, die Magd, berichtet, die seine Kammer gereinigt. Als sie die dünnen, vertretenen Stadtschuhe, die den Burschen hierher auf den Hof getragen, zur Säuberung nach unten nehmen wollte, mußte sie sehen, daß nicht ein Spritzerchen Schmutz, kein Tropfen aus den Regenlachen den Glanz des Leders geschändet hatten. Sag selbst, Gevatter, ist es denn möglich, daß einer, ohne bis in die Knöchel im Schmutz zu versinken, über die erweichten Wege hierher gelangen kann? Wie dann aber ist er von der Stadt hierher gekommen?!«

Arglistig lächelnd beendete die Muhme ihre Rede, und finster hörte der Ohm die neue Beschuldigung. »Rechtfertige Dich!« wandte er sich dann an den Neffen. »Entkräfte, wenn es Dir möglich ist, die Beschuldigung. Hast Du etwa«, fuhr er milder fort, »in der Kammer bereits selbst die Schuhe gereinigt? Oder hast Du nach Art mancher Besucher, die recht schmuck vor ihre Wirtsleute treten möchten, barfuß den langen Weg gemacht, die Schuhe in der Hand –? Rede, sprich, alles, was Du an Verständigem vorbringst, soll gerecht geprüft werden.«

»Ihr machts dem Burschen leicht!« rief unwillig der Ratsherr.

Doch Guntram, der den aufmerksamen Blick der Base auf sich spürte, verschmähte die feige Lüge. Mutig trat er vor und sprach: »Ihr seid sehr gütig, Ohm, doch nicht das eine, nicht das andere habe ich getan. Hergeflogen bin ich den Weg von der Stadt, in das schlichte Gewand eines Spatzen gehüllt habe ich –«

Weiter ließen sie ihn nicht sprechen. Ein ohrenbetäubender Tumult brach los –: »Er gesteht! Er gesteht!« kreischte Zilli. – »Er selbst ist der höllische Spatz!« schrie die Muhme. – »Schickt zum Büttel!« forderte der Ratsherr gebieterisch. »Auch meine Schwanenfeder kam abhanden.«

– »Enak, Enak! Hol einer den Enak!« befahl der Bauer. –»Hihi! Hihi! Dieb! Weich mir hin!« piepte, aufgeregt mit den Armen schlagend, der falsche Schreiber. – Einzig der alte graue Bubo und die schöne Monika standen stille in dem Gelärm. Doch während der eine noch immer seine Stiefel besah, als sei er harthörig und habe nichts verstanden, blickte die Base aufmerksam auf den Vetter und ein leichtes Rot färbte ihr die bräunlichen Wangen.

»Hört mich doch an, Ohm!« bat der Neffe noch einmal, als es mählich stiller ward. »Wohl ist meine Geschichte seltsam, aber darum doch nicht gänzlich unglaubwürdig. Steht doch auch ein Zeuge hier meines Berichtes. Jener Gefährte aus der Schreibstube, der Herr Bubo, hat selbst meiner Verwandlung beigestanden –«

»Das lügst Du, Bursche«, sprach höchst kaltblütig der alte Schreiber. »Ich habe Dich immer nur als lockeren Gassenvogel gesehen!«

»Genug und übergenug«, sprach ernst der Ohm. »Deine eigenen Worte erschlagen Dich. – Hör zu, Enak«, sprach er zum Knecht, der groß und drohend unter der Tür stand. »Führe diesen vom Hof und aus dem Dorf auf die Landstraße. Aber hüte Dich, ihn grob zu behandeln, so lange er Dir gehorsam folgt. – Doch solltest Du wieder, schlechter Mensch, Dorf und Hofstatt heimsuchen wollen, werde ich Dich als einen überführten Betrüger dem Büttel ausliefern. Ich müßte es wohl eigentlich schon jetzt tun«, sprach er sich besinnend, und der Herr Rat nickte beistimmend mit dem Kopfe, »aber ich habe ihm heute nacht erzählt, was ich noch keinem berichtet, und wenn das Gefäß auch schlecht ist, möchte ich es doch um dessenwillen, was ich hineingetan, nicht zerbrechen. – Gehe denn fort, Unglücklicher – denn als solcher erscheinst Du mir am meisten – und versuche ein ehrlicher Mensch zu werden. Trage immer weiter das saubere Wams, das ich meinem Neffen zugedacht hatte, vielleicht hilft es Dir, eine gute Arbeit zu erhalten.«

»Willig und auch ohne Knecht gehe ich vom Hofe, der meines Vaters erste und letzte Heimstatt war«, antwortete ernst Guntram. »Für alle Freundwilligkeit danke ich Euch, Ohm und sehr liebe Base. Die bösen Worte aber vergesse ich, denn ich weiß, der Schein zeugt wider mich. Möge ein guter Engel Euch behüten, denn ich sehe die Feinde nahe um Euch geschart.«

Damit heftete er noch einen flammenden Blick auf Muhme, Rat und Mädchen Zilli, einen verächtlichen auf den falschen Guntram am Ofen, einen ehrerbietigen auf den Onkel, einen zärtlich sanften auf die Base, und schritt aus der Tür, gefolgt von dem düsteren Knechte Enak. –

Schweigend wanderte das ungleiche Paar über die Dorfstraße dem unwirtlichen Feld, dem düster drohenden Walde zu. So hochgemut der junge Schreiber eben noch im Kampfeseifer gewesen war, so sehr erkältete ihn jetzt, da die Hitze des Streites verflogen, das Gefühl seiner völligen Verlassenheit und Hilflosigkeit. Wohl war es vielleicht möglich, den weiten Weg in die Stadt bis zur Nacht hinter sich zu bringen, aber was dann? Die paar Heckethaler in der Lade waren rasch verzehrt, und auf eine Anstellung konnte er nicht rechnen, da ein so mächtiger Feind wie der Herr Stadtrat Asio gegen ihn auftreten würde. – Zudem wollte sein Herz sich gar nicht darein schicken, die Gegend zu verlassen, so lange das Ergehen von Ohm und Base völlig noch im Ungewissen war, so lange dunkle Feinde nach dem Besitze des Spatzenhofes gierten.

Kummervoll seufzend sah er auf, das Dorf lag hinter ihm und dunkel stand der große Wald vor dem Heimatlosen. »So magst Du denn beruhigt heimgehen –« wandte er sich an den Knecht, »und auf dem Hofe melden, Du habest mich bis an die Forst geführt.«

»Trolle Dich aber auch artig heim in Deinen stinkenden Steinhaufen!« drohte böse der Knecht. »Denn wenn ich Dich hier noch einmal sehe, werden sie Dich stadtwärts tragen müssen!«

Heinz Kiwitz

»Oh, Herre, wozu sind mir meine großen Hände gewachsen –?«

»Trotz Deiner Drohungen, mein braver Knecht«, sprach Guntram sanft, »sollst Du bedankt sein. Denn nie werde ich Dir vergessen, daß Du den Einflüsterungen der Bösen in der abendlichen Laube nicht gelauscht hast, daß Du Dich weigertest, mich durch die Bodenluke zu stürzen, Langholz auf meinen Leib zu rollen oder mir den Odem kläglich mit dem Sand der Grube zu ersticken.«

»Da soll doch der Teufel –!« schrie der Knecht in ärgster Verstörtheit. »Seid Ihr also wirklich ein Hexenmeister?! Da soll es mich doch nicht wundern, wenn meine alte Lise im Stall ihr Maul aufreißt und mir erzählt, im Himmel gibt es alle Tage Erbsen mit Speck!« Er starrte mit weit aufgerissenem Munde den lächelnden Schreiber an und rief dann: »Oh, Herre, verzeiht mir den Streich mit dem Wasser! Die Zilli hat's mir eingeblasen, und ich habe es nur getan, weil sie mir gesagt hat, Ihr äugeltet mit meinem Mönchen.«

»Ist sie denn auch wohl Dein Mönchen, Enak?« fragte der Schreiber sanft.

»Ach nein, Herre, ich nenne sie nur so bei mir! Weiß ich doch, daß ich viel zu grob und dumm für sie bin. Aber behüten möchte ich sie – und die Zilli hat mir gesagt, daß Ihr, hoher Herr Hexer, schlimme Absichten auf sie hättet.« »Das ist nicht so«, sprach der Schreiber ernst. »Ich gehe jetzt von dannen, und umso besser mußt Du auf Dein Mönchen achten. Der Zilli glaube nichts, sie will dem Mönchen nicht wohl und trachtet ihr nach Leben und Besitz ...«

»Oh, da soll doch der Teufel sich selber küssen!« schrie der Knecht. »Gleich drehe ich der falschen Dirne den Kopf in den Nacken!«

»Sachte, sachte!« warnte Guntram. »Es muß alles behutsam verrichtet werden. Tätest Du jetzt der Zilli etwas ohne Beweis, Du brächtest Dich nur auf den Richtblock und unter das Schwert von Meister Hämmerling. Nein, listig mußt Du beobachten, und weißt Du Bestimmtes, es dem Bauern heimlich melden ...«

»Listig und heimlich!« klagte der Knecht. »Oh, Herre, wozu sind mir meine großen Hände gewachsen –?«

»Auch für diese wirds noch Arbeit geben«, tröstete ihn der junge Schreiber. »Denn ich errate, daß der Neuangekommene, der wie ich aussieht, Deinem Mönchen arg zusetzen wird. Den magst Du dann verwalken, Lieber, nach Kräften – aber doch wieder nicht so, daß er einen dauernden Leibesschaden davonträgt.«

»Das will ich mit Fleiß tun!« rief Enak. »Aber, Herre«, setzte er bedenklich hinzu, »die Sache hat ihren Haken.« Er grinste. »Denn auch ich errate etwas. Daß Euer Weg Euch nämlich zwar hier in den Wald hinein, aber nicht sehr weit entfernt wieder hinausführen wird. Habe ich es getroffen?«

»Vielleicht«, lächelte Guntram.

»Wenn ich nun aber den Falschen bei der Monika erwische und gerbe Euch – verzeihet, Herre, aber es kann doch sein, ja? – und gerbe Euch die Haut gelb, grün, blau, schwarz – Ihr möchtet mich ja in einen Regenwurm verzaubern und dem Hofhahn zum Fraß hinwerfen, oder aus mir gar ein Butterfaß machen, und die Mägde stampfen alle Woche zweimal in mir herum, bis ich ganz voll saurer Buttermilch bin! Ach, Herre, Herre, mein Magen dreht sich schon um, wenn ich nur daran denke!«

»Du hast einen gehörigen Grips in den Schädel bekommen wie jeder andere auch, dessen Mutter ihrem Mann einen Kuß gab«, sprach der Schreiber nachdenklich. »Und läuft Dein Verstand langsamer als bei manchem, so läuft er dafür um so sicherer. – Merke auf: flüstert Dir einer zu ›Dein Mönchen‹, so bin ich es, und Du magst ruhig Deinen Prügelsack wieder zuknöpfen.«

»Dein Mönchen!« rief der Knecht vergnügt. »Das ist das beste Feldgeschrei, das werde ich bis an mein Lebensende behalten.«

»Nun aber müssen wir uns trennen«, befahl Guntram. »Zu lange stehen wir hier schon beisammen auf offener Stelle. Ich sehe da eine Elster im Vogelbeerbaum wippen, die mir gar zu neugierig hierher zu hören scheint.«

Sie trennten sich in besserem Einvernehmen, als beide je erwartet. Der Knecht wanderte schwerfüßig dem Dorfe zu, Guntram aber tauchte unter im Waldesdunkel, auf dem Wege nach der Stadt. Doch ging er nicht weit. Kaum hatte er eine kleine Lichtung überquert, versteckte er sich hinter dem grausilbrigen Stamm einer dicken Buche und spähte auf den Weg zurück, den er gekommen.

Nicht lange hatte er zu warten. Pfeilschnell, schnurgerade, wie es sonst gar nicht Art dieser Vögel ist, kam eine Elster über die Lichtung geschossen und genau flog sie in den Waldpfad hinein, von dem Guntram eben zu seinem Versteck abgebogen. Sie verschwand den Waldpfad hinunter, kehrte hastig zurück, flatterte hierhin, dorthin, als suchte sie etwas. Aber geschickt umrundete Guntram den Buchenstamm, so daß er immer vor den raschen Blicken des neugierigen Vogels gedeckt blieb. Am liebsten hätte er wohl einen Stein aufgehoben und nach ihm geworfen, denn ihm schien gewiß, daß die böse Cäcilie hinter dem schwarzweißen Federröcklein verborgen sei, aber besser war es wohl, statt des unsicheren Wurfes die Feinde auf dem Spatzenhof ganz im Ungewissen über seinen Verbleib zu lassen.

Ein paar Mal flatterte der Vogel noch auf und ab, dann hob er sich in die Lüfte und ärgerlich scheltend flog er über die Lichtung zurück. ›Deine Zeit ist knapp, Elster Zilli, Zilli Elster‹, sprach Guntram hinter der Entfliehenden drein. ›Mußt die Töpfe auf den Herd rücken, die Pfannen füllen, das Mittagessen bereiten. Ist der Gast auch nicht angenehm, darf es ihm doch an nichts fehlen, und ich zweifele nicht, daß saftige Braten oder auch ein paar schöne Hühnchen heute für den Herrn Rat Asio erscheinen werden. Wer aber kocht meinem knurrenden Magen seine Mittagskost –?!‹

Ja, sein Magen knurrte laut, das Ausmisten hatte Hunger gemacht – und als ein rechter Stadtmensch glaubte er, ein Wald müsse voll von eßbaren Früchten sein. Aber so viel er auch in die Kreuz und Quere ging, er fand nichts als ein paar letzte Brommelbeeren, die der Regen wäßrig und fade gemacht hatte; Schlehen genug, deren erste aber ihm den Mund schon so mit Bitternis zusammenzog, daß er sie rasch wieder ausspie. Und als er sich nun nach den Pilzen bückte, die von der Herbstnässe reichlich aus dem braunen Waldboden aufgeschossen waren, als er in Unkenntnis ihrer Arten einen schönen, großhutigen, weißen abbrach, beroch, fand, daß er recht gewürzig rieche, und schließlich herzhaft in ihn hineinbiß – da war es ihm doch, als habe er mit der Zunge über des Teufels glühenden Bratrost geleckt! Alle Pfefferkörner Indiens brannten, bissen, ätzten in seinem Munde, und lange lief er umher, bis er eine Quelle fand, die ihm den hitzigen Durst löschte und wieder einen frischeren Geschmack im Munde verschaffte.

Über all diesen Irrfahrten hin und her hatte Guntram jeden Weg und jede Richtung verloren und stand mutterwindallein im weiten, wilden Walde. Ja, da hätte er wohl gern wieder das Spätzlein vom gestrigen Tage sein mögen, das sich nur mit seinen Flügeln von der Erde über die Baumwipfel aufzuheben brauchte, um das Ziel wiederzufinden – aber das zauberische Haar war dahin! So brach er sich denn ein wenig mürrisch und sehr hungrig einen Weg durch das Dickicht nach der Seite, wo er den Weg zur Stadt wiederzufinden meinte.

Doch immer wilder wurde der Wald, große, vom Sturmwind niedergebrochene Bäume versperrten ihm das Weiterkommen, der Boden stieg an und trug dicke Steinblöcke, an denen er sich die Beine blutig stieß. Aus dem Laubwald wurde düsterer Tannenwald, dessen tief herabhängende Äste in sein Gesicht stachen, und selbst jetzt am Mittag herrschte hier eine tiefe Dämmernis, die ihm unheilvoll schien. Mühselig kämpfte der Schreiber sich seinen Weg voran – wie gut doch, daß er das feste Landwams am Leibe und die derben Stiefel an den Füßen trug, die ihm der Ohm geschenkt!

Heinz Kiwitz

»da, er fuhr zusammen, – –«

Sein leichter Stadtrock hätte schon längst in tausend Fetzen an Busch und Baum gehangen!

Endlich lichtete sich vor ihm der Wald, doch nicht die ersehnte Straße war es, auf die er hinaustrat, sondern an dem Rand einer breiten und tiefen Schlucht befand er sich, aus deren Tiefe unsichtbar die Wasser grollten. Suchend ging er hin und her, ob wohl eine schmale Stelle zu finden sei, von der er den Absprung auf die andere Seite wagen dürfe. Doch wie ward ihm, als er plötzlich hier in der tiefsten, wildesten Einsamkeit vor einem roh aus Tannenstämmen gefügten Kreuze stand! Plötzlich erkannte er, daß dies der Platz sei, von dem Vater und Onkel den Absprung gewagt. Schaudernd sah er über die breite Kluft, drohender brausten die Wasser – unmöglich schien ihm, daß Menschenkraft Menschenleib über solchen Schlund tragen könnte. Auf der drübigen Seite stand noch die Fichte, die dem Onkel das Leben gerettet. Dankbar grüßend sah er hinüber zum Baum, der, jetzt zu stattlicher Höhe gewachsen, sein frisches Grün über den dräuenden Spalt hielt.

Mit gezogener Kappe trat Guntram vor das Kreuz und gelobte dem toten Vater, treu ohne Murren auszuharren, was Widriges ihm die Tage auch bringen möchten, dem Onkel und der Base beizustehen im Kampfe, bis endlich und endgültig der Fluch vom Spatzenhofe genommen sei. Gleich fiel ihm auch ein, daß in der Stadt der beliebte Hintermeyer lebe, weitberühmt wegen seiner Leutseligkeit und Rechtlichkeit. Ihm beschloß er, den schwierigen Fall gehörig vorzutragen und seine Hilfe zu erbitten. Daß der Herr Asio stets mit höchster Verachtung von diesem biederen Manne geredet und ihn ein rechtes Pöbelmaul und einen Hansinallengassen genannt hatte – das bekräftigte nur Guntrams Entschluß.

Doch nicht sofort, so eilig es ihm auch war, konnte er sich auf den Weg zu diesem braven Manne machen – erst rief ihn eine dringendere Pflicht. Eilig folgte er dem Schluchtenrande, spähte emsig nach einer günstigen Gelegenheit und fand schließlich auch eine Stelle, an der zum Schluchtengrunde hinabzusteigen war. Emsig ging er nun dem Lauf des eiligen Wassers entgegen, schwindelig wollte es ihm im Kopfe werden vor den blasigen Strudeln, den schäumenden Kreisen, die sich um seine Füße drehten.

Aber unermüdet kämpfte er sich vorwärts, bis sich endlich eine kleine, dunkle, moosige Mulde vor ihm auftat, die mit einem Steinkreuz verriet, daß hier des Vaters Sturz geendet. Sachte trat der Sohn, die Hände gefaltet, näher, mit Rührung erfüllte ihn der Anblick der Blumen, die, verwelkt wohl, aber noch nicht überalt zu Füßen des Kreuzes lagen. Gerne dachte er des Oheims, der Kranz und Strauß auf mühseligem Wege herbeigetragen, gerne auch grüßte er die Base, die sie gepflückt und gewunden. ›Also haben sie deiner nicht vergessen, lieber Vater!‹ sprach er. ›Und so will auch ich deiner nicht vergessen!‹

Doch ein widerliches Knauzen ließ ihn zusammenfahren. Durch die Dämmernis spähend, sah er in einer Art kleiner Grotte die Augen eines großen Vogels leuchten, und er meinte nicht anders, als das zulplippige Dreibein, die Muhme Thalerin, habe mit ihrem frechen Blick diesen stillen Augenblick gestört. Rasch griff er nach einem Stein und wollte ihn schon auf das düster hockende Vogeltier schleudern, als eine wohlbekannte, krächzende Menschenstimme rief: »Halt, Bruder Spatt! Halt! Hast Du so viele Freunde, daß Du sie mit Steinen werfen magst?!«

Guntram ließ wohl den Stein fallen, doch antwortete er finster: »Seid Ihr nicht die mir verhaßte Muhme Petronilla, so seid Ihr doch ein gemeiner Verräter, Meister Bubo! Habt Ihr mich nicht eben erst wie ein feiger Petrus verleugnet und wie ein ewig verdammter Judas um die dreißig Silberlinge Eures Monatsgeldes dem Herrn Asio verkauft?!«

»Sachte, Brüderchen, sachte!« krächzte der Schuhu und flatterte aus seinem Versteck vor die Füße des erzürnten Schreibers. Rasch nahm er seine menschliche Gestalt an und fuhr so fort: »Wie doch so ungeschickt und unbesonnen hast Du unser heimliches Bündnis verraten wollen! Geglaubt wäre weder Dir noch mir worden, denn jeder Anschein sprach gegen uns. An eine Verschwörung niedriger Gesellen hätte man gedacht, beide wären wir fortgejagt oder, schlimmer noch, dem Meister Büttel übergeben worden, und niemand wäre mehr da gewesen, der, ohne Verdacht im Lager der Feinde hockend, ihre finsteren Pläne erfahren konnte.«

»Und was treiben sie jetzt?« fragte milder gestimmt Guntram.

»Sie hocken beieinander!« krächzte der Alte. »Der Asio pocht auf das gefälschte Dokument und verlangt für den falschen Guntram Hof und Erbe, es sei denn – doch das wage ich nicht zu berichten ...« unterbrach er sich listig.

»Berichte doch!« drängte Guntram ungeduldig. »Ich traue Dir völlig, weiser Vogel. Oder weiser Mensch – was Du auch seiest!«

»Es sei denn«, fuhr der andere recht willig fort, »Dein Ohm gebe ihm sofort die schöne Monika zur Frau!«

»Oh, Frevel!« schrie Guntram, fast von Sinnen. »Meine liebe Base verehelicht mit einem gemeinen Stadtspatzen, passer domesticus. Sofort weise mir den Weg zum Hof, Bubo, daß ich dem jämmerlichen Pieper den Hals umdrehe!«

»Dachte ich es mir doch«, krächzte der Schreiber. »Immer das Feuer lichterloh aus dem Strohdach. Sachte, lieber Bruder, sachte! Bedenkst Du denn nicht, daß Du schimpflich mit Peitschen und Stöcken vom Hof gejagt würdest, ja, fest hinter die Gitter des Prisons gesetzt, dem Nebenbuhler erst den Weg frei machen würdest zu der Schönen –!?«

»Sachte, sagst Du, Bubo«, antwortete finster Guntram, »weil kühles Altersblut in Deinen Adern fließt. Ich aber bin noch jung, und mein Lebenssaft erhitzt sich zum Sieden, denke ich an den erbärmlichen Spatzen, der vielleicht zur Stunde schon das schöne Mädchen Braut nennt!«

»Und trägst Du nicht selbst an allem Schuld, Guntram?« fragte ungewohnt sanft der Bubo. »Hast Du Dir nicht in unverzeihlichem Leichtsinn das schlecht verwahrte Zauberhaar rauben lassen? Wie anders stündest Du da, könntest Du jetzt mit den Flügeln eines Sperlings heimlich auf den Hof fliegen und den Ratschlag Deiner Feinde belauschen, oder gar in des Liebchens Kammer schlüpfen, rasch verwandelt mit ihr trauliche Zwiesprache halten, und die Schöne heimlich für Dich gewinnen? Trägst Du nicht allein alle Schuld –?!«

Betreten ließ Guntram den Kopf hängen, aber unerbittlich fuhr der Schreiber fort: »Und hast Du nicht dann noch, das Maß des Unglückes zum Überlauf bringend, Dir vom kecken Nebenbuhler ein Scheitelhaar rauben lassen, durch das ihm erst die menschliche Sprache verliehen wurde –?! Sieh, noch immer hätte der arglistige Plan des Herrn Asio mißglücken müssen, hätte er dem Ohm nur einen stummen Neffen vorstellen können, dessen Zunge zu nichts fähig war als zu einem erbärmlichen Piep. Aber nun weiß er sie schon recht hübsch menschlich zu gebrauchen, und im Anblick Deiner schönen Base wird ers von Tag zu Tag besser lernen.«

So sprach der Unbarmherzige und trübe antwortete Guntram: »Recht hast Du, weiser Vogel. Als unbesonnen und leichtfertig habe ich mich erwiesen, und habe ich früher gedacht, was wunder für kostbar Gut ich in meinem Kopfkasten herumtrüge, so ist's doch nur Spreu und Kaff. – Aber«, fuhr er bittend fort, »hier geht es nicht um mich und meine Fehler. Dem Ohm soll der Hof, die blühende Tochter, ein friedliches Alter gewonnen werden – gelingt das, will ich gerne verzichten ...«

»Das war ein rechtes Wort zur rechten Stunde, lieber Bruder Spatt!« rief der Schuhu erfreut. »Wer so denkt, dem ist Hilfe nie ferne. Vernimm denn, daß ich der räuberischen Elster Zilli das Zauberhaar in wildem Kampfe wieder abgejagt. Hier ist es, und bewahre es von Stund an besser. Du siehst, ich habe es zu einem Röllchen gerollt, das Du leicht über den Ringfinger der rechten Hand streifen kannst. Reibst Du dann mit Daumen und Zeigefinger der Linken, geht die Verzauberung doch vor sich. Und auch in der Sperlingsgestalt magst Du unbesorgt darum sein, denn das Haar wächst und schwindet mit Dir und sitzt an der Kralle so sicher wie am Finger.«

Herzlich gerührt dankte Guntram dem freundlichen Helfer, der aber fuhr ernst fort: »Doch nicht zu leichtfertigem Spiel ist Dir Mensch dies zauberische Haar verliehen. Nicht etwa, um nur mit Deiner Liebsten zu tändeln, sondern ein schweres Werk mußt Du damit vollbringen. Vernimm, daß Du zuerst dem Nebenbuhler Dein geraubtes Haar wieder zu entführen hast, damit er aufs neue die menschliche Sprache verliere, und daß im Ohm der schlummernde Argwohn wach werde. Dann aber hast Du ihm ein Haar zu rauben, damit Du auch als Spatz in Menschensprache reden kannst, denn das möchte Dir manchmal vonnöten sein ...«

»Alles, alles will ich tun!« jubelte Guntram. »Herzlich danke ich Dir, weiser Bubo!«

»Denke es Dir nicht leicht«, warnte der andere. »Viele Gefahren umdrohen noch Dich und die Liebste. Hüte Dich vor allem vor den großen Vögeln mit scharfen Krallen und stählernen Schnäbeln. Du bist nur ein armer, grauer Spatz ohne alle Wehr.«

»Vorsichtig werde ich sein«, versprach Guntram, »und listig. Kommt es aber zum Schlimmsten, habe ich Dich zum Helfer.«

»Rechne nicht zu sehr darauf, lieber Bruder. Noch bin ich durch Urteilsspruch dem bösen Asio untertan und nicht immer kann ich Dir helfen. – Doch jetzt muß ich eilends auf den Hof, um zu hören, was man dort für Pläne geschmiedet. Ich habe heute morgen eine Maus gefangen und sie, statt sie zum Frühstück zu verspeisen, hinter die Schlummerrolle des Sofas gesetzt, unter der Bedingung, daß sie mir alles, was gesprochen wird, verrät. Aber Mäuse sind von kurzem Verstand, ein gebratenes Stück Speck trübt mit seinem Duft ihr Gedächtnis – ich muß eilig heim.«

Schon hob er sich als Schuhu in die Lüfte, aber laut rief Guntram: »Weiser Vogel, der Du alles weißt, halte inne! Weißt Du auch eine Gelegenheit, wo ich meinen Hunger, der mir im Leibe frißt, stillen kann –? Denn noch widersteht mir die spätzische Kost.«

»Hebe Dich über die Bäume!« rief der lautlos schwebende Vogel. »Und Du erblickst die Flügel einer Mühle. Dort wohnt ein Windmüller, der die Leute um die Metze beim Sack betrügt, der ins Mehl Sand mischt und die Kleie mit Baummehl versetzt. Plündere ungestraft seine Speisekammer, Du nimmst nur Gestohlenes.«

So rufend tat der mächtige Vogel einen gewaltigen Schlag und verschwand hinter den Wipfeln der Bäume.


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