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Häusliches Zwischenspiel

Die Post am frühen Morgen hatte dem Vater einen Brief gebracht, einen umfänglichen Brief vom Finanzamt. Gewissenhaft notierte Briefträger Limburg das Datum der Zustellung auf dem Umschlag – genau sah der fünfjährige Thomas dem zu.

»Guten Morgen, Herr Rogge«, sagte der Postbote, und die Tür klappte zu. Der Vater saß schon über seinem Brief, er las eifrig, die Stirne gerunzelt ...

»Vater«, ließ sich Thomas' helle Stimme hören, »warum hat denn Herr Limburg eine Zwei und eine Drei auf dem Umschlag gemalt? Vater, kann ich den Umschlag behalten –? Vater, gib mir mal eine Schere, ich will mir eine Brille aus dem Umschlag schneiden ...«

Das stimmt doch nicht, hatte der Vater gedacht und schon den Schreibtisch auf der Suche nach dem Bankbuch aufgeschlossen, ich habe doch einmal im Juni und einmal im Mai überwiesen ... Aber nun riß die Kette ab.

»Gib mir sofort den Umschlag her, Tom! Wie kannst du mir den fortnehmen?! Ich brauche ihn doch noch ...«

»Wozu brauchst du denn den Umschlag noch –? Ollen, dreckigen Umschlag!« Und Thomas retirierte gegen die Tür.

»Tom! Den Umschlag!« rief der Vater streng.

»Aber woraus soll ich mir denn eine Brille machen?« fragte Thomas kläglich und öffnete vorsichtshalber die Tür zum Eßzimmer. »Es ist nicht mal 'ne Marke drauf!«

»Hör mal zu«, sagte der Vater überredend und sah sehnsüchtig nach dem Brief auf dem Schreibtisch, der sofort beantwortet, richtiggestellt, zurückgewiesen werden mußte. »Du hast doch gesehen, wie Onkel Limburg was auf den Brief geschrieben hat?«

Keine Antwort, muffiges Schweigen.

Der Vater überging das vorsichtig. Er mußte raschestens an seinen Brief. »Das muß Vater aufheben, was Onkel Limburg geschrieben hat, verstehst du?«

»Gib mir deine Schere, Vater«, sagte Thomas mit schwerem Entschluß. »Ich schneide dir das Eckchen raus. – Es ist nur ein ganz kleines Eckchen ...«, setzte er, wie sich selbst überredend, hinzu.

»Ich will aber nicht das Eckchen, ich will den ganzen Umschlag, Tom!« rief Herr Rogge unmutig, und es war beinahe, als seien die Rollen zwischen Vater und Sohn vertauscht und als sei es jetzt der Vater, der da meckerte. »Und nun mach zu, Vater muß arbeiten.«

»Du hast aber gesagt, du willst nur haben, was Onkel Limburg geschrieben hat!« rief Thomas trotzig und retirierte aus dem Eßzimmer auf die Veranda.

»Nun aber Schluß!« schrie der Vater. Ja, es muß gestanden werden, der Vater schrie ganz unlogisch auf eine recht logische Antwort des Sohnes. »Sofort gibst du den Umschlag her!«

»Ich will aber eine Brille haben ...«, jammerte der Sohn dagegen und lief die Stufen von der Veranda in den Garten.

»Tom!« brüllte der Vater. »Sofort kommst du –!«

Aber Thomas war schon um die Ecke vom Holzstall. Ist man zornig, gibt es kein Besinnen; der Vater stürzte wütend hinterdrein. Jauchzend merkte der Fünfjährige, daß sein Vater mit ihm Haschen spielte, er warf die langen Beine und verschwand, den schon arg zerknitterten Umschlag in der erhobenen Faust, um die Küchenecke. Der Vater stürmte schwerer hinterdrein, seine Beine waren noch schlank, aber sie trugen ein Bäuchlein. Diese elende Kurzatmigkeit! dachte er, um die nächste Ecke stürmend. Ich muß wieder mal zum Doktor ... Dieser ungezogene Bengel!

Aber es kam ihm nicht mehr vom Herzen, der Zorn war verflogen, durch den morgenfrischen, sonnenblitzenden Garten, immer um das Haus herum, stürmten Vater und Sohn.

Vom Küchenfenster beobachteten Käti, Isi und die Frau Dete den Umlauf mit Staunen. »Was ist denn jetzt los?« rief die Frau.

Stürmend keuchte der Vater: »Umschlag ... gemaust ... helfen ... Tom ...«

Aber Tom war schon an den Mistbeetfenstern vorbei zum Stall gerannt und verschwunden. Als der Vater in den Stall kam, sah sich das Hellapferdchen nach ihm um, die Erikuh muhte leise und mahnend nach Wasser, die drei Schweine grunzten übersatt in ihrer Box – aber kein Tom! Herr Rogge sah hinter die Futterkiste, in die Ecke mit dem Pferdegeschirr, er rief drei- oder viermal »Tom!« – natürlich ohne Ergebnis. So gab er denn der Kuh erst einmal Wasser, und da der Schimmel sich so hatte, dem auch. Über dem Warten, daß der Stalleimer ausgesoffen war, beruhigte sich sein außer Rand und Band geratener Atem, und Herr Rogge dachte: Ich könnte das Datum der Zustellung, also den heutigen Tag, eigentlich auch auf dem Brief notieren. Ich brauche den Umschlag gar nicht.

»Aber ...« rief er mit einem Stoßseufzer bei sich, »soll denn dieser Bengel immer seinen Willen kriegen? Es ist unerhört!«

Er öffnete nachdenklich den Deckel von der Futterkiste und sagte zu dem eintretenden Fütterer Schulz: »Ist das alles Sojaschrot, was wir noch haben? – Dann muß ich ja gleich was bestellen. – Haben Sie übrigens den Tom gesehen?«

»Sitzt in der Sandkiste und macht Eierpampe, Herr Rogge.«

»Eierpampe – na schön, schön. Ich bestell dann also das Schrot.« Und Herr Rogge marschierte in sein Arbeitszimmer zurück, erwägend: Ausgerechnet Eierpampe, sprich Sand und Dreck mit Wasser, Und ausgerechnet in meinen Umschlag wird er die Eierpampe füllen. Sehr schön. Was ich in der Jugend zuwenig an Willen gekriegt habe, kriegt Tom zuviel. Bin mal neugierig, was daraus wird. Eierpampe –!

Und damit setzte sich Herr Rogge an seinen Schreibtisch, vor seinen finanzamtlichen Brief, notierte säuberlich auf den Briefkopf das Datum der Zustellung und machte sich an die schwierige, mit viel Rechnerei verbundene Arbeit, die gesamten Haushaltungskosten des verflossenen Jahres zusammenzustellen, aufzuteilen, zu addieren ...

»Zips ... Zips ...« störte ihn die vorsichtige Stimme seiner Frau. »Zips – störe ich –?«

»Einen Augenblick! Sechsundachtzig, dreiundneunzig, hunderteins – hunderteins! Nein, nicht die Spur! Was ist denn?«

»Zips!« sagte die Gattin (wir wagen es nicht, den richtigen Vornamen von Herrn Rogge hierher zu setzen, genug, daß er im häuslichen Leben »Zips« genannt wurde). »Zips, ist das der Umschlag, den dir Tom geklaut hatte?«

»Möglich«, sagte Herr Rogge zerstreut, suchte die Zahl »hunderteins« krampfhaft im Gedächtnis zu behalten und musterte das schmutzige, schmierige, nasse Etwas in den braunen Händen der Dete.

»Ist er sehr wichtig?« fragte die Frau vorsichtig. »Wir könnten ihn vielleicht trocknen und bügeln. Freilich, die Schrift ist etwas ausgelaufen. Tom hat nämlich ...«

»Eierpampe reingemacht, weiß schon. Steck das Ding ins Ofenloch. – Sonst noch was? Ich muß jetzt nämlich rechnen.«

»Ja, Zips. Draußen sind nämlich die Herren wegen der Grenze. Aber wenn du eilig zu tun hast, kommen sie vielleicht noch mal wieder?«

»I wo«, sagte Herr Rogge und gab sich einen Ruck. »Wir können doch einen Regierungsrat nicht fortschicken, Dete.« Er stand auf, warf einen sehnsüchtigen Blick auf Brief und Zusammenstellung, notierte sich nochmals im Kopf »hunderteins« und sagte: »Vielleicht kommen die Herren zum Frühstück rein. Sieh, daß du für alle Fälle was da hast. Tschüs, Dete.«

Und er nahm seinen Stock, pfiff dem Hunde Plisch und marschierte hinaus zur Grenze.

Anderthalb Stunden später war er wieder da. Natürlich hatte nicht Nachbar Bergfeld, sondern er, der Rogge, recht gehabt: Der Steinwall an der Grenze mit den Pflaumenbäumen gehörte noch den Rogges! Jeder, der eine Karte lesen konnte, mußte das sofort sehen! Na ja, na ja, also gut, war auch das erledigt und in Ordnung.

Herr Rogge pfiff vergnügt vor sich hin und zündete sich eine Zigarre an. Nicht erledigt und nicht in Ordnung war noch die Sache mit dem Finanzamt, nun, bis zum Mittagessen war noch gute Zeit: ran an den Kram! Aus der Küche ertönte freundliches Töpfegeklapper, Herr Rogge fand in seinem Geist frisch und unversehrt die Zahl »hunderteins« vor, erinnerte sich aber nicht mehr der Spalte, auf die sich diese Zahl bezog, und fing von neuem an zu rechnen.

Wenig später wurde er sich bewußt, daß er nicht mehr rechnete, sondern auf einen Dialog in der Küche lauschte, auf einen Dialog zwischen seinem Sohn Thomas und seiner Haustochter Käti. Die helle Stimme des Jungen klang so verbockt-streitsüchtig-weinerlich wie nur möglich, und auch Kätis Stimme war eine rechte Portion Ärger beigemengt.

»Tom, laß das!«

»Kääääti! – Gib – es – mir – wieder!«

»Du sollst mich nicht hauen, Tom!«

»Aber ich will es wiiiiiieder haaaaben!«

»Es ist doch nicht mehr da, Tom!«

»Mach es wieder da, Käääti!«

»Das kann ich doch nicht, Tom. Geh jetzt aus der Küche, ich muß arbeiten.«

»Erst gib es mir wiiieder!«

»Laß jetzt das Hauen sein, Tom, sonst ...«

»Mutti hat es mir gegeben, ich will es wiederhaben!«

Mit einem Ruck erhob sich Herr Rogge. Der quenglige, nicht nachlassende Ton seines Sohnes hatte etwas vom Bohrer des Zahnarztes – es war ihm nicht zu widerstehen. Aus mancherlei Erfahrungen zwar wußte Herr Rogge, daß es besser sei, den Sohn seine Streitigkeiten allein ausfechten zu lassen, trotzdem ging er durch das Eßzimmer in die Küche.

»Was ist denn hier wieder los?« fragte er.

Thomas stand am Küchentisch und sah mit dem mürrischsten, zänkischsten Gesicht auf die große Haustochter Käti, die ihn nicht eben billigend betrachtete. »Nun, was ist, Thomas?« fragte der Vater noch einmal aufmunternd.

Aber Thomas wollte nicht antworten, er sah verdrossen seinen blaugrauen, gestrickten Pullover an.

»Dann muß ich Käti fragen. Käti erzählt es mir«, sagte der Vater mahnend.

»Olle Käti! Olle Isi!« sagte der Sohn grollend und schwieg wieder.

»Gar nicht so oll«, sagte der Vater lächelnd und wandte sich an die Sechzehnjährige. »Nun, Käti, erzähl du!«

Käti berichtete, daß die Mutter einen Pudding gekocht und den Topf dem Thomas zum Auslecken gegeben habe. Aber der Thomas habe den Pudding gewollt und nicht den Schlecktopf, und als er den Pudding nicht bekam, habe er auch den Schlecktopf nicht gewollt. Da hätten sie und Isi sich jede einen Löffel voll aus dem Topf zusammengekratzt – es sei aber noch genug darin –, und jetzt verlangte der Tom, daß sie das doch schon Gegessene wieder in den Topf täten, denn es sei sein ...

Der Vater sah Käti an, dann den Topf, dann den Sohn.

»Nimm Topf und Löffel, Thomas«, sagte er. »Es ist noch sehr viel guter Pudding drin.«

»Erst soll Käti meines wieder reintun«, sagte der Sohn beharrlich.

»Du willst nicht –?« fragte der Vater.

»Erst soll ...«

Der Vater nahm den Sohn am Ohr, Tom hielt mäuschenstill; er führte den Sohn am Ohr – durch Eßzimmer und Veranda in den Garten.

»Hier, mein Sohn, spiele, und komm mir nicht wieder ins Haus, ehe du nicht anderer Stimmung bist.«

Thomas stand still, das Gesicht etwas gerötet. Der Vater machte noch einen kleinen, zärtlichen Schlußzupf am Ohr und stieg die Verandatreppe hinauf. Im Augenblick, da er dem Sohn den Rücken kehrte, brach dieser in ein ebenso plötzliches wie fürchterliches Wutgebrüll aus.

Das war nicht der Schmerz wegen des gekniffenen Ohrs, das war nicht das Leid um den versäumten Pudding – das war Protest gegen die rohe Gewalt der Großen, Empörung, Rebellentum ...

Der Vater ging in sein Zimmer zurück – das Geheul klang ferne –, er lächelte stumm vor sich hin. Prachtvoll, wie die junge Kreatur sich aufbäumte! Das hätte er, Herr Rogge, mal mit seinem Vater versuchen sollen! Andere Zeiten, andere Kinder – und keine schlechteren, fand er und schmunzelte. Denn prachtvoll hinwiederum war auch, wie der Knabe Thomas dabei parierte! Kein Gedanke daran, daß er so brüllend das Haus betreten, in dieser Stimmung in die Küche eindringen würde. Lauter Protest gegen den Befehl, aber stiller Gehorsam für den Befehl! Keine üble Mischung. Fand Herr Rogge.

Nun aber zurück zum Finanzamt, zu der trockenen Sachlichkeit der Zahlen und Zahlungen!

Noch war der Vater sich nicht ganz klar, wo er eigentlich aufgehört hatte und wo wieder anzufangen war, als er merkte, daß er gewissermaßen in einer Wolke voll Gebrüll saß.

Wieder stand er auf und trat ans Fenster. Jawohl, direkt unter seinem Fenster, gerade unter der großen Blautanne, hatte sein Sohn die Wache bezogen und brüllte herausfordernd das väterliche Fenster an. Hinter der Gardine verborgen, sah der Vater den Brüllerich und schmunzelte. Brüll du, dachte er. Brüllen, sagt der Arzt, ist für die Entwicklung der Kinderlungen recht gesund. Und warum eigentlich –? Wegen eines Löffels Pudding, der doch unmöglich wieder in den Topf zu spucken ist – pfui Deibel! So erfahren bist du auch schon, um das zu wissen, mein Thomas. Also um Streit mit uns zu suchen, deine Kräfte an unsern zu proben – brülle, Kleiner, brülle!

Der Sohn hatte die zornfunkelnden Augen fest auf die Scheibe geheftet, er brüllte, daß er dunkelrot wurde, er brüllte fast pausenlos, denn auch das Atemholen begleitete er noch mit einem seltsamen Gekreisch. Wäre das Höflein nicht so einsam gelegen, die Leute wären wohl zusammengelaufen über dem Gebrüll des unglücklichen Kindes, das vielleicht gar von seinen Eltern mißhandelt wurde!

Im Hause wußten sie wohl schon von der Ursache des übermäßigen Geschreis: keine Frauensperson ließ sich sehen es war ein Duell zwischen Vater und Sohn. Plötzlich schien es Herrn Rogge, es sei vielleicht gar zu bequem, hier überlegen schmunzelnd am Fenster zu stehen und die entfesselten Naturgewalten sich austoben zu lassen. Als sei es mutiger, sich dem Feinde zu stellen. Schon war er im Begriff, das Zimmer zu verlassen, unter der Blautanne mit dem Sohne zu reden, ihn zu überzeugen ...

Da brach plötzlich das Geheul ab, in gewaltiger Eile verschwand Thomas aus dem Gesichtsfeld.

Was nun wohl kommt? wunderte sich Herr Rogge. Das ist doch wohl nicht möglich, das ist ja noch nie dagewesen, daß er so plötzlich einen Streit aufgibt?!

Er hatte nicht lange zu warten: Um die Hausecke, um die er entschwunden, tauchte der Sohn wieder auf, aber gewissermaßen nicht allein, sondern in Gesellschaft eines handfesten Knüppels.

Nanu?! wunderte sich der Vater. Er will mich doch nicht etwa verhauen?!

Nein, das wollte Thomas nicht, etwas anderes lag ihm an. Nun hatte er so lange und so laut unter Vaters Fenster gebrüllt, und der Vater hatte es doch nicht gehört, war nicht einmal ans Fenster gekommen: also mußte er den Vater aufmerksam machen! Er stellte sich auf die Zehenspitzen, hob den Knüppel, klopfte kräftig damit gegen die Scheibe und im gleichen Augenblick brüllte er los, so jämmerlich, daß es jedes Mutterherz erbarmt hätte.

Herr Rogge aber in seinem Zimmer schüttelte sich vor Vergnügen. Es gibt Kinder, dachte er, die da gehorsam und artig durch ihre Jugend dahinlaufen, recht nach Erwachsenenart eingeengt durch Gesetze, Rücksichten, Verordnungen. Zu diesen Kindern gehört mein Sohn nicht, oh, weit gefehlt! Dafür wird er von seiner Jugend etwas gehabt haben und später, hoffe ich, seinen Mann stehen.

Herr Rogge zweifelte nicht daran, daß sein Sohn im geheimen das gleiche Vergnügen an dieser Brüllerei empfand wie er, der Vater, beim Anhören.

Doch nun geschah das Unglück: Müde des antwortlosen Gebrülls, hatte der Sohn etwas kräftiger mit seinem Knüppel gegen die Scheiben gepocht. Klirrend, scheppernd sprang das Glas, blitzschnell wurde der Knüppel fallen gelassen, blitzschnell und lautlos verschwand der Sohn um die Hausecke – und der Vater sah stumm durch die zersplitterte Scheibe und hatte die gute Gartenluft nun sozusagen frisch vom Erzeuger.

»I du liebes Gottchen«, sagte er sich verblüfft. »Das hätte ich mir ja nun eigentlich an meinen fünf Fingern abzählen können. Wer keine Antwort kriegt, fragt dringlicher, dringlichst, bis die Scheibe platzt. Ich sollte doch meinen Sohn kennen.« Und ganz unlogisch, denn eben hatte er ja eigentlich die Schuldfrage schon entschieden, setzte er hinzu: »Na, warte, mein Junge, wenn ich dich kriege ...«

Höchstselbst löste er die Splitter aus dem Rahmen, höchstselbst, daß die Frauen nichts merkten, holte er Handfeger und Schippe, höchstselbst fegte er das Glas zusammen, und höchstselbst trug er es in die Abfallkiste.

»So«, sprach er und begab sich auf die Suche nach seinem Sohn, gänzlich im ungewissen, was denn nun eigentlich mit ihm anzufangen sei.

»Du, Zips«, sagte seine Frau Dete zu ihm. »Geh nicht mehr weiter fort, wir essen in zehn Minuten. – Weißt du übrigens, wo Thomas ist?«

»Ich werd mich nach ihm umsehen«, sagte Herr Rogge.

»Was hat er denn so gebrüllt? Immer noch wegen des Puddings? Und dann klirrte doch was?«

»Ja, ja«, seufzte Herr Rogge schuldbewußt. »Ich bin dann in zehn Minuten mit dem Jungen da.«

Herr Rogge ging um das Haus. Herr Rogge sah in Stall und Scheune. Herr Rogge ging in den Garten, er sah hinter Stangenbohnen, Spargelkraut, Himbeeren nach. Herr Rogge ging zum Holzschuppen und sah hinein. Leise rief er: »Tom!«

Herr Rogge ging dann hinter das Haus auf eine kleine Anhöhe und spähte auf die Felder: Still im Sonnenschein lag das Land, leise bewegten im leichten West die Seekante entlang Weiden und Ellern ihre Zweige. Aber kein Tom ließ sich blicken. Herr Rogge schaute auch in die Hundehütte hinein.

»Es ist gut, oller Plisch. – Hier ist Tom also auch nicht.«

Grade kamen die Leute von der Mittagspause aus dem Dorf zurück. – »Hören Sie mal, Schulz, und ihr andern, habt ihr Tom vielleicht im Dorf gesehen?«

»Nee, Herr Rogge.«

»Ach, Liebrecht, seien Sie so gut, setzen Sie sich mal auf Ihr Rad und fragen Sie von Haus zu Haus, ob Tom nicht da ist.« Und mit einem schweren Seufzer: »Seit einer Viertelstunde ist er spurlos verschwunden.«

Natürlich sagte einer: »Er wird doch nicht ans Wasser gegangen sein?«

»Nein, nein«, sagte Herr Rogge hastig. »Tom ist vorsichtig, er weiß, wie tief der See ist. – Gehen Sie nur ruhig an Ihre Arbeit. Und wenn Sie Tom zufällig sehen, schicken Sie ihn ins Haus.«

Herr Rogge ging nicht an den See, Herr Rogge ging ins Haus. Er ging von Zimmer zu Zimmer, sorgfältig die Frauen, denen er hätte Auskunft geben müssen, meidend. Vor jedem Bett machte er, ein klein wenig ächzend, eine Kniebeuge und sah hinunter. Im Kinderzimmer lagen verstreut Spielsachen. Der Ordnungssinn des Vaters erwachte, er nahm Stück für Stück und legte es in sein Fach.

»Aha!« sagte er sich. »Hier findet sich der Abreißblock wieder, der von meinem Schreibtisch verschwunden ist. Und da ist der Rotstift. – Ich muß hier doch mal gründlich ausmisten ...«

Dabei überraschte ihn Frau Dete. »Hier bist du, und die Suppe wird kalt. – Wo ist denn Tom?«

»Den suche ich ja grade«, sagte Herr Rogge kläglich, Abreißblock und Rotstift in der Hand. Und dann gestand er, nach kurzem Zögern, die Geschichte von der eingeschlagenen Fensterscheibe und dem darauf erfolgten spurlosen Verschwinden des Sohnes.

»Aber Zips!« sagte die Gattin nur. Und als sie sein Gesicht sah: »Na, nun mache dir bloß keine schlimmen Gedanken. Ich sehe es dir ja an, du denkst schon wieder an den See. Es wird schon nicht so schlimm sein. Jetzt werden wir ihn suchen, und wir werden ihn gleich haben!«

Schon suchten sie, und wie man es merkte, daß sie suchten! Haus, Hof und Garten hallten wider von ihrem »Tom, Tom!«-Geschrei. Frau Rogge mobilisierte auch die Männer, alle guckten in alle Winkel, alle riefen an allen Ecken – und nun kam Liebrecht auch noch mit seinem Rad aus dem Dorf zurück und brachte die Kunde, dort sei der Tom auch nicht.

Überall suchen sie ihn, dachte Herr Rogge, sehr betrübt, nur am Wasser nicht. Sie haben ja auch ganz recht, am Wasser ist gar nichts zu suchen, vierundzwanzig Meter ist der See tief, und das Ufer fällt bergessteil ab.

Herr Rogge ging an das Seeufer. Er stellte sich auf seinen kleinen Landungssteg, neben ihm schaukelte das Motorbootchen. Er sah auf das Wasser hinaus. Blitzend und flimmernd, nur sanft aufgerauht vom leichten West, lag der See in der Mittagssonne. Friedliches Bild – und doch wurde dem armen Herrn Rogge über all dem Frieden immer friedloser zumute.

Er mußte wegsehen, dann weggehen. Unter den Uferweiden lag umgestürzt, sorglich auf Blöcke gelegt, der große Holzkahn, den sie nur im Winter zum Holzfahren gebrauchten. Auf ihn setzte sich langsam Herr Rogge, ließ die Beine baumeln und sah trübe in den blühenden Garten. Vom Haus her kam eine neue Welle von »Tom, Tom!«-Geschrei. Ach, ich hätte doch nicht so nahe am Wasser kaufen sollen! dachte der bekümmerte Vater: Wenn auch wirklich nichts passiert ist, die Sorge hat man doch immer.

»Tom! Mittagessen, Tom!« riefen sie. »Händewaschen, Tom!« riefen sie.

Es ziepte an Herrn Rogges Bein. Er zog gedankenvoll das Bein hoch.

Ist es die Sorge nicht, ist es eine andere, überlegte er. Seinen Sorgen entläuft keiner. Und will es auch gar nicht.

Jetzt ziepte es kräftig am andern Bein.

»Tom, es gibt Pudding!« rief Frau Dete verführerisch von der Verandatreppe.

»Zum Donnerwetter, was kneift denn da?!« rief Herr Rogge unmutig und sah grade noch etwas Weißes unter dem Boot entschwinden.

Wie ein Blitz war er vom Kahn und sah unter ihn. Da saß sein kleiner Sohn, zusammengekauert, teerig, strahlend unter dem Boot. Und lächelte ihn an. Es verschlug dem Vater den Atem.

»Thomas!« sagte er dann, und Freude und Zorn stritten sich um sein Herz. »Thomas, was tust du hier?!«

»Psssst, Vater!« machte Thomas geheimnisvoll. »Komm, kriech schnell runter zu mir. Dann rufen sie auch nach dir. Es ist sooooo schöööööön, wie sie rufen!« Und er strahlte.

»Thomas«, fing der Vater an und wollte eine lange, eindringliche Rede halten von der zerbrochenen Fensterscheibe, nein, von dem verschmähten Puddingrest an bis zu der Angst und Sorge, die sein Verschwinden seinen Angehörigen seit einer halben Stunde bereitet ...

Aber er brach ab. Es hatte doch keinen Zweck. »Komm, Mittagessen, Tom«, sagte er und zog den Sohn unter dem Boot hervor.

»Och, Vati«, schmollte Tom. »Immer, wenn was Spaß macht, soll ich es nicht.«

»Tja, Thomas«, sagte Herr Rogge und schritt nun schon, den Sohn an der Hand, aus dem Weidenschatten in die Sonne und den aufatmend strahlenden Gesichtern von Dete, Käti, Isi, Schulz, Liebrecht und andern entgegen. »Das kommt daher, weil ich schon alt und ...«, ›dumm‹ wollte er sagen, aber es widerstrebte ihm doch, »... und weise geworden bin ...«

»Vater!« sagte Thomas mit einem tiefen Aufatmen. »Ich will nie alt und weise werden. Nie!«

Keine Angst mein Sohn, dachte der Vater. Und: Heute, gleich nach dem Essen, mache ich aber den Brief ans Finanzamt fertig. Wenn, mir nichts dazwischenkommt.


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