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Zweites Kapitel

 

»Ein stattlicher Mann in der Tat, und auch korpulent«.

Shakespeare: König Heinrich IV.

 

Heinz Kiwitz

Eine saubere junge Magd wies ihn aus der Küche über eine mit roten Steinen ausgelegte Diele in ein fast enges Gemach, wo an einem prasselnden Ofenfeuer ein großer, rundleibiger, blondbärtiger Mann mit feurigem Gesicht, seine Pfeife rauchend, saß, und neben sich ein Glas mit lieblich riechendem Punsch und einen Teller mit rotbäckigen Äpfeln stehen hatte. Nun er vor dem fremden Manne stand, der sein Vatersbruder sein sollte, wurde dem jungen Schreiber recht beklommen zu Mute, und so krampfhaft er auch nachsann, sein Kopf vermochte auch nicht einen Satz zu erdenken, der mit einigem Anstande über die Zunge zu bringen gewesen wäre.

Doch der Onkel nahm ihm die Anrede ab. Aufstehend und die Pfeife aus der Hand legend, trat er dem Neffen liebreich entgegen, bot ihm die Hand und sprach: »Da bist Du ja doch noch, Guntram, hatten wir Dich schon beinahe nicht mehr erwartet. Nun, die Wege sind im Novembermonat, ehe sie der Frost wieder mit einer festen Decke überzieht, oft grundlos, und es mag ein mühseliges Gehen von der Stadt bis zum Spatzenhofe gewesen sein.« Er lachte. »Jetzt aber setze Dich dort in den Winkel des alten Ledersofas. Dort hat Dein lieber Vater auch immer gerne gesessen. ›Habe ich doch die Wärme vom Ofen, nicht die Hitze‹, sagte er dann. Und jetzt will ich sehen, ob die Mädchen noch etwas von diesem ermunternden und wärmenden Getränk haben – ganz durchkältet und ermattet mußt Du ja sein, Guntram.« Damit nickte der Onkel dem Sprachlosen noch einmal freundlich zu und ging aus der Stube.

Ganz verwirrt saß der junge Schreiber Spatt in seinem Winkel. Zu absonderlich hatte sich an einem einzigen Tage sein Schicksal gewandelt. Die liebreiche Erwähnung des verstorbenen Vaters, von dem er fast nichts wußte, die Anrede mit seinem Taufnamen Guntram, die, – ach so viele Jahre schon! – niemand gebraucht, der wohlhabende Hof, die angenehm nach Fichtenkien und Punsch duftende Stube – all' dies bewegte sein Herz so, daß er am liebsten vor gerührter Schwäche geweint hätte. Ganz schlecht aber und recht hinterlistig kam er sich vor, daß er den guten Oheim im Glauben gelassen, er sei auf einem mühseligen Wege hierher gepilgert. Völlig notwendig schien es ihm, dem Onkel sofort von all den argen Ränken und Schlichen zu berichten, die, er fühlte es gut, nicht nur um die eigene Person, sondern um Hof, Oheim, Verwandtschaft gespensterten. Aber dann war es doch, als erhebe sich eine warnende Stimme in seinem Innern: ›Nicht zu früh pfeife Dein Lied, kleiner Spatz!‹ klang es – und würde denn der Oheim diesen ganzen wüsten Wust aus Aberwitz, Verwandlung, Zauberei, Mordplänen glauben können?! Müßte er doch des Ohms eigene Tochter in schlimmsten Verdacht ziehen! Nein, besser war es schon, still zuzuwarten, und, vielleicht ganz ohne den Oheim zu betrüben, die Arglist der Bösen zunichte zu machen. Ein unbändiges Kraftgefühl, ein festes Vertrauen auf seinen guten Stern beseelten ihn; leicht schien es dem dankbaren Jungen, die gefährlichen Wolken zu vertreiben!

Hinter dem zurückkommenden Oheim betrat ein schlankes, dunkles Mädchen, mit beiden Händen eine dampfende Terrine und ein Glas mit klirrendem Löffel auf dem Tablett tragend, die Stube. Staunend, ungläubig, sah der junge Schreiber die strenge Schöne an.

»Nun gebt Euch beide die Hände!« rief, wohlgelaunt nach der geliebten Pfeife greifend, der Onkel. »Dies ist Deine Base Monika, meistens Mönchen genannt, aber auch, wenn sie einmal lacht, was sie aber meistens im Verborgenen tut –«

»Oh Vater –!«

»... Weil es gar so hell und fröhlich klingt, die Harmonika genannt. – Und dies, Mönchen, ist Dein Vetter Guntram, der vor jetzt zwanzig Jahren Dein eifriger Kavalier gewesen – so emsig hat der damals Fünfjährige Deine Wiege getreten! Nun, staunt Euch nicht weiter an, gebt Euch endlich die Hände, und wenn Ihr wollt, auch einen Begrüßungsschmatz, aber nur dies eine Mal und nur unter meinen Augen ...«

Blutübergossen starrten die beiden jungen Leute einander an. ›Sie ist es‹, tönte es in Spattens Brust. ›Oh, in welch schönes Kleid wirft sich doch bei den Frauen Lüge und Verrat!‹

»Oho, junger Freund!« rief laut lachend der Oheim. »In Deinen Jahren hätte mir keiner solche Aufforderung zweimal sagen müssen! Frisch zu, Guntram, die Rose gepflückt –!«

»Der Vater meint es nicht so«, flüsterte das schöne Mädchen, und doch war es beinahe, als wölbten sich die Lippen ihm schon entgegen, als senke sich der schwarze Wimpervorhang der Augen, um die Preisgabe der Herrin nicht ansehen zu müssen. Schon fühlte der junge Guntram sein Blut heiß und seine Kniee schwach werden. –

Da fing vom Schritt des Vaters der Löffel im Glase silbern zu klirren an, ›Küssemund, Küssemund – Küssemund ist ungesund!‹ klirrte er, an der Stubentür raschelte es, und herein schob sich eine stattliche, weißhaarige Frau, mühsam an einem Stocke gehend, mit häßlich hängender Lippe, aber noch mit allen Farben der Jugend im Gesicht, und einem lebhaften, leuchtenden Auge. »Ei, ei, Vetter«, rief sie schalkhaft auf die bestürzt Auseinanderfahrenden deutend, »hier störe ich wohl. Jetzt, da nun neues junges Blut im Hause ist, wird man wohl an jeder Tür erst artig auf französische Art pochen und geduldig auf das Herein warten müssen –?! Mönchen – Mönchen –!«

Heinz Kiwitz

»Da fing der Löffel im Glase silbern zu klirren an ...«

»Wie die Frau Tante auch reden mag!« sprach die Base und warf stolz den dunklen Kopf zurück. »Wenn mein Vater dabei steht, wird wohl nichts gegen Sitte und Anstand geschehen –!«

Ein seltsam widriges Gefühl kämpfte in dem jungen Schreiber: alles, was die Base tat und sprach, trug den Anschein äußerster Wahrhaftigkeit, und doch vermochte er ihr nicht zu glauben. ›Alles Lüge und Verstellung‹, klang es in ihm. War es nicht ein abgekartet Spiel, das sie mit der häßlichen Alten trieb? Zwinkerten sie nicht einander zu? Lächelten sie jetzt nicht in geheimem Einverständnis?

»Dafür möchte ich mich nicht so verbürgen!« rief die Muhme jetzt mit einem falschen Lachen. »Du hättest Deinen Vater nur in seinen Sausejahren sehen sollen! Da war er ein rechter Kirschendieb.«

»Die Frau Muhme«, sprach der Oheim verdrossen, »hat heute ihren schlechten Tag. Sie scherzt nur, und morgen wird sie in besserer Laune widerrufen, was sie heute gesagt.«

»Sei nicht so sicher, mein Freund«, rief die Alte rasch. »Die Nachrichten, die mich soeben aus der Stadt über unseren Großneffen und Neffen dort erreichen, werden noch manchen Tag meine Galle erregen. – Ist denn das die neumodische feine Art«, wandte sie sich eifernd an den jungen Mann, »daß man ohne jeden Abschied von solch gütigem Brotherrn fortläuft, daß der gar meint, es sei dem ihm Anvertrauten ein Unglück zugestoßen und stundenlang alle Straßen und Plätze der großen Stadt durchsucht –?«

Jede Sekunde die Farbe wechselnd, verlegen mit dem Fuße scharrend, stand der Schreiber vor der zornigen Anklägerin. Unmutig sahen die Augen des Onkels auf den neugewonnenen Neffen, voller Zorn und Arglist die der Tante, aber voll tiefen Mitleids, schien es ihm, war der Blick der schönen Base. Plötzlich ganz gesammelt setzte er zu einer Verteidigungsrede an: »Aber ich versichere Euch, Frau Großmuhme, die Umstände meiner Abreise waren wohl sonderbar.«..

»Ach, wischiwaschi Großmuhme!« rief ärgerlich die Tante. »Denn, was das Schlimmste ist, seit der überstürzten Abreise von diesem da vermißt der Herr Ratsherr seine schöne, goldgefaßte Schwanenfeder, die ihm so lieb war, daß er sie nur zu den feierlichsten Namenszügen benutzte. – Aber was sehe ich da –? Was schaut da aus Eurer Jacke –?! Frischweg und nicht gezaudert, Jüngelchen, macht Euern Spenzer auf und zeigt, was da so weiß und gülden unter seinem Rand vorschimmert.«

Ganz bestürzt, zitternd ob der ungerechten Anklage, starrte der Jüngling in die Runde. Richtete dann den Blick auf sein Jäcklein und – siehe da! – aus der Tasche, in die er vorhin vielleicht etwas eilig das Zauberhaar gesteckt, lugte jetzt die ihm wohlbekannte, kostbare Schwanenfeder des Ratsherrn –!

Verzweifelnd hob er die Hände zum Gesicht.

»Er gesteht den Diebstahl!« frohlockte die Alte. Finster schauten des Oheims Augen – da berührte eine zarte Hand leise die seine, »Du mußt mir nur vertrauen!« hauchte es an seinem Ohr, und »Was Ihr nur alle seht!« rief die Base Monika. »Wo schimmert es denn weiß und gülden?!« Und indem sie mit leichten Fingern die Knöpfe der Jacke löste, wies sie die Tasche, die leer schien. »Ach!« rief sie, »da haben wir ja des Rätsels Lösung. Ein Haar, zwar nicht weiß, aber spatzengrau, vielleicht hat es im Lampenschein gülden geschimmert. Da, Vetter«, sprach sie mit Bedeutung und gab es ihm zurück in die Hand, »da hast Du es wieder, und verwahre es ein andermal besser, daß es Dich nicht wieder in arge Verlegenheit bringt.«

»Hoho, hoho! Ein Haar«, lachte der Onkel. »Und die Frau Muhme sieht es für des Herrn Rat Schwanenfeder an! Und weiß der Deixel, einen Augenblick war es mir doch selbst, als sähe ich sie unter der Rockkante hervorlugen.«

»Freilich, freilich!« schalt die Alte. »Was die Augen sehen, ist schon da! Wer aber freilich solche Bundesgenossen hat –!«

»Genug jetzt der Beschuldigungen!« unterbrach die eifernde Alte mit ungewohntem Ernst der Bauer. »Auch in Euerm Interesse will es mich bedünken, Frau Muhme, den Fall nicht weiter zu untersuchen. Sonst möchte es uns gar seltsam erscheinen, daß Ihr schon Botschaft von Abreise und Verbleib meines Neffen habt, der doch in dieser Stunde erst hier eingetroffen. Genug und aber genug!« rief er heftig gegen die Alte an, so daß sie sich erschrocken duckte. »Und Du, Neffe Guntram«, sprach er sanft, »laß Dir jetzt von Deiner Base die Schlafkammer zeigen, und vielleicht prüft Ihr auch gemeinsam, was die Lade, die der Fuhrmann schon vor einer Woche Dir herangerückt, an Zweckmäßigem und Schönem enthält. Dein Wams, so richtig es für die Schreibstube eines städtischen Ratsherrn gewesen sein mag, scheint mir für einen ländlichen Winter doch ein wenig dünn. – Nun, nun«, beruhigte er den dankbar Erregten, »ich werde doch meinem Bruderssohn noch ein paar Röcke und Hemden schenken dürfen.«

»Aber ich verstehe nicht, Oheim«, sprach der junge Schreiber ängstlich, »diese plötzliche Wandlung all meiner Lebensumstände ...«

»So hat Dir der Herr Rat noch nichts gesagt? Nun, es wird sich schon eine ruhige Stunde finden, in der wir alles wie Vater und Sohn ernsthaft miteinander besprechen. Gehe nur immer Deinen Weg gerade durch, daß Du niemanden zu scheuen hast, so wird sich schon alles zum Guten wenden.« Der Oheim seufzte und ängstlich sahen die Augen der Tochter auf sein trüb gewordenes Gesicht. Doch in frischerem Ton, die Sorgen von sich schüttelnd, fuhr er fort: »Jetzt geht, Ihr beide, und eilt Euch ein wenig, damit Ihr zum Abendessen rechtzeitig bereit seid.«

Damit entließ er sie, und Guntram trat hinter Monika, die bei den letzten Worten des Vaters eine Kerze in einem messingnen Leuchter entzündet, aus der Stube.

Im Kopfe unseres Herrn Spatt brauste und summte es, wie in einem Bienenkorbe vor dem Ausflug der Frau Königin. Ganz verwirrt stieg er hinter seiner Führerin die breite Treppe aus dunklem Holz in den Oberstock des Hauses hinauf, und wenn er sah, wie der Lichtschein der Kerze den Umriß der dunklen Gestalt umgoldete, so bewegte ihn qualvoll die Erwägung, daß keine lichte Freundin vor ihm herschritt, sondern eine böse Feindin. Wohl hatte sie ihm bei der Schwanenfeder geholfen, wohl hatte sie ihm gar das Zauberhaar, das sie in der Verwirrung jener Sekunde gut hätte behalten oder vernichten können, zurückgegeben – aber wer konnte denn ermessen, wie feingesponnen die Ränke einer waren, die so leichtfertig von einer offenen Luke, einem zurückrollenden Baumstamm sprechen konnte. All das Neue, was der Oheim geheimnisvoll angedeutet, die garnicht zufällige Reise, die arglistig unterbliebene Erklärung des Herrn Stadtrat, die Lade mit schönen Dingen, wie er sie nie besessen – all das war klein und unbedeutend neben der zornigen Trauer über die Arglist der schönen Base. Wäre sie weniger schön gewesen, hätte ihr dunkelgebräuntes Gesicht unter dem schweren Kranz der Flechten weniger den Stempel der Reinheit und Unschuld getragen – er hätte ihr leichter verziehen. ›Du mußt mir nur vertrauen –!‹ hatte sie geflüstert, aber ihr Flüstern war Lüge gewesen und ihre Unschuld war Verrat! Mußte er auch zum Onkel, zu jedermann schweigen und tun, als wüßte er nichts von dem bösen Spiel um ihn herum, dieser argen Feindin gegenüber war solche Vorsicht nicht not.

Und doch wurde sein Herz sofort wieder weich und wollte den Kopf überreden, alles sei bloßes Hirngespinst, als in der wohnlichen Kammer die Schöne, nachdem sie den Leuchter auf das Ofensims gesetzt, ihm noch einmal zum Willkommen die Hand bot: »Hier wirst Du wohnen, Vetter. Hoffentlich sagt es Dir zu auf dem Spatzenhof.« Und sie lächelte.

Er tat, als sähe er die ausgestreckte Hand nicht. »Das wird auf die Bewohner ankommen«, sagte er.

»Wie eigen Du doch sprichst, Vetter!« wunderte sie sich. »Meinst Du die Muhme –? Sie ist, wie alte Leute oft, ein wenig schrullig, aber sie will wohl nur das Gute. – Wenn es manches Mal auch gar anders aussieht«, setzte sie leise hinzu.

»Jawohl, ich meine die Muhme«, erhitzte der junge Schreiber sich. »Aber viel mehr noch meine ich jene, die mit glatter Haut und frommer Miene Unschuld heuchelt, im Herzen aber schwärzeste Pläne gegen den Gast hegt.«

Das schöne Mädchen sah aufmerksam den erregten Vetter an, von der Seite fiel der Kerzenschein voll auf ihr ernstes Gesicht. Der Vetter sah, daß sie die weißesten Zähne scharf auf die Unterlippe gesetzt hatte, als sei auch sie jetzt erregt. Aber sie wußte sich besser zu bezwingen als er es konnte. »Vetter Guntram«, bat sie sanft, »warte noch mit Deinem Urteil, bis Du einige Tage hier geweilt, man muß nicht zu schnell verdammen, und oft trügt der Schein ...«

»Ja, der schöne Schein ...« höhnte er böse und sah ihr keck ins schöne Gesicht.

»Sieh doch«, fuhr sie sanft fort, als hätten seine bösen Worte ihr Ohr nicht erreicht, »diese Astern aus dem Garten habe ich Dir unter den Spiegel gestellt. Es sind die letzten. – Wollen wir jetzt Deine Lade öffnen –?«

Aber je mehr sie sich liebreich um ihn bemühte, umso stärker entfachte sie nur seinen Zorn. »Ja«, rief er böse, »ich sehe die schönen Blumen wohl, mit ihren rosenroten, bläulichen und weißen Farben, aber ich frage mich, ob sie nicht feige vergiftet sind, wie eine andere Schöne –!«

»Vetter!« zürnte das Mädchen nun auch, hochaufgerichtet, und ihr Antlitz flammte. »Vetter, hätte Dich der Vater nicht so eindringlich empfohlen, ich machte die Tür zwischen uns zu, und nie wieder gäbe es ein freundlich Wort unter uns. – Höre doch«, fuhr sie sanfter fort, »nie hätte ich Dich daran gemahnt, aber jetzt muß es ja sein. Kann denn Deine Feindin sein, die Dich von der Beschuldigung mit der gestohlenen Schwanenfeder rettete –? Nein, Guntram, man soll auch des Feindes Stimme nicht gar zu sehr lauschen ...«

Als sie ihm zürnte, wäre er beinahe schwankend geworden, doch da sie nun wieder sanft mit ihm sprach, entflammte sich sein Zorn von neuem. »Keines Feindes Stimme habe ich gelauscht«, rief er empört. »Deine eigene Stimme hat mir Deine Schändlichkeit verraten, Du schlechtes Mädchen! Ja, das sinnst Du, den Gast mit Deiner glatten Larve zu betrügen, um ihn dann in einen jähen, schrecklichen Tod zu stoßen. Oh Augen!« rief er und schüttelte in Ingrimm die Fäuste gegen die Erbleichte, »so sanft und voller Unschuld – Ihr feigen Überlister und Häscher! Oh Stirn, so hoch und rein – und birgst doch einen ganzen Giftpfuhl verräterischer Gedanken! Oh Wangen, sanft gerundet und mit dem Flaum schönster Jugend – ich sehe die Arglist, die mit Euch Fallen stellt! Oh Mund, Mund ohne gleichen, zum Kuß reinster Liebe gewölbt – der doch nur ein Judaskuß ist! Ach, Mädchen, Mädchen«, rief er trauervoll, und die nahe Betrachtung und Beschreibung des schon so geliebten und so gehaßten Gesichtes hatten ihn ganz toll gemacht. »Wem soll ich denn noch glauben, wenn so viel Schönheit und Reinheit lügen. Aber einmal, einmal will ich doch berühren, vor dem mich ekelt, einmal will ich ...«

Er zog die schreckhaft Erstarrte nahe an sich, er neigte seinen Mund auf den ihren. Einen Augenblick war es ihm, als erklinge, immer stärker anschwellend, eine süße, leise Melodie ... Aber widrige Töne mischten sich hinein, es schrie wie zerreißende Seide, es klirrte wie zerspringendes Glas, der Leuchter auf dem Ofensims begann einen blechern klappernden Tanz, eine gelle Stimme krächzte: ›Jüngchen, Jüngchen, Küssemund ist ungesund!‹

Heinz Kiwitz

Der haßverliebte Schreiber spürte einen derben Schlag und, als er die Hand zum Gesicht führte, färbte sie sich von der blutenden Nase rot. Unter der Tür stand bleich die schöne Base und sprach voller Zorn: »Es ist aus zwischen uns, Vetter. Ungerechten Verdacht konnte ich ertragen, aber feige Vergewaltigung einer Schwachen ist jedes ehrlichen Mannes unwürdig. – Um des Vaters willen, der bereits Sorgen genug zu tragen hat, bitte ich Dich, in seiner Gegenwart das Nötigste zu mir zu sprechen, sonst«, sagte sie, und lächelte trübe, »wird es Dir ja auch lieber sein, meine Arglist zu entbehren.«

»Base!« stammelte Guntram, dem der Schlag allen Zorneseifer ausgetrieben. »Monika, ich weiß nicht, was mich überkam ... feindliche Geister und ihre Täuschungen ... ich habe mich geirrt ...«

»Vetter«, antwortete das schöne Mädchen kalt. »Es mag mit den bösen Geistern bestellt sein, wie es will – und ich leugne ihr Unwesen nicht –, unverrückbar bleibt dem Menschen in der Brust das eigene Herz. Vertraut er nur seinem eigenen Schlag, folgt er seiner Stimme, wird die Gaukelei aller Nachtalben zunichte. Nein«, fuhr sie mit größerer Festigkeit fort, »nein, es ist aus zwischen uns. Du hast Dein eigen Herz durch feigen Überfall geschändet. Wie kann ich Dir nach diesem noch einmal vertrauen? Du müßtest Dir ja ein ander, ein neues Herz in die Brust setzen. Nein, aus ist es.«

Und über diesem dritten ›Aus‹ klappte die Tür und der betrübte Schreiber war allein. Zuerst einmal kam er freilich nicht in den rechten Genuß seiner Betrübnis, denn das Sacktuch, mit dem er seiner blutenden Nase zur Hilfe gekommen war, hatte sich längst über und über rot gefärbt. So hielt er denn den Kopf in das kleine Waschbecken, auf dessen gelblichen Grund in bläulichem Geäst ein blaues Vögelchen gemalt war –: ›Sicher ein Spatz!‹ Langsam verschwand der Vogel unter einem rosigen Gewölk, das sich immer röter färbte; und als die Nase nicht mehr tropfte, war nichts mehr von ihm zu sehen. Der Schreiber Spatt richtete den Kopf wieder in die Höhe. Die Beule unter dem Haar schmerzte, und trotz Aufhörens der Blutung fing die Nase kräftig zu schwellen an. Verzweifelt betrachtete er sich in dem kleinen, grauen Spiegel – war er das noch, der heute am frühen Morgen säuberlich gewaschen und wohlanständig gekleidet auf die Geschäftsstube gegangen war? Entsprach dieses rotverschwollene Aussehen dem befreiten Spatt, der im fröhlichen Flug über die Lande sich jedem kleinen Menschenwerk entrückt glaubte? Erinnerte er sich, wie er vor wenigen Stunden erst den bösen Geizhals Habergreis lustig und doch streng bestraft, und wie er jetzt überraschend einer nicht weniger strengen Strafe unterworfen war – erschien ihm alles wie ein recht alberner, kindischer Traum!

Aber hier stand er, Stadtschreiber Guntram Spatt, sah sich lächerlich verschwollen aus dem Spiegel an, und sein schönes Mädchen zürnte ihm für ewig! Seufzend beugte er sich über die braungestrichene Lade, auf deren Deckel ein kunstvoller Meister mit geschicktem Pinsel ein verschlungenes G und S gemalt, in deren Rankenwerk ein Spätzlein flatterte, während die Spätzin schon auf dem Nestlein hockte. ›Aus und vorbei!‹ sprach er grimmig angesichts des munteren Ehelebens und schlug unwirsch den Deckel auf. Zu anderer Stunde hätte ihn wohl recht gefreut, was da an Wämsern und Hosen im ländlichen Grünlich, an einfarbigen und papageienbunten Gilets, an derben, dickleinenen Hemden, an grobwolligen Strümpfen in dieser wahren Hamsterkiste lag. Aber auf einmal schien es ihm recht überflüssig, sauber und schmuck gekleidet zu sein, da doch keiner und keine Interesse daran hatten, wie er aussah. Ja, der Schlag ins Gesicht hatte ihm nicht bloß ein Blutäderchen der Nase gesprengt, viel stärker noch hatte er ihm allen Spuk und Verdacht aus dem Kopfe geschlagen, und was ihm vor einer Viertelstunde noch recht verabscheuungswürdig gewesen, das schien ihm jetzt schön, treu und wahr.

Ohne rechte Andacht und Liebe fuhr er in ein wärmendes Gewand aus derbem, grünem Loden mit großen Hirschhornknöpfen, und gerade steckte er den Fuß in den zweiten, ungewohnten Schaftstiefel aus Rindleder, als es kräftig an seiner Tür pochte und eine rauhe Stimme rief, das Essen sei fertig.

Eilig barg er erst das gefährliche Zauberhaar zwischen den Wäschestücken und folgte dann dem ältlichen, schwärzlichen Knecht auf die Diele, wo schon Knechte und Mägde in stattlicher Zahl mit der Familie des Bauern versammelt standen. Wohlgefällig musterte der Onkel den neugewandeten Neffen. »Das lobe ich mir«, sprach er. »Wie doch die freie ländliche Tracht einem kräftigen Burschen so viel besser ansteht, als der Zierat und Schnickschnack städtischer Röcke! – Aber was ist das, Neffe, was hast Du denn mit Deiner Nase gemacht, daß sie wie ein roter Eiserapfel in Deinem schmalen Gesicht funkelt und glüht?«

Verwirrt stammelte Guntram etwas von einer offenen Tür, gegen die er im Halbdunkel angerannt.

»Und über dem Kopf des Herrn hat ein Hahnebalken vorgestanden!« lachte eine silberne Stimme. »Was wächst ihm doch für ein Horn durch die Haare!«

Ahnungsvoll durchzuckte es den Schreiber. Neben dem Oheim stand jetzt ein kleines, wohlgerundetes Mädchen; auf dem Kopf waren schwarze Zöpfe recht schön wie ein Nest zusammengelegt; die Wangen schienen von einem tüchtigen Maler gemalt, so gleichmäßig saßen im weißesten Weiß rote Äpfelchen. Und der Blick der hellen Augen war, von lachendstem Übermut funkelnd, schelmisch auf Guntram gerichtet. ›Oh weh!‹ durchzuckte es den voll Schmerz. ›Warum habe ich mich doch so verblenden lassen, daß ich das dunkelbräunliche Gold der Base Monika für dieses leichte Silber genommen habe! Warum habe ich meinem Kopfe mehr getraut als Herz und Augen?! Aus und vorbei!‹ klang es mit schneidendem Mißton in ihm.

»Dies ist die Cäcilie«, sprach der Onkel zu dem Verwirrten. »Aber sie wird nie Cäcilie genannt, denn mit dieser großen Heiligen hat sie wenig gemein. Zilli nennen wir sie, und hast Du einmal zwischen den Mahlzeiten besonderen Hunger, Neffe Guntram, und willst ihr ein Stück Schwartenmagen oder ein Gänsebein abschmeicheln (denn sie ist im Haus über Küche und Speisekammer gesetzt, wie im Hof das Mönchen über Feder- und Borstenvieh), so heiße sie getrost Zillichen und kraule sie auch ein wenig, denn sie ist der Schmeichelei zugänglich wie unser Kater Leisetritt ...«

»Und hat, wie er, wehrhafte Krallen und kratzt, wer sie gegen den Strich krault!«

»Nun, der Vetter wird es schon treffen!« tröstete der Oheim. »Jetzt aber laßt uns Platz nehmen und schmecken, was Deine Küche für den verwöhnten städtischen Gast vermag, Zillichen.«

Alle setzten sie sich, eine Magd stellte eine große irdene Kumme dampfender Buchweizengrütze, dick mit Sahne, Zucker, Kaneel bestreut, auf den Tisch, vom Gesindeende kam ein beifälliges Ah!, und geruhig fortessend, wie die regelmäßig und reichlich Ernährten es tun, berichtete der Bauer, wie vor nun sechzehn Jahren die Muhme Thalerin – und er wies auf die Frau mit der hängenden Lippe im dunklen Staatskleid – an einem Novemberabend, aber einem stürmischeren als diesem, aus der Hoflinde ein gar erbärmlich Geschrei gehört habe. Als sie aber mit Zittern und Zagen nähergegangen, sei es ein Kindlein gewesen, das dort an einem weißen Bande in seinem Wickelkissen aufgehängt gewesen sei. Und da trotz alles Forschens sich weder Eltern noch Verwandtschaft dafür gefunden, habe man es im Hause behalten – und nun sei es eben die Cäcilie geworden, denn an deren Namenstage habe sich der Fund begeben ...

Nicht mit völliger Aufmerksamkeit hatte der Neffe der fast nur an ihn gerichteten Erzählung des Oheims gelauscht, immer wieder irrten seine Augen von dem männlich kräftigen Gesicht des Onkels ab, prüften einen Augenblick das rundliche Gesicht des Findlings, streiften auch einmal die immer noch frischen Züge der Großmuhme, verharrten aber am häufigsten und längsten auf dem Gesicht der Base Monika, die gerade und ernst auf ihrem Stuhl saß, und nur manchmal die Grützenschüssel dem oder jenem hungrigen Esser handlicher zu rücken mit leisem Wort anordnete. Aber so wenig Blick auch der junge Spatt für alles andere außer dem schönen Gesicht des geliebten und gekränkten Mädchens haben mochte, es schien ihm doch, als verfinstere sich das Gesicht der Cäcilie zusehends bei der Erzählung des Bauern, und als werfe das Mädchen bei der Erwähnung erfolgloser Nachforschung nach den Eltern der Großmuhme einen Blick geheimen Einverständnisses zu.

Die Grützenschüssel war geleert und abgetragen worden, der Oheim plauderte fort von der günstigen Ernte und den schwierigen Zeiten, deren laute Kriegsläufte zwar bisher nicht – »Gott behüte uns!« – in diese stille Waldlichtung gedrungen seien, die aber mit versperrten Straßen, zu Soldaten gepreßten Knechten, unmäßig hohen Kontributionen, weggenommenen Kaufmannswagen Handel und Wandel arg behinderten. Vorsichtig fragte er den Neffen nach seinen eigenen Erfahrungen in der großen Stadt, nach dem und jenem Lebensmittel, ob es wohl abzusetzen sei und einen guten Preis erzielen würde, daß sich auch die weite Fuhre zur Stadt lohne.

Artig und aufmerksam antwortete der Neffe und, sich selbst an der eigenen Schilderung und der Aufmerksamkeit der anderen entzündend, berichtete er mit Humor, wie er selbst einmal einem gar zudringlichen, gewaltsamen Werber nur dadurch entgangen, daß er, plötzlich völlige Trunkenheit vom fleißig eingeschenkten Doppelbier heuchelnd, auf der nächtlichen Straße umgesunken sei. Durch kein Zureden und keine Gewalt habe er sich bewegen lassen, anders wie auf allen Vieren im Straßenkot einherzukriechen – dann aber, als der fluchende Werber schnell einen Soldaten der Wache zum Beistand geholt, sei er auf hurtigem Fuß um die Ecke verschwunden und habe, durch ein Gewirr von Gassen und Gäßchen in atemlosem Lauf stürzend, schließlich seine rettende Kammer erreicht. So anschaulich vermochte er sein Hinsinken in den Kot, die flackernden Öllaternen, die im stürmenden Windzuge seufzten, den bald schimpfenden, bald schmeichelnden Werber abzuschildern, daß fast alle in lautes Lachen ausbrachen, während freilich im Gesicht der schönen Base ein aufgehendes leises Lächeln vom Ekel über solch tierische Trunkenheit vertrieben ward.

»Ein geschickter Vogel scheint Ihr ja zu sein«, sprach etwas hämisch die Muhme Thalerin, »wenn es heißt, von etwas fortzulaufen, sei es nun vom Kalbfell oder aus einer Schreibstube. Nun wird sich erst weisen müssen, wie geschickt Ihr seid, Jüngchen, wenn die Arbeit auf Euch zuläuft.«

»Das laßt nur meine Sorge sein, Muhme Petronilla«, sprach der Oheim leicht verweisend. »Wie mir scheint, hat der Neffe kräftige Knochen, morgen werde ich ihm seine Arbeit schon zuteilen. Heute weilt er noch hier als Gast, höchstens etwa, daß er nach dem Essen dem Enak ein wenig beim Viehtränken zur Hand geht. Doch das ist nur eine Kleinigkeit, eine leichte Bewegung, die nach dem Essen nur wohl tut.«

Längst war auf die Grützenschüssel eine geräumige Platte gefolgt, auf der in einem doppelten Kranz in Fett gedämpfter Birnen auf einem wahren Berge Ararat grüner Bohnen wie eine gestrandete Arche Noäh ein gewaltiges Schinkenbein lag. ›Der Herr Schuhu scheint die Kost zu kennen!‹ hatte verwundert bei sich der junge Schreiber gedacht. ›Nur scheint noch mehr Fleisch und Speck an dem kahlen Bein zu sitzen, als er vermutet.‹ Jeder der Männer hatte sein spitzes Klappmesser aus der Tasche gezogen und säbelte sich einen kräftigen Brocken auf den Teller, während dem hilflosen Vetter die Monika ein schönes Messer mit elfenbeinernem Griff über den Tisch gereicht hatte. »Es ist des Vaters gutes Messer«, hatte sie leise gesprochen.

»Ein andermal sorgst Du für Dich allein, Neffe!« hatte der Onkel gelacht. »Dies Ehrenmesser, das dem Großvater zu Vaters Taufe der Graf geschenkt, sehe ich ungern auf dem Wochentagtisch. Suche nur nach in Deiner Lade, dort wirst Du schon alles finden, was Dir fehlt.«

Ungewohnt solcher Mahlzeit hatte Guntram gespäht, wie die Frauen sich wohl helfen würden, aber die Muhme und die Mädchen verschmähten das Räucherfleisch und hielten sich an das Gemüs, und nur für die eine oder andere Magd mit kräftigerem Hunger sprang helfend das Messer des Nachbarn ein.

Als nun der Oheim dem Guntram eine Abendarbeit mit einem Gefährten so ungewohnten Namens zuwies, blickte der Neffe suchend den Tisch entlang. Da sah er neben dem schwärzlichen Großknecht, der ihn vorhin zum Essen gerufen, wahrlich einen rechten Sohn Enaks sitzen, einen jungen Burschen noch, aber übergroß gebaut, mit breitgewölbter Brust, hohen, festen Schultern, mit Händen groß wie Backschaufeln. Sein Gesicht, in das zottelig die Haarfransen hingen, schien des Schöpfers Hand nur flüchtig aus Lehm geformt zu haben, so ohne bestimmenden Zug war es, ohne rechte Nase und Lippen, ohne sichtbare Jochbeine über den Wangen, die ohne Absatz in die niedrige Stirn überliefen. Besonders menschenfresserisch wurde das Gesicht gerade in dem Augenblick, da Guntram hinübersah, dadurch, daß der Knecht den ganzen großen Schinkenknochen zum Benagen vor den Mund genommen hatte. Die breiten Zähne sichtbar auf das Bein gesetzt, sah er mit seinen kleinen, schwarzen Augen düster zum Städterling hinüber. Blitzartig durchfuhr es den: ›Dieser ist es, der auf der Bank über Dir gesessen!‹ und so grimmig der Anblick auch sein mochte, beschlich ihn doch ein Gefühl freundschaftlicher Verbundenheit, denn jener war nicht dem silbernen Lachen des argen Mädchens erlegen, sondern hatte den bösen Mordplan weit von sich gewiesen. ›Ich werde diesem Enak‹, tröstete sich der Schreiber, ›schon begreiflich machen, daß sein Mädchen Zilli jetzt und immer sicher vor mir ist. Vielleicht wird er noch gar zu einem Bündnis zu gewinnen sein, einen kräftigeren Helfer im Streit dürfte ich so leicht nicht wieder finden.‹

Das Mahl war vorbei, aus der Diele schob sich alles, die Mädchen und Mägde in die Küche oder Spinnstube, die Knechte aber, in der Tasche schon nach ihrem Tabakknösel suchend, in ihre Kammer. Nur der eine Enak brummte grob zum Schreiber: »Das Rindvieh wartet!« und schob sich vor ihm auf den dunklen Hof, über den allein von den Küchenfenstern her eine breite, gelbe Lichtbahn fiel. Mitten in sie hinein, an den Ziehbrunnen, stellte Enak den Schreiber, ließ selbst stürmend die Kette hinabsausen und zog leicht und rasch den vollen Wassereimer aus dem dunklen Grund. Zwei Eimer füllte er so, bedeutete dann dem Schreiber die beiden nächsten, die schon leer bereit standen, zu füllen, und verschwand mit seiner Traglast im dunklen Kuhstall.

Noch hatte Guntram den ersten Eimer, der wie ein rechter Bleiklotz am Kettenbaume hing, noch nicht hochgewunden, da war der Knecht auch schon wieder da. »Was ist das für eine Faulheit!« rief er zürnend. »Frisch in die Hände gespuckt und das Knochenschmalz nicht gespart! Wer da fressen will, muß auch dreschen können!«

Schnaufend drehte Guntram die Kurbel, ließ den Schnepper einschnappen, hob den tropfenden Eimer über den Rand, und schon hatte er den zweiten eingehängt und ließ ihn schnurrend zur Tiefe. Kaum erschien der wieder, riß der im Dunkeln wartende Knecht ihn ihm aus der Hand und lief eilig von dannen.

So schnell auch der Schreiber drehte, so sehr er sich mühte, noch war der zweite Eimer nicht auf das Wasser klatschend aufgestoßen, als der Knecht schon wieder da war. »Was soll denn das Weibervolk von uns denken!« rief er zornig auf das helle Küchenfenster weisend, in dem Guntram gerade der Base Gestalt zu sehen meinte. »Sind wir denn alte Frauen, die die Bodenrummel drehen?!«

Schneller und schneller drehte der Schreiber, mühte sich, Gleichmaß zu halten mit dem rennenden Knecht. Seine weichen Hände schmerzten von der kantigen, rissigen Kurbel, seine Arme vom hastigen Hub, in seiner Brust keuchte es, in den Schläfen klopften die Adern. Immer wieder, kam der Knecht mit der leeren Tracht angelaufen, hoffte er zu hören, es sei nun genug, aber immer wieder stellte der nur schweigend die geleerten Eimer hin und riß ihm die vollen aus der Hand. ›Und dies nennt der Onkel eine Kleinigkeit, eine dienliche, leichte Bewegung nach dem Essen!‹ dachte Guntram atemlos. ›Nie noch habe ich meine Arme so kräftig und andauernd schwingen müssen. Wollte ich doch lieber, der Herr Stadtrat Asio hätte mir zehn Meisterbriefe auf den Tisch gelegt, die alle Buchstabe für Buchstabe in gotischer Zierschrift nachzumalen wären!‹

Heinz Kiwitz

»Schneller und schneller drehte der Schreiber; aber der Knecht, dieser wahre Sohn Enaks ...«

»Was ist denn das heute für ein nicht abreißendes Geklirr und Geschepper auf dem Hof!« rief der Onkel unmutig, aus der Türe nähertretend. »Was drehst Du denn so hastig und schnaufend, Neffe, die Kurbel, als müßtest Du den Durst von hundert Rindern stillen?! Heh, Enak, komm einmal her –!«

Aber so hurtig Enak vorher auf das Geklapper der Eimer zugelaufen, so wenig ließ er sich jetzt sehen. »Was treibt er nur?« murmelte der Onkel und ging forschend in den Stall. Verschnaufend, sich die Stirn vom Schweiße trocknend, blieb Guntram stehen. Lachend kehrte der Onkel zurück. »Er ist verschwunden«, berichtete er. »Sicher hat er sich vor mir im Heu auf dem Boden verkrochen! Er hat Dir einen Streich gespielt, Neffe, über den Du besser mit guter Miene lachst. Er hat Dich fleißig immer weiter Wasser heraufziehen lassen, nachdem die Kühe längst getränkt waren, und wohl dreißig oder vierzig Eimer auf der anderen Seite des Stalles in den Hofgraben geschüttet. Nun, zürne ihm nicht, daß er Dich ein wenig pusten gemacht, der einfache Landmann will dem Stadtherrn nicht wohl, von dem er glaubt, seine weichen Händchen verrichteten nichts Rechtes, wie ja auch der Städter den Landmann oft verächtlich einen Mistknollen schimpft. Tu Du nur fleißig nach Deinen Kräften die zugeteilte Arbeit, so wird der Enak schon Dein Freund werden, denn wenn er auch einfachen Geistes ist, versteht er doch wohl, wer sich recht müht. – Es wundert mich nur«, setzte der Oheim nachsinnend hinzu, »wer ihn zu diesem Streiche angestiftet, denn in seinem Kopfe ist der nicht gewachsen. – Wie dem aber auch sei, nimm diese beiden vollen Eimer und trage sie den Mädchen in die Küche. Laß Dich dort aber nicht aufhalten, sondern komm zu mir in die Stube, ich möchte noch vor dem Schlafen ein Wort mit Dir reden.«

Der Neffe Guntram beeilte sich, dem Geheiß des Oheims zu folgen, setzte in der Küche die Wassertracht eilig neben den Spülstein, antwortete der rundlichen Zilli auf ihre Frage: »Wohin denn so heiß und hitzig?« nur, der Bauer warte seiner, und trat rasch in die Stube. Dort nahm er auf einen Wink in dem ihm schon bekannten Sofawinkel Platz, rührte in seinem Punschglas und wartete mit Spannung der Erzählung, die auch sofort begann.

Du wirst Dich, lieber Neffe Guntram, schon gewundert haben, setzte der Onkel ein, nachdem er noch einen Zug aus der geliebten Pfeife getan, um sie dann behutsam neben sich zu legen, daß Du so ohne jede Ahnung von Anhang und Verwandtschaft einsam in der großen Stadt hast aufwachsen müssen, da Dir doch in nicht allzu weiter Ferne Ohm und Base lebten – denn die Großmuhme Petronilla Thalerin rechne ich hier nicht, da Du nicht eigentlich mit ihr verwandt bist. Erfahre denn, daß nicht aus Lieblosigkeit oder Gleichgültigkeit so von uns geschehen ist, sondern auf ausdrücklichen Wunsch Deines lieben, verstorbenen Vaters. Hast Du auch nie von uns gehört, so wußten wir doch immer von Dir, und gar manches Mal haben ich und Deine Base Monika hier in Sorgen auf des Boten Bericht gewartet, wie denn des kleinen Abecisten Halsbräune verlaufen, und ob der große Stadtschüler auch in seiner lateinischen Rede nicht stecken geblieben sei. Ja, Deine Base hat mir oft heftig gezürnt, daß ich ihr nicht erlauben wollte, Dir zu helfen oder Dich zu pflegen. –

Rot färbten sich die Wangen des beglückten Schreibers, der Onkel aber nickte, in Erinnerung versunken, trank dann einiges und ließ auch den Neffen mittrinken auf das Wohl des Mönchens. Dann fuhr er von neuem und trüber fort: Diese Stube, in der wir hier sitzen, gehört zum Spatzenhof, denn so nennen wir selbst ihn und haben damit einen Spottnamen der Leute zu unserem Ehrennamen gemacht. Kein stattlicherer Hof steht hier in Dorf oder Landschaft als dieser Besitz der kleinen unangesehenen Spatzen. Es liegt aber ein gar schwerer Fluch auf dem Besitz. Die Leute erzählen – und ich mag dem nicht geradezu widersprechen –, daß ein Ahn Spatt, müde der ewigen Aufteilung und Verschuldung des schönen Besitztums durch viele Kinder, mit dem schwarzen Höllenfürsten einen Vertrag geschlossen, nie dürfe außer dem Haupterben ein Geschwister mehr erreichen als das einundzwanzigste Jahr seines Lebensalters. Was es nun auch mit diesem Bündnis auf sich habe, gewiß ist, daß durch viele Generationen das Geschlecht der Spattens immer nur auf zwei Augen gestanden hat – recht unähnlich unseren gefiederten Sippen und Magen –, und daß, waren andere Geschwister vorhanden, diese oft recht kläglich an allerlei Krankheiten verstorben, auch ohne allen sichtbaren Grund hinsiechten oder aber gar in bösem Streit von der Verwandtschaft erschlagen wurden. – Der Onkel seufzte tief, tat einen Schluck aus dem Glase und fuhr von neuem fort: Anders wurde dies erst, als meinem Vater, Deinem Großvater, ein Zwillingspärchen geboren wurde, zwei Knaben, Dein Vater und ich. Das gab an jenem Abend viel glückliche Aufregung durch das alte Haus, manches Hin- und Hergerenne, denn alles war ja nur auf ein Kindlein gerichtet gewesen, und so ist es denn kein Wunder, daß, war der schlimmste Trubel erst vorbei, keines, nicht einmal die Wehemutter wußte, welches von beiden Knäblein denn der Erstgeborene sei. Die Wehemutter hat behauptet, von ihr sei dem erstgeborenen Knäblein ein Aschenkreuz auf die Stirn gemalt worden, die kindswaschende Muhme Petronilla aber will von solchem Kreuz nicht das geringste gesehen haben. –

Der Onkel atmete tief und schwer und schwieg, und mit keinem Laut wagte der Neffe, die versonnene Ruhe des Mannes zu stören. Endlich fuhr der Ohm fort:

Aus diesem einen kleinen Umstand ist meinen Eltern und uns Brüdern unendlicher Kummer entstanden. Die Eltern freilich liebten uns einen wie den andern, und mußten doch immer zittern, daß nach einem alten Fluch an des einen Knaben Schulter schon der Todesengel stehe. Wir Knaben aber nahmen es als rechte Buben kindisch, und kein Tag verging fast, an dem sich nicht einer über den anderen das Erstgeburtsrecht angemaßt hätte. Ich wurde darin im Geheimen viel von der Muhme Petronilla bestärkt, die mir oft zuflüsterte, sie wisse genau, ich sei der Erbe, während sich Deinem Vater mehr die Leute des Hofes und Dorfes zuneigten. Diese Teufelssaat in unseren Herzen wuchs recht prächtig und schoß, je älter wir wurden, umso geiler ins Kraut, und manches böse Mal haben wir schlechte Buben mit unserem widerlichen Gezänke die Augen der lieben Eltern durch Tränen gerötet.

Als wir nun aber in die mannbareren Jahre, in die Achtzehn kamen und anfingen, die Köpfe nach den Mädchen zu drehen und ihnen zu Liebe mit dem vollen Erntewagen Peitsche knallend die Dorfstraße entlang zu jagen, da begab es sich, daß unsere Herzen zwei Schwestern sich zuwandten, zwei stillen guten Mädchen, Töchtern des weiland Lehrers und Küsters hier im Dorfe. Hatten die beiden auch nicht eben viel Heiratsgut mit einzubringen, so war doch ihr Besitz an Sittsamkeit und Schönheit umso größer, und unsere Eltern hatten kein Wort des Widerspruches, denn es hatte den Anschein, als sei unter den Flügeln der Liebe unser häßlicher Erstgeburtsstreit schlafen gegangen.

Darin aber irrten sie sich. Wenn wir uns auch vor den Mädchen schämten und die böse Flamme des Neides und der Streitsucht nicht mehr offen emporschlagen ließen, unter der Oberfläche schwelte das Feuer immer weiter, und keiner konnte sich genug damit tun, seinem Mädchen recht verführerisch auszumalen, eine wie stolze Herrin sie dereinsten als Gebieterin des Spatzenhofes sein werde.

Eines Tages aber traten unsere Schönen bleich, doch mit geröteten Augen vor uns hin und erklärten uns mit Entschlossenheit, wir Brüder müßten nun die Frage, wer von uns der Erstgeborene und Erbe sei, endgültig und unwiderruflich ausmachen, sonst könne es mit uns Vieren garnichts werden. Denn sie beide, die seit ihrer zartesten Kindheit alles gemeinsam in treuer Freundschaft genossen, hätten sich doch wirklich in einen hitzigen Streit verrannt, wer von ihnen wohl die mächtige Frau Bäuerin und wer die geringe Frau Garnichts sein werde. Mit Tränen in den Augen flehten uns die Guten an, doch endlich den unheilvollen Streit friedlich zu enden, der uns bei allen Wohlmeinenden recht widrig, bei allen Übelwollenden zum Gespött mache.

Aber – wehe! – diese sanfte Bitte war erst recht Wasser auf unsere Streitmühle! Was bisher nur im Verborgenen geglostet und geglüht, schlug jetzt in heller Flamme vor den erschrockenen Schwestern auf. Mit lauten Schimpfworten drangen wir aufeinander ein, und es wäre wohl noch zu einer Schlägerei und Schlimmerem zwischen uns gekommen, hätte nicht der Herr Vater und Lehrer mit hocherhobenem Stocke einen Ausfall aus der Schulstube gemacht. Schmälend trieb der würdige Mann uns wie recht unnütze Buben vor sich her aus dem Hause und befahl uns, nicht eher wieder über seine reine Schwelle zu treten, nicht eher wieder seinen Töchtern zu nahen, als bis der Streit zwischen uns in aller Güte beigelegt.

Das war nun freilich weit gefehlt! Mürrisch und wortlos schlichen wir aus dem Dorf, über die verschneiten Felder, in den winterlichen Wald. Der Teufel selbst muß uns den Weg geführt haben, denn der leitete uns über verlorene Holzwege und unbegangene Wildwechsel bis zum Rande einer tiefen Steinschlucht, die seit je nach ihm den Namen Teufelsschlucht trägt. Dort setzten wir uns, als seien wir nun so recht an unserem Ziele, jeder auf einen Stein, und sahen einander haßerfüllt an.

Ich will, seufzte der Onkel schwer und schaute nicht auf den Neffen, sondern auf ein grünglasiertes Engelsköpfchen, das den Ofensims schmückte, ich will Dir nicht ein Langes und Breites von dem Wortstreit erzählen, der sich hitziger denn je zwischen uns entspann. Selbst die Erinnerung daran schmerzt mich heute noch unsäglich. Es genügt, Dir zu sagen, daß wir die Vermessenheit so weit trieben, jeder dem andern die Todeskrankheit herbeizuwünschen, die nach der Überlieferung den jüngeren Hoferben vor dem einundzwanzigsten Jahr befallen mußte. Aber der Wald stand still und schneeig, und nichts trat hervor, unser frevelhaftes Begehren zu erfüllen. Nur in einer großen, dunklen Tanne nahe bei unserem Sitz klagte trotz der Mittagsstunde fast ohne Unterlaß ein Eulenvogel sein dunkles: Huh! Huh!

»Hörst Du den Totenvogel?« fragte ich wild. »Ach, klagte er doch zu Recht – und wäre es selbst für mich, damit dieses endlich endet!« – »Dafür kann Rat werden«, sprach der Bruder und sah auf den breiten Spalt der Schlucht, »siehst Du diesen Spalt? Getraust Du Dich, ihn zu überspringen? Nun, wer ihn überspringt, ist der Erbe, denn um den anderen braucht er sich nicht mehr zu sorgen.« Ohne ein Wort stand ich auf und trat an den Schluchtenrand. Unmeßbar weit nickte mir von der drübigen Kante ein Fichtenbäumchen mit seinen stachligen, beschneiten Zweigen zu. Aber ein wahres Schaudern packte mich erst, als ich in die dunkle Tiefe der Felsenkluft hinabschaute, aus der ferne rauschend das Gewoge eines unsichtbaren Baches an mein Ohr schlug. – »Das ist unmöglich«, sprach ich angstvoll und ernüchtert zum Bruder.

»Eben weil es unmöglich ist, ist es grade das rechte für uns«, antwortete der Bruder trotzig. »Hat der alte Spruch recht, wird der Erbe hinübergelangen, und müßten ihn«, lachte er höhnisch auf, »Engelsfittiche hinübertragen.« – »Oder der Teufel!« setzte ich Unseliger hinzu. »Mir gilt es gleich, Bruder, nur Ende mit diesem unerträglichen Streit.« »Nun also«, antwortete er. »Wußte ich doch, daß Du wenigstens in Furchtlosigkeit ein echter Spatt bist, wenn Du auch nur der Zweitgeborne bist!« – »Das werde ich Dir jetzt weisen!« rief ich zornig, »wer von uns der Zweitgeborene ist. Gehe ich nach Haus, bin ich der Erbe!« – »Ja«, antwortete er höhnisch, »wenn Du gehst. Aber sie werden Dich tragen.«

So, in verworfenem Bruderzwist, ohne ein Wort der Versöhnung, ohne einen Gedanken an den Ausgang, schickten wir uns an zum Sprunge. Wir waren übereingekommen, zu gleicher Zeit abzuspringen, denn so sehr mißtraute einer dem anderen, daß wir für möglich hielten, der Zweite, sähe er den Ersten abstürzen, gehe, ohne den Sprung zu wagen, nach Haus und trete das Erbe an. – Ach, Neffe Guntram! rief der Ohm und verbarg die Augen mit der Hand, hundertmal – was sage ich?! – tausendmal, zehntausendmal hat in Wachen und Traum diese grauenvolle Minute vor meinen Augen gestanden, und doch verstehe ich noch heute nicht, welcher Wahnsinn mich damals ergriffen, daß wirklich ich es war, der dort stand, bereit zum Sprung.

Der Onkel schwieg erschüttert, sachte tickte die Kuckucksuhr an der Wand fort, ein Scheit im Ofen riß knatternd vor der Hitze – wunderlich befangen saß der Neffe neben dem traurigen Mann. Ihm war wie in einem Traum, einem grauenvollen Traum, dessen Grauen doch schon gemildert wird durch das deutliche Gefühl, das Erwachen stehe nahe bevor. War er oft unzufrieden gewesen mit seinem eintönigen, armen Schreiberdasein in der Stadt, in dieser Stunde segnete er es, hatte es ihm doch solche Versuchungen ferne gehalten.

Endlich, nach langer Frist, ließ der Onkel die Hand sinken und fuhr gesammelter fort: Ich weiß nicht, welcher Einfall mich meinen Absprungplatz gerade gegenüber der kleinen Fichte wählen ließ, die mich vorher vom andern Felsenrand gegrüßt. – Mein Bruder prüfte sorglicher mit dem Verstande alle Möglichkeiten und wählte schließlich eine Stelle, die wohl zwanzig Ellen von der meinen entfernt lag, wo der Spalt ein Kleines schmaler zu sein schien, und wo vor allem der drübige Rand tiefer lag als der hiesige. Weit traten wir zurück, um einen gehörigen Anlauf zu gewinnen, dann rief mein Bruder, noch vermessen selbst in dieser Sekunde: »So springe ich denn in mein Erbe! Spring!« Ich hörte den Eulenvogel noch einmal jammern, dann stürmte ich los.

Vom Sprung selbst weiß ich fast nichts. Ob ich gut abgesprungen, ob ich alle Kräfte meines Leibes angestrengt, kann ich nicht sagen, ein anderer, fremder Mensch in mir muß dies alles getan haben, ich erinnere mich nur, daß mir war, als flöge ich. Eine endlose Zeit flog ich, und mir war so frei und überrascht glücklich zu Mute, wie einem manchmal in dem seltenen Traum ist, da man merkt: der Leib löst sich von der Erde und kann fliegen. Dabei habe ich aber mit großer Deutlichkeit und seltener Weichheit des geliebten Mädchens gedacht; war es doch als hätte ich mit dem Lösen meiner Füße von der Erde alles Irdische von mir abgestreift.

Es kann nicht lange gedauert haben, so lang es mir vorkam. Plötzlich war vor mir der Felsenrand, mit lahmem Schwung, schon mehr fallend, näherte ich mich ihm, aus der Tiefe klang lauter das drohende Brausen der Wasser. Da sahen meine Augen das Fichtenstämmchen, mit einer letzten Anstrengung schnellte ich mich darauf zu, meine Finger griffen ins stachlige Geäst, ich riß mich aus dem Fall, der schon begonnen, empor. Mit den Knieen rutschte ich auf die Felsenkante, unverdient war ich gerettet. Aber hinter mir klang der grauenvolle Schrei: »Bruder, ich falle!« Noch ein Stürzen, ein Rollen von Steinen, ein fernes Klagen, und alles war still.

Wie lange ich dort am Rande der Schlucht, aus der immer mahnender und drohender die Wasserstimmen emporbrausten, gestanden, ich weiß es nicht. Unablässig flüsterte eine Stimme in meiner Brust, ich sei doch verdammt, und es sei das Beste, mich hinabzustürzen zum toten Bruder. Dann aber dachte ich wieder der alten Eltern, die beide Söhne, ihre einzige Hoffnung, an einem Tage verlieren sollten. An den Besitz aber dachte ich nicht mehr, das Fieber, das so lange Jahre in mir gewütet, war vergangen, und eher erfaßte mich eine Beklemmung, gedachte ich des Hauses, dessen Stuben wir so oft mit unserem Gezänk erfüllt hatten. Meines Mädchens aber erinnerte ich mich nur wie einer mir Gestorbenen, unmöglich schien es, mit der Schuld an des Bruders Tod befleckt, vor ihr reines Angesicht zu treten.

Als ich so eine lange Zeit im trüben Nachsinnen verbracht, kam ich zu dem Entschluß, für's erste nicht in Dorf und Heim zurückzukehren, sondern in das Heer zu gehen, für das zu eben dieser Zeit Werber emsig die Trommeln rührten. Ehe ich aber von dannen gehen konnte, hatte ich noch eine Pflicht zu erfüllen: den Leib des Bruders der Erde wiederzugeben.

Ich folgte dem Lauf der Schlucht mit dem Lauf des Wassers und gelangte schließlich an eine Stelle, wo der Abstieg möglich schien. Er glückte, und nun ging ich wieder bachauf, bald über ungefüge Blöcke kletternd, bald im eisigen Winterwasser watend, bis ich mich der unheilvollen Stelle näherte. – Immer langsamer wurde mein Schritt, das Auge schien unwillig, das halbe Dunkel vor ihm zu durchforschen, und hätte sich lieber geschlossen, aber eine höhere Macht zwang meine Schritte unablässig vorwärts.

Endlich sah ich den Bruder. Weder in den Bach noch auf die Felsen war er gestürzt, auf einem moosigen Fleck lag er, als schliefe er. Langsam, leise trat ich näher, als dürfte ich ihn nicht wecken. So sehr hatten die Lage der Gestalt, der Ausdruck des Gesichts den Anschein völligen Lebens, daß ich, dicht vor ihm stehen bleibend, ihn anrief: »Bruder! Bruder!«

Heinz Kiwitz

»Bruder, Bruder! ...«

Widrig berührte es mich dabei, daß in einer kleinen Felsengrotte daneben eine Ohreule unverwandt meinem Beginnen zuschaute und es mit einem unheilvollen Huh! Huh! begleitete. Zornig scheuchte ich den unglückkündenden Vogel aus seinem Versteck, widerwillig nur hob er sich in die Luft, einen Ständer, an dem er wohl verletzt, kraftlos hängen lassend.

Nun erst vermochte ich wieder, mich mit leisem Anruf dem Bruder zuzuwenden. Doch er rührte sich nicht. Keine Bewegung des Kopfes, kein lauter Atemzug verkündeten das Erwachen des Schläfers. Bei ihm niederknieend gab ich ihm die zärtlichsten Namen, Namen, die er nie im Leben von meinen Lippen gehört. Da – rührte er sich nicht?! War nicht ein Laut zu mir gedrungen –?! Hatten sich die Lippen nicht leise bewegt –?! Wer hatte jetzt ›Bruder‹ geflüstert – er oder ich?! Er –?

Ich neigte den Kopf auf seine Brust, und mit unsäglicher Erschütterung vernahm ich das zögernde Klopfen seines Herzens. Plötzlich wußte ich wieder, daß wir erst in des Lebens Mai standen, daß ein langes, alle Segensmöglichkeiten bergendes Leben noch vor uns lag, daß Besitz etwas war, dem Wechsel unterworfen und vergänglich, Leben aber einmalig und unvergänglich. Ferner tönten und rummelten der Werber große Trommeln, wie eine leichte Feder hob ich den Bruder auf den Arm, und vorsichtig, jeden Platz, auf dem der Fuß rasten sollte, abtastend, machte ich mich auf den Heimweg mit dem Verunglückten. –

Der Erzähler machte eine Pause, rührte gedankenvoll im Glase und tat auch einen Schluck von dem längst kalt gewordenen Getränk. Die Kuckucksuhr schnarrte, der bunte Vogel fuhr aus seinem Käfig und rief einmal, die halbe Stunde vor Mitternacht anzeigend. Befreiter atmete der Neffe, des günstigen Ausganges nun gewiß.

Ich will Dir nicht erzählen, fuhr der Ohm schließlich fort, von dem plötzlichen Jammer der Eltern, als ihnen das eine Kind halbtot ins Haus getragen wurde, von der Empörung der Nachbarn, als der Hergang des unseligen Falles allmählich ruchbar wurde. Auch ich habe von all dem nur wenig vernommen. Tags wie Nachts saß ich neben des Bruders Krankenlager, und so sehr ich ihn bisher gehaßt, so unendlich liebte ich ihn jetzt. Die ganze Welt, ja sogar mein gutes Mädchen versanken mir vor seinem Gesicht.

Die Genesung ging nur langsam und mit mancherlei fieberischen Rückfällen vor sich. Nicht nur im Kopfe war etwas verletzt, sondern es hatten auch im Leibe innere Zerreißungen stattgefunden, die nur schwer heilten. Aber endlich war es doch so weit, daß der Bruder ganz wach die Augen zu mir aufschlug und matt lächelnd sprach: »Was ist das, Bruder? Vor dem Fenster schlagen die Finken und pfeifen die Stare? Ich bin im Winter ins Bette gestiegen, soll es denn Frühling sein, da ich wieder aufstehe –?«

Ach, es wurde später Sommer, und manch reiches Weizenfuder war schon über den Schwellenbaum der Scheune geknarrt, ehe der Bruder aufstehen und sich mühselig zum Fenstertritt tasten konnte. Da saß er denn den langen, lieben Tag, und wenn ich die Richtung seiner Blicke recht erraten konnte, so wars die blaugestrichene Tür des Schulhauses, zu der sie hinzielten. Ob er dort mehr zu sehen bekommen als ich, hat er mir nicht verraten; für mich waren seit jenem unseligen Morgen die Mädchen verschwunden und verweht. Begegnete ich aber einmal wirklich dem Schulmeister, ihrem Vater, auf einem Wege durch das Dorf, so sah er mich mit seinem großen, blauen Auge so ernst und fremd an, daß mir das Wort, mit dem ich mich nach den Töchtern erkundigen wollte, in der Kehle stecken blieb. –

So gingen weitere Wochen ins Land, der Herbst wich schon mit lautem Gestürme dem Winter, und nur wenige Wochen trennten uns von der ersten Jahreswiederkehr des bösen Tages. Nun ging der Bruder schon frischer durch das Haus, legte auch einmal da und dort Hand an – aber es erwies sich, daß er fürder nie der alte kräftige Bursch sein würde, der er gewesen. Nur in den ersten weichen Tagen des Genesungslagers hatten wir von dem bösen Streit gesprochen, und ich hatte von meiner Verwunderung berichtet, daß er, der Größere und Gelenkigere, mir im Sprunge unterlegen sei. Da hatte er ganz lebhaft gesagt: »Ich wäre Dir auch weit voraus geflogen, Bruder, so leicht trug es mich über die Spalte. Aber erinnerst Du Dich noch des Käuzchens oder der Eule, die aus den Tannenästen so unermüdlich widrig schrie –?! Nun, ich hatte schon die andre Seite mit einer glatten, schieren Felsenplatte fast unter den Füßen, da rief es von neuem direkt vor mir – Du müßtest es gehört haben –, etwas Dunkles flatterte, mich blendend, in mein Gesicht, und als ich abstürzend mit den Händen um mich schlug, traf ich, ich glaube es, in das weißgelbliche Gesicht einer Eule, das recht triumphierend auf mich hinabsah. Kläglich aufschreiend stürzte auch der Vogel und kam, wie ich mich zu erinnern meine, im Sturze unter mich. – Seitdem, Bruder«, flüsterte der Bruder leise, »habe ich immer den Gedanken, daß geheime Mächte, und keine guten, mit uns ihr Spiel getrieben. Anders kann ich die unbegreifliche Verblendung, in der wir beide durch Jahre gelebt, nicht verstehen.«

Er schwieg erschöpft, und ich sprach kein Wort zu ihm von der kleinen Eule, die ich, verletzt in seiner Nähe hockend, gefunden, um den Ermatteten nicht noch mehr zu erregen.

Aber noch einmal setzte er an: »Aber als dann Du, Bruder, Dich nicht davonschlichst, den Bruder nicht an der unzugänglichen Stelle, wo ihn nie einer gefunden hätte, dem elenden Tode überließest, als Du nicht ins Erbhaus tratest mit der leicht zu glaubenden Lüge, der Bruder habe durch Auszug in ferne Lande den Streit geendet, sondern als Du mutig in die Teufelsschlucht eindrangst, den fast schon Sterbenden dem Tode forttrugst – da erst haben die bösen Mächte ihr Spiel mit uns verloren. Ich weiß, für uns ist nun der Bann gebrochen, und nicht werde ich vor meinem einundzwanzigsten Lebensjahre sterben müssen, wie doch der Fluch unseres Geschlechtes sagt.« So hatte er gesprochen, dann aber noch leise, den Kopf zur Wand wendend, geflüstert: »Wie aber mag es unseren Kindern dermaleinst ergehen –?«

Das war das einzige Mal, daß der Bruder mit mir hierüber sprach, sonst hielt eine Scheu unser beider Lippen verschlossen. Wohl merkte ich, daß es mancherlei Flüstern zwischen der Mutter und dem Bruder, dem Vater und der Mutter, dem Bruder und dem Vater gab. Oft stockte die Rede, wenn ich unvermutet in die Stube trat, aber das alles tat mir nicht weh, sondern erfüllte mich nur mit heimlicher Lust. War es doch längst bei mir ausgemacht, daß ich sogleich, wenn das Korn erst gedroschen, den Hof verlassen wollte, um mir in der Ferne ein eigen Heim mit eigenen Händen aufzubauen. Wenn ich die Hinfälligkeit des Bruders mit meinen kraftvollen Gliedern verglich, so wars klar, daß ich der Tüchtigere für den harten Lebenskampf war.

Aber längst war es anders ausgemacht und beschlossen. Eines Tages rief mich die Mutter mit zitternder Stimme in die Stube, und als ich dort eintrat, sah ich zu meinem Erstaunen Bruder und Vater neben den beiden Lehrersleuten und ihren Töchtern sitzen. Herzlich bewegt ging der Bruder mir entgegen, nahm meine Hand und hieß mich bei meiner Schönen niedersitzen. »Lieber Bruder«, sprach er dann, »wir haben so lange Jahre unsern Eltern und dem ganzen Dorfe das häßliche Bild eines Bruderzwistes geboten, daß es sich geziemt, auch unsere Versöhnung nicht in aller Stille, sondern recht öffentlich zu begehen. Lieber Bruder, ich bitte Dir ab, was ich Dir je Böses getan und gewünscht, hinfürder gibt es keinen Zwist mehr zwischen uns.« Ich gab ihm die Hand und stammelte etwas, aber so wohlgesetzt wie seine Rede hat es wohl nicht geklungen.

»Die lieben Eltern«, fuhr der Bruder dann fort, »und ich wissen seit langem, daß Du Deinen Auszug aus dem Hof in aller Heimlichkeit erwägst und vorbereitest. Wir haben wohl vernommen, wie Du Dich bei dem und jenem Kutscher und Reisenden erkundigt, wo etwa ehrliche Arbeit zu erhalten sei. Bruderherz, tu ihn von Dir, diesen Gedanken! Wir wollen nicht den alten Streit erneuen und davon reden, wer von uns der Ältere sei. Ich für mein Teil meine, so frevelhaft unser Beginnen in der Steinschlucht auch gewesen, ein Urteil ist dort doch gesprochen worden. – Aber bedenke lieber ein anderes: was würde denn aus mir, so schwach ich heute geworden bin, für ein Bauer werden? Du weißt es doch selbst, nicht nur das Auge des Bauern muß überall sein, auch vorarbeiten muß er können selbst dem stärksten Knecht. Der Erste muß er sein morgens beim Hahnenschrei aus dem Bett und der Letzte des abends auf seinem Rundgang durch den Stall. Ich aber muß manche Stunde still auf dem Fenstertritt hocken, die kleinste Axt wird mir zu schwer, und den Futtereimer vermag ich nicht zu heben. Es möchte mich doch um den Hof mit solchem Herrn dauern!«

»So laß ihn uns gemeinsam verwalten, Bruder!« rief ich stürmisch. »Sei Du der bedachtsame Kopf, und ich will die rasche Hand sein!« – Er schüttelte lächelnd das Haupt. »Nein, Bruder«, sprach er, »bei uns möchte solche Regelung wohl gehen und auch unseren Frauen traue ich es zu –« und er nickte nach den errötenden Mädchen hin –, »daß sie ohne Streit ihr kleines Reich unter sich aufteilen würden. Aber Bruder«, sprach er mit erhobener Stimme, »denke unserer Kinder! Möchtest Du mit ihnen erleben, was unseren Eltern mit uns widerfahren ist? Möchtest Du sie in so argem, neidvollem Streit sehen, wie er zwischen uns bestanden?! Nein, Bruder, nein, das kannst Du nicht wollen –!«

Noch manches Hin- und Herredens bedurfte es, bis ich mich dem Willen der Eltern und des Bruders fügte. Manch bedachtsame Rede führte noch der Herr Lehrer, mit liebevollem Zuspruch setzte mir die Mutter zu, ernst mahnend wies der Vater auf den rechten Weg – und wenn auch mein liebes Mädchen schwieg, so sagte mir doch mancher Blick von ihr, was ihres Herzens Wunsch sei.

Was mich schließlich gänzlich bestimmte, war dies, daß der Vater in der Stadt bereits für den Bruder ein geräumiges Haus gekauft hatte, der beabsichtigte, darin mit Unterstützung seines tüchtigen Weibchens eine Kost- und Schlafstätte für die Schüler dortiger alma mater einzurichten. Das schien mir recht wohl durchdacht und passend; scherzhaft malten wir uns aus, wie ich im Herbst mit hochbeladenem Wagen vor das spitzgieblige Haus fahren würde, bringend alles, was der Spatzenhof an Nahrhaftem und Heilsamem für hungrige Schülermäuler erzeugt, von der derben Kartoffel über die fette Gans, den glänzend schwarzgeräucherten Schinken bis zu den Steinkruken mit Fliederbeerensaft, der so dienlich ist bei Verschleimungen. Wie wir dann über den Marktpreis der Eier in argen Streit geraten würden, und wie wir zornentflammt mit eben diesen Eiern einander unsere Meinung, zur Belustigung der Nachbarn, kräftig gelb und weißlich an unsere Köpfe schreiben würden.

Darüber hatte ich mein Jawort gegeben, ich wußte nicht wie. Alles war abgemacht und beschlossen, und aufstehend sprach der Herr Schulmeister: »Da nun dieser schlimme Streit, unähnlich jenem zwischen den Brüdern Romulus und Remus, von dem uns die Sagen berichten, ein friedliches Ende gefunden hat, da alle Parteien jedem Streit, jedem Nachtragen entsagen – so reicht denn Ihr, endlich versöhnte Brüder, Euern schwesterlichen Bräuten die Hand. Von dieser Stunde an sollt Ihr vor Gott und den Menschen als Verlobte gelten, und so gebt Euch denn den Verlobungskuß, wie es sich unter Brautleuten geziemt.« Da war es zum ersten Mal, daß ich mein holdes Mädchen in den Armen hielt, und, wohl errötend, doch mit freiem, offenem Blick bot sie mir ihren Mund zum Kusse. –

Der Onkel schmunzelte behaglich in der Erinnerung an diese angenehme Stunde, und auch den Neffen freute der gute Ausgang des schlimmen Abenteuers. Dann fuhr der Oheim also fort:

Der Mutter besonders strömte das Herz über vor Freude an den so schön versöhnten Söhnen und an den stattlichen, sittsamen Schwiegertöchtern. Einem nach dem anderen fiel sie um den Hals und herzte ihn, und selbst der gestrenge Herr Schulmeister mußte sich solch ungewohnt liebreiche Behandlung, die ihm das Toupet ganz verrückte, gefallen lassen. Dann lief sie geschäftig durch das Haus, befahl, was Küche und Keller nur bieten konnten, und keinem vergaß sie, die freudige Mär zu erzählen, selbst nicht dem Hütebuben.

Da hob ein gewaltiges Kochen und Backen an, mörderisch griff manche Magdhand nach den gackernden Hühnern und schnatternden Gänsen; wo Du hinhörtest, wurde gesungen, gepfiffen oder gelacht – denn der Friede war endlich eingekehrt in ein friedloses Haus. Nur die Muhme Petronilla Thalerin war ausgeschlossen von aller Freude und Fest, mit argen Schmerzen, gallengelb, lag sie im Bette, denn gerade am Unglückstage des Bruders hatte auch sie Unglück erfaßt: auf dem Boden war sie gestürzt und hatte sich ein Bein gebrochen. Sie ist auch nicht eher wieder genesen, als bis nach dem Hochzeitstage des Bruders, und das Humpeln, das Du an ihr gesehen, blieb ihr von da an.

Für den wurde nun fleißig gerüstet. Unermüdlich bis in die tiefe Nacht schnurrten die Spinnräder, auf der Diele knackte, ächzte und stieß die Lade des herbeigeholten Leinewebers, und in dieser Stube saßen die Frauen und fügten mit geschickten Händen Stoffbahn an Stoffbahn zu manchem festlichen Staats- und einfachen Hauskleid.

Endlich war es so weit, zwei Paare, zwei Brüder, denen sich zwei Schwestern für dieses Leben vertrauten, standen vor dem Altar, und wohl dem Bräutigam, der, wie ich, nach dem Spruch des Pfarrers der jungen Frau solch seligen Tau von den Wangen küssen darf! Groß wurde dann gefeiert, die ganze Gegend dorfauf dorfab nahm Anteil. Zu wahren Bergen häuften sich die Geschenke auf der Diele, und die Summe Schmausgeldes, die die vornehmsten Gäste der Brautmutter auf den Teller legten, belief sich fast auf dreihundert Taler.

Doch am Morgen des vierten Tages stiegen wir junge Burschen zu Pferde, um dem Bruder mit seiner jungen Frau das Ehrengeleite zu geben. Zwei große Planwagen, mit reichem Hochzeitsgute beladen, hielten hinter dem leichten Reisewagen, vor dem die Pferde schon ungeduldig mit den Hufen scharrten. Doch immer noch hing die junge Frau am Halse der Mutter und konnte sich nicht trennen. »Wir sehen uns ja wieder, Bärbchen!« rief die. »Ist es schon weit, ist es doch nicht zu weit in die Stadt.« – »Nie, nie, nie sehen wir uns wieder, Frau Mutter!« rief die Trostlose, krampfhaft schluchzend; und fast mit Gewalt mußte der Bruder sie vom Halse der Mutter lösen und in den Wagen tragen. –

Leiser hatte der Ohm von dem Abschied gesprochen, trübe ahnungsvoll hatte der Neffe dem Bericht von der Mutter, die er nie gesehen, gelauscht. Traurig fuhr der Onkel fort: Es hat ihr recht geahnt, dem Bärbchen, Deiner Mutter. Keiner von uns hat sie wiedergesehen, schon ein Jahr darauf ist sie gestorben. Der Dir das Leben gab, Neffe Guntram, nahm ihr das ihre.

Spät erst erreichte uns die Kunde, spärlich erreichten uns nur Nachrichten aus der großen Stadt, und dann unheilvolle: Krieg hielt sie in Banden. Fremde Völker, ständig wechselnd, zogen durch ihre Tore, und froh war, wer wie wir in der Stille sitzen konnte, geschützt durch den weiten unwegsamen Waldgürtel. Manches Jahr ging ins Land, in dem ich vom Bruder keine weitere Kunde hatte, als daß er und sein Söhnchen noch lebten, daß sie sich redlich durchschlügen und alle Verwandtschaft herzlich grüßen ließen.

Dann kam vor nun zwanzig Jahren die unheilvolle Winterstunde, da nächtens eine schwache Hand an unsere Hofpforte schlug. Und als wir zögerten zu öffnen, denn es lief manch versprengtes wildes Volk im Lande umher, dem nicht zu trauen war, rief die Stimme gar kläglich, wir sollten ums Gottserbarmen nur schnell machen, es sei der Bruder mit seinem Kind ...

Ja, er war es, doch als ein Kranker, fast Sterbender kehrte er ins Vaterhaus heim. Übermütige Kriegerscharen hatten beim Trunk der aus dem Kamin gefallenen Brände nicht geachtet, in Flammen war des Bruders Haus aufgegangen, und mehr als Dich, Neffe, hat er der räuberischen Glut nicht entreißen können. Von dem Feuer fast geröstet, von dem Polwind der Winternacht eisig durchkältet, hat er sich, Dich als seinen letzten Besitz auf dem Arm, in die Heimat aufgemacht. Schon unterwegs packte ihn das hitzige Fieber, oft fast von Sinnen meinte er, nie den Weg in die Heimat finden zu können. Wunderbar erzählte er später im Fieber davon, wie sich zwei große Nachtvögel um ihn und das Kind gestritten hätten: eine Ohreule, die ihn mit leuchtenden Augen und klagendem, fast menschenähnlichem Ruf in den Sumpf hatte verlocken wollen; und ein großer, finsterer Uhu, der schließlich die Eule mit scharfen Schnabelhieben verjagt hatte und dem Vater auf dem rechten Waldpfad vorangeschwebt sei. Doch das sind wohl nur die eitlen Gespinste des Fieberwahns, in denen Dein Vater tiefer und immer tiefer versank. –

Ernst sah der Onkel in Guntrams erblaßtes Gesicht. Mit einem Blick auf die Uhr dann sprach er: Doch vielleicht ist es Deiner und meiner Nachtruhe förderlicher, wenn wir hier abbrechen und morgen abend ruhiger das Begonnene zuende führen. Gleich wird der Kuckuck die Mitternachtstunde ausrufen, dem Bauern wie dem müden Wanderer ist es besser, um diese Zeit im Bette zu liegen.

Doch Guntram, der bei der Nachricht vom hilfreichen Schuhu und der verderblichen Eule hoch aufgehorcht hatte, bat so eindringlich weiterzuerzählen und versicherte so eifrig, er werde kein Auge zutun können, ehe er nicht das Ende des Berichtes erfahren, daß der Ohm ihm schließlich willfahrtete:

Meistens lag Dein Vater in Fieberphantasien, die aber fast nie so quälend waren wie jene vom Uhu und der Eule. Sondern fast immer weilte er in seinem einen glücklichen Ehejahr. Sein Bärbchen, Deine Mutter, war bei ihm, sie hatten gemeinsam das große Haus mit den zahlreichen, immer hungrigen Scholaren zu bestellen. Mit freundlichen Zurufen feuerten sie einander an, und wenn sie ihn etwa an den großen Backtrog gestellt hatte, den Brotteig kräftig zu durchkneten, so konnte er wohl gar kläglich rufen: »Bärbchen, erlöse mich! Lahm sind meine Arme!« – Aber friedliches Glück strahlte aus seinem Gesicht.

Selten nur noch weilte er, zur Umwelt erwachend, bei uns. In einem solchen lichten Augenblick bat er mich zu sich an sein Bett, wies liebreich alle Fragen nach seinem Ergehen wie einer, der schon irdisches Leid nicht mehr fühlt, zurück, und sprach von Deinem Geschick, mein Neffe Guntram. Vielleicht schon klarer sehend als wir irdisch Gebundenen erwähnte er die dunklen Mächte, die alle Besitzer des Spatzenhofes gefangen gehalten. Er sprach mir davon, wie sehr auch wir beiden Brüder unter diesem Geschick gelitten, wie schwer wir uns aus seiner Umklammerung befreit, und er wies dann auf die Wiege, in der mein Töchterchen Monika schlummerte, von Dir ahnungslosem Knaben fleißig gewiegt.

»Soll unseren Kindern einst dasselbe schwarze Los fallen wie uns, Bruder?« fragte er ernst mahnend. »Ich gehe bald dahin und ich lasse den Knaben Dir als seinem nächsten Anverwandten. Diese lichte Stunde ist mir noch einmal geschenkt, damit ich Dir sage, wie Du nach meinem Willen mit ihm verfahren sollst.« Und er gab mir die ernste Anweisung, Dich sofort nach seinem Ableben in die Stadt zurück zu senden zu einer gottesfürchtigen Frau, die Dich die ersten Jahre aufziehen sollte; später Dich aber ein Handwerk oder einen Beruf erlernen zu lassen, für den Du eben geeignet seiest. Ohne Ahnung von Verwandtschaft, ohne Kenntnis vom Spatzenhofe solltest Du aufwachsen, Dein Leben einrichten und Dich selbst ernähren – und nicht eher sollten wir uns Dir zu erkennen geben, als bis Deine Base Monika ihr einundzwanzigstes Lebensjahr vollendet habe, in den Besitz aller Erbrechte am Hofe geraten und damit aller Anlaß zu Hader und Streit abgewendet sei.

Fast zu schwer schien mir zu tun, was der Bruder verlangte. Ein klein Kindlein allein in die Welt hinauszustoßen unter harte fremde Menschen, in Entbehrungen vielleicht und schwere Arbeit bei ausbeuterischen Meistern, indes die Verwandtschaft auf einem Hofe so recht in der Fettschwemme saß – das wollte mir nicht eingehen in Kopf und Herz. Aber je mehr ich dem Bruder dagegen redete, je länger ich das Ja verweigerte, um so erhitzter wurde sein armer Kopf, um so stärker erschütterte der Husten seinen abgemagerten Leib. Als er dann, schon im halben Fieberwahn, zu stöhnen anfing: »Auch der Bruder ist mit dem Bösen im Bunde! Auch der Bruder will meinem Kinde nicht wohl!« – da überwand ich mich, faßte seine Hand und sprach: »Ich will alles tun, wie Du gesagt.« – Und mitten in seinem Fieber erreichte ihn wohl mein Versprechen wie ein guter, kühlender Trank, denn er seufzte tief und selig auf: »Guter, trefflich guter Bruder!«, wandte sich auf die Seite und schlief friedlich ein. Aus diesem friedlichen Schlummer ist er nicht wieder erwacht. –

Der Onkel verstummte und sah ernst den Neffen an. Der erwiderte freundlich den Blick, und über dem Tisch trafen sich die Hände der beiden Männer, des jungen und des alten. Ganz stille war es im Gemach, sauste der Wind durchs Ofenloch, trieb er doch nicht mehr knackend den Funken ins Holz, sondern wirbelte nur lautlos die Asche über den Rost. Leise erst, lauter dann, immer lauter klang das Ticken der Uhr aus der Stille hervor, deren Kuckuck sich wohl schon zum Schlage der zwölften Stunde anschickte.

Leise lösten sich die Hände, und leiser auch endete der Oheim seinen Bericht: Daß ich dem Wunsche Deines Vaters gehorcht, weißt Du. Schwach erinnerlich werden Dir noch die ersten Jahre bei der lieblosen, harten Witfrau Hickupp sein, deutlicher und bedeutender schon Deine Schuljahre unter des gestrengen Magisters Böck Bakel, am deutlichsten endlich Deine Schreiberjahre auf der Stube des Herrn Rat Asio, des getreuen Freundes unserer Muhme Thalerin. So oft jemand aus dem Dorfe in die Stadt zog, haben wir heimlich Nachricht von Dir erkundet, nie haben wir Deiner vergessen, und besonders hat uns manch gute Botschaft gefreut, die der Herr Rat über Deinen Wandel und Fleiß uns gesandt.

Nun aber ist die böse Wartezeit verflossen, auf Deines Vaters Platz, auf seinem Geburtshof sitzest Du jetzt – und dem mündigen Manne liegt nun die Entscheidung ob, ob er zur Stadt zurückkehren oder ob er mitschaltend in der Ahnen Erbe arbeiten will.

Mit gar seltsamer Spannung, wollte es dem Neffen scheinen, sah der Onkel in sein Gesicht. Er aber antwortete bescheiden, daß er dem Onkel herzlich für Bericht, bewiesene Sorge und gebotene Gastfreundschaft danke. »Aber völlig fremd, lieber Oheim, ist mir noch das Leben auf dem Lande, vergönne mir doch einige Wochen Frist, ehe ich mich entscheide. – Auch will es mich fast bedünken, als ob die dunklen Mächte, die Euch und dem Vater so arg zugesetzt, noch immer nicht zur Ruhe gekommen, sondern gerade in letzter Zeit recht lebhaft am Werke sind.«

Fast verdrießlich antwortete der Onkel, ob der Neffe etwa mit den dunklen Mächten jenen Brief meine, den der Herr Rat ihm vor einigen Wochen geschrieben. – Alles wisse der Neffe jetzt durch des Oheims Erzählung, und der könne sich nicht denken, daß ein rechtliches Herz solchen Anspruch nach diesem Bericht noch aufrecht erhalten möge.

Erstaunt fragte Guntram, von welchem Brief und von welchen Ansprüchen der Oheim denn spreche, er wisse von keinen.

Ärgerlich erwiderte der Oheim, daß er den Neffen zu offener Aussprache von Mann zu Mann geladen habe, nicht aber zu Advokatenpfiffen und Versteckenspielen hinter Papier.

Er wisse weder von Advokatenpfiffen, antwortete schon erregter der Neffe, noch von Papieren, noch von einer Einladung. Zufällig habe er heute von der Verwandtschaft vernommen, zufällig habe er sich zu ihr auf den Weg gemacht.

»Ist mir doch«, sprach der Onkel fast zornig, »solch feiges Verkriechen aus der Seele verhaßt! Offen habe ich Dir, Neffe, alles erzählt, wie es sich begeben – und was ist Dein Lohn dafür? Wer hat Dir denn von der Verwandtschaft erzählt? Wer hat Dir denn den Weg zum Spatzenhofe gewiesen?!«

Betreten schwieg Guntram, es schien ihm nicht die rechte Stunde, seine höchst wunderbaren, aber ganz unglaubhaften Abenteuer dem Onkel zu erzählen.

»Da schweigst Du!« rief der Onkel immer zorniger. »Aber offene Rede stünde Dir besser an! Ist es denn nicht in Deinem Auftrage geschehen, daß der Herr Asio mir schrieb, wie Du in der Asche des väterlichen Hauses stöbernd einen eisernen Kasten gefunden, der mit andern Papieren auch eine Niederschrift Deines Vaters enthalten, die bekundete, er sei als der Erstgeborene einziger Erbe des Spatzenhofes; und Du erhebest nun Anspruch an des Entschlafenen Statt?! Sprich, verhülle Dich nicht länger, entlarve Dich!«

Verwirrt, kaum Worte findend, erwiderte der Neffe stammelnd, wie er wohl manches Mal, von Heimweh nach den toten Eltern bezwungen, auf der wüsten Brandstätte geweilt, auch den erwähnten Eisenkasten gefunden habe. Doch habe in dem keine solche Urkunde, wie sie der Onkel beschrieben, gelegen, sondern nur der Kaufbrief über das abgebrannte Haus, den er mit dem Kästchen dem Herrn Rat zur sicheren Aufbewahrung übergeben habe.

»Ei, wie ärgert mich doch«, rief der Ohm im höchsten Zorn, »solch bübische, nutzlose Verlogenheit! Muß ich Dir denn körperlich vor Augen stellen, wie sehr Du Deinen nächsten Verwandten hintergehst?!« – Und zum Schreibschrank laufend, riß er eine Lade auf, entnahm er ihr ein Pergament, entfaltete es und hielt es mit zitternden Händen dem Neffen vors Gesicht: »Willst Du Deine eigene Schrift verleugnen und Deinen eigenen Namenszug?!«

Erbleichend sah der Schreiber Guntram ein Schreiben, von seiner eigenen Hand gefertigt, und neben dem Namenszug des Herrn Rat Asio den eigenen. Fremd und bekannt sahen ihn die schwarzen Schnörkel an, einen Augenblick war es ihm wie am heutigen Mittag, da er sich selbst in der Gestalt des verwandelten Spatzen am Schreibtisch gesehen ...

»Ohm! Ohm!« rief er in großer Angst. »Hier wird ein arges Spiel getrieben! Wohl ist dies meine Schrift und dies mein Namenszug – und doch haben meine Augen nie diesen Brief gesehen! Vernimm, daß der Herr Rat Asio, wie auch ich erst seit heute weiß, als gefährliche Eule geistert ...«

»Da wollte ich doch«, schrie der Ohm, »Du wärest selbst solch gemeines Vogelgetier! Willst Du jetzt meine arglose Erzählung gegen mich kehren und, eine Eule zum Schutztier Deiner Feigheit machend, die Fieberphantasien Deines Vaters frevelhaft mißbrauchen?! – Auf der Stelle gestehe, Bursche, daß Du meiner Monika nach Erbe und Hof trachtest, oder ich breche, so alt ich auch bin, Dir alle Knochen im Leibe!«

Etwas vom alten Zornmut, der den Ohm in den Jugendjahren wohl bei den Kämpfen mit dem Bruder beseelt, hatte ihn wieder erfaßt, so derb hielt er den Neffen und schüttelte ihn, als wollte er ihm das Geständnis aus dem Leibe schütteln.

Heinz Kiwitz

»Ohm! Ohm!« rief der Neffe in höchster Angst.

Da fuhr der Kuckuck aus seinem Gehäuse und verkündete die zwölfte Stunde. In dem gleichen Augenblick aber brach über den Häuptern der Streitenden ein betäubender Lärm los: Glas zerbrach klirrend, jammernd schrie eine Frauenstimme in höchster Not um Hilfe, und dunkel krächzte darein ein unheilvolles: Huh-Huh!

Ab ließ der Onkel vom Neffen, jedes ergriff einen Leuchter, und, allen Streit vergessend, eilten sie über die breite Treppe in das obere Geschoß, den Gang entlang, aus dessen Türen verschlafene Köpfe von Knechten und Mägden nach der Ursache des grausigen Getöses forschten. Einen Augenblick verharrten beide vor der Kammertür des Neffen, aus der jetzt nur noch klägliches Wimmern tönte, dann öffnete der Oheim mit einem tiefen »Im Namen Gottes!« die Türe, und sie traten über die Schwelle. Aber welch schrecklicher Anblick bot sich ihnen! Durch die zerbrochene Fensterscheibe, deren Glassplitter weit über den Boden zerstreut lagen, hauchte der eisige Novemberwind, daß die Kerzenflammen nur eilig das grausige Bild überhuschen konnten. Offen stand die Lade und aus ihr gerissen, mit dunklem Blute befleckt, waren wild auf die Erde geworfen die weiße Wäsche, die dunklen Kleidungsstücke, die die Freundlichkeit des Oheims dem Neffen geschenkt. Aber – schlimmster Anblick – zwischen all dieser Unordnung lag hingesunken eine weibliche Gestalt, ein erloschenes Licht noch in der Hand, und dunkel rann das Blut von ihren Händen und ihrem Gesicht.

»Monika!« rief der Oheim in tiefem Schmerz – »Base!« klagte erschüttert der Vetter. – Und »Hier bin ich!« riefs von der Kammertür her, und das schöne Mädchen trat, nur ein Tuch um die gelösten Haare geschlungen, eilig ein. »Ich lebe, Vater«, sprach sie sanft. »Es ist Zilli.« Und indes die Männer noch sprachlos verharrten, beugte sie sich zu der Liegenden, hob sie mit kräftigen Armen in den Sessel am Fenster und gebot: »Gib Wasser, Vetter, und ein Tuch.«

Unter ihren geschickten Händen kam die Ohnmächtige rasch zu sich, aber nur um das zerfleischte Gesicht in den Händen zu bergen und angstvoll zu klagen: »Oh, der Schuhu! Der schreckliche Schuhu!«

Mit einem finsteren Blick auf den Neffen fragte der Oheim ernst, was sich denn begeben, wie sie zu solcher Nachtstunde in die Kammer des Gastes gekommen.

Zilli aber, sich unter den hilfreichen Händen Monikas immer mehr erholend, berichtete eilig, wie sie aus der Kammer des Herrn Schreibers seltsame Geräusche gehört. Sich aus dem Fenster beugend habe sie vernommen, daß Ohm und Neffe unten noch im Gespräche weilten, daß also ein Unberufener in die Gästekammer gedrungen sein müsse. Ohne es sich weiter zu überlegen, sei sie mit dem Lichte in die Kammer hinübergeeilt. Kaum aber habe sie die Tür geöffnet, sei ein riesiger Schuhu auf sie losgeflattert, habe mit seinen Flügeln das Licht ausgeweht und sei dann mit scharfem Schnabel und stählernen Krallen über sie hergefallen. Gellend habe sie aufgeschrien. Der Uhu aber habe seine Angriffe mit immer hitzigerer Gewalt fortgesetzt, bis sie hingestürzt sei. Da erst sei er mit großem Geklirr durch die Glasscheibe ins Freie gefahren, ihr aber seien die Sinne geschwunden.

»Es ist jetzt zu spät«, sagte der Bauer mit finsterer Stimme, »diesen Fall in aller Gänze zu untersuchen und zu klären, trotzdem ich glaube, daß unser Neffe hier uns mehr von dem Uhu und seinen Schandtaten berichten könnte, als wir hören möchten. Ja, wahrlich glaube ich jetzt auch, daß die finsteren Mächte noch einmal zum Angriff schreiten – und mit Dir haben sie ihren Einzug in dieses Haus gehalten, Neffe! – Doch diese Nachtstunde ist nicht die rechte Zeit, davon zu sprechen. Bringe die Zilli in ihr Bett, Monika, und tue alles, was rasche Heilung verspricht. – Du aber, Neffe, sammle das Verstreute ein und suche den Schlummer zu finden, der Dir vor dem Gerichtstage morgen so nötig ist.«

Nach diesen Worten gingen die drei, ohne sich noch einmal nach dem versteinert dastehenden Guntram umzuschauen, aus der Kammer. Allein stand er, das Licht erhoben in der Hand, und ein recht klägliches, hilfloses Lächeln verzog seinen Mund.

Schließlich seufzte er tief auf, stellte den Leuchter auf den Tisch und begann, wie der Ohm befohlen, wieder in die Lade einzuräumen, was auf dem Boden lag. Lange suchte er, er suchte, bis mit einem letzten Aufflackern der Docht im schwimmenden Talge ertrank – aber das zauberische Haar fand er nicht wieder. –


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