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Gigi und Lumpi

Solange Gigi zurückdenken kann, wohnen sie in der Siedlung »Eigene Scholle«. Mutti und Pappi – und Gigi dazu – haben dort eine Parzelle, tausend Quadratmeter groß, eine Laube und seit letztem Herbst Anschluß an die Wasserleitung. Daß sie das mit der Wasserleitung im eigenen Garten geschafft haben, daran ist Mutti schuld, sie hilft Pappi beim Verdienen: Aufwartung, Flicken und Stopfen, Neubauten saubermachen, Briketts in die Keller packen, alles, was ihr vorkommt. Mutti sagt nie nein.

Seit Gigi fünf Jahre alt ist, geht das so mit der Arbeit, und seitdem auch besorgt sie das Haus. Mutti kocht morgens das Essen an, Gigi macht es fertig. Gigi wäscht ab, Gigi jätet Unkraut, Gigi putzt Pappis Schuhe. Ihr sehnlichster Wunsch ist, daß sie erst so groß ist, an die Nähmaschine zu reichen, dann könnte sie »Mutti« »richtig« helfen. Jeden Sonntag muß Pappi Gigi messen, es geht sehr langsam mit dem Wachsen.

Aber es geht doch vorwärts, jetzt ist Gigi sechs Jahre und seit Ostern in der Schule. »Gisela Kößling«, sagt sie. »Parzelle dreihundertfünfundsiebzig«, sagt sie. »Packer«, sagt sie. »Einundzwanzigsten Januar neunzehnhundertsechsundzwanzig in Neukölln«, sagt sie.

Es ist herrlich in der Schule. Den ganzen Winter hat sie einsam auf der Parzelle gehaust, das nächste bewohnte Grundstück ist 381. Dort wohnt Herr Krupschert. Aber Herr Krupschert ist alt und dumm, findet Gisela, er war den ganzen Winter keine Unterhaltung für sie.

Jetzt hat sie Unterhaltung durch die Schule, aber sie hat auch Sorgen: Allein auf Parzelle 375 bleibt Lumpi zurück, ihr Hundchen, ihr Freund. Sie kann ja den Lumpi so lange nicht freilassen, Lumpi ist unverständig, immer macht er im Garten Schaden. Sie muß ihn in der Laube einsperren. Schwer ist für Lumpi, was für Gigi schön ist: der Vormittag.

Eines Tages kommt Gigi von der Schule nach Haus, schon von weitem hört sie Lumpi in der Laube weinen. So weinte er schon, als Gigi heute früh fortging. Gigi begegnet Herrn Krupschert.

»Hörst du das?« sagt Herr Krupschert böse zu Gigi. »Das ist eine Gemeinheit!«

Herr Krupschert ist ein alter Mann mit einem gelblichweißen Bart, von seinem ganzen Rentnervermögen ist ihm nur die Parzelle 381 und eine Sozialrente geblieben. Gigi verachtet Herrn Krupschert, sie findet ihn dumm, weil er nicht einmal seinen Garten bestellt, sondern ihn wüst liegenläßt. Aber Herr Krupschert hat dafür keine Zeit, er muß ausrechnen, von wann an die Inflation böswillig verschuldet ist und bis wann sie gewissermaßen ein Naturereignis war. Wenn Herr Krupschert das ausgerechnet hat, wird er Herrn Reichsbankdirektor Schacht verklagen. Herr Krupschert rechnet schon manches Jahr, es ist sehr schwierig, er wird noch lange rechnen müssen. Aber dann gewinnt er den Prozeß, und alle verarmten Leute werden wieder reich.

Muß man so angestrengt rechnen, kann ein durch drei Stunden kläffender, weinender Hund sehr stören. Darum fragt er Gigi so böse, ob sie den Hund nicht auch bellen hört.

»Lumpi ist nicht gerne allein, Herr Krupschert«, sagt Gigi.

»Und ich soll das anhören?!« sagt Herr Krupschert böse. »Wenn ich deine Töle erwische, schlage ich ihr einen über den Deetz. Daß du es nur weißt!«

Gigi steht da und sieht Herrn Krupschert nach. Daß manche Menschen böse sind, weiß sie schon sehr lange, weiß sie schon, seitdem ein Stromer ihr die Hand aufgebrochen und ihr die Mark Einholgeld fortgenommen hat. Also Herr Krupschert ist nicht nur dumm, er ist auch böse.

Gigi denkt den ganzen Tag und Abend nach. Mutti fragt, was los ist, aber sie sagt Mutti nichts, beileibe nichts, Mutti hat schon so genug Sorgen. Solange Lumpi in der Laube ist, entscheidet schließlich Gigi, ist er sicher. Das weiß sie bestimmt, daß keiner eine fremde Laube aufbrechen darf. Jeden Morgen schließt sie Lumpi sehr gut ein, und wenn sie Herrn Krupschert sieht, läuft sie weg.

Aber eines Morgens ist ihr Lumpi ausgebimst, tobt im Garten, läßt sich mit nichts in die Laube locken. Gigi muß in die Schule, sie hat einen Begriff von Pünktlichkeit; wenn Pappi mit dem Halbachtuhrzug kommt, muß das Essen fertig sein – daher weiß sie von Pünktlichkeit.

Gigi geht zur Schule, sie denkt ununterbrochen nach, um sie herum tanzt Lumpi Freudentänze. Was ihr Sorge macht, bereitet ihm große Freude. Nirgendwo kann sie Lumpi abgeben oder einsperren, er könnte ausreißen, und dann haut ihm Herr Krupschert einen über den Deetz.

Gigi nimmt Lumpi mit in die Schule, es bleibt nichts, sie nimmt ihn mit ins Klassenzimmer. Oh, welch ein Hallo unter den Kindern! Herr Wendel ist noch nicht da, alle Kinder tanzen um Gigi und Lumpi. Lumpi ist ganz verschüchtert und will auf Gigis Arm. So kann ihn Gigi schnell, als Herr Wendel kommt, unter die Bank stecken, neben ihren kleinen Schulranzen. Immer wenn Herr Wendel mal wegsieht, legt sie eine Hand auf seinen Kopf.

Und Lumpi scheint sich ausgetanzt zu haben, oder er hat Furcht, er liegt mäuschenstill, nur einmal macht er einen Schnapper nach einer Fliege, und Herr Wendel fragt sehr laut: »Wie?«

Die Klasse lacht, und Herr Wendel versteht heute seine Klasse nicht, sie ist des Teufels, keines hört ein Wort von dem, was er sagt. Aber Herr Wendel ist sechsundfünfzig und hat einen Bauch; sicher hat er schon zweitausend Kinder gehabt. Er weiß, man muß Kindern Zeit lassen. Er weiß auch, ein Baum wächst noch viel langsamer. Man darf nichts übereilen, nie heftig werden, weiß Herr Wendel.

Die Stunde ist vorbei, und in der Pause wird es schlimm für Lumpi. Die Jungens sind schrecklich frech, und die Mädchen wollen alle von ihm Küßchen haben, er hat eine kleine schwarze Affenschnauze und eine süße flinke, rosa Zunge.

Plötzlich steht Herr Wendel mitten in der Klasse und fragt furchtbar ernst: »Wessen ist der Hund?«

Es ist eine ungeheure Stille, Gigi will grade den Mund auftun, da ärgert den Lumpi wohl der schwarze, dicke Mann, er fährt an gegen ihn mit einem Gejachter.

»Dir, Gisela?« fragte Herr Wendel und ist sehr böse. »Sofort bringst du den Hund auf die Straße!«

Gigi nimmt ihren Lumpi, sie hat ein sehr rotes Gesicht, aber sie sagt keinen Ton. Auf dem Flur schluchzt sie ein bißchen, und als sie die Schulhaustür zwischen sich und Lumpi zumacht, schluchzt sie noch mehr. Nun läuft Lumpi zur Laube, und da kommt Herr Krupschert und gibt dem Lumpi einen über den Deetz.

Also, die Schulstunde geht weiter, es wird eine richtige, gewöhnliche Schulstunde. Die Kinder fingen an, auf Herrn Wendel zu hören, und nur Gigi denkt noch an Lumpi.

Da scharrt es plötzlich an der Tür, da kratzt es, da winselt es, da weint es, da bellt es – alle Kinder fahren zusammen, und Herr Wendel sagt: »Das ist doch unerhört, Gisela! Sofort jagst du den Hund weg!«

Und Gisela steht langsam auf, und Schrittchen für Schrittchen geht sie dunkelrot auf die Tür zu, am Pult vorbei, und grade, wie sie unterm Pult ist, sagt Herr Wendel plötzlich ganz milde: »Das hätte ich nie von dir gedacht, Gigi!«

Da aber ist es mit Gigis Fassung vorbei, die Tränen kommen, und mit den Tränen die Worte, und wenn auch alles sehr wirr und durcheinander ist: Herr Krupschert und die Laube, und Mutti, die auf Arbeit geht, und der Deetz – so viel versteht Herr Wendel doch, daß er früher ganz richtig von Gigi gedacht hatte.

»Also, hol ihn rein, deinen Lumpi. Und nach der Schule sprechen wir weiter.«

Welch ein Freudentanz von Lumpi, welch seliges Kindergesicht! Lehrend lernen wir, nun ja, und die Kinder sind jetzt auch musterhaft. Ein Hund in der Klasse muß verdient werden, das hätte Herr Wendel gar nicht erst zu sagen brauchen, das versteht jedes.

Aber dann in der Pause:

»Sicher, Herr Wendel, Lumpi hat Hunger!«

»Bei mir muß er auch einmal abbeißen dürfen!«

»Ich habe Knoblauchwurst auf der Stulle – frißt er auch Knoblauchwurst, Herr Lehrer?«

Gewimmel. Getriebe. Geschrei. Gebrüll. Kann ein ausgewachsener Mann zwischen solchen Stöppkes verschwinden? Herr Wendel verschwindet. Er schreit: »Kinder, Kinder, das geht doch nicht. Gleich stellt ihr euch da drüben hin! Gisela, hier zu mir stell du dich hin!«

Unmöglich –!

»Lumpi hat von Ernas Stulle abgebissen, dann darf er doch auch von meiner abbeißen, Herr Wendel –?!!«

Also, da steht Gisela mit Lumpi, da stehen dreiundvierzig Kinder, da steht triefend Herr Wendel. »Kinder«, schreit er wieder und ist um Auswege nicht verlegen. »Kinder, auf der Stelle legt jeder sein Butterbrot hier auf mein Pult. Nun aber schnell!«

Wirklich, er erreicht es, auf dem Lehrerpult liegen dreiundvierzig Stullenpakete, angebissen, halb verzehrt, unberührt.

»Jetzt gehst du mit Lumpi auf den Flur, Gisela«, ordnet Herr Wendel an. »Und jetzt, wenn Gigi raus ist, nehmt ihr euch eure Butterbrote wieder und eßt sie ganz schnell auf – die Pause ist gleich vorbei.«

Ist er ein Feldherr, der Herr Wendel, ein großer Organisator, der Mann der raschen, richtigen Entschlüsse? Armer Herr Wendel!

»Ich habe Stulle mit Klops gehabt, Herr Lehrer, die ist weg!«

»Wo ist meine Käsestulle?«

»Wollen wir tauschen? Ich gebe dir zwei mit Honig, gib mir eine mit Jagdwurst, ja?«

»Herr Lehrer, der Heinz hat sein Brot überhaupt schon aufgehabt, und nun ißt er immerzu!«

Armer Herr Wendel!

»Du könntest deinen Hund«, fragt Herr Wendel zögernd nach der Schule, »nicht weggeben, Gigi?«

Gigi sieht Herrn Wendel nur an. Daß Götter so schwach sein können!

»Gut«, sagt Herr Wendel entschlossen, »dann gehe ich jetzt sofort zu Herrn Krupschert, und er muß mir in deiner Gegenwart versprechen, daß er dem Lumpi nichts tut. Bist du dann ruhig, Gigi?«

»Aber richtig in die Hand versprechen, Herr Lehrer«, sagt Gigi.

Und dann gehen sie los. Gigi, Lumpi auf dem Arm, Herrn Wendel an der Hand, zu Herrn Krupschert.

Lange, lange steht Gigi vor Krupscherts Laube, sie preßt den Lumpi so an sich, daß er schnauft. Die beiden reden drinnen und reden, das heißt, meistens redet Herr Krupschert, er erzählt von der Inflation.

Aber endlich kommen sie beide hinaus in die Sonne, und Gigi sieht Herrn Krupschert voller Angst an. Aber Herr Krupschert lächelt, er lächelt mit seinem ganzen weißgelben Bart aus den Nasenlöchern heraus: Herr Lehrer Wendel hat ihm nationalökonomische Bücher aus der Schulbibliothek versprochen.

»Ich habe gedacht«, sagt Herr Krupschert und lächelt immer weiter, »daß du schon ein großes Mädchen bist. Das darf man doch gar nicht, einem andern seinen Hund über den Deetz hauen.«

Gigi sieht Herrn Krupschert an, sie tut auch manchmal, was man nicht tun darf. »Geben Sie Herrn Wendel die Hand darauf, daß Sie Lumpi nichts tun?«

Herr Krupschert tut es.

»Und nun geben Sie Lumpi die Hand«, befiehlt Gigi.

»Na weeßte ...«, sagt Herr Krupschert empört. Aber dann denkt er an die Bücher.

»Danke schön, Herr Lehrer«, ruft Gisela, und dann läuft sie, läuft sie, läuft sie mit fliegenden Röcken zu ihrer Parzelle. »Lumpi, Lumpi, uns tut keiner mehr was!«

Wie hell plötzlich die Sonne scheint –!


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