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Zehntes Kapitel. Nord, Ost, Süd, West – To Hus best

1

Das Haus lag am obersten Punkt einer Berggasse, gleich unterhalb des Burgberges. Die Stube des Schülers lag vier immer enger und steiler werdende Treppen hoch, in der obersten Spitze des Hausgiebels.

Trat der Schüler an sein Fenster und der Tag war klar, so sah er über die Dächer der kleinen Stadt fort, über das mäßig weite Flußtal fort, über die sanften Laubhügel, die die andere Seite des Tals begrenzten, fort bis zu jenen schroffen Basaltfelsen mit ihren dunklen Tannen und Fichten, die ›der Uhu‹ hießen.

Er sah oft dahin, denn unterhalb des Uhus, eine schwache Stunde nur zu gehen, lag seine Heimat, Rittergut Triebkendorf.

Der Schüler steht am Fenster, er geht in Gedanken den steilen Fußpfad den Uhu abwärts. Abfließender Regen hat den Lehm vom Wege gewaschen, er klettert vorsichtig über Felsblock auf Felsblock. Manche Steine sind fest eingesponnen von den zähen Stricken losgespülter Wurzeln, andere schwanken leise, als wollten sie unter seinem Fuß abstürzen.

Allmählich wird der Pfad weniger steil, die Bäume treten dichter an ihn heran, er geht nun wie in einer kühlen, grünen Halle. Dann wird es heller vor ihm, er tritt hinaus aus dem Wald, der Bergzug ist über Hügel in eine fruchtbare Ebene ausgelaufen.

Noch ein paar Schritte, der Fahrweg geht um eine Heckenecke, und vor dem Jungen liegt das Darf. Kaum Dorf, mehr Gut, mit den langen, öden Leutehäusern der Deputanten, um die es immer feucht nach faulen Kartoffeln riecht.

Nun taucht am Ende des Weges die große Torfahrt zum Rittergutshof in der schwarzgrauen Feldsteinmauer auf. Geradezu, am andern Ende des Hofes, der von Scheunen, Stallungen und Schuppen begrenzt ist, liegt das Herrenhaus. Aber nicht das ist wichtig. Wichtiger ist gleich rechts vorn das kleine, rote Backsteinhaus, mit den sechs Fenstern unter dem tiefen Dach, das die Heimat des Jungen ist. Es ist nichts, gar nichts. Ein roter Kasten, ein Inspektorenhaus, wie es auf tausend Rittergütern steht, innen mit getünchten Wänden, abgetretenen Dielen, verräucherter Küche – aber hier ist er zu Haus.

Zwei Linden stehen vor der Tür, sie sind hoch und stark, weit reichen sie über Dachfirst und Schornstein hinaus. Sie sind immer dagewesen, seit er ganz klein war, er kann sich nicht erinnern, daß sie je weniger stolz und schirmend waren. Wenn das Wetter nur einigermaßen war, so hatte die Mutter den Wagen mit dem Kind hinausgeschoben. Es hatte hinaufgesehen in die grün verwunschene, durchgoldete Blätterwildnis, die sich sachte verschob, wenn der Wind ging, es hatte auch danach gegriffen.

Es lernte die Bäume kennen, wenn sie noch hell und schütter waren, und überall der Himmel durch die knorrigen, schwarzen Schlangen der Äste hindurchschaute. Später dann, wenn sie voller wurden, und man sah nichts mehr als Grün, Grün, Grün. Bald blühten sie, und die Bäume erklangen wie große Glocken von dem unablässigen Gesumm der Bienen. Am Ende wurden die Blätter schlaff und gelblich, sie lösten sich erst einzeln, dann wurden es ihrer mehr und mehr. Jeder Windstoß trieb sie über den Hof, sie häuften sich in den Tränksteinen der Pferde, an den Feldsteinmauern der Stallungen und erfüllten alles mit ihrem scharfen und trüben Geruch.

Als der Schüler, größer geworden, aus dem Schlafzimmer der Eltern in die Giebelstube umzog, allein schlafen lernte, da waren es die Linden, die ihn trösteten, wenn er sich in der einsamen Leere der Nacht ängstigen wollte – er kannte jeden Laut von ihnen, er war ja an ihnen groß geworden.

Der Schüler steht am Fenster des Pastorenhauses in der Berggasse und starrt auf den Uhu. Er meint, den glatten, über eine Näharbeit gesenkten Scheitel der Mutter am Fenster zu sehen. Aus dem Pferdestall kommt der Vater, die Reitpeitsche in der Hand. Er bleibt stehen unter dem Holzgestell in der Hofmitte, an dem eine ausgediente Pflugschar hängt.

Der Vater zieht die Uhr, er wartet noch einen Augenblick, dann sagt er zum Leutevogt: »Eins!« und der Leutevogt schlägt mit dem Hammer gegen die Pflugschar, daß es hell und stählern über den Hof erklingt.

Aus der Stalltür taucht das erste Gespann Pferde auf. Gegenüber dem Inspektorenhaus stellen sich die Leute in Reihen an. Vorne die Hofgänger, erst die Jungen, dann die Mädels. Dahinter die Deputanten, erst die Frauen, dann die Männer ...

Er sieht es, er hat es hundertmal gesehen, tausendmal! Darum kann er es auch jetzt sehen, vom Fenster im Pastorenhaus über sieben Bergrücken, sieben Täler hin.

Nun beginnen die Glocken im Tal eilfertig zu klingeln, es ist Sonnabendnachmittag, Feierabend. Der Schüler seufzt. Er sieht nicht mehr den Uhu, er sieht über das Städtchen hin, drüben am Fluß liegt das Gymnasium, um dessentwillen er hier sein muß. Dann sieht er näher, in die Berggasse, in das Haus schräg gegenüber, in dem eine Schneiderstube ist. Dort packen sie auch zusammen, es ist ja Feierabend. Ein Geschwirr von jungen Mädchen ist beim Aufräumen. Es sind die höheren Bürgertöchter, die Nähstunde gehabt haben.

Wie schon oft, fällt ihm wieder eine lustige, schlanke Blonde auf, und als sie hersieht, nickt er hin.

Sie nickt wieder. So stehen sie eine Weile sich gegenüber an den Fenstern. Der Fünfzehnjährige und die kleine Blondine. Sie nicken einander zu und lachen.

Plötzlich hat er einen Gedanken. Er macht ihr ein Zeichen, läuft ins Zimmer, sieht sich auf seinem Tisch um, ergreift den leeren Briefumschlag, der vom heutigen Brief der Mutter noch dort liegt, und stürzt wieder ans Fenster.

Sie sieht ihm entgegen, er hebt den Briefumschlag hoch und nickt voller Bedeutung. Sie sieht zögernd zurück, nickt dann aber auch langsam ...

Er stürzt fort vom Fenster, die Treppe hinunter.

Auf dem ersten Absatz bleibt er stehen, sie ist auch eine Treppe hinuntergelaufen, sie ist auch stehengeblieben. Er hebt den Brief wieder, und sie nicken beide.

Nächste Treppe, nächstes Nicken.

Letzte Treppe, letztes Nicken.

Auf mit der schweren, ächzenden, eichenen Haustür! Hinaus auf die holprige Kopfsteingasse.

In der Mitte, zwischen den beiden Häusern, auf der Gasse treffen sie sich.

»Guten Tag«, sagt er befangen.

»Guten Tag«, antwortet sie verlegen.

Damit ist es erst einmal alle.

Sie sieht zögernd auf den Brief in seinen Händen. Ein komischer Umschlag, aufgerissen, mit einer Marke und einem Stempel darauf.

Er sieht auch auf den Umschlag.

»Geben Sie mir doch den Brief«, sagt sie schnell.

»Ich habe ja gar keinen«, sagt er. »Ich wollte nur, daß Sie runterkämen.«

Pause.

»Ich muß rauf«, sagt sie.

»Heute abend um acht Uhr am Stadtwall«, schlägt er vor.

»Das geht nicht«, sagt sie. »Meine Mutti ...«, sagt sie.

»Bitte!« sagt er.

Sie verzieht den Mund und sieht ihn an. »Ich will es versuchen«, sagt sie.

»Bitte!« sagt er.

»Acht Stadtwall«, sagt er.

»Gut«, sagt sie.

Sie sehen sich an. Plötzlich müssen sie alle beide lachen.

»Sind Sie komisch mit Ihrem Brief!« lacht sie.

»Nicht wahr?« fragt er stolz. »Hab ich Sie doch endlich erwischt.«

»Also um acht!«

»Pünktlich!«

»Bis dahin!«

»Tjüs!«

Zurück in die Häuser. Zurück hinauf im Sturm die Treppen. Es sind nur noch ein paar Stunden bis acht, bis acht sind's nur ein paar Stunden – man kann das singen, entdeckt er.

Man kann es aber nicht lange singen.

Schon als er sieht, daß die dicke Schneiderin Gubalke mit dem weißen, kurzgeschnittenen Haar über die Gasse kommt, bei ihnen unten am Haus klingelt, hereingeht – schon da will er den Gesang abbrechen. Der Schüler zwingt sich, er singt weiter, aber es klingt jetzt spärlich, und zu oft setzt er aus, wenn er sich aus dem Fenster lehnt, um zu sehen, ob die Schneidermeisterin noch immer nicht zurückkommt.

Nein, sie kommt noch nicht, und die leere Schneiderstube drüben grinst ihn öde und häßlich an. Ein paar Stunden bis acht –? Eine endlose Zeit bis acht!

Da kommt sie. Sie geht über die Gasse zurück zu ihrem Haus, aber in der Tür dreht sie sich um und entdeckt den Schüler in seinem Fenster, sie blickt ihn böse an, sie schüttelt die Faust gegen ihn. Dann knallt die Tür drüben zu.

›Es kann so schlimm nicht werden. Ich habe ja eigentlich gar nichts getan‹, beruhigt er sich.

Doch schon klopft es an seiner Tür, und Mädchen Minna, ein älteres, bitteres Reibeisen, sagt: »Sie sollen zu Herrn Pastor kommen! Gleich!!«

»Schön«, sagt der Schüler und glättet vor dem Spiegel sein Haar mit dem Kamm.

»Gleich! Sofort!!«

»Komme ja schon.«

»Sie werden was erleben! Na!!«

»Zitrone ...«, sagt der Schüler und geht die beiden Treppen hinunter in das Arbeitszimmer des Pastors.

Er klopft an, es wird ›Herein‹ gerufen, ölig – sanft, und vor seinem Pastor steht der Schüler.

Sanft, viel zu sanft. Immerhin doch: Betrübnis und Enttäuschung. Leichtfertige Liebschaft, Entweihung des geistlichen Heimes, unerlaubte Korrespondenz, überhaupt viel zu jung.

»Was soll denn später aus dir werden, wenn du so anfängst?«

»Ich habe doch gar keinen Brief geschrieben.«

»Dies Leugnen ergänzt dein Bild. Minna hat es auch gesehen, nicht nur Frau Gubalke. Die ganze Gasse wird es gesehen haben. Morgen weiß die Stadt, welch ein Mensch in meinem Heim wohnt ...«

»Ich habe aber wirklich nicht ...«

»Ich habe nicht die Absicht, mich mit dir zu unterhalten. Geh hinauf und pack deine Sachen. Dein Vater ist bereits telephonisch von mir benachrichtigt. Schon diese Nacht darfst du nicht mehr unter meinem Dach schlafen.«

Des Schülers Mund verzieht sich weinerlich ...

»Bitte, Herr Pastor, ich bitte Sie ...«

»Nichts. Erst fünfzehn und schon mit Mädchen. Pfui! Pfui! Ich sage Pfui!«

Der geistliche Zeigefinger droht. Dann weist er gegen die Tür, und der Schüler hat nur noch zu gehen.

Oben ist er allein. Er versucht zu packen, muß aber weinen, Minna bringt noch seine Wäsche: »Ja, jetzt können Sie heulen! Pfui!«

»Raus, Zitrone!« brüllt er und kann nun auch nicht mehr heulen.

Und indes der Tag mit all seinen fröhlichen, eiligen Sonnabend-Geräuschen in den Abend übergeht, sitzt er da auf seinem Wachstuch-Sofa, auf einem Stuhl den halb gepackten Koffer, den er doch nicht ganz füllen mag, weil er immer noch nicht glauben kann, daß es wirklich ganz zu Ende ist ...

Kurz nach sieben hört er die Fahrradklingel vom Vater. Er stürzt ans Fenster, er ruft: »Vati, komm doch erst rauf zu mir!«

Aber wenn der Vater auch nickt, so kommt er doch nicht. Sicher hat ihn der Pastor abgefangen. Vater hält sonst immer Wort.

Noch fünf Minuten Warten, dann knackt die Treppe unter Vaters festen Reitstiefeln, und er tritt ein.

»Na, mein Sohn? An den Wassern Babylons saßen sie und weinten? Zu spät! Zu spät! Erzähle schon deine Sünden.«

Vater ist immer herrlich. Wie da der große, starke Mann am Tisch auf einem Stühlchen sitzt, in den Reithosen mit dem grauen Ledereinsatz, der grünen Joppe, mit dem gesunden, rotbraun gebrannten Gesicht und der schneeweißen Stirn darüber – weiß und rotbraun grenzen scharf aneinander, das macht der Mützenrand – ja, wie er das schon sagt: ›Erzähl deine Sünden‹ –, da ist alles gleich leichter.

Er hört zu, gut hört er zu. »Schön«, sagt er schließlich. »Und weiter war nichts? – Schön. Geh' ich noch mal runter zu deinem Pastor.«

Aber er war sehr schnell wieder da, mit etwas gerötetem Gesicht. »Nichts zu machen, mein Sohn, du bist und bleibst ein Sündenschippel. Also kommst du zuerst mal mit mir nach Haus. Mutter wird sich bestimmt freuen.«

 

»Den Koffer lassen wir hier. Den kann morgen der Eli holen. Der muß sowieso in die Stadt. Soweit die Straße glatt ist, kannst du hinten auf dem Rad stehen. Nachher in den Bergen schieben wir beide. Um elf sind wir zu Haus.«

»Aber die Schule?«

»Fürchte, Söhnchen, mit dem Gymnasium ist es auch alle. Der wird dich bei deinem Direktor hübsch verklatschen. Das sehen wir morgen. Ich reite noch mal rüber.«

Und so gehen sie los. Der Vater links vom Rad, der Sohn rechts.

Minna lacht aus dem Küchenfenster.

»Sie Pute!« schreit der Vater plötzlich hochrot.

»Ich nenne sie immer die Zitrone«, erklärt der Sohn.

»Zitrone ist auch viel besser«, bestätigt der Vater.

»Du, Vater«, fängt der Sohn vorsichtig an.

»Na?«

»Es ist doch gleich acht ...«

»Stimmt, der Zebedäus wird gleich schlagen.«

»Und wir kommen am Stadtwall vorbei ...«

Der Vater pfiff langgedehnt: »Nachtigall, ich hör' dir trapsen ...«

»Es ist doch, weil ich sie bestellt habe. Ich kann sie doch nicht einfach versetzen. Adieu sagen möchte ich ihr doch.«

»Glaubst du, es ist richtig, wenn ich es dir erlaube –?«

»Ach, tu's doch, Vater, bitte!«

»Na schön. Richtig wird's schon nicht sein. Aber meinethalben. Und nicht länger als fünf Minuten!«

»Bestimmt nicht.«

»Ich will's lieber nicht so offiziell machen«, überlegt der Vater. »Ich stell' mich hier mit dem Rade hin. Wenn die fünf Minuten um sind, pfeif ich meinen Pfiff. Und dann heißt's angeschwirrt wie Ziethen aus dem Busch.«

»Bestimmt, Vater.« – – – Sie wartet wirklich schon.

»Guten Abend. Sie sind aber pünktlich!«

»Das muß man auch sein. Guten Abend.«

»Jetzt schlägt's gerade acht.«

»Ja, ich höre es.«

Die Unterhaltung hat schön lebhaft eingesetzt und ist plötzlich alle.

Schließlich fragt er: »Sind Sie gut weggekommen?«

»Ich habe einen kleinen Schwindel gemacht! Und Sie?«

»Ach ja, es ging.«

»Haben Sie was?« fragt sie plötzlich.

»Nein, nichts. Was soll ich haben? Es ist schön heute abend, nicht?«

»Ja. Ein bißchen schwül, nicht?«

»Das kann sein – ich muß nämlich gleich wieder weg ...«

»Ach ...«

»Da hinten steht mein Vater ...«

»Wo?«

»Da. Der Mann mit dem Rad. Hier am Busch müssen Sie vorbeigucken ...«

»Und er weiß –? Und er hat Ihnen erlaubt?«

»Ja, mein Vater ist so.«

Sie sieht ihn einen Augenblick an.

»Aber ich bin nicht so, ich finde es nicht nett von Ihnen.«

Er wird langsam rot.

»Ich hätte es nicht von Ihnen gedacht.«

»Ich ...«, fängt er an.

»Nein«, sagt sie. »Jetzt gehe ich nach Haus.«

»Fräulein«, sagt er. »Fräulein, ich muß nämlich fort. Der Pastor hat mich nämlich rausgesetzt, weil ... Sie verstehen ... Frau Gubalke hat sich beschwert.«

»O Gott!« ruft sie. »Und meine Mutti ...«

»Ich werde wohl auch auf dem Gymnasium das Consilium kriegen.«

»Wenn mein Vater das erfährt –«

»Meiner hat nicht geschimpft.«

»Und auf dem Lyzeum ...«

»Schieben Sie doch alle Schuld auf mich!«

»Ach, Sie – und nicht einmal was drin war in dem Brief.«

»Aber ich kann Ihnen ja gerne schreiben!«

Der Vater pfeift: ›Liebst – du – mich – denn – gar – nicht – mehr?‹

»O Gott, die fünf Minuten sind schon um. Ich muß ...«

»Aber gehn Sie doch schon. Sie haben mich schön reingesenkt.« ›Liebst – du – mich – denn – gar – nicht – mehr?‹

»Und ich weiß nicht mal, wie Sie heißen, Fräulein!?«

›Liebst – du – mich – denn – gar – nicht – mehr?‹

»Daß Sie mir noch mehr Schwierigkeiten machen!«

»Aber Fräulein, ich kann doch wirklich nichts dafür!«

»Was soll ich bloß zu Haus sagen?«

›Liebst – du – mich – denn – gar – nicht – mehr?‹

»Fräulein, ich muß ...«

»Ja, Sie gehen nach Haus zu Ihrem Vater, der nicht schimpft. Aber ich –?«

»Bitte, geben Sie mir wenigstens die Hand.«

»Auch noch!«

»Aber wir sehen uns vielleicht nie wieder!«

»Das ist auch viel besser. Und ich hatte gedacht, es würde so nett! – O Gott, da kommt Ihr Vater!«

»Na, Söhnchen, wie ist das mit Worthalten? Guten Abend, kleine Fee. Habt ihr euch gezankt?«

»Ich ...«

»Wir ...«

»Hände geben! Auf Wiedersehen!«

»Auf Wiedersehen!«

»Auf Wiedersehen!«

»Und jetzt los!«

Sie sehen sich noch einmal an.

»Ich bin an allem schuld«, sagt der Junge beteuernd, und seine Lippen zittern.

»Ja«, sagt sie, »es ist doch schon gut. Es war nur der erste Schreck. Ich schwindle mich schon durch.«

»Auseinander mit euch! Viel zu jung. Viel zu grün.«

»Also, alles Gute!«

»Ja. Ja. Alles, alles Gute Ihnen!«

»Auf Wiedersehen!«

»Ja, vielleicht sehen wir uns wieder.«

»Gute Nacht, kleines Fräulein. Komm, Willi.« – – – Hinter der Brücke fing der Weg an zu steigen. Der Vater rief: »Spring ab, mein Sohn.«

Und als sie miteinander neben dem Bad gingen: »Wir haben keine Eile. Wir kommen noch immer früh genug nach Haus.«

»Wann stehst du jetzt auf, Vater?«

»Wie stets im Sommer. Um vier. Man muß immer selbst nach dem Füttern und Melken sehen. Auf die Eleven ist kein Verlaß.«

Und nach einer Pause fragt er leichthin: »Zur Landwirtschaft hättest du keine Lust?«

Er antwortet zögernd: »Ich glaube nicht, Vater.«

»Und sonst –?«

»Ja ...«

»Ja ist gar nichts. Was kommt dahinter?«

»Am liebsten ginge ich weiter aufs Gymnasium.«

»Wird sich schlecht machen lassen. Pastor und Direktor sind zu gut Freund.«

»Und wenn du mich auf ein anderes Gymnasium schicken würdest –?«

Sie gehen eine Weile schweigend.

»Ich will dir was sagen, Willi. Es ist mir jetzt schon sauer geworden. Du weißt, ich verdiene nicht viel. Und da ist noch deine Schwester. Nun, ich hätte es durchgehalten, wie es jetzt war, aber das ist nun vorbei. Eigentlich ist es mir recht, wie es gekommen ist. Gesagt hätte ich nichts. Aber wo du dich selbst darum gebracht hast, denke ich, lassen wir es dabei.«

»Aber ich habe doch gar nichts gemacht!«

»Eine Dummheit hast du zum mindesten gemacht. Unüberlegt bist du jedenfalls gewesen, Willi. Du mußt lernen, daß im Leben Dummheiten oft ebensoviel schaden wie Schlechtigkeiten. Und daß hinter der Dummheit nicht alles so ist wie vor ihr. Man kriegt nicht alles wieder heil. Jetzt bist du noch gut weggekommen, du gehst mit deinem Vater nach Haus, und der Sturm ist vorüber. Später kannst du vielleicht einmal hinterher nicht so nach Haus gehen.«

Der Vater seufzte ein wenig und schob langsamer bergan. Der Sohn ging schweigend daneben. In ihm wogte es unklar: der Vater hatte unrecht, denn der Sohn hatte nichts Schlechtes getan. Und doch nahm es der Vater zum Anlaß, Geld zu sparen und ihn nicht mehr aufs Gymnasium zu schicken. War es so lange gegangen, hätte es auch weiter gehen können. Bloß weil der Sohn auf die Straße gelaufen war mit einem leeren Briefumschlag und zu einem Mädel zehn Worte gesprochen hatte, wollte der Vater nun Schul- und Kolleggelder sparen –? Es schien keinesfalls richtig.

Die Straße stieg und stieg, zwischen hohen Böschungen, die von Wald bestanden waren. Oben über ihnen, schnurgerade in der Richtung des Weges, war der Nachthimmel wie ein heller, sanft aus sich herausleuchtender Streif.

»Wie wäre es mit Kaufmann?« fragte der Vater schließlich.

»Ach nein!« rief der Junge enttäuscht.

»Kein Laden«, sagte der Vater beruhigend. »Ich hatte an eine Bank gedacht.«

»Ach so«, sagte der Junge.

»Nun«, ermunterte der Vater.

»Ich weiß doch nicht«, sagte der Sohn zögernd.

»Wenn man«, sagte der Vater, »was auf den Deckel gekriegt hat, soll man nicht lange brummen, man überlegt sich den Fall, erkennt, was falsch war, und macht's nun richtig. – Übrigens kannst du ruhig zwei, drei Wochen zu Haus sitzen. Du kannst mir schön beim Lohnausrechnen helfen. Jetzt in der Ernte habe ich nie Zeit dafür. – So, nun steig wieder auf, jetzt können wir einen langen Zug machen.«

Der Schüler stand hinten auf dem Rad, die Hände auf den Schultern des Vaters. Das Rad surrte eilig bergab, der Luftzug stieß kühl und erfrischend ins Gesicht.

»Ich weiß nicht einmal, wie sie heißt«, rief der Sohn plötzlich.

»Wie?« schrie der Vater, der bei der raschen Fahrt nicht recht verstanden hatte.

»Ich weiß nicht einmal ihren Namen!«

»Wessen Namen?«

»Von dem Mädchen!«

Der Vater trat so scharf auf die Rücktrittbremse, daß der Sohn mit einem Ruck gegen seine Schultern flog. Das Rad hielt fast ganz an.

»Ich möchte dich«, sagte der Vater langsam fahrend, »beinahe bitten, abzusteigen und zu Fuß allein nach Haus zu gehen. Damit du nachdenken kannst. Denkst du jetzt rückwärts? Möchtest du fortsetzen, was eine Dummheit gewesen ist, die dir nur Schaden gebracht hat? O Willi, Willi, ich fürchte, ich mache es dir wieder einmal zu leicht. Wenn es dir nur nicht eines Tages zu schwer werden wird.«

Das Rad fuhr schneller, der Sohn antwortete nichts.

Dann ging es über eine Brücke, einen Augenblick hörte man Wasser plätschern, die Straße drehte sich, der Lichtschein der Fahrradlampe leuchtete eine Waldwand ab, dann tauchte etwas Schwarzes, Hohes, Massiges auf.

Der Vater klingelte.

»Jetzt kann uns Mutter schon hören.«

Es ging durch das Tor der massigen Mauer, die beiden Fenster im Inspektorenhaus rechts waren hell. Nun, während sie darauf zufuhren, ging die Tür auf, ein Lichtschein fiel heraus, die Mutter stand in ihm ...

Knirschend hielt das Rad an.

»Da bist du ja, Willi«, sagte die Mutter. »Komm schnell rein. Sicher hast du schrecklichen Hunger. Ich habe dir Erbensuppe vom Mittag aufbewahrt.«

 

2

Eines schönen Frühjahrsmorgens sagt Staatsanwaltschaftsrat Gröschke zu seinem Assessor: »Ich habe da am Freitag den Fall Kufalt. Sehen Sie doch mal die Akten ein und arbeiten Sie mir einen Boden aus. Nehmen Sie jede Straftat genau unter die Lupe. Und zeichnen Sie mir den Strafrahmen auf, der für jede Tat ausgeworfen ist. Ich möchte für die Strafanträge ganz klar sehen.«

»Wird tadellos gemacht«, sagt der Staatsanwaltschaftsassessor Söhnlein und kniet sich in die Akten.

Söhnlein hat zwei Leidenschaften: Kakteenzucht und Strafrecht. Aber die zweite ist die größere. Er ist gewissermaßen ein Arithmetiker des Gesetzes: die Menschen verflüchtigen sich unter seinen Händen, die Paragraphen bleiben. Dann lösen sich auch die Paragraphen auf und werden zu Zahlen. Dinge sind geschehen, Leidenschaften waren los, Wünsche, Begierden, Kämpfe – nun werden Zahlen daraus, nur Zahlen. Und am Freitag wird Herr Staatsanwaltschaftsrat Gröschke diese Zahlen benutzen.

Da ist nun der Fall Wilhelm (nicht Willi) Kufalt.

Söhnlein schreibt:

»Vorbestraft 1924 mit 5 Jahren Gefängnis wegen

  1. Unterschlagung aus § 246 StGB.
  2. Schwerer Urkundenfälschung in verschiedenen Fällen aus § 268 StGB.«

»Schön, schön, sehen wir weiter, was er diesmal auf der Schippe hat.«

Der Assessor schreibt:

›1. 14–15 ›selbständige‹ Handtaschendiebstähle, da der Täter jedesmal neu den Entschluß zu einer Wegnahme faßt ...‹

»Kommt hier unzweifelhaft in Frage.«

›§ 249 StGB. (Raub) und gleichzeitig § 223 StGB. (Körperverletzung), und zwar § 223 a StGB., da die Körperverletzung mittels eines hinterlistigen Überfalls begangen wurde. Der in Frage kommende Strafrahmen ist nach § 73 StGB, nur aus § 249 StGB. zu entnehmen. Es liegt bei Raub und Körperverletzung nur eine Handlung vor, die nur nach einem Deliktbestand zu bestrafen ist:

1 – 15 Jahre Zuchthaus, bei mildernden Umständen 6 Monate bis 5 Jahre Gefängnis.‹

»Aber der Raub ist ja auf öffentlichem Wege begangen!«

Er schreibt:

›Also nicht § 249 StGB., sondern § 250 Ziffer 3 StGB.:

5 – 15 Jahre Zuchthaus, bei mildernden Umständen 1 – 5 Jahre Gefängnis.‹

»Kommt Nummer 2. Also ...«

Er schreibt:

2. ›Diebstahl‹ des Sparkassenbuchs und von 37,56 RM Bargeld ist ein ›räuberischer Diebstahl‹. Der Täter ist nach § 252 StGB. wie ein Räuber zu bestrafen. (S. o. § 249 StGB.)

3. Tip für Schaufenstereinbruch gleich Beihilfe zu Einbruchsdiebstahl: §§ 243 Abs. 1 Ziffer 2, 49 StGB.

4 Monate 15 Tage bis 1 Jahr 4 Monate 15 Tage Gefängnis. Oder: 1 Jahr bis 9 Jahre 11 Monate Gefängnis, bei mildernden Umständen 22 Tage Gefängnis bis 4 Jahre 11 Monate 29/30 Tage Gefängnis.

Auch wenn das Verbrechen gegen den Willen des Gehilfen zustande kommt, ist es zu bestrafen. Ein von Strafe befreiender Rücktritt des Gehilfen liegt nicht vor, da er nicht die Förderlichkeit seiner Tätigkeit für die Haupttat beseitigt hat.

4. Erpressungsversuch beim Führer der Einbrecherbande §§ 253, 43 ff. StGB.

7 Tage bis 4 Jahre 11 Monate 29/30 Tage Gefängnis.‹

»Na also«, sagt Herr Assessor Söhnlein vergnügt zu sich. »Das ist ja fein fix gegangen. Wollen wir also die Zusammenstellung für die Strafabmessung machen. Strafschärfende Voraussetzungen liegen kaum vor. Also«: Er schreibt eifrig, er rechnet:

1. Raub in Idealkonkurrenz mit Körperverletzung,
15 verschiedene Handlungen, mildernde Umstände:
1 Jahr 2 Monate Gefängnis
      8 " "
      9 " "
      10 " "
  1 " 3 " "
  2 " " "
      7 " "
      8 " "
      11 " "
  1 " 2 " "
      9 " "
      10 " "
  1 " 4 " "
  1 " " "
      9 " "
2. Räuberischer Diebstahl 2 " " "
3. Beihilfe zum Einbruchsdiebstahl     3 " "
4. Erpressungsversuch 1 " 2 " "
  ________________________________
Zusammen: 18 Jahre 1 Monat Gefängnis
davon als Gesamtstrafe: 10 Jahre Gefängnis.‹          

»So«, sagt der Assessor Söhnlein und betrachtet liebevoll sein Werk, »das wird ungefähr stimmen. Ein bißchen hoch gerechnet, aber es kommt ja doch immer was runter.«

 

3

Das große, geschlossene, grüne Auto hupte einmal gellend vor dem Anstaltstor, am Fenster des Torhauses erschien ein Wachtmeistergesicht, nickte dem Schupochauffeur zu, und kurz darauf öffnete sich langsam das große, zweiflüglige Tor.

Das Transportauto fuhr durch den Torweg, über einen Platz und hielt vor dem Verwaltungsgebäude.

Vorne kletterte der Chauffeur heraus, dann kamen hinten aus dem Wagen zwei Schupos, und aus dem Verwaltungsgebäude traten fast gleichzeitig vier Beamte, davon einer in Zivil.

»Die Einlieferung«, sagte der Schupo.

»Wieviele?« fragte der Zivilist.

»Fünf Mann«, sagte der Schupo.

»Schön«, sagte der Zivilist. »Was Längeres dabei?«

»Weiß ich nicht, habe ich mir nicht so genau angesehen. Einen haben wir fesseln müssen, hat rote Papiere.«

»Heißt?«

»Warten Sie mal. Hier. Kufalt. Sieben Jahre hat er. Raub, Einbruchsdiebstahl, hat das ganze Strafgesetzbuch.«

»Hat wohl mal türmen wollen?«

»Möglich. Keine Ahnung. Im Wagen war er friedlich.«

»Also los.«

Die beiden Schupos gehen in den Wagen und schließen die Zellen auf. Eine Wolke von grauem, stinkendem Tabaksqualm dringt heraus.

»Schweine«, sagt der Schupo. »Ich hab' euch das Rauchen doch extra verboten.«

Dann kommen die Gefangenen.

Erst ein kleiner, alter Mann mit einem weißen Totenkopf, der sich angstvoll umsieht. Dann ein junger Mensch, mit schwarzem, krausem Haar, sehr schick gekleidet, tadellose Bügelfalte, der überlegen die Beamten mustert und dann leise pfeifend die Hände in die Taschen steckt.

»Nehmen Sie die Hände aus den Taschen, sofort!«

Der Mann tut es, absichtlich langsam.

»Frisch heute morgen, Herr Inspektor«, sagt er. »Ich glaub', der alte Wackelkopf hat vor Angst in die Hosen geschissen.«

»Wie –?!«

»Er stinkt jedenfalls wie 'ne ganze Latrine.«

»Hören Sie mal«, sagt der Beamte drohend zu dem zitternden alten Mann, »ist das wahr, was der sagt –? Haben Sie in die Hosen –?«

»Ogottogott«, wimmert der Alte, »tun Sie mir bloß nichts, Herr ... Ich kann nichts dafür ...«

»Stellen Sie sich da drüben hin. Na, der Hausvater wird sich über Sie freuen, da können Sie was erleben ...«

Unterdes sind Nummer drei und vier aus dem Wagen geklettert. Drei ist ein langer, schlottriger Mann, in ganz verbrauchtem Anzug: »Morrgen, Panje Inspektor!« sagt er.

»Halts Maul. Polski, was? Brauche von dir keinen guten Morgen!«

Aber der vierte, ein dicker, behäbiger Mann, wie ein friedlicher Stammtischsitzer: »Tag, Herr Oberinspektor Fröschlein. Tag, Herr Fritze. Tag, Herr Haubold. Tag, Herr Wenk. Sie sind Oberwachtmeister geworden? Fein, ich gratuliere schön.«

Dann mit einem entschuldigenden Lächeln: »Ich bin auch mal wieder da, aber nur eine Kleinigkeit diesmal. Neun Monate. Kleiner Betriebsunfall.«

Die Beamten grinsen alle erfreut.

»Na, Häberlein, was war's denn diesmal?«

»Och, och, reden wir nicht davon, die Menschen sind ja saudumm. Verstehen keinen Spaß mehr.« Plötzlich sehr besorgt: »Ob ich meinen Posten in der Küche wiederkriege? Sie wissen doch, Herr Oberinspektor, keiner kocht so gut wie ich.«

»Und keiner frißt so viel wie Sie, Häberlein. Na, ich werde mal mit dem Arbeitsinspektor reden. – Los, der letzte Mann. O Gott, sieht der aus!«

»Das kann man wohl sagen«, brummt ein Wachtmeister.

Mühsam klettert Kufalt aus dem Wagen. Sein Anzug hängt in Fetzen, sein halber Kopf steckt in einem weißen Verband, der von Blut durchtränkt ist, sein einer Arm ist in einer Binde.

»Was haben Sie denn gemacht, Menschenskind?«

»Ich hab' mich geprügelt mit einem«, sagt Kufalt.

»Sieht mehr so aus, als wenn der Sie geprügelt hätte«, stellt der Beamte fest. »Na, Wachtmeister, nehmen Sie ihm die Kette ab, er wird schon nicht türmen.«

»Will überhaupt nicht türmen«, sagt Kufalt. »Bin froh, daß ich hier bin.«

»Jemanden in die Pfanne gehauen, was?« fragt der Beamte. »Kommt Ihr Freund nicht auch hierher?«

»Glaube ich nicht. Hat Zet gekriegt. »

»Seien Sie froh, der schreibt eine kräftige Handschrift – Abrücken!«

 

4

»Was mache ich nun mit Ihnen«, sagt der Hausvater gedankenvoll. »Baden bei der Aufnahme ist Vorschrift Aber es geht doch nicht, so verbunden wie Sie sind.«

»Oh, das geht schon, Herr Hauptwachtmeister«, schmeichelt Kufalt. »Das sieht nur so schlimm aus. Ein Bad möchte ich gerne haben. Im Untersuchungsgefängnis verdreckt man immer.«

»Na, meinethalben. Peter, bade ihn. Aber nicht unter der Brause. Diesmal können wir schon die Wanne nehmen.«

»Jawohl«, sagt der Hausvater-Kalfaktor, ein alter Glatzkopf, »komm, Neuer.«

»Ist ein Wachtmeister beim Baden bei?« flüstert Kufalt.

»Kuckt höchstens mal rein. Hast was?«

»Vielleicht. Biste stiekum?«

»Ich geh' in Ordnung«, prahlt der Glatzkopf. »Ich habe noch nie einen in die Pfanne gehauen. Mir kannste alles anvertrauen. Ich liefere dir alles ab. Hast wohl schon mehr abgerissen?«

»Doch, doch«, sagt Kufalt. »Fünf Jahre.«

»Und jetzt?«

»Sieben.«

»Au Backe, das zieht hin.«

»Wat denn, wat denn«, sagt Kufalt. »Sieben Jährchen und Backe. Da brauche ich keine Zelle für, die reiß' ich auf der Treppe im Stehen ab.«

»Du hast 'nen Nerv.«

»Wat denn? Wieso Nerv? – Wie ist hier der Arbeitsinspektor? Kriegt man hier leicht einen Druckposten?«

»Kommt darauf an«, sagt der Kalfaktor, die Hähne aufdrehend. Wasser stürzt in die Wanne. »Badste gerne heiß?«

»Mittel. Nu wollen wir mal sehen. Hilf mir ein bißchen beim Ausziehen. Mit dem Arm geht das noch gar nicht.«

»Wer hat dich denn so durch den Wolf gedreht?«

»Mein Kumpel. Wollte mich in der U-Haft vom dritten Stockwerk runterschmeißen.«

»Au Backe.«

»Na, was denkst du, was ich den in die Hand gebissen habe, der hat geschrien! – Wie ist denn hier der Alte?«

»So lila, wie so'n Alter eben ist. Zu sagen hat er nicht viel. – Hat sich's denn gelohnt?«

Kufalt sagt feierlich: »Hundertfünfzigtausend!«

»Wie? Was? Du sohlst ja!«

»Hast du nicht in der Zeitung gelesen vom Juweleneinbruch in Hamburg bei Wossidlo?«

»Natürlich! – Und?«

»Habe ich gedreht!«

»Du Mensch?« Der Kalfaktor starrt bewundernd. Dann flüstert er: »Haste was beiseite gekriegt?«

Kufalt lächelt vielsagend: »Davon redet man nicht. Vielleicht erlebst du noch mal was mit mir. Kneiste mal, ob die Luft sauber ist?«

»Alles in Ordnung«, meldet der Kalfaktor gehorsam.

»Schön. Dann wickle die Binde von meinem Arm ab. So. Langsam, daß nichts ins Wasser fällt. Siehst du, da ist das erste Päckchen Tabak. So. Leg's erst mal unter die Wanne. In der Blechschachtel habe ich Priem. Nochmal Tabak. Und auf ein drittes! Blättchen habe ich auch. Streichhölzer auch. Gott sei Dank, daß ich den Arm wieder rühren kann. Er war schon ganz eingeschlafen.«

Und er bewegt feste den Arm.

Der Kalfaktor ist nur Bewunderung: »Du hast den Bogen aber raus. Ist denn gar nichts mit deinem Arm?«

»Quatsch, was soll mit dem sein? Hat mir der Lazarettkalfaktor gemacht. Für ein Paket Tabak. Hör zu, Mensch. Hältste dicht und verpfeifst mich nicht, dann kriegst du ein halbes Paket Tabak.«

»Ein ganzes«, fordert der Kalfaktor.

»Hau ab«, sagt Kufalt und steigt in die Wanne, »wo ich selbst nur drei habe.«

»Na, du kriegst doch immer frischen.«

»Weiß man nicht, muß man erst Bescheid wissen im Bau, mit wem man schieben kann. – Wann kommt der Arzt?«

»Der Arzt? Morgen!«

»Au weh. Muß ich ja meinen Verband abmachen. Werden die Zellen hier sehr gefilzt?«

»Nee. Du tust deinen Tabak am besten in die Matratze. Da wird nie nachgesehen. Nach Einschluß kannst du schön rauchen. Die Nachtwache sagt nichts.«

»Schön, schön. Also, ich will dir ein Paket Tabak geben. Ich krieg' schon wieder frischen. Aber du gibst mir nachher auf der Kammer einen tadellosen neuen Anzug.«

»Ist gemacht. Suchen wir dir gleich nachher raus.«

Wohlig aufseufzend, reckt sich Kufalt in der Wanne: »Eigentlich ist es großartig, wenn man wieder drin ist. Hat man doch wieder seine Ordnung.«

»Versteht sich«, sagt der Kalfaktor. »Aber sieben Jahre – na, du wirst noch an mich denken.«

»Mensch, wo ich schon fünf Jahre abgerissen habe! Sieben ist auch nicht viel mehr. Und vielleicht kommt 'ne Amnestie. Hauptsache, daß man immer zu rauchen hat und kriegt einen Druckposten. Aber keine Bange. Ich werde schon für mich sorgen.«

 

5

Der erste aufregende Tag mit seinem Hin und Her, mit Vorführung, Einkleidung, Zuteilung ist vorüber, Einschluß ist gewesen und Kufalt sitzt allein in seiner Zelle 207 auf dem Bett.

Durch das Gefängnis gehen noch die üblichen, altgewohnten Abendgeräusche: ein Bett schlägt polternd auf den Fußboden, jemand pfeift in seiner Zelle selbstvergessen vor sich hin und der Nachbar protestiert mit Gebrüll, zwei unterhalten sich ein Stockwerk tiefer von Fenster zu Fenster, ein Kübeldeckel klappert, ein Wachhund jault auf dem Hof.

Kufalt ist in Ordnung, Kufalt ist zufrieden. Er hat eine schöne Zelle gekriegt, Material alles tadellos, die Bürsten noch so gut wie neu. Hinter dem Kübel hat er Lunte, Stein und Schnurrädchen gefunden, braucht er also keine Streichhölzer, hat er gleich was zum Verscheuern. Einen fleckenlosen Anzug hat er gefaßt, auch gute Schuhe, seine Wäsche ist auch gut, das grobe Hemd kratzt noch ein bißchen, aber daran gewöhnt man sich in drei Tagen.

Mit dem Arbeitsinspektor hat er auch schon gesprochen, scheint ein netter Mann, sobald er gesund geschrieben ist, kommt Kufalt zu den Aluminiumarbeiten. Hat die Gußnähte von den Griffen abzufeilen, die Arbeit kennt er noch nicht, das wird Spaß machen. Mal was anderes, Netze stricken gibt's in diesem Kittchen nicht.

Es dämmert rasch, er sitzt da auf seinem Bett, in der Fußmatratze ist der Tabak untergebracht. Nun wartet er, daß er die Nachtwache vorbeilatschen hört. Sind die vorbei, kann er in aller Ruhe eine stoßen. Zu Anfang darf man nicht zu pampig sein im Bau, mit der Zeit lernt man dann schon, wo man was riskieren kann.

Morgen wird er erst einmal den Kübeldeckel wienern, der ist noch nicht so, wie er sein soll. Für ein paar Streichhölzer kriegt er sicher Putzpomade und hat gleich einen Stein beim Hauptwachtmeister im Brett, wenn alles glänzt. Als nächstes wird er dann die Fenster waschen, es eilt nicht, er hat alle Zeit und wird seinen Kram schon in Schuß kriegen.

Nur muß er bald arbeitsfähig geschrieben werden, sonst wird es zu langweilig auf der Zelle. Übermorgen werden erst Bibliotheksbücher ausgegeben, bis dahin muß er sich mit Bibel und Gesangbuch behelfen. Mit dem Bücherkalfaktor muß er schmusen, daß er immer ganz dicke Wälzer kriegt. Vorläufig bekommt er ja nur ein Buch, das die ganze Woche vorhalten muß, aber er rechnet bestimmt darauf, daß er in einem halben Jahr schon in die zweite Stufe, in der zwei Bücher die Woche erlaubt sind, kommt.

Wenn er auch vorbestraft ist, er wird schon seinen Schmus überall anlegen, das kann er. Das hat er gelernt. Er hat sich auch schon zum Pastor vormelden lassen, diesmal wird er nicht so dumm sein und es mit dem Pastor verderben. Das hat in seinem ganzen Leben noch nie getaugt, man muß aus seinen Dummheiten auch was lernen.

Jetzt könnten die übrigens gut kommen, die Filzlatscher, er hat strammen Hunger auf ein Stäbchen!

Aber besser ist es hier doch als draußen. Draußen hat man die Dinger so weggeraucht, sich gar nichts mehr dabei gedacht, hier – laß mal sehen, seit er aus dem Vater Philipp geklettert ist, das sind nun netto acht Stunden, hat er nicht mehr geraucht. So was hat's draußen nicht gegeben. Und ordentlich Ruhe zum Bücherlesen hat man draußen auch nicht. Er wird sehen, daß er erst mal 'ne Reisebeschreibung kriegt. Hedin ist immer so schön dick, und manchmal ist auf den Photos eine nackte Frauenbrust oder auch ein Bein – klappt der Laden wieder.

›Knips‹, geht es, und seine Zelle wird hell.

Er springt auf und stellt sich stramm. Der Schieber am Spion hat geklappert, aber die Scheibe blendet. Er kann das Auge nicht sehen.

»Legen Sie sich hin, Mensch, Sie warten wohl noch aufs Kindermädchen?«

»Wäre nett, Herr Hauptwachtmeister«, grinst Kufalt die Eisentür an und macht sich sofort ans Ausziehen.

»Na, denn gute Nacht.«

»Gute Nacht, Herr Hauptwachtmeister. Danke auch schön.«

›Knips‹, geht es, und die Zelle ist wieder dunkel.

Kufalt drückt sich an die Tür und lauscht.

Er hört den Schritt weiter fort, dann drüben auf der andern Seite, und nun knarrt die Treppe, die Luft ist rein.

Er nimmt die schon gedrehte Zigarette, auch ein Streichholz – heute noch mal ein Streichholz, geht bequemer – rückt den Tisch unters Fenster, stellt den Schemel darauf und klettert vorsichtig im Dunkeln hoch.

Dann hält er sich mit einem Arm an der Lüftungsklappe fest, brennt die Zigarette an und pafft zum Fenster hinaus.

Wie das schmeckt, o Gott, man kann sich die ganzen Lungen vollpumpen, Zigarette im Bunker ist was Herrliches, das Beste von der Welt!

»Du, Neuer«, flüstert eine halblaute Stimme.

»Ja?« fragt er dagegen.

»Rauchst du?«

»Das riechst du wohl!«

»Bring mir morgen ein bißchen Tabak zur Freistunde mit. Ich bin dein Nachbar links.«

»Mal sehen.«

»Nee, bestimmt. Ich erzähl' dir auch was von unserm Stationsbullen. Dann kriegst du bald einen Druckposten.«

»Warum hast du denn keinen?«

»Och, ich komm' in fünf Tagen raus.«

»Haste Schwein. Wie lange haste denn abgerissen?«

»Ganze Ecke – anderthalb Jahre.«

»Anderthalb Jahre sagst du ganze Ecke?! Ich hab' sieben!«

»Na, ich weiß ja nicht ... Was hast du denn ausgefressen?«

»Hab' den Juwelenraub bei Wossidlo am Jungfernstieg gemacht. Wirst du ja von gehört haben.«

»Donnerwetter! Dann sind sieben Jahre billig. Hast du was gehabt vom Kies?«

»Fein, sage ich dir.«

»Du, Kumpel ...«, fängt der andre an.

»Was denn?«

»Wenn ich dir 'nen Brief rausbesorgen soll, und du möchtest vielleicht Geld haben, hierher ins Kittchen, auf mich kannst du dich verlassen. Ich halte dicht. Ich verrate den Bullen nicht, wo du den Zaster hast ...«

»Will ich mir mal überlegen.«

»Ich habe aber nur noch fünf Tage.«

»Ich gebe dir schon noch Bescheid. Weswegen bist du denn drin?«

»Unterschlagung ...«

»Na, Mensch, ob ich dich da grade an meine Marie ranlasse ...«

»Ich werd' doch 'nen Kumpel nicht bestehlen, was denkst du denn von mir! Die Speckjäger, ja, immer. Aber einen Kumpel – wo du noch sieben Jahre hast! Nicht wahr, da gibst mir einen Brief mit? Hat es deine Braut?«

»Vielleicht ...«

»Hör mal zu, Genosse«, sagt der andere eifrig, »ich kann dir ja auch kaufen, was du brauchst. Ich krieg's schon rein zu dir ins Kittchen, da hab bloß keine Angst. Und Tabak brauchst du mir morgen auch nicht mitzubringen. Ich hab' Tabak stief. Ich hab's nur gesagt, weil ich gedacht habe, du bist grün. Ich kann dir 'nen Schwung Tabak abgeben, auch Blättchen. Und dann habe ich ein feines Stück Toilettenseife. Sollst du auch haben ...«

»Na, denn gute Nacht, Kumpel«, sagt Kufalt. »Ich hau' mich in die Falle. Mit dem Brief, das beschlaf' ich mir noch.«

»Tu das man und laß dich bloß nicht mit den Kalfaktoren ein, die Brüder hauen dich glatt in die Pfanne. – Du, psst, Kumpel, bist du noch da?«

»Ja, ich gehe jetzt aber.«

»Wieviel sind's denn?«

»Na, es waren so fünfzehntausend. Zwei oder drei sind weg ...«

»Mensch, Kumpel, und das hat deine Braut?! Dafür reiß' ich zehn Jahre ab. Zwölf meinethalben ...«

»Nacht, Kumpel.«

»Nacht, Genosse. Ich vergess' deinen Tabak morgen nicht.«

Kufalt ist sachte von seinem Thron runtergestiegen, hat alles schön fortgeräumt und sich hingehauen.

Der sabbelt ihn ja tot. Aber nützlich, eine richtige doofe Nuß, die man hochnehmen kann. Der wird glotzen, wenn man ihm einen Brief mitgibt, er soll sich tausend Mark abholen, etwa bei dem feinen Maschinenfräulein auf der Schreibstube von Jauch, oder noch besser bei der Liese. Die würde ihn feste durch den Kakao ziehen.

Kufalt hat die Decke schön hoch über die Schultern gezogen, im Kittchen ist es angenehm still, er wird großartig schlafen.

Fein, wenn man wieder so zu Hause ist. Keine Sorgen mehr. Fast, wie man früher nach Haus kam, mit Vater zur Mutter.

Fast?

Eigentlich noch besser. Hier hat man ganz seine Ruhe. Hier quatscht keiner auf einen los. Hier braucht man nichts zu beschließen, hier hat man sich nicht so zusammenzunehmen.

»Schön, so 'ne Ordnung. Wirklich ganz zu Haus.«

Und Willi Kufalt schläft sachte, friedlich lächelnd ein.


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