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Geschichte von der Murkelei

Es war einmal ein Vater, der wünschte sich viele Kinder, am liebsten ein Dutzend, sechs Jungen und sechs Mädchen. Es geschah ihm aber nicht nach Wunsch, sondern er hatte nur zwei: einen Jungen, den nannte er den Murkel, und ein Mädchen, das hieß er die kleine Mücke.

Weil ihm das aber nicht genug war, dachte er sich noch mehr Kinder aus, zu seinen zweien noch zwei, so daß er doch wenigstens ein Drittel Dutzend voll hatte. Von den ausgedachten Kindern nun nannte er das älteste Träumlein. Das war ebenso alt wie der Murkel und seine besondere Gefährtin; und wenn der Murkel ein Junge war, so war Träumlein ein Mädchen; war Murkel blond, so war Träumlein dunkel; war Murkel wild und laut, so war Träumlein sanft und leise.

In Wirklichkeit aber gab es Träumlein gar nicht, der Vater hatte sie sich nur ausgedacht. Keiner konnte Träumlein je erblicken, die Mutter nicht und der Murkel auch nicht. Nur der Vater sagte, er sähe sie immer, wann er nur wolle, und er wußte viel von ihr zu erzählen.

Und genau wie mit dem Träumlein war's mit dem Windwalt, den hatte sich der Vater als Spielgesellen für die kleine Mücke erdacht. Das war ein kleiner junge, rasch wie der Wind und immer vergnügt. Am liebsten lief er barfuß, und stets vergaß er sein Taschentuch. Oft sagte der Vater kopfschüttelnd zu der kleinen Mücke, wenn ihr die Nase fortlief: »Genau wie dein Bruder Windwalt! Wo hast du denn dein Tüchlein? Und natürlich kann dir Windwalt wieder mal nicht aushelfen, denn er hat auch keins!«

Wenn nun der Vater mit den Kindern ausging, und er machte das Hoftor auf, so liefen erst die Hunde durch: Plisch und Peter. Dann kamen die Kinder: Murkel und Mücke. Dann wartete der Vater ein Weilchen, um auch Träumlein und Windwalt durchzulassen, und nun erst kam er nach und machte das Hoftor hinter sich zu. Murkel und Mücke faßten den Vater an, eines rechts, eines links, und neben den beiden gingen wieder Träumlein und Windwalt. Wurde der Feldweg einmal sehr schmal, so mußten alle ganz eng nebeneinanderrücken, um Windwalt und Träumlein nicht ins Korn zu drängen. Voran aber tobte der Plischi, der noch jung war, und hintennach zottelte der Peter und ließ sich immer rufen, denn er war schon alt, viel älter als der Vater.

Wenn sie dann eine Weile so nebeneinander hergegangen waren und einander alles erzählt hatten, was der Tag mit sich gebracht hatte, Gutes wie Schlechtes, so rief der Vater wohl: »Kinder, nun lauft alle, und wer den Plischi zuerst greift, soll ihm ein Stück Zucker geben dürfen.«

Da stoben die Kinder los, und wer sonst sie laufen sah, sah nur zwei: den Murkel und die kleine Mücke. Der Vater aber sah vier, und er hastete hinterdrein, den keuchenden alten Peter auf den Fersen, und er feuerte die Kinder an und rief: »Mücke, faß doch den Windwalt an!« Oder: »Murkel, willst du mal das Träumlein nicht schubsen!«

Dann streckte die kleine Mücke die Hand aus, und wenn sie auch nichts faßte, so war ihr doch, als liefe sie nicht mehr ganz allein, weit hinter dem Murkel. Und auch der besann sich, sah sich um, wich zur Seite, während der Plischi, der wohl gemerkt hatte, daß die wilde Jagd ihm galt, immer fröhlicher voransprang und immer lauter bellte.

Am Ende aber blieb er doch stehen und ließ die Kinder zu sich, denn es war ihm wohl eingefallen, daß solch fröhliche Jagd stets mit einem Stück Zucker endete. Gab es dann Streit, wer ihn zuerst angefaßt hatte, der Murkel oder die Mücke, so war's keins von beiden gewesen, sondern etwa der Windwalt. Dann paßten die Kinder gut auf, wie der Vater dem Windwalt den Zucker gab. Der Windwalt aber war immer so heftig, daß der Zucker fast sofort aus der Hand des Vaters weiterflog in des Plischi Maul, oder aber zur Erde fiel, von der ihn dann die kleine Mücke aufheben durfte. Träumlein aber hatte immer lange Zeit, ließ den Zucker ruhig in Vaters Hand, und der Plischi mußte erst auf den Hinterbeinen stehen, gehen, tanzen – und machte er's sehr gut, flog plötzlich der Zucker durch die Luft in sein Maul – du sahest nicht woher.

Zuerst trauten die beiden Kinder ihrem Vater noch nicht recht und meinten, Träumlein und Windwalt seien so etwas wie die Frau Holle und das Aschenputtel aus dem Märchen. Aber wie der Vater immer dabeiblieb und ernst sagte, sie seien wirklich da, die beiden, und es gebe alles, was der Mensch nur ernstlich glaube, da gewöhnten sie sich völlig an ihre unsichtbaren Geschwister.

Besonders schön war das, wenn es dunkel geworden war, und die Kinder lagen in ihren Betten, die Eltern aber saßen noch in einem andern Teil des Hauses. Die Betten der beiden Kinder standen weit auseinander, und sie durften nicht miteinander sprechen, sie taten es auch nicht. Aber flüstern konnten sie, daß es das andere nicht hörte, und das taten sie dann auch: Murkel mit Träumlein, Mücke mit Windwalt. Um sie war die dunkle Nacht, vielleicht ging vor den Fenstern grade der Wind. Sie hörten die alte Linde an dem Hausgiebel rauschen, aber sie waren nicht allein: eines sprach, und eines hörte, sie durften alles erzählen, das Verbotene wie das Erlaubte – Windwalt und Träumlein schwatzten nicht.

Kam der Morgen, und ging der Murkel, der schon groß war, mit Schiefertafel, Lese- und Rechenfibel in die Schule, so blieb die kleine Mücke doch nicht allein. Sie saß vielleicht in ihrer Sandkiste und baute aus Kirschkernen, die immer zahllos von genaschten Kirschen um den alten Kirschbaum lagen, und aus Gänseblümchen einen Garten. Und wenn etwas nicht gelang, so war der Windwalt daran schuld, gelang es aber sehr gut, so mußte es der Windwalt bewundern.

Unterdes saß der Murkel in der Schule, und wenn auf allen Schulbänken vier Kinder sahen, auf der seinen saßen fünf, ohne daß es der Lehrer merkte: das war das Träumlein, das an seiner Seite saß. Und es war ein Wunder, was das Träumlein alles wußte und wie es half, wenn man zu rasch gelesen hatte.

»Wie heißt das Wort?« fragte der Lehrer streng, denn der eilige Murkel hatte »weiche« gelesen, weil er wußte, daß das lange Wort danach »Heuhaufen« hieß, und es war doch richtig, daß die Heuhaufen weich sind.

Sah er das Wort aber nun näher an, so merkte er wohl, es konnte nicht »weiche« sein, es lag kein »ei« in seiner Mitte, wie ein Ei im Hühnernest. Wenn der Murkel nun das Wort vor den Heuhaufen immer länger anschaute – und es war wieder mal so ein häßliches Wort, wie er sie gar nicht mochte, oben lang und unten lang – und er kam nicht darauf, und der Lehrer sagte schon ganz ungeduldig: »Na, wird's nun bald –?! Das ist ein ganz leichtes Wort!« – da war's dem Murkel, als spräche etwas ganz leise neben ihm das Wort.

Der Lehrer rief ungeduldig: »Willst du mal nicht vorsagen, Ursel!«

Aber darum brauchte sich der Lehrer nicht zu sorgen: was die Ursula Hartig sagte, dahin hörte der Murkel gar nicht. Auf das Träumlein hörte er. Und das Träumlein flüsterte lautlos, mit dem Mund an seinem Ohr, ja, es war beinahe, als flüstere sie es inwendig: »H und o macht ho – eine Silbe! H und e macht he, andere Silbe! Eine Silbe ho, andere Silbe he ...«

»Hohe Heuhaufen!« rief der Murkel laut.

»Das wurde aber auch Zeit«, sagte der Lehrer. »Setz dich!«

Und der Murkel setzte sich, ganz rot, nicht etwa, weil er sich schämte, sondern weil er so glücklich war. Er war aber so glücklich, weil ihm Träumlein geholten hatte, und er fühlte genau, das Träumlein gab es wirklich. Der Vater hatte recht, es war in ihm und um ihn, auch ein Kind war nie allein.

Es kam eine Zeit in dem Leben der Kinder, da wurde der alte Hund Peter sehr krank. Die Haare fielen aus, und er bekam Geschwüre über den ganzen Leib. Wenn die Kinder an seine Hütte liefen und fragten: »Wie ist es, Peter, der Vater geht mit uns aus – kommst du nicht mit?« – da hob der alte Hund mühsam den Kopf und sah die Kinder traurig mit seinen trüben Augen an und wedelte ein kleines bißchen mit seinem Schwanz.

Da fragte der Vater: »Wer von euch will hierbleiben und dem Peter ein wenig Gesellschaft leisten?«

Aber keins wollte es, nicht der Murkel, nicht die kleine Mücke.

»So müssen wir heute ganz ohne unsere Geschwister Windwalt und Träumlein gehen«, sagte der Vater. »Denn die bleiben nun hier. Das wird kein schöner Spaziergang.«

Und das wurde es auch wirklich nicht. Soviel die Kinder dem Vater auch zu erzählen hatten, mit der Zeit verstummten sie. Sie sahen über ihre Schultern, sie sahen rechts, sie sahen links – es war nur die Luft da, mit dem Sommerwind darin. Die war auch sonst da, doch sonst wußten sie, das Träumlein und der Windwalt waren in der Luft. Aber diesmal waren sie es nicht, diesmal waren die beiden daheim beim kranken Hunde Peter. – Und auch der Plischi schlich nur traurig mit und sprang nicht lustig wie sonst voraus, auch ihm fehlte sein Gefährte, der Peter.

Da drängten die Kinder, nach Haus zu kommen, so fehlten ihnen Windwalt und Träumlein. Als sie aber auf den Hof traten, war da ein Herr im weißen Mantel, das war der Tierdoktor, der sagte: »Ja, nun ist der alte Hund gestorben.«

Murkel und Mücke fingen an zu weinen, und nun tat es ihnen erst recht weh, daß sie nicht bei ihrem alten Freunde geblieben waren und daß sie ihm nicht Adieu gesagt hatten.

Sie begruben den Peter unter vielen Tränen auf der Wiese am Wasser, und am Abend fragten sie ein jedes seinen Gefährten, wie es mit Peter gewesen war, und sie hörten alles, Murkel von Träumlein, Mücke von Windwalt. Nun waren sie schon nicht mehr so traurig, denn es war ihnen, als seien sie doch ein ganz bißchen dabei gewesen.

So lebten die vier gemeinsam, und sie erlebten so viele Dinge miteinander, daß es gar nicht zu erzählen ist. Da war das eine Mal, daß die Kinder heimlich ins Boot gestiegen waren, und die kleine Mücke fiel ins tiefe Wasser und konnte doch nicht schwimmen. Der Murkel schrie, aber der Windwalt rannte wie der Wind, und der Vater kam aus dem Haus geschossen, schneller als eine Schwalbe, und holte die Mücke aus dem Wasser.

Ein anderes Mal waren die Kinder in die Priesterfichten gegangen, um die Nester von den alten Krähen hinunterzuschmeißen, die den ganzen Herbst und Winter zu Hunderten um das Haus krächzten, daß es ein Grausen war. Da verstieg sich der Murkel in einer Fichte und konnte nicht vor und zurück, und vor Hilflosigkeit und Angst fing er an zu brüllen. Die kleine Mücke aber lief aus Schreck fort. Da sah der Murkel nun oben, und die Krähen krächzten und schwirrten immer näher. Er meinte, vor Furcht zu vergehen, und hoffte, es käme jemand, der ihm hülfe. Es kam aber keiner.

Schließlich besann er sich auf das Träumlein, und sofort hörte er auch ihre leise Stimme, die immer war, als spräche sie in ihm. Sie wies ihm einen Aststumpf, auf den er den Fuß setzen konnte, einen Zweig, an dem Halt war. Sie sagte: »Mach nun die Augen zu, Murkel, und rutsch!« Und er machte die Augen zu und rutschte. Da war er heil und gesund unten.

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Träumlein und Windwalt waren immer da, sie machten, daß ein Kind nie allein war. Sie redeten und sie waren stumm, sie liefen um die Wette und saßen still, sie halfen und sie hatten immer Zeit, ganz anders als die andern Kinder im Dorf.

Nun wurden die Kinder größer und größer – da wurde wieder alles ganz anders. Denn da geschah es, daß die Mutter anfing zu schelten, und sie sagte: »Vater, was ist das für eine schreckliche Murkelei mit unsern Kindern –?! Das halte ich nicht mehr aus, und das mache ich nicht mehr mit! Die Mücke hat ihr Taschentuch verloren. Nein, sagt sie, der Windwalt hat's verspielt. Der Murkel läßt die Tür offenstehen; er soll sie zumachen. Nein, sagt er, er ist nicht zuletzt durchgegangen, das Träumlein war's. So geht es nun alle Tage: ist ein Klecks im Schulheft, war's der Windwalt; das Loch hat Träumlein in die Hose gerissen; die Katze Windwalt gezwickt; den Blumentopf Träumlein hinuntergestoßen – nein, was ist das für eine schreckliche Murkelei! Da finde ich nicht mehr heraus!«

Der Vater fragte die Kinder ernst, ob das wohl so wäre, ob alles Schlechte und Verkehrte die unsichtbaren Geschwister, alles Gute und Richtige aber Murkel und Mücke täten. Die Kinder senkten die Köpfe und antworteten nicht. Da sagte der Vater, er wolle es noch eine Woche mitansehen, sei es dann nicht anders geworden, so müsse er Träumlein und Windwalt in die Welt schicken.

In dieser einen Woche wurde ein Spiegel zerbrochen: hatte der Windwalt getan. Vaters Zeitung lag zerrissen beim Plischi in der Hundehütte, statt auf seinem Schreibtisch: hatte keiner verschleppt, vielleicht aber das Träumlein ...

So ging es immer weiter, bis der Vater die Kinder an der Hand nahm und mit ihnen hinausging in das Land, auf einen Berg, wo man die Seen, die Wälder, die Dörfer und die weiten, langen Landstraßen sieht. Es war ein grauer, windiger Herbsttag, die Kinder gingen still an des Vaters Hand, traurig zottelte der Plischhund hinterdrein.

Als sie auf die Höhe des Berges gekommen waren und das Land unter sich sahen mit den vielen Straßen, nahm der Vater seine eigenen Kinder bei der Hand, und er sprach: »Nun gehet hinaus in die Welt, Träumlein und Windwalt! Meine Kinder wollen jetzt große Menschen sein, da können sie euch nicht mehr gebrauchen.« Und er winkte ihnen zu und rief: »Ihr seid treue und hilfreiche Geschwister gewesen, dafür sollt ihr vielmals bedankt sein. Vielleicht kommt noch einmal wieder eine Zeit, da wir euch brauchen können. Dann kommt ihr wieder zu uns!«

Die Kinder fingen an, jämmerlich zu weinen. Denn wenn sie in der letzten Zeit schon nicht mehr so recht an ihre Geschwister geglaubt hatten, sondern immer gedacht hatten, sie sind nur ein Märchen vom Vater – nun, da sie grausam in die herbstliche, windige Welt gestoßen sein sollten, gedachten sie, wie die lieben Unsichtbaren Abend für Abend bei ihnen in den Betten gelegen hatten, und sie taten ihnen von Herzen leid. Doch vor allen Tränen hatten sie nicht gesehen, welche Straße Windwalt und Träumlein gegangen waren. Darüber bekamen sie schon auf dem Heimweg das Zanken, der Vater aber ging still nebenher, denn er hatte seine Kinder Windwalt und Träumlein von Herzen lieb gehabt.

Die Zeit ging und ging, und die Kinder wurden große Leute, die keiner mehr Mücke und Murkel nannte, sondern Herr und Fräulein, und sie hatten so viel zu tun und zu denken, daß sie ihre alten Geschwister fast ganz vergaßen und gar nie mehr an sie dachten. Nur der Vater, der nun sehr alt geworden war, dachte noch an sie, und er sprach oft mit der Mutter darüber, welch lustige Murkelei doch das Haus gewesen war, als darin noch die kleine Mücke, der Windwalt, das Träumlein und der Murkel lebten.

Nach abermals einer Zeit aber bekamen die Mücke wie der Murkel selber Kinder, und als diese Kinder größer geworden waren, verlangten sie, daß ihnen Mücke und Murkel erzählten, wie es gewesen war, als sie selbst Kinder waren. Da besannen sich Mücke und Murkel auf das Träumlein und den Windwalt, und sie erzählten ihren Kindern vieles von den beiden. Und den Kindern war es ganz so, als hätten Träumlein und Windwalt wirklich gelebt, und es waren doch nur ausgedachte Kinder!

So aber ist es auf dieser Welt: Wenn man etwas nur wirklich glaubt, so ist es auch da. Es gibt nicht bloß, was man mit Augen sieht und mit Ohren hört. Von Windwalt und dem Träumlein und von der ganzen Murkelei hast du eben noch nichts gewußt. Aber nun weißt du von ihnen, und nun sind sie auch da, siehst du wohl!

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