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Die verlorenen Grünfinken

Im Garten bei Rogges standen in einer kleinen Reihe beieinander zwölf Beerenobstbäumchen, immer abwechselnd ein Johannisbeer- und ein Stachelbeerbaum. Die Stämmchen waren einen guten Meter hoch, und auf ihnen saßen schöne, gutverschnittene, dunkelgrüne Kronen, so dicht, daß jedes leergepflückte Bäumchen doch immer noch die eine oder andere süße Traube oder Beere, die man übersehen, für den Sohn Thomas in seinem Innern barg.

Es war der Arbeiter Liebrecht, der entdeckte, daß in dem Krönchen der ersten Johannisbeere beim Haus noch etwas anderes saß. Alle Leute im Dorf und nun erst recht die auf dem Hof wußten schon längst, warum sich Rogges keine Katze hielten. So glaubte sich Liebrecht berechtigt, ohne weiteres in das Arbeitszimmer des Hausherrn einzudringen und ihn in den Garten zu holen.

»Was haben wir denn da?« fragte Rogge und bog vorsichtig die Zweige des Bäumchens auseinander – und unterdes zerrte Thomas an den Hosenbeinen des Vaters und bettelte: »Vati, ich auch! Ich auch!«

»So, so«, sagte der Vater, und seine Stimme klang ganz tief und glücklich. »Da brütet hier wahrhaftig ein Grünfink! – Ja, sehen Sie, Liebrecht, die Freude hätten wir nun wahrhaftig nicht, wenn wir uns Katzen hielten ... Katzen oder Vögel, anders ist es nicht auf dieser Welt eingerichtet. Und ich für mein Teil bin in meinem Garten mehr für Vögel. – Ja doch, Thomas, jetzt sollst du auch sehen ...«

Tom wurde hochgehoben, und nun spähte er durch die Zweige. Da saß der kleine Vogel mit dem schönen grünlichgelben Rücken und dem aschgrauen Nacken auf seinem Nest. Die Flügel mit dem zitronengelben Rand hatte er wie kleine Fächer neben sich ausgebreitet, und das Köpfchen drückte er ganz eng auf den Nestrand, denn es war wohl etwas ganz Schreckliches, in der grünen, sonnengesprenkelten Geborgenheit zwei solche große, weiße Gesichter aufgehen zu sehen: den großen Mond und den kleinen Mond ...

»Vati –!« fing Thomas an, und das kleine Vogelköpfchen drückte sich erschreckt noch enger in das Nest, über die blanken, schwarzen Augen ging ein paarmal schnell etwas wie eine grauweiße Haut ...

»Und du mußt leise sein«, sagte der Vater, »sonst fliegt er fort und kommt nie wieder, Tom. – So, nun hast du wohl alles gesehen, ja?«

Und er setzte den Jungen wieder auf die Erde.

»Aber warum fliegt er denn fort, Vati? Wir tun ihm doch nichts?«

»Ein Grünling hat immer Furcht, Thomas, weil er so klein und schwach ist. Du brauchst nur einen Hut in die Luft zu werfen, so denkt er, es ist ein Habicht, und versteckt sich.«

»Vati, wirf doch mal deinen Hut in die Luft.«

»Aber nein, Thomas, warum sollen wir ihn denn fortjagen? Er sitzt doch auf seinen kleinen Eiern. Und aus den Eiern werden wieder kleine Grünfinken, und die fressen allen Hedrichsamen in unserem Hafer auf, und das Schimmelchen kriegt schönen, reinen Hafer.«

»Vati, zeig mir mal die Eier, ich will die Eier sehen.«

»Das geht jetzt nicht, Tom«, sagte der Vater. »Wir dürfen ja den kleinen Vogel nicht fortjagen. Aber ich will dir etwas sagen: Manchmal fliegt die Finkenmutti fort, um sich Futter zu suchen. Nun stell dich hier auf den Weg und sieh immer scharf das Bäumchen an. Kommt sie herausgeflogen, so rufst du mich, ich hebe dich hoch, und wir sehen uns die Eier an.«

»Du brauchst mich gar nicht hochzuheben, Vati, ich hole mir meinen Tritt und seh allein hinein!«

Der Vater bekam große Furcht um die kleine Wochenstube in seinem Bäumchen. »Tom«, sagte er ernst. »Das darfst du unter keinen Umständen tun, allein hineinschauen. Immer rufst du mich oder die Mutti oder Herrn Liebrecht oder Herrn Schulz. Nie schaust du allein hinein, sonst fliegt der Grünfink fort, und wir bekommen keine kleinen Vögel ...«

»... und Schimmelchen hat schlechten Hafer ... Na schön, Vati.«

»Also, du versprichst es mir, Tom?«

»Geh jetzt weg, Vati. Ich steh hier und paß schon auf.«

Der Vater verschwand hinter den Büschen, aber er ging nicht weit, er blieb hinter ihnen stehen. Sein kleiner Sohn stand auf dem gelben Sandweg in der hellen Sonne und sah zu dem Bäumchen hinüber. Was das wohl werden wird? fragte sich der Vater sorgenvoll. Wie lange er das wohl aushalten wird?

Der Sohn stand, mit Schatten und Sonne im Gesicht, wie eine Mauer. Der Vater wartete. Recht gerne hätte er sich eine Zigarre angezündet, aber dafür war er nicht weit genug ab. Der Sohn hatte ausgezeichnete Ohren, die ein angerissenes Streichholz wohl hörten, und eine vorzügliche Nase für Zigarrenrauch.

Thomas kratzte mit dem Fuß im Wegesand und stand wieder still. Der Vater fand, er hatte eine unnatürliche Ausdauer. Ihm wurde die Zeit etwas lang. Über dem Garten hing die Sonne, der Wind kam leise, und die Blätter rauschten auf, er ging wieder, und nach kurzem Flüstern wurde es still. Es war so still, daß man den hellen, stählernen Klang der Hacken gegen einen Stein vom Kartoffelfeld hinter dem Haus her hörte.

Dennoch mußte der Vater in der guten Wärme ein bißchen gedöst haben, denn als er wieder hinsah, stand kein Thomas mehr auf dem Gartenweg. Aber das Kind stand unter dem Johannisbeerbäumchen – und klopfte sachte mit dem Zeigefinger an.

»Thomas!« wollte der Vater rufen und schämte sich doch seiner Spioniererei. Nein, er rief nicht, er ging sogar einen Schritt, zwei Schritte, mehr Schritte zurück. Hab ihm ja was aufgelegt, dachte er, mißvergnügt mit sich, was er gar nicht tragen kann.

Der kleine Neugierige klopfte weiter an. Der Erwachsene, im Widerstreit zwischen Vogelsorge und Pädagogik, ging um die Hausecke, entzündete eine Zigarre und schritt, laut sich räuspernd, auf den Sohn zu.

»Vati«, sagte der, gar nicht verlegen im Gegensatz zum Aufpasser Vati. »Ich klopf immerlos an, und immerlos macht der kleine Vogel ›piep-piep‹. Vati, heißt das ›herein‹?«

»Also sehen wir noch einmal hin«, sagte Herr Rogge, in sein Schicksal ergeben. »Aber dann gibst du für heute Ruhe, versprich mir das, Thomas.«

»Heb mich hoch«, sagte der Sohn, und – burr! – huschte der Grünfink mit »Tschick-tscheck!« aus dem Geäst.

»Haben wir sie doch zuviel gestört«, sagte der Vater betrübt, und nun sahen die beiden in das Nest. Sechs Eierchen, bläulichweiß mit bleichroten Pünktchen, lagen darin.

»Oh, Vati!« sagte Thomas begeistert.

»Ja, Tom«, antwortete der Vater, nicht minder froh. »Wie nett das aussieht, nicht wahr? Wir wollen sie nun aber auch gar nicht mehr stören, nicht wahr? Wenn das erst alles kleine Vögelchen sind ...«

»Piep-piep!« machte es.

»Sieh doch, da sitzt sie ja!« rief Herr Rogge. Und auf der Hängeweide, fordernd »piep-piep« rufend, saß der kleine Grünling und sah die beiden mit seinen flinken schwarzen Augen an. »Nun wollen wir aber gehen und ihn nicht wieder stören. Komm, Thomas.«

Keine zwei Schritte waren sie fort, da schwirrte es an ihnen vorüber, zwischen die engen Zweige schlüpfte der Vogel, weg war er!

»Süße kleine Grünfinkenmutti«, schwärmte der Sohn, nicht ganz ehrlich, sondern etwas begehrlich, schien's dem Vater. »Wann kommen die Jungen? Heute noch? Wie kann man sehen, Vati, was eine Finkenmutti und was ein Finkenvati ist? Wo ist der Finkenvati?«

An der Hand nahm der Vater den Sohn mit ins Zimmer, sah mit ihm Bücher und Bilder an, erst von Finken, dann von andern Vögeln, dann von Eisenbahnen, Autos, Fliegern, bis der Finkensturm beruhigt war, bis der Sohn ohne Sorge wieder in den Garten entlassen werden konnte – mit dem Verlangen, in der Sandkiste eine Autostraße zu bauen, mit Großgarage.

Ja, es war gelungen. Ohne Störung von Katze und Kind konnte das kleine Vogelpaar in den nächsten Tagen und Wochen Brut- und Pflegegeschäft verrichten. Gar manches Mal gingen zwar noch Vater und Sohn unter das Johannisbeerbäumchen, sahen und flüsterten. Aber die erste, die schlimmste Gefahr war abgewendet. Vogelmutter und -vater lernten die beiden Besucher kennen, die großen Monde, und nicht mehr drückten sie ängstlich die Köpfe gegen den Nestrand, gingen sie auf. Sondern sie warteten höchstens einmal mit ungeduldigem »Piep-piep« auf den Untergang der beiden lichtlosen Trabanten oder flogen auch gar, ganz dem Futtergeschäft hingegeben, unbekümmert ein, den gierig aufgesperrten, bettelnden Schnäbeln entgegen.

Jawohl, die Eierschalen waren zerbrochen und über den Rand geworfen worden. Jämmerliche, häßliche, gelbhäutige Bündelchen, schwärzlich gespickt, waren daraus hervorgekrochen. Und nie hatte Thomas glauben wollen, daß aus ihnen eines Tages etwas werden sollte wie die säuberlichen, hübschen Grünfinken, die die Eltern abgaben. Ungestört wuchsen sie, hatten Hunger, und unermüdlich trugen die Eltern ihre Sämereien hinzu.

Enger und enger wurde es im Nest. Kamen Vater oder Mutter mit Futter im Schnabel, so drängten sich die Jungen, einander mit den Flügelstumpen stoßend, auf dem Nestrand, daß man in Furcht geriet, sie möchten sich gegenseitig in die schwindelnde Tiefe stoßen.

»Bald fliegen sie aus, Thomas«, sagte Herr Rogge glücklich. Sicher, es war eine kleine, eigentlich etwas lächerliche Freude; aber das Leben ist nicht ganz schlecht, das auf den ersten frühen Morgengang solche kleine Freude bereithält.

»Wann fliegen sie? Heute noch?« fragte Thomas begierig.

»Das weiß man nicht. Heute, morgen, übermorgen – man muß eben warten.«

Miteinander gingen sie gegen das Haus zurück, Herr Rogge an seine Arbeit, Thomas entschlossen, im Dorf nachzusehen, ob dort nicht ein Gefährte zum Autospielen zu finden sei.

Drei Stunden später, gegen Mittag, erhob sich Herr Rogge, um seinen gewohnten Rundgang durch Hof, Garten, Feld zu machen. Im Stall traf er Herrn Schulz, und die beiden sprachen ein paar Worte über die Schweine, die jetzt besser fraßen.

»Fischmehl bleibt eben Fischmehl.«

»Aber sechs Wochen vor dem Schlachten muß man damit aufhören.«

»Sonst ist der Speck gelb ...«

»... und schmeckt tranig.«

»Jawohl«, bestätigte Herr Rogge und trat auf den sonnigen Mittelsteg des Gartens hinaus. Es war strahlend hell, der Himmel strahlend blau, strahlend grün das Laub, strahlend bunt das Geblüh. Über den Feldern vorne und rechts sangen, jubelten die Lerchen, zwei Wasserhühner jagten sich spritzend auf dem See, friedevoll stieg der Mittagsrauch aus allen dörflichen Schornsteinen drüben auf dem höheren Seeufer.

Friedevoll ...

»Tschick-tscheck!« klang es jämmerlich schreckhaft von der Hängeweide.

Unter dem Johannisbeerbäumchen stand der kleine, dreistufige Fensterputztritt, den der Thomas sich so gerne zum Spielen holte ... Herr Rogge bog die Zweige sachte auseinander ...

Friedevoll ...

Sinnlos leer sah ihn die kleine verwunschene Blättereinsamkeit an ... nackte Zweige ... keine Spur eines Nestes ... leer ... fort ...

»Tschick-tscheck!« klagte die Grünfinkenmutter.

Herrn Rogges Herz klopfte stark. Es ist nicht möglich, dachte er. So was tut mein Thomas nicht.

Er sah auf die Erde. Ach, keine Spur, keine verflogene Feder, kein hilfloses Junges, kein Rest des heimlichen Nestes ...

Herr Rogge lief, Trauer und Zorn im Herzen. So sinnlos ..., dachte er. Morgen wären sie vielleicht schon ausgeflogen gewesen ... Vierundzwanzig Stunden – und das Schicksal greift zu! Das Schicksal?!

Herr Rogge lief. Ja, es war ein Unglück, es war ein Fleck, es war eine Schändung. Er lief, aber nicht nur vom Laufen war sein Gesicht rot, nicht nur vom Laufen waren seine Hände schweißnaß ...

In der Sandkiste war Thomas nicht. Am Wasser war er nicht. Beim Stall war er nicht. Aber in der Schaukel saß er, mit einem andern Jungen schaukelte er – war das nicht der Walter Rehberg aus dem Dorf?

»Och, Vati, sieh mal, wie fein wir zu zweien ...«

Er brach ab, das Gesicht des Vaters erschreckte ihn, auch sein Gesicht verzog sich – in Angst.

Der Vater hielt die Schaukel an, hob seinen Sohn zur Erde, stellte ihn hin – auf den Walter Rehberg achtete er gar nicht: »Thomas, was ist mit den Grünfinken –?«

Mit zitternden Händen hielt er den Sohn vor sich und sah ihn liebevoll-ängstlich an. »Thomas?!« bat er.

Das Gesicht des Jungen verzog sich, schon brüllte er los, weinte ...

»Thomas!« bat der Vater. »Brülle jetzt nicht. Ich tu dir nichts. Aber sage, wo sind die Grünfinken? Unsere kleinen Vögelchen?«

Stoßweise kam es, zwischen Schluchzen und Brüllen, kaum verständlich: »Ich hab sie nicht ins Wasser geschmissen ...«

Der Vater ließ den Jungen los, plötzlich war die Erregung vorüber. Er sah deutlich, wie in einem Traum, in dem man auch machtlos vor dem geöffneten Schreckenspanoptikum seines Ichs steht – er sah deutlich die böse Hand, die nach dem Nest mit der sechsfachen Hilflosigkeit, dem Leben anempfohlen, griff ... Er hörte quälend laut das erschrockene, angstvolle »Tscheck-tscheck!« der beraubten Vögel ... Er sah den geschäftigen, heimlichen Lauf zum See auf den kleinen Landungssteg ...

Er selbst lief mit, hilfloser, träumender Schemen, lief mit, stand daneben ...

Und dann wurde das Nest geschüttelt, sie fielen eines um das andere, vielleicht jammerten sie noch, aber bestimmt jammerten die Eltern in der Luft ... Es gab genug Menschen in Haus und Hof, aber in dieser Viertelstunde war keiner in der Nähe, das Unheil zu verhindern ...

Es war kein Unheil, sechs wertlose Vögel ... Herr Rogge erinnerte sich aus Büchern: Nester ausnehmen war ein beliebter Spaß. Es war pure Sentimentalität von ihm, jawohl!

Der Junge Thomas brüllte seine Leier weg, weil er eben damit angefangen hatte, und als vorsorgliche Schutzmaßnahme gegen etwaige Übergriffe des Vaters ... Aber in seinem Herzen hatte dies nun, was die Eltern bisher sorglich verhindert hatten, Einzug gehalten: die Vergewaltigung des Hilflosen, die dumme, lebensfeindliche, zerstörerische Lehre von der brutalen Macht des Stärkeren ...

»Ich bin's nicht gewesen!« jammerte der Fünfjährige.

Herr Rogge sah auf. Der andere Junge, der große, zwölf- oder vierzehnjährige (er kam in diesem Augenblick Herrn Rogge unendlich alt, völlig verantwortlich und ganz verderbt vor), stand dabei und grinste.

»Hast du sie reingeworfen?« fragte Herr Rogge.

»Joa!« sagte der Walter Rehberg.

»Aber warum?! Warum in aller Welt?!« drängte Herr Rogge in einem Anfall seiner ersten Erregung.

»Einfach so«, sagte der Junge dickfällig. »Olle Dreckvögel.«

Herr Rogge atmete tief ein. Er faßte seinen kleinen, geliebten Jungen bei der Hand, und – »Mörder!« schleuderte er dem andern ins Gesicht. Er machte ein paar Schritte mit seinem Thomas und drehte sich wieder um: »Komm du mir noch einmal auf den Hof! Spiele du noch einmal mit meinem Jungen! Deinem Vater werde ich es sagen, deinem Lehrer! Solche Prügel müßtest du haben! Marsch, fort! Aus den Augen!«

Herr Rogge schwieg erschöpft. Verlegen grinsend, gänzlich verständnislos setzte sich der junge Rehberg in Trab und verschwand um die Stallecke. –

Hand in Hand gingen Vater und Sohn in den Garten zurück. Das Schluchzen in der kleinen Brust hatte sich beruhigt wie der Zorn in der breiten. Nur ein Gefühl wehmutsvoller Trauer war dem Vater verblieben, und von ihm suchte er dem Sohn ein wenig zu vermitteln, indem er dem Knaben die beraubte Stelle im Bäumchen zeigte. Indem er ihm begreiflich zu machen suchte die Lücke im eigenen Leben, kein froher Anlaß mehr, allmorgendlich ins Grüne zu spähen, Zu- und Abflug der fütternden Eltern zu beobachten ...

»Och, Vati, sie wären ja doch gleich weggeflogen!«

Etwas unwirsch nahm Herr Rogge seinen Thomas wieder bei der Hand und ging mit ihm hinunter zum See. Ausgerodet mußte werden, ehe sie noch recht anwuchs, die Saat des Unheils. Und auf dem Steg stehend, über die Wasserfläche spähend, suchte er dem Sohne recht klarzumachen, wie jammervoll das Schicksal der armen kleinen Ertrunkenen sei, wie sie nie würden fliegen können, nie Unkrautsamen sammeln in Feld und Garten, nie ihr frohes, kleines Lied singen ...

Es gelang ihm gut, was er wollte.

In ein recht kummervolles, herzabstoßendes Weinen brachte er sein Kind, in ein Weinen, das nicht aufhören wollte und das immer wieder von dem Ruf unterbrochen wurde: »Mach sie wieder da, Vati! Ich will meine Grünfinken wiederhaben ...«

Es ist eine schwierige Sache mit der Erziehung der Kinder zu rechten Menschen. Nicht tragbar wäre es dem Herrn Rogge erschienen, daß sein Sohn über diesen kleinen Weltuntergang, ohne ihn überhaupt zu merken, hinweggeglitten wäre. Als er dann aber abends im Bett lag, neben dem Bett seiner Frau Dete, und sie lasen noch ein bißchen und plötzlich weinte das Kind nebenan auf aus tiefstem Schlaf und sie liefen hinzu und konnten ihn erst gar nicht ruhig kriegen und »So ein schlechter Traum! Böser, böser Vogel!« – ja, da war es nun auch wieder nicht ganz richtig geworden.

Und als nun Frau Dete ganz sachte fragte: »Hast du es nicht wieder einmal ein bißchen übertrieben, Zips?«, da konnte Herr Rogge nur reumütig antworten: »Vielleicht. Ja, beinahe sicher. Aber was soll man denn nun eigentlich tun? Man kann doch auch nicht alles laufen lassen, wie es läuft?«

»Der Thomas jedenfalls hätte die Pieper nie ins Wasser geworfen«, sagte Frau Dete überzeugt. »Und von einem Fünfjährigen darfst du auch noch nicht deine Altersweisheit verlangen, mein lieber Fünfunddreißigjähriger du!«

»Ja, ich bin und bleibe ein Schaf«, sagte Zips reumütig. »Und ich möchte gerne nur einmal im Leben kapieren, wie die andern so was machen und wie die andern mit so was zurechtkommen.«

»Das ist ein wunderschönes Problem zum Nachgrübeln beim Einschlafen für dich«, sagte lachend Frau Dete. »Denn nun machen wir das Licht aus. Wenn mich nicht alles täuscht, gibt es morgen einen recht stürmischen Tag bei unserm Tom, mit aller nur erdenklichen Meckerei und Streitsucht. Und daß wir über den recht ausgeschlafen und ausgeruht fortkommen, ist immerhin wünschenswert.«

Und damit ging das Licht wirklich aus bei den Rogge-Eltern, sie schliefen ein, denn es ist nicht anzunehmen, daß Herr Rogge noch besonders lang und besonders eindringlich über die Frage nachdachte, wie denn eigentlich die andern zurechtkamen.

Aus der Nacht kam der Tag, und es kamen viele Tage; aus dem Frühsommer wurde Sommer und Herbst. Thomas spielte und tollte sich durch das Jahr und war abends so müde, daß kaum je noch ein »schlechter« Traum seinen Kinderschlaf störte. Ob er je der Grünfinken gedachte, das war nicht festzustellen, denn er sprach nie wieder ein Wort von ihnen. Die andern aber erinnerten ihn auch nicht daran, solche Weisung war sofort am nächsten Morgen ergangen. Der einzige, über den Rogges keine Gewalt besaßen, der »infame Bengel«, der Walter Rehberg, war nicht mehr als Spielgefährte ihres Sohnes feststellbar – vielleicht war ihm der etwas sehr lächerliche Ruf »Mörder« doch in Knochen, und Gewissen gefahren. –

Die Birnen wurden reif, und die Pflaumen wurden reif, sie nahmen die Äpfel von den Bäumen, und dann hackten sie die Kartoffeln aus der Erde. Statt Sonnenschein gab es nun Wolken und Regen, und der Wind pfiff viele Tage um das Haus. Das Jahr neigte sich seinem Ende zu.

Nicht zu allen Zeiten mehr konnte der Thomas im Garten spielen, manche Stunde saß er bei seinen Sachen im Kinderzimmer. Wenn ihm das aber langweilig wurde, stieg er auf den dämmrigen Hausboden hinauf, und da fand er zwischen altem, eng gestapeltem Hausgerät, Koffern voll seltsam riechender Kleider, Flaschen, Vasen, Schachteln und Kisten, dem Tannenbaumschmuck des vorigen Jahres kein Ende des Entdeckens, Bauens, Spielens. Ganze Entdeckungsreisen konnte er machen, über die sorgsam geschaufelten, glattgerechten Futterhaufen des Herrn Schulz fort bis in die fernsten dunkelsten Winkel, wo ein altes Steuerruder stand und wundervoll bunte Bilder, mit dem Gesicht zur Wand, und Koffer, vollgeklebt mit vielfarbigen Zetteln.

Dort, in einem solchen Winkel war es, daß er einen kleinen Karton fand mit seltsam haarigen Halbschalen an langen Drähten, Dingen, deren Verwendung man sich mit keinem Gedanken ausdenken konnte und die doch eine vage Erinnerung an Eis, Kälte, Gezwitscher aus seinem vergangenen Leben wachriefen. Dieses schemenhafte Erinnern machte es vielleicht, daß er, den Karton mit beiden Armen vor der Brust haltend, seinen Rückmarsch antrat. Mit Roggen füllte er seine Schuhe, und mit Erdnußkuchenschrot puderte er sie, aber er kam bis zur Treppe, die hinabführte in die wärmeren, helleren Bezirke der Einwohner.

Die Bodentreppe war steil, ein Fünfjähriger mußte immerhin mindestens an einer Seite das Geländer anfassen. Damit aber war der Karton nicht mehr tragbar – und in diesem Zwiespalt nahm Thomas ihn und warf ihn von sich voraus die Treppe hinunter.

Was man so die Ungezogenheiten der Kinder nennt, ist oft nur ihr Mangel an Erfahrung. Hätte Thomas das Geschepper und Geklapper der holzigen, haarigen Halbschalen auf den Treppenstufen vorausgesehen, sicher hätte er eine andere Beförderungsart gewählt. So aber stand er verblüfft noch oben, als unten auf der einen Seite der Vater aus seinem Arbeitszimmer, auf der andern die Mutter aus der Küche gestürzt kamen. Meinten sie doch, ein Kind Tom liege auf dem Flur, in viele Stücke zerbrochen. Es waren aber nur ...

»Sieh da, die Kokosschalen!« sagte Frau Dete, etwas spitz. »Zips, hast du mir nicht vorigen Winter gesagt, sie seien verschwunden?!«

»Und das waren sie auch!« antwortete Herr Rogge. »Den ganzen Boden habe ich nach ihnen umgedreht. Weiß der Henker, woher sie jetzt gekrochen kommen!«

»Man muß euch Männer nur einmal forträumen und dann wieder holen lassen«, murmelte die Frau, aber doch immerhin so leise, daß Herr Rogge es mit Anstand und ohne Feigheit überhören konnte.

»Thomas, mein Sohn!« rief er. »Du hast helle Buxen an, es hat keinen Zweck, daß du dich da oben ins Dunkle zurückziehst, man sieht dich doch. Steige herab, du gewaltig lärmendes Kind, und erzähle uns, woher du diese Kokosschalen gezaubert hast.«

Herrn Rogge verführte sein beweglicher Geist oft, so bilderreich zu reden, und diese bilderreiche Sprache verführte wieder den Sohn, keine vernünftige Auskunft zu geben, sondern »Kratsch« zu machen. Auf das Wort vom Zaubern hin verzerrte Thomas die Züge zu etwas, was er für das furchterregende Gesicht einer Hexe hielt, mit »Hu-Hu!« sauste er die Treppe hinab, grade seiner Mutter in die Röcke, und kniff sie so, daß sie wirklich aufschrie.

Es dauerte eine ganze Weile, bis der Trubel aus Schelten, Huhen, Festhalten sich auflöste und der eine Teil erfuhr, daß die Kokosschalen in der Ecke beim Steuerruder gestanden hätten – Dete: »Aha, dacht ich's mir doch!«, und Zips: »Nun sage mir um alles in der Welt, was du dir gedacht hast! Gar nichts, bitte schön!« –, und bis der andere Teil erfuhr, daß diese Kokosschalen vor zwei Wintern zum Vogelfüttern gedient hätten.

»Und was haben die Vögel letzten Winter gefressen? – Gibst du den Vögeln nicht jeden Winter zu fressen, Vati? – Wann ist jetzt Winter? Gleich oder bald? – Mutti, was tust du in die Schalen? – Vati, was ist Palmin? – Vati, willst du mir bitte mal ganz genau sagen, wie Palmin gemacht wird?«

Und so weiter und so weiter. Bis das Elternpaar floh, jedes in sein Reich zurück, und Thomas allein blieb mit den wiedergefundenen, einst heiß umstrittenen Futterschalen, um die sich doch nun wieder kein »Großes« kümmerte.

Aber in Verlust gerieten sie diesen Herbst doch nicht wieder. Eine Weile lagen sie ziemlich nutzlos im Kinderzimmer umher, und während dieser Weile elendete Thomas seinen Vater recht mit der Frage: »Vati, wann füttern wir die Vögel? Vati, ist noch nicht Winter?« – Aber dann fand Thomas eine Verwendung für sie, er machte sie zu Vorratsgefäßen seines Kaufladens und füllte die eine mit Erbsen, die zweite mit Bohnen, die dritte mit Bonbons – und ein Grauen war es, fand Frau Dete, wieviel gute, teure Kolonialwaren in eine solche halbe Kokosnuß hineingingen. –

Die letzten Blätter waren von den Bäumen gefegt, der Garten hatte vor Nässe getrieft, alle Wege quatschten, und alle kleinen Jungenschuhe waren immer feucht vom Waten durch alle Pfützen. Dann drehte der Wind von West über Nord nach Ost, in den Nächten – und sie kamen jetzt so früh – war der Himmel ganz hoch, pechschwarz, strahlend, funkelnd mit tausend Sternen.

Eines Morgens war es so hell im Zimmer des kleinen Tom beim Anziehen, und als die Mutter lächelnd die Gardinen zurückzog, war das Land weiß, weiß. Weiß!

»Schnee!« jubelte Thomas. »Mein Schlitten!« schrie Thomas.

»Heute füttern wir die Vögel zum erstenmal«, sagte Frau Dete, aber noch ging das unter in der ersten Seligkeit über den reinen, kühlen Himmelsgruß. Jauchzend wälzte sich Tom im Schnee, kugelte Abhänge hinab, stapfte in die tiefsten Wehen – wurde hereingeholt, unter brüllendem Protest, klamm wie ein Scheit Holz im Walde und naß wie ein Schweinsrüssel. – Wurde trocken angezogen – und die Mutter sah nur einen Augenblick nach dem Essen, schon war er wieder draußen, jauchzend, jubelnd – »Rein verdreht ist der Bengel heute!«

Erst nach dem Kakaotrinken am Nachmittag – es dämmerte schon wieder – fand Thomas Zeit und Lust, der Küche einen längeren Besuch abzustatten. Seltsames, unbegreifliches Tun der Frauen! Haustochter Isi hatte einen Haufen alter Speckschwarten vor sich, piekte in jede ein Loch und zog säuberlich einen Bindfaden hindurch, an den sie sorgsam eine Schlinge machte. Haustochter Käti stand am Herd und briet etwas, und die Mutti hatte alle Kokosschalen vor sich stehen und füllte sie aus einer Tüte und der Bratpfanne Kätis.

Eigentlich wollte Thomas zuerst einmal gründlich meckern wegen der unberechtigten Benutzung »seiner« Kokosnüsse, aber dann war es doch zu interessant, wie die Mutti einen weichen Brei aus Hanfsamen, Sonnenblumenkernen, Raps, Rübsen und Palmin einfüllte, wie die durchsichtige, helle Masse sich langsam mit einer weißlichen Haut überzog und dann grau und fest wurde.

»Morgen hängen wir sie dann den Vögeln hin.«

»Morgen –? Heute, Mutti!«

»Heute ist es schon zu dunkel, Thomas. Heute schlafen die Pieper schon.«

»Und was haben die Pieper heute gefressen?«

Es hatte noch mehr geschneit über Nacht, durch noch höheren Schnee als am vorigen Tage gingen sie von Baum zu Baum, und hier hängten sie eine Speckschwarte auf und dort eine Kokosschale. Der Garten war so still und leer, das Land vom Frost so weit und hell.

»Wo sind denn all die Pieper, Vati?« fragte Thomas. »Es gibt ja gar keine Pieper mehr.«

Trotzdem hängten sie weiter auf: »Du wirst schon sehen, Thomas!« Und die alte Linde vor Toms Fenster bekam zur dicksten Schwarte zwei Schalen! Da stand nun der kleine Thomas, und manchmal lief er auch durch den Garten, aber es war alles nur solch Erwachsenen-Unsinn. »Es gibt ja gar keine Vögel mehr, nur noch die Raben.«

Es war langweilig – und mit dem Schlitten die Wiese zum See hinabzugleiten war tausendmal besser. –

Aus dem Bett, wie sie waren, sprangen Herr und Frau Rogge von einem Schrei. Im Schlafanzug stand der kleine Thomas an seinem Fenster, drückte sich an der Scheibe die Nase breit und jubelte atemlos: »Die Grünfinken ... Die Finken! Mutti, Vati – unsere Finken sind wieder da!«

Er sah die Eltern an mit glänzenden Augen, mit Augen voll tiefen, geheimnisvollen Lichts seligster Freude, und dann sah er wieder zu seiner Futterstelle hin. Und wirklich hingen da schaukelnd zwei Grünfinken an den Schälchen, pickten, fraßen ...

»Unsere Grünfinkenmutti! Unser Finkenvati –!«

Glück! Glanz aus dem Paradiese. Seligkeit, wie sie später nie wieder kommt.

Noch mehr Seligkeit –?

Es flattert, es huscht um die Stallecke. Mehr Finken, atemlos zählt Thomas: »Eins, zwei, vier, drei, sechs – oh, Vati, die ertrunkenen Pieper sind wieder da! Sechs Stück! Oh, Vati, Mutti, sie sind gar nicht ertrunken, sie sind wieder gut mit mir – unsere Grünfinken!«

Frau Dete hätte gar nicht mahnend die Schulter ihres Zips zu berühren brauchen – was hieß hier Pädagogik! Was hieß hier Lügen?!

»Richtig«, sagte Herr Rogge und räusperte sich. »Unsere Finken sind wieder da – und grade zu dir sind sie gekommen, Tom.«

»Unsere versoffenen Finken ...«, sprach das Kind und atmete selig tief, als sei eine Last von seinem Herzen.


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