Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Viertes Kapitel. Der Weg ins Freie

1

Das Vertrauen, das Pastor Marcetus in die Klugheit seines Schützlings gesetzt hatte, rechtfertigte Kufalt, kaum hatte der letzte Besucher Friedensheim verlassen, vollkommen. Mit einem nicht zu überbietenden Eifer half er Minna und der elegischen Frau Seidenzopf, Gardinen abzunehmen, Bilder in eine Truhe zu verstauen, Läufer einzurollen und auf den Boden zu bringen. Dann legte er mit Minna die weiße Bettwäsche schön sauber in die alten Plättbrüche, und als die baden zum Schluß noch eilig über die Straße zum Gärtner gelaufen waren, um die entliehenen Topfpflanzen zurückzugeben, als auf dem neu gebohnerten Boden die Spur der vielen geistlichen und fürsorgerischen Gummiabsätze beseitigt war –: da lagen die Bäume wieder in jenem Zustand öder Schlichtheit, die dem Entlassenen den Übergang aus dem Gefängnis so unmerklich machte.

Dann, als gegen halb sieben Petersen und Beerboom angeprescht kamen, gab es natürlich eine hübsche kleine Auseinandersetzung mit dem Studenten wegen Fortlaufens. Aber Kufalt war nicht gesonnen, sich noch irgend etwas sagen zu lassen, nein.

» Ich will Ihnen etwas sagen, Petersen«, äußerte er. Was Sie da »zählen von Sorgen meinetwegen, das ist alles Kohl, an mir liegt Ihnen gar nichts.«

»O bitte!«

»Reden Sie doch nicht. Gar nichts. Sie haben bloß Angst um Ihre Stellung. Alles, was da gequatscht wird, daß Sie unser Freund sind und Berater, das ist Scheibe. Denn warn Sie für uns sind, dann sind Sie gegen Marcetus und Seidenzopf und dann werden Sie entlassen.«

»O bitte! So ist das doch nicht. Ich kann immer vermitteln.«

»Jawohl, den Pflaumenweichen markieren. Sagen Sie doch mal, wieso kriegen wir für die Adressen, wo die Schreibstube zwölf Mark einsackt, nur sechs und manchmal sogar nur viereinhalb?«

»Mit den Geldgeschichten habe ich nichts zu tun.«

»Das wäre aber das erste, worum Sie sich kümmern müßten. Jede Woche hören Sie den Krakeel bei der Abrechnung mit Seidenzopf und sehen, wie sich alle dabei aufregen, und da sagen Sie, Sie haben nichts damit zu tun. Und Sie wissen genausogut wie ich, daß es ein Wahnsinn ist, den Beerboom neun und zehn Stunden Büro absitzen zu lassen, der wird doch immer verrückter ...«

Beerboom bestätigt es klagend: »Werde ich auch!«

»... aber unser Fürsorger riskiert keinen Ton.«

»Er muß sich eben allmählich an geregelte Tätigkeit gewöhnen.«

»Und gestern komme ich in den Zigarrenladen, hier, zehn Häuser weiter, und kauf mir meine sechs Juno, und da sagt das Mädchen im Laden doch wirklich zu mir: ›Sie sind doch auch von da?‹ – ›Von wo bin ich?‹ frage ich. ›Na, Sie wissen schon‹, sagt sie. ›Ist das wahr, daß der dunkle Herr bei Ihnen Raubmörder ist? Der hat mich nämlich gefragt, ob ich nicht mal mit ihm ausgehen möchte oder ob ich zu stolz wäre, mit einem Raubmörder auszugehen. Ich wär ja gegangen‹, sagt sie, ›aber meine Mutti hat es nicht erlaubt‹ ...«

»O Gott«, jammert Beerboom, »ich hab' es ihr doch nur darum gesagt ...«

»Du hältst jetzt die Klappe, Beerboom! Du willst dich bloß interessant machen. – Aber warum wissen Sie das alles nicht, Petersen, Sie unser Freund und Berater –? Sie hätten längst mit dem Marcetus sprechen müssen, von wegen weicher Birne und so. Im Prospekt steht auch, Sie schlafen mit uns, Sie haben alles wie wir. Warum haben Sie denn da ein Extrazimmer und weiße Bettwäsche und warum bohnern Sie Ihre Bude nicht selbst, sondern wir müssen das für Sie machen –?«

»Und warum sagen Sie mir das alles?« fragt Petersen böse. »Wenn Sie das alles wissen, dann wissen Sie doch auch, daß ich hier gar nichts zu sagen habe!«

»Weil Sie sich aufspielen! Weil Sie hier große Töne quatschen von Sorgen meinetwegen! Weil Sie nichts sind wie ein Aufpasser! Weil ich Sie zum Kotzen über habe! Weil Sie mich in Ruhe lassen sollen!«

»Herr Kufalt ...«

»Ach was, lassen Sie mich zufrieden!«

»Hören Sie doch, Herr Kufalt!«

»Zufrieden sollen Sie mich lassen!«

»Sie sind ungerecht.«

»Gerecht soll ich auch noch sein! Ausgerechnet ich! Guten Abend, meine Herren!« Und er geht in den Schlafraum, wütend die Türen schmetternd.

Aber in Wirklichkeit ist er gar nicht wütend, in Wirklichkeit jubiliert und psalmodiert es in ihm: ›In die Freiheit! Ins Freie! Geschafft!!‹ –

Und dann wird es wieder Morgen, ein strahlend frischer Morgen in der Junimitte. Kufalt hat es langsam dämmrig werden sehen, er hat sich noch einen Augenblick umgedreht und die Augen zugemacht, und als er wieder zum Fenster schaut, ist es schon ganz hell und die Sonne scheint und die Vögel lärmen.

Dann, wie am Vormittag Vater Seidenzopf bei seinem gewohnten Rundgang eilig an seinem Tisch vorüberstreicht, sagt Kufalt halblaut: »Ich möchte heute mal zwei Stunden früher Schluß machen, Herr Seidenzopf.«

»Ja, ja«, sagt Wolle-Teddy und will eilig weiter.

»Ich will mir ein Zimmer mieten.«

»Wie? Was? Zimmer mietet Herr Petersen für unsere Herren.«

»Bei mir aber nicht«, sagt Kufalt und guckt.

»Ähemm! Ähemm! – Also gehen Sie schon«, murmelt Seidenzopf und rennt weiter.

Vom Nebentisch, der Maack sieht Kufalt einmal an, nickt und kliert weiter. Kufalt hämmert auf seine Maschine: ›Frei‹, denkt er. ›Endlich frei ...‹

Am Nachmittag geht er dann los. Er findet sich glatt hin nach der Marienthaler Straße. Gut im Gedächtnis geblieben, ja, ja. Doch in welchem Hauseingang verschwand sie? Er hat es schon in jener Nacht nicht genau gesehen, und nun ist er ganz unsicher. Es wäre so wichtig, wenn er das richtige Haus träfe, immer hat er an das kleine, zierliche Herzgesicht gedacht.

Schließlich geht er aufs Geratewohl, wenn's stimmen soll, wird's schon stimmen!

»Darf ich das Zimmer mal sehen?«

Die kleine rundliche Frau mit den weißen Scheiteln zeigt es ihm. (›Kann das ihre Mutter sein?‹)

»Haben Sie sonst noch Mieter?«

»Nein, niemanden. Nur meine Tochter lebt noch bei mir, ich bin Witwe. Meine Tochter geht ins Geschäft.«

»Was soll das Zimmer denn kosten?«

»Dreißig Mark mit Morgenkaffee. Aber Schuhe putzen wir nicht.«

»Ist auch nicht nötig.« Kufalt tut einen Blick rundum. »Also gut, ich miete das Zimmer. Ich zahle gleich zehn Mark an. Und hier sind noch sechs Mark. Es ist möglich, daß meine Sachen in den nächsten Tagen mit Fracht kommen. Die bezahlen Sie dann. Ich ziehe am Ersten zu. Also gut ... schön ...«

Er sieht sich wieder um und sagt plötzlich, ganz unerwartet herzlich: »Also auf gute Freundschaft, Frau Wendland. Guten Abend.«

Es geht alles geradezu beängstigend glatt. Da ist die Abrechnung mit Vater Seidenzopf, schön, abends im Einschlafen hat Kufalt mit Wolle-Teddy Kämpfe bestanden: ›Sie haben kein Recht, mir mein Geld länger vorzuenthalten, es ist mein Arbeitsverdienst ...‹

Und nun zahlt ihm Seidenzopf das Geld glatt auf den Tisch. Er knüpft nicht einmal eine Bemerkung daran, es scheint die selbstverständlichste Sache, daß Kufalt Friedensheim verläßt. Der letzte Heiminsasse, Beerboom, hilft ihm die Sachen tragen.

Sie gehen durch das abendliche Hamburg, Kufalt sagt zu Beerboom: »Nun sind Sie der Nächste.«

Beerboom ist heute auch vergnügt: »Natürlich, die können mich doch nicht ewig halten.«

»Gespannt bin ich nur, ob meine Sachen schon da sind«, sagt Kufalt.

Ja, sie sind da, in dem hellen Zimmer stehen zwei Kisten und ein großer Koffer.

»Das Geld hat nicht gereicht«, klagt die alte Wendland. »Drei Mark zehn habe ich noch ausgelegt.«

»Kriegen Sie gleich wieder. – Wie ist es, haben Sie vielleicht Zange und Brecheisen, daß ich die Kisten aufmachen kann –? Nein, nicht –? Gar nichts? Aber Sie müssen doch so was im Haus haben! Wirklich nicht? Wo ist denn die nächste Eisenhandlung? Schön. Zehn Minuten vor sieben, da muß ich laufen. Sie warten hier so lange, Beerboom, ich bin gleich wieder da.«

Er läuft. Seine Backen glühen. Guter Gott im Himmel, zwei Kisten, ein großer Koffer, ein Handkoffer, zwei Kartons – und vor sechs Wochen in der kahlen Zelle, mit nichts, ohne alles. ›Ich komme mir‹, jubiliert er. ›Was in den Kisten wohl drin sein mag? Ich bin ja sooo gespannt!‹

Hammer und Zange in der einen, das Brecheisen in der andern Hand, stürmt er die Treppen wieder hinauf. Er klingelt, hinter der Tür tuschelt es, weinerlich die alte, spitz eine junge Stimme (›das ist nicht die Stimme vom Herzgesicht!‹), er klingelt wieder, heftigeres Tuscheln, noch einmal geklingelt, nun aber feste!!!

»Das hat ja endlos gedauert! – Wo ist denn mein Freund? Schon fortgegangen? Wieso fortgegangen? – Was haben Sie denn? Was ist denn los?«

Die Alte sagt zitternd, stammelnd: »Ach bitte, lieber Herr, tun Sie mir die Liebe, ziehen Sie gleich wieder aus. Ich gebe Ihnen auch all Ihr Geld wieder.«

Kufalt versteht gar nichts: »Ausziehen? Aber wieso denn?«

Sie stottert: »Was mein Sohn ist, mein Schwiegersohn – wir brauchen das Zimmer, er kommt gleich.«

»Sie brauchen das Zimmer? Sie haben mir das Zimmer vermietet!«

»Lieber Herr, machen Sie mich nicht unglücklich, ziehen Sie aus!«

»Ich denke ja gar nicht daran! Jetzt am späten Abend ...«

Da ertönt eine spitze Mädchenstimme hinter der Tür: »Wenn der Herr nicht gleich zieht, rufen wir die Schupo. An solche braucht man nicht vermieten. Ihr Freund hat selbst gesagt, er ist ein Raubmörder.« Pause, dann gesteigert, fast schreiend: »Und Sie sind auch aus dem Zuchthaus!«

Kufalt steht einen Augenblick da. Er macht einen raschen Schritt gegen die Tür. Dann merkt er, daß er neben einem Spiegel steht. Nun gut, das ist er also. Da steht er. Es ist schon Dämmerung, aber da steht er. Komisch, der Hammer tanzt ein bißchen in der Hand, hebt sich an, als wollte er schlagen. Er zittert, er ist aufgeregt, natürlich, da kann man schon aufgeregt sein – oder etwa?

Plötzlich sieht er – auch im Spiegel – die dunklen, angstvollen Augen der Frau Wendland, ihr schneeweißes Gesicht.

»Erledigt«, sagt Kufalt und faßt den Hammer wieder fester. »In spätestens einer Stunde hole ich meine Sachen. Geben Sie das Mietgeld her. Los!«

 

Es ist abends neun Uhr.

Kufalt steht vor einer Kiste und überlegt, ob er sie noch aufbrechen darf. Vielleicht stört er Nachbarn, die Wirtin. Er darf nicht wieder Stunk haben, so was schwatzt sich herum. Nun gut, wenn es herauskommt, wird er wieder ausziehen müssen, wahrscheinlich wird er noch oft umziehen müssen, es wird immer irgendwie rauskommen.

Schön. Er wüßte gerne, was in dieser Kiste ist, aber er wagt es nicht. Er wagt es nicht. Er steht so da, die Fenster sind offen, es ist angenehm viel Luft im Zimmer, auch Friedensheim war stets wie Zelle. Jetzt hat er Luft genug und ein großes, offenes Fenster und ein weißes Bett. Aber er wagt es nicht.

Es ist eine große, hagere Frau, bei der er gemietet hat. Eine Arbeiterfrau, auch Witwe, Frau Behn, Witwe Behn. Fünfundzwanzig Mark, und das Zimmer blitzt nur so. Eine zerarbeitete Frau, das Gesicht nicht sehr gut, etwas wüst und böse, magere gierige Hände, gebogene Finger.

›Hierbleiben‹, denkt er. ›Eine Weile in Ruhe hierbleiben. Sie hat mir doch wahrhaftig in der kurzen Zeit, in der ich die Sachen holte, einen Strauß Flieder aufs Zimmer gestellt. Hoffentlich halte ich es immer aus. Es war schlecht, daß die Junge so eine spitze Stimme hatte, und ich hielt grade den Hammer in der Hand. Na ja, es ging noch mal.‹

Es klopft.

»Herein.«

Die Tür geht auf. Ein junges Mädchen steht in der Tür.

»Darf ich Ihnen noch eine Tasse Tee bringen?«

Sie kommt schon herein, trägt ein Tablett, der Löffel klirrt leise auf der Untertasse.

Sie ist zierlich und rasch, sie hat blondes Haar, ein Herzgesicht ...

»Ich bin die Tochter von Frau Behn. Schön willkommen.« Sie gibt ihm die Hand.

»Ja, danke«, sagt er und sieht sie an.

»Nun wissen wir nicht, nehmen Sie Zitrone oder Milch zum Tee?«

»Ja danke«, sagt er. »Sehr gut. Sehr gut.«

Sie sieht ihn an, sie wird ein bißchen rot. Ihre Unterlippe drückt sich fester gegen die Oberlippe. »Oder nehmen Sie gar nichts?« lacht sie plötzlich.

»Nein, natürlich gar nichts«, lacht auch er. Dabei sieht er sie weiter an. »Sehr schön das Zimmer«, sagt er.

Aber vielleicht war es nun zu viel. »Sonst haben Sie alles?« fragt sie. »Mutter hat sich schon hingelegt. Gute Nacht.«

»Gu–te – Nacht!«

 

2

Als Kufalt am nächsten Morgen auf die Schreibstube kommt, sitzt Beerboom schon an seinem Platz und schmiert, die Schultern hochgezogen.

Von hinten faßt Kufalt ihn und zieht ihn hoch. Schon sieht er wieder den weinerlichen, flehenden Blick: Beerboom ist unglücklich, daß ihm alles verquer geht.

»Beerboom, Idiot«, sagt Kufalt und nimmt nicht die geringste Rücksicht auf die geheiligte Ordnung der Schreibstube. »Wenn's Ihnen noch einmal einfallen sollte, meiner Wirtin oder irgendeinem Menschen im Hause zu erzählen, daß Sie ein Raubmörder sind –: ich kriege Sie und ...«

Er schüttelt ihn.

Beerbooms Körper wird unter seinen Fäusten ganz weich, er wankt hin und her, wie knochenlos.

»Pssst!« macht Mergenthal. »Herr Kufalt, ich muß doch sehr bitten ...«

»Sie sind ein Idiot!« sagt Kufalt zu Beerboom. »Aber wenn Sie zehnmal ein Idiot sind, ich verdresche Sie derartig –!«

»Ich will's ja auch nicht wieder tun«, bereut Beerboom. »O Gott, was bin ich unglücklich! Sie war so teilnahmsvoll, ich dachte, sie hätte Mitleid mit uns. Sie hat gefragt, warum wir so 'ne gelbe Farbe hätten, wir arbeiteten wohl in einer chemischen Fabrik, und da habe ich ...«

»Idiot!« sagt Kufalt, gibt Beerboom noch einen abschließenden Stoß und setzt sich. »Noch mal vermasseln Sie mir nischt. Ich schlag' Sie tot, verstehen Sie!«

»Jetzt bitte ich aber endgültig um Ruhe«, sagt Mergenthal. »Sonst rufe ich Herrn Seidenzopf.«

Berboom seufzt schwer. Und schreibt. Auch Kufalt schreibt: Er denkt: ›Der verquatscht mich nicht ein zweites Mal. Aber es gibt so viele Möglichkeiten. Auf dem Revier kann man der Wirtin einen Wink geben. Oder die schicken mir einen Brief vom Gefängnis nach. Oder eine Anfrage kommt ...‹ Auch Kufalt seufzt schwer.

Aber dann – in der von Seidenzopf großmütig verlängerten Mittagspause, aber Herrn Petersen schickt er doch zur Begleitung mit – aber dann, auf dieser Einkaufsfahrt in das Warenhaus, sein Junggesellenheim auszustatten – da erweist es sich, daß er doch guter Stimmung ist.

»So. Teller, Tasse, Aufschnittschale haben wir. Was braucht man sonst noch als Junggeselle, Fräulein?«

»Eine Käseglocke?«

»Käseglocke? Vielleicht. Was kostet eine Käseglocke? Nein. Aber eine Butterdose, Fräulein, daß Sie daran nicht gedacht haben –!«

Kufalt, Petersen und Fräulein kaufen eine Butterdose. Aber: solch möbliertes Zimmer ist keine Speisekammer, ist oft heiß, also diese Tondose mit Wasserkühlung ...

»Sehr teuer. Und ob es praktisch ist –?«

Der Student erläutert: »Wissen Sie, Kufalt, es beruht auf dem Prinzip der Verdunstung. Sie müssen es in den tollsten Sonnenschein stellen, um so kälter wird es, verstehen Sie? Schon die alten Ägypter ...«

»Also schön, Fräulein, was braucht man noch für einen Junggesellenhaushalt? Nichts? Fertig? Alles erledigt? Dann schreiben Sie auf ... Ich finde das Porzellan ja wirklich hübsch mit diesem roten Rand ...«

»Ich an Ihrer Stelle«, sagt das Fräulein mit einem schrägen, raschen, lächelnden Aufblick von ihrem Kassenblock, »ich an Ihrer Stelle hätte mir ja alles gleich doppelt gekauft ...«

»Doppelt?« fragt Kufalt. »Butterdose doppelt?«

»Nein«, lacht sie, »Butterdose nicht. Aber Teller und Tassen. Man bleibt ja doch nicht allein.«

»Ach nee!« sagt Kufalt lachend. »Sie müssen's ja wissen.« Und nachdenklich schaut er den weißen, sanften Brustausschnitt im schwarzen Kleid an.

»Weiß ich auch«, lacht sie halb verlegen. »Und nachher kriegt man dasselbe Muster nicht wieder. Und es soll doch alles zusammenpassen.«

»Das soll es«, bestätigt Kufalt, angesichts der atmenden Brust.

In der Zelle, in den fünf Jahren, hatten sich die früheren Mädchen verbraucht. Sie waren ihm zergangen, sie waren so oft zurückgeführt auf die einfachsten körperlichen Dinge, sie waren ineinander übergegangen. Erst glichen sie einander alle, dann entschwanden sie in einem Nebel, Haar und Fleisch – nichts mehr ...

Nun, an diesem herrlichen Juninachmittag, da Kufalt wieder Umschlag nach Umschlag in die Maschine spannt, schmettert, ausspannt – nun ist das buntere Leben wieder da: ein Herzgesicht und ein weißer, atmender, milchfarbener Ausschnitt. Schon zwei statt keiner.

Alles hängt zusammen. Da war die Verabredung mit Batzke gewesen. Es wäre trübe und gemein geworden, es kam aus der Zelle, es ging in die Zelle.

Das junge lebendige Grün im Garten, die strahlende Sonne, ein Herzgesicht und: ›Man bleibt doch nicht allein‹ – kann eine Schreibmaschine singen –? Er singt im Takt: ›Es gibt einen Weg ins Freie – man bleibt ja doch nicht allein. – Es gibt einen Weg ins Freie – am besten gehst du ihn zu zwein ...‹

›Nette Welt‹, denkt er.

 

Die alte Behn ist im Zimmer und hilft ihrem neuen Mieter beim Auspacken. Was die junge Behn ist ...

»Die Liese«, sagt die alte Behn, »ich weiß nicht, was immer mit der Liese ist. Ich kann es Ihnen so genau nicht sagen, aber jeden Abend ist sie unterwegs. Sie sagt, sie hört im Hammer Park Musik – was das wohl für 'ne Musik ist, die die hört.«

›Oh, was für ein böser Drache!‹ denkt Kufalt und fragt laut: »Ist es Ihre Einzige, Frau Behn?«

»Nee, dreizehn. – Nun könnte sie Ihnen so fein helfen bei den Sachen, aber nein, Musik. Wissen Sie, als ich jung war, ich habe nichts gekannt wie Arbeit, von frühen viere bis nachts zehne. Ich bin bei den Bauern gewesen seit meinem vierzehnten Jahr ...«

»Dreizehn Kinder haben Sie?«

»Zwei leben noch. – Nachher hab' ich in die Stadt gemacht. Aber dumm bin ich gewesen. Die Frau sagt zu mir in der Stadt: ›Geh, hol vier Pfund Roastbeef.‹ (Sie spricht es Roßbehf.) Ich steh' auf der Straße, ich denke: ›Nein, Pferdefleisch essen, das fängst du gar nicht erst an.‹ Ich sag' zur Frau: ›Roßbehf is alle.‹ Hat die nen Stunk gemacht, wie sie dahinter kam, warum ich nie Roßbehf brachte.« Die alte Frau lacht, Kufalt lacht mit.

»Heute sind die Mädchen schlauer, aber die Liese könnte es ruhig halbwegs ein bißchen sachter angehen lassen. Jeden Abend unterwegs ...«

»Wenn man jung ist, Frau Behn.«

»Ich sage ja nichts! Ich sage doch nichts! Die Liese ist so schlecht noch nicht, sie gibt pünktlich ihr Kostgeld. Aber mein Junge, der Willi, so viel Geld verdient er, Chauffeur ist er. Aber ein Räuber. Ein Räuber. Kommt, sagt: ›Mutter, hast du was zu essen?‹ Ißt mir mein Essen weg, fragt: ›Mutter, hast du zehn Mark? Du kriegst sie heute abend wieder, ich muß nur schnell mal tanken.‹ – Geht, läßt sich vier Wochen nicht wieder sehen. – Man müßte keine Kinder haben, junger Herr, wozu? Man rackert sich ab, füttert sie, dann gehen sie weg, aber ewig ziehen sie von einem.«

»Aber doch nicht alle, Frau Behn, Sie sagen doch selbst, Ihre Tochter ...«

»Was sage ich? Weil sie ihr Kostgeld bezahlt? Darum? Weil sie mir, wenn's schiefgeht, ihren Balg andrehen will, junger Herr, darum doch! Ich bin nicht dumm, ich bin vom Lande, ich weiß, wie's kommt. Die Mädchen sind heute so schlau, sie lachen. Sie sagt: ›Mutter, was du denkst, is nich ...‹ Ich sage: ›Wieso is nich‹ – ›Na, laß man, Mutter,‹ lacht sie. ›Bei mir Fehlverbindung von wegen dreizehn wie du – das is nich. ‹ Aber ich sage ...«

Kufalt ist heiß geworden, er rückt mit den Schultern im Jackett hin und her, er sieht nach dem Fenster hin. Nein, das Fenster steht offen, ein guter Nachtwind bewegt die Gardinen.

»Ja, die Bücher«, sagt er gedankenlos. »Wo bleiben wir mit den Büchern? Vielleicht können Sie die Nippes vom Vertiko nehmen, Frau Behn?«

»Kann ich«, sagt die Alte. »Mir macht das nichts. Der eine Mieter will die Bilder von den Wänden, der andere will keinen Nachttopf – Sie wollen keine Nippes – mir ist es Wurst, wir werden alle auf die Schippe genommen, wie wir gebacken sind. Aus Büchern wird man auch nicht schlau.«

»Nein«, bestätigt Kufalt.

»Weiß ich«, sagt die Alte befriedigt. »Sie haben Ränder um die Augen, und wenn ich von der Liese klöne, können Sie nicht hergucken. Ich versteh' alles, lieber Herr, mir macht es nichts mehr. Eins rat' ich Ihnen (aber Sie hören doch nicht), lassen Sie sich mit der Liese nicht ein, die ist ein Aas, die kennt kein Mitleid ...«

»Wer ist ein Aas? Wer kennt kein Mitleid?« fragt es von der Tür, und die beiden über der großen Kiste fahren zusammen wie ertappte Sünder.

Liese Behn steht in der Tür, klein: ja. Zierlich: ja. Herzgesicht: ja. Aber eine senkrechte böse Falte zwischen den Augenbrauen. Mit einem roten Mund, aber mit einem scharfen, schmalen Mund.

»Hast du wieder gequatscht, Mutter? Hast du wieder die Zunge laufenlassen, Mutter? Hat sie Ihnen wieder erzählt, daß ich eine halbe Hure bin, Herr Kufalt? Daß ich es mit allen Männern habe? Leg dich schlafen, geh raus, Mutter. Sollst dich was schämen. Pfui!«

Die Alte mit dem runden, verarbeiteten Buckel hat lautlos mit leerem Gesicht neben der Kiste gehockt, ohne ein Widerwort, ohne das Gesicht auch nur zu bewegen. Jetzt steht sie auf, schlurft ohne ein Wort mit gesenktem Kopf gegen die Tür. Sie zögert, die Tochter steht im Türrahmen, die macht kein bißchen Platz. Die Alte guckt demütig, dann drückt sie sich vorbei, ohne ein Wort. Das Schlurfen verklingt auf dem Gang, eine Tür fällt zu, Stille.

Kufalt, auch beklommen (›jetzt komme ich dran‹), wirft einen scheuen Blick auf das Mädchen. Sie steht noch genauso da, benagt die Unterlippe, sieht ihn nicht an. Er hebt einen Stoß Bücher aus der Kiste, geht zum Vertiko, sieht die Liese von der Seite an.

Sie trägt ein Kleid mit roten Tupfen, weiß, ihr heller Hut ist innen auch rot – nun ja, die Alte hat sicher gelogen, so sieht sie nicht aus ...

»Mutter ist krank«, sagt sie stockend. »Am besten, Sie reden gar nicht mit ihr, sie erfindet von allen Menschen Geschichten, lauter Schmutz ...«

»Jaja«, sagt Kufalt. »Man braucht Sie nur anzusehen, Fräulein Behn ...«

»Sie sollen mich nicht ansehen!« ruft sie und stampft mit dem Fuß auf. »Jetzt nicht. Jetzt danach nicht. Gestern abend, ja, heute nein.«

»Ich stelle die Bücher weg«, murmelt Kufalt. »Ich sehe gar nicht hin.«

Eine Weile ist Stille. Kufalts Herz klopft sehr, alles ist doch anders, wie wachsen Menschen auf, Mädchen, was gibt es alles ...

Sie räuspert sich. Sie nimmt ein Buch, sieht es an, stellt es weg, sieht ein anderes an. Was sagt sie? Sie sagt:

»Also gute Nacht.«

Sie geht aus dem Zimmer, sieht ihn nicht wieder an, gibt ihm nicht die Hand.

 

3

Es ist auf der Schreibstube immer davon gemunkelt worden, dieser Betrieb in der Apfelstraße sei nicht der einzige Schreibsaal des Pastors Marcetus, es gebe noch einen anderen drinnen in der Stadt, neuzeitlich eingerichtet, wo es nicht nur Adressen zu schreiben gäbe, sondern auch feinere Arbeit: Briefe, Manuskripte, Diktate. Aber es war nicht mehr als Gemunkel, Bestimmtes wußte keiner. Manchmal ging ein kleiner, dicker, rotpickliger Mann durch die Schreibstube Apfelstraße, er hieß Jauch, und Herr Mergenthal wie Herr Seidenzopf waren sehr höflich zu Herrn Jauch. Manchmal auch verschwand der eine oder andere Schreibstubenarbeiter, Herr Seidenzopf ging mit ihm fort, er kam nicht wieder.

Gab es die sagenhafte Schreibstube wirklich?

Ein paar Tage nach Kufalts Umzug in die Marienthaler Straße erscheint Vater Seidenzopf auf der Schreibstube und sagt: »Herr Maack! Herr Kufalt! Liefern Sie die fertige Arbeit ab. Geben Sie die Adreßbücher zurück. Säubern Sie Ihre Arbeitsplätze. Ziehen Sie Ihre Mäntel an und setzen Sie Ihre Hüte auf. Sie treffen mich auf dem Vorplatz.«

Die anderen sehen nur einmal hoch und schon schreiben sie weiter, nur der ewige Beerboom stimmt seinen Klagegesang an: »O Gott, o Gott, Sie kommen wohl weg? Und wann komme ich aus dieser Bruchbude? Sie haben's fein. Wieso Sie eigentlich, Kufalt, versteh' ich nicht. Sie schreiben doch höchstens siebenhundert Adressen.«

Kufalt schüttelt Mergenthal die Hand, sagt in die Luft hinein unter der Tür ›guten Morgen‹ und trifft Vater Seidenzopf auf dem Vorplatz.

»Wo bleibt Herr Maack? – Schön, da sind Sie, mein lieber Maack. Also gehen wir. Wir müssen schnell gehen, viele Dinge harren heute noch meiner. Ein schöner Tag das, ein rechter Gottestag, überhaupt ein recht erfreuender Sommer, dies Jahr.«

Er zottelt zwischen den beiden großen, jungen Männern, der kleine, ältliche Mann mit dem schwarzen, krausen Bart, er brabbelt so vor sich hin.

»Wohin gehen wir eigentlich, Vater Seidenzopf?« fragt Kufalt.

»Still, mein junger Freund, husch!« macht Vater Seidenzopf. »Man muß warten können. Warten. Ausgezeichnet werden Sie vor vielen – haben Sie einmal von der Schreibstube Presto gehört, dem modernsten Betrieb Hamburgs? Nun, Sie werden sehen, Sie werden erleben.«

Und am Schalter der Hochbahn: »Ja, wie ist es, meine Herren, wollen Sie Ihre Fahrkarten nicht selbst lösen? – Nun gut, ich verauslage den Betrag, er kann Ihnen von Ihrer nächsten Arbeitsbelohnung abgezogen werden. Oder ...«, er kämpft sich zu einem heroischen Entschluß durch ..., »wir können auch großzügig sein –: es werden Spesen der Schreibstube werden.«

Vater Seidenzopf findet einen Sitzplatz, Maack und Kufalt stehen an der Tür und rauchen.

Kufalt sagt: »Es freut mich, daß wir zusammen auf die neue Schreibstube kommen.«

»Ja? Jauch soll ein wahnsinniges Schwein sein.«

»Jauch –?«

»Der dicke Rotpicklige, der manchmal bei uns durchkam. Das ist der Bürovorsteher von Presto.«

»Sie wissen Bescheid? Ach, Maack, Sie reden auch nie ein Wort! Ist es so eine Schreibstube wie bei uns? Verdienen wir mehr da?«

»Vielleicht, wenn Sie zu irgendeiner Firma zur Aushilfe geschickt werden. Oder wenn Sie auf die Diktatstube kommen. Aber das dauert noch lange. Erst geht es wieder mit den Adressen los. Dann bekommen Sie Zeugnisabschriften und so was. Und wenn das alles gut gegangen ist, und, die Hauptsache, Ihre Nase gefällt dem Jauch, dann bekommen Sie eine Aushilfe.«

»Aber in den Satzungen heißt es doch, wir sollen nur möglichst kurz auf den Schreibstuben arbeiten und möglichst rasch in die Betriebe.«

»Ich will dir was sagen, Kumpel«, erklärt Maack. »Das ist doch alles Mist, das ist doch nur darum, damit sie uns immer gleich auf die Straße setzen können, wenn ihnen was nicht paßt oder die Arbeit wird knapp. Siehst du, ich arbeite seit anderthalb Jahren für die, ich bin noch nicht mal arbeitslosenversichert. Wenn ich krank werde, muß ich auf die Wohlfahrt und um einen Arzt betteln – und die sparen sich die Krankenkassenbeiträge.«

»Aber das ist doch Gesetz, daß jeder, der arbeitet, versichert ist!«

»So blau, die sind doch ein Wohltätigkeitsverein. Das ist doch Gnade, das Geld, das wir am Sonnabend kriegen. Wir arbeiten doch gar nicht richtig!«

»Na, weißt du –«

»Ich weiß schon, was man machen müßte. Drei, vier Kerls, die stiekum sind, und ein paar Kröten. Ich spare schon wie wild, aber der Pfaffe, der Marcetus, sagt ja, mehr als drei Mark soll man möglichst nicht den Tag verdienen, mehr verführt zur Liederlichkeit.«

»Na, glaubst du, daß der nur drei Mark am Tage verdient?«

»Eben! Verdienst du je mehr als zwanzig Mark die Woche? Mal einundzwanzig, mal zweiundzwanzig, wenn du dir die Finger wund schreibst, aber da ziehen sie schon Gesichter und möchten die Löhne am liebsten wieder runtersetzen. Ich, ich wohne mit einer zusammen. Verkäuferin, kriegt fünfundsechzig Mark im Monat – was kann man da viel sparen?«

»Glaubst du, daß man mit hundert Mark im Monat leben kann?« fragt Kufalt ängstlich.

»Aber sicher! Aber gut kannst du das! Was gibst du für's Zimmer?«

»Fünfundzwanzig.«

»Viel zuviel. Ich besorg' dir eins mit fünfzehn. Mit zwölf. Was brauchst du denn schon? Bett und Stuhl, alles andere ist doch nur Quatsch, wenn man vorwärtskommen will. Machst die Bude selber sauber, unterm Dach irgendwo. – Nun paß auf: Essen morgens und abends zusammen fünfzig Pfennige, mittags noch mal fünfzig Pfennige ...«

»Es gibt doch keinen Mittagstisch für fünfzig Pfennige!«

»Mittagstisch? Willst du jeden Tag warm fressen? Wer tut denn so was heute noch? Brot, Margarine, ein Bückling, ein halber Liter Milch, damit kommst du fein durch, fällst nicht von Kräften und der« – Handbewegung – »steigt dir nicht zu Kopfe. Sonntags kannst du ja warm essen, neunzig Pfennige höchstens. Also fünfzehn Mark Miete, fünfunddreißig Mark Essen höchstens, Wäsche vielleicht fünf Mark, dann noch mal fünf Mark für Rauchen, Kino, und das alles macht zusammen im Monat sechzig Mark. – Vielleicht kann ich dir auch ein Mädchen besorgen, das ein bißchen was verdient. Dann fällt noch die Wäsche weg und die Miete geht auf Kippe.«

»So machst du das«, sagt Kufalt bewundernd und fest entschlossen, es nicht so zu machen.

»Wie soll man es denn sonst machen? Überleg es dir und, wenn du willst, sag mir Bescheid, ich such' dir dann ein Zimmer.«

Der Zug hält, Leute steigen aus und ein. Der Zug fährt wieder an.

»Sag mal«, sagt Kufalt zögernd, »hast du nicht mal dran gedacht, daß man ja viel leichter zu Geld kommen kann?«

Stille.

Dann sagt Maack zögernd: »Ja, Kumpel, da denken wir natürlich immer daran. Und verreden will ich es nicht. Ich gehör' nicht zu den Brüdern, die immer ›nie wieder‹ schreien. Was weiß ich, was passiert? Wenn mein Mädel mir abhaut, weil so ein reicher Stubben sie ködert, oder es schnappt mal. Das ist doch auch so ein Mist, daß der Gummi viel zu teuer für unsereinen ist. Dann fasse ich vielleicht wieder was an. Aber sonst – ausgeschlossen, den Laden kenne ich nun.«

»Aber was hast du denn von deinem Leben? Alles Nette kostet Geld und du kriegst nie was.«

»Ich verrede es ja nicht, ich sage, ich weiß auch nicht, ob ich es durchhalte. Aber vielleicht kriecht man wirklich mal wieder unter in einem Geschäft mit hundertvierzig oder hundertsechzig. Vorläufig versuch' ich es weiter auf diese Tour ...«

»Nun, meine lieben Freunde, haben Sie den Hafen im Sonnenschein gesehen? Die Cap Arcona lag da, nicht wahr? Welch schönes Schiff! Da ist man doch stolz, daß man ein Deutscher ist!«

»Jawohl, Herr Seidenzopf.«

»Und nun, meine Lieben, führe ich Sie in unsere Schreibstube Presto. Machen Sie dem Friedensheim Ehre. Zeigen Sie sich würdig der Wahl.«

Die brummeln etwas vor sich hin.

Dann geht es eine Treppe in einem Bürohaus hinauf.

»Schreibstuben Presto – Erledigung sämtlicher Schreibarbeiten – Unerreicht billig – Unerreicht schnell – Unerreicht genau.«

»Mein lieber Herr Jauch, hier bringe ich Ihnen zwei neue Schützlinge, die sich bereits bei mir bewährt haben. Herr Maack. Herr Kufalt. – Nun, Sie haben die beiden schon bei mir gesehen.«

»Wieso zwei? Was soll ich mit zweien? Einen brauch' ich, hab' ich Ihnen gesagt. Immer machen Sie solche Geschichten! Aber natürlich, da heißt es, der Jauch, der Jauch wird das schon richten.«

Der kleine Dicke, mit dem kahlgeschorenen Kopf, ganz übersät von Pickeln, Pusteln und Mitessern, stürmt auf und ab.

»Können die überhaupt was? So sehen die nicht aus! Die haben Sie wohl los sein wollen? Na, Sie da, Sie, Sie! – ja, Sie meine ich, setzen Sie sich mal da an die Maschine! Haben Sie so 'ne Maschine schon mal gesehen? Ist 'ne Schreibmaschine, wissen Sie! Zum Schreiben, verstehen Sie! Mit Durchschlag, normalzeilig, ich diktiere. Mein Gott, mein Gott, mein Gott, mein himmlischer Heervater, wie spannen Sie das denn ein?! Heißt das Einspannen? Zwei Millimeter sitzt der Bogen mindestens schief und die Verschiebung wächst proportional! Verstehen Sie das –?«

»Ja –«, flüstert Kufalt.

»Ja, sagt er, aber er hat keine Ahnung. Ich diktiere: Hamburg, am 23. Juli ... Lieber Seidenzopf, was für ein Anschlag! Nehmen Sie den Mann wieder mit, hier brauchen wir perfekte Kräfte. Ich diktiere: Sehr geehrter Herr ... Wo ist dann das ›S‹? Das schwebt ja, schlagen Sie die Taste gefälligst ordentlich an! Wie Maschinengewehrfeuer muß das klingen, wenn Sie schreiben. Sind Sie im Felde gewesen? Nein, natürlich nicht, wie sollen Sie da wissen, was Maschinengewehrfeuer ist?! Lieber Herr Seidenzopf, nehmen Sie den Mann wieder mit. Ich habe hier keine Schreibschule. Ausgebildete Kräfte brauche ich. Ich diktiere: Bezugnehmend auf Ihr Wertes vom 3. currentis ... O Gott, o Gott, o Gott ...«

»Lieber Freund Jauch –! Meine Herren, ich bitte Sie, gehen Sie erst einmal in die Schreibstube, sehen Sie sich da um. – Also hören Sie, lieber Jauch, Herr Pastor Marcetus wünscht ...«

»Was für ein Schwein!« flüsterte Kufalt atemlos.

»Laß dich doch nur nicht aus der Ruhe bringen, du warst ja ganz nervös.«

»Wenn der Kerl ewig meckert!«

»Laß ihn doch meckern, brauchst ja nicht hinzuhören!«

Sie sehen sich um. Eigentlich ist es genau dasselbe wie in der Apfelstraße. Nur etwas größer: nicht zehn, sondern zwanzig Maschinen, nicht zehn, sondern zwanzig Schreiber.

Die Tür zu einem Nebenzimmer öffnet sich. Ein Mädchenkopf erscheint, dann noch einer. Sie betrachten ungeniert die beiden Neulinge und verschwinden wieder.

»Die Zibben sind neugierig«, flüstert Maack.

»Sind die auch wie wir?«

»I wo. Das sind ganz feine, mit unsereinem sprechen die überhaupt kein Wort. Die sind fest engagiert, die Weiber, zum Bedienen der Vervielfältigungsmaschinen. So was kann man Vorbestraften ja doch nicht anvertrauen.«

Die Tür zum Chefbüro öffnet sich.

Seidenzopf geht hastig: »Also leben Sie wohl, meine jungen Freunde.«

Dann nach einer Weile kommt Herr Jauch, sehr mürrisch.

»Das ist Ihre Maschine. Und das Ihre. Arbeit habe ich heute nicht für Sie. Sehen Sie sich die Maschinen an. Sie, Sie können das große ›S‹ üben. So was von Schreiberei habe ich noch nicht gesehen! – Hören Sie mal, wenn ich mit Ihnen spreche, sehen Sie nicht die Maschine an, dann sehen Sie mich an, ja? Was ist das für eine Schrift auf dieser Karte?«

»Vervielfältigte Schreibmaschinenschrift«, sagt Kufalt nach einigem Überlegen.

»O Gott, o Gott, himmlischer Herr, mit so was soll man nun arbeiten! Violette Schrift ist das! Die Farbe ist violett, ja?«

»Ja.«

»Na, gottlob, ich dachte schon, Sie würden sagen, sie wäre grün.« Herr Jauch meckert und im Saal an den Schreibmaschinen heben sich da und dort Köpfe und meckern nach. Maack sieht umher und merkt sich die Köpfe, die gesenkt bleiben.

Jauch fährt fort: »Dort ist ein Kasten. Sehen Sie den schwarzen Kasten dort?«

»Ja.«

»In dem sind Farbbänder. Sie suchen sich da für Ihre Maschine ein violettes Farbband aus, nicht grün, werter Herr (würden Sie auch kaum finden), violett, das genau zu dieser Schrift paßt. Aber genau! Ganz genau! Dasselbe Violett! Auf einen zehntel Grad genau. Verstanden?«

»Ja.«

»Also machen Sie das.«

Jauch verschwindet, die beiden suchen im Kasten.

»Haben Sie 'ne Ahnung, was ein zehntel Grad Farbe ist?«

»Keinen Schimmer. Na, Sie kriegen es nicht gut hier. Der hat Sie gefressen vom ersten Augenblick an. Ich werde es um so besser haben. Nehmen Sie dieses Farbband. Das stimmt am besten. Ich nehme das andere. So, nun wollen wir unsere Maschinen versuchen.«

 

4

Nein, Kufalt bekam es nicht übermäßig gut. Von dem Tage an, da er aus dem Kittchen gekommen war, war es immer aufwärtsgegangen, er hatte dies erreicht und jenes, er hatte gelernt, die Menschen wieder anzuschauen auf der Straße, die Arbeitsleistung war gestiegen, langsam, aber stetig, Kittchen dahinten mit deinen toten Zotengesprächen – vorbei, vorbei! Im Leben hatte er sich eingerichtet mit Zimmer und Sachen und bürgerlichem Auskommen und nun ...

Nun stand da einer hinter seinem Stuhl, ein dicker, pickliger Knubben, stand, redete, ächzte: »O Gott, o Gott, womit habe ich das verdient! Gleichmäßig sollen Sie anschlagen, Sie Mensch, Sie! Sehen Sie denn nicht, daß das ›R‹ einen Schatten dunkler ist als das ›E‹? Und so was lebt – ausgerechnet in meiner Schreibstube.«

Kufalt sitzt da, mit einem weißen, verschlossenen Gesicht, die Lippen fest aufeinander, und tippt.

Und während er sitzt und weitertippt, denkt er viele Dinge ...: ›Zum Beispiel könnte ich aufstehen und weggehen für immer, ich brauche die hier nicht, eine Weile habe ich noch zu leben, es gibt viele Wege, und Batzke wird sich schon finden lassen. Hinten links in der Ecke sitzt Jänsch, der hat mir gesagt: ›Wenn er's zu schlimm treibt, lauern wir ihm mal auf und vertrimmen ihn gründlich.‹ Jänsch hat mir auch erzählt, daß Jauch genau so einer ist wie wir, der hat auch mal gesessen, immer sind das die Schlimmsten. – Ach, halt den Sabbel, dämliches Aas, sieben Uhr fünfzehn bin ich zu Hause und vielleicht sehe ich die Liese Behn, Donnerstag abend stand die Kuchentür offen, wie sie sich wusch, der helle, nackte Rücken und die weißen, raschen Arme ...‹

Er hört wirklich nichts mehr, es wird ihm jetzt immer schwindlig, wenn er an eine bestimmte Frau denkt, das Herz geht dann ganz zögernd, als wolle es nicht mehr, alles Blut drängt zum Schoß.

›Müßte zu einer Hure gehen‹, denkt er. ›Den Dreck mal loswerden, macht mich noch verrückt, die Liese kriege ich doch nie ...‹ Und wacht auf über dem Geschrei: »Verrückt sind Sie geworden, ich schmeiß Sie raus, stehen Sie auf, packen Sie Ihre Sachen zusammen! Schreibt man Doktor mit ›c‹ –?«

Ja, richtig – Kufalt starrt auf den Briefbogen, säuberliche Schreiben eines Laboratoriums an Ärzte, eine Patentmedizin anzupreisen, Kufalt hat nur Adresse und Anrede einzusetzen ...

»Sehr geehrter Herr Doctor Matthies« steht da.

Sieht nicht ganz richtig aus. Während er träumte, weg war, weiterschrieb, war das bißchen erste Schuljahr hochgekommen mit Latein, docere, ja so – oder war es, weil er unter dem Geprassel von Nörgeleien alle Fähigkeiten verlor, ein zweiter Beerboom, alle Fähigkeiten verlor, von siebenhundert Adressen in die dreihundert rutschte –?

Kufalt steht etwas verloren neben seiner Schreibmaschine, es ist ja jetzt Sommer, neun Stunden an der Maschine, die Abende durch Straßen, in denen er niemanden kennt, und die Nächte bei offenem Fenster, man kann nicht schlafen, was fünf Jahre half, hilft nun nicht mehr, er ist unfähig ...

Er steht da mit einem verlorenen Lächeln, er ist sich nur noch nicht klar, wie er den Abgang zu bewerkstelligen hat, er kriegt doch noch die Papiere und etwas Geld, an sich ginge er schon ...

»Steht noch da und feixt! Doktor mit ›c‹! In meinem ganzen Leben habe ich das noch nicht gehört! Ich soll Ihnen wohl Beine machen!«

In diesem Augenblick geschieht etwas.

In der großen Schreibstube, in der an die zwanzig Leute sitzen, erklingt aus einer Ecke eine Stimme: »Gemeinheit!«

Jauch fährt herum, in einem Augenblick ist er graubleich, er starrt in die Ecke, er murmelt fassungslos: »Wie?! Was?!«

– Als in seinem Rücken, kaum zwei Meter ab, einer halblaut sagt: »Vertrimmen den Schinder!«

Jauch sieht Maack an, aber Maack ist viel zu beschäftigt, einen neuen Bogen in die Maschine zu spannen, Maack merkt überhaupt nichts.

Und ehe Herr Jauch sich noch entschließen kann, klingt es wieder von einer anderen Seite, nein, von zwei, drei Stellen: »Schnauze, du Aas!« – »Dich kochen wir ab.« – »Hast lange dein eigenes Geschrei nicht gehört, was?«

Ach, es sind wohl nur vier oder fünf unter den zwanzig, die so was riskieren, die sich nicht ewig schinden lassen, bei denen's mal platzt ...

Kufalt ist wach geworden, er begreift plötzlich, was er eben beinahe kampflos preisgegeben hätte, er gibt sich einen Ruck, sitzt schon wieder an der Schreibmaschine, schmettert los: ›Sehr geehrter Herr Doktor Matthies ...‹

Während Jauch, jetzt dunkelrot, mit zitternden Lippen, sich umsieht. Aber die schreiben ja alle, kein Laut außer dem Getrommel der Maschinen – und dann geht Jauch plötzlich hastig mit ganz kleinen, trippelnden Schritten in sein Zimmer. Auf der Schwelle aber ruft er: »Herr Patzig, bitte!«

Patzig, ein langer, schlenkriger Jüngling mit einer Brille (todsicher Portokasse), steht auf, sieht sich ängstlich um, geht zum Büro von Herrn Jauch – und Jänsch sagt: »Wenn du Lampen machst –! Jungchen –«

Patzig murmelt etwas, ganz hilflos, und ist weg. Wird er die Namen der Zwischenrufer ausquatschen?

Nein, er tut es nicht. Es erfolgt nichts. Die haben alle Angst, Jauch genau so wie seine Musterknaben. Weiter darf Kufalt an seiner Maschine sitzen, aber – hilft das was –?

Es hilft nicht einmal etwas, daß Jauch nun nicht mehr schimpft und nörgelt. Jauch kennt ja seine Leute, mit ziemlicher Sicherheit würde er die Richtigen treffen, wenn er fünf oder sechs auf die Straße setzte, aber mit ziemlicher Sicherheit würde es ihn dann auch treffen, harte Abreibung.

Jauch nimmt sich in acht. Wortlos steht er nun halbstundenlang hinter Kufalts Stuhl und – alle zwei Minuten etwa – fährt sein Zeigefinger nach dem Getippten, wortlos zeigt Jauch einen Tippfehler. Und weiter – und wieder der Zeigefinger mit den häßlichen Reißnägeln, dem dicken, eingedrückten Nagel, gelb von Nikotin ...

»Kannst du dich denn nicht ein bißchen zusammenreißen, Kufalt?« fragt Maack. »Im Grunde hat er ja recht: du vertippst dich viel zuviel.«

»Es wird immer schlimmer«, sagt Kufalt. »Ich will und ich will, aber je mehr ich will, um so schlimmer wird es. Und plötzlich bin ich weg, alles leer in mir, als wäre ich gar nicht mehr ...«

»Richtig«, sagt Maack und nickt. »Alles richtig. Haben wir alle gehabt, wir Langstrafigen. Kittchenkrankheit. Sieh, daß du schnell davon loskommst. Hast du noch immer kein Mädchen? Ein bißchen hilft das doch.«

Nein, Kufalt hat noch immer keines und es sieht auch nicht aus, als käme von dieser Seite bald die Erlösung. Am Steindamm gab's zwar genug Mädchen, die billig zu haben gewesen wären. Aber war man dafür fünf Jahre im Kittchen gewesen, um so wieder anzufangen? Es ließ sich doch wirklich ein bißchen an wie ein ganz neues Leben – sollte es so anfangen? Nein, nein, ganz abgesehen von Fräulein Behn ...

Trotzdem Fräulein Behn – von jenem Abend im Hammer Park an, über eine falsch gemietete Wohnung, die dann zur richtigen wurde, von dem Gespräch mit der Mutter über die Tochter – hin bis zum Blick in die nächtliche Küche auf die, die sich wusch – eine gab es nur für ihn: Fräulein Behn.

Es war hoffnungslos, aussichtslos, sie hatte andere, sie war ein kaltes Luder, er wagte nicht sie anzureden – aber lag er denn nicht nachts im Bett und beschwor sie: ›Komm! Komm! Du mußt kommen! Ich verrecke nach dir! Komm doch ein einziges Mal! O du!‹

Man hätte das alles vielleicht besser ertragen, wenn man's für sich allein zu ertragen gehabt hätte. Aber – und das war das schlimmste – man wußte genau: sie fühlte es. Man spürte es durch drei Wände, zwei Zimmer: sie lag da und fühlte es. Es war in ihr, sie genoß es vielleicht, das war ihr Glück, aber sie kam nie.

Das Fenster stand offen, guter Sommerwind, leise schleiften die Gardinen, die Stadtbahnzüge kamen, klirrten hell unter dem Fenster und waren schon ferner – lieber Kufalt, es war eine große, grausige Sache, daß man so lag und war verrückt vor Sehnsucht und Begehren. Fünf Jahre hatte man gelegen, die kleine Zelle mit dem schräg gestellten Milchglasfenster –: ›Heraus, oh, laßt mich doch heraus, ihr Schurken, nur eine Nacht, nur eine Stunde draußen sein, ich werde ja verrückt hier ...!‹ Wer hatte ihm, Kufalt, gesagt: »Wenn man erst wieder draußen ist, wird es erst richtig schlimm?«

Egal wer, es war richtig schlimmer geworden.

 

5

Abends kam manchmal Beerboom zu Besuch. Beerboom war nun doch nicht der einzige Heiminsasse in der Apfelstraße geblieben, neue Strafentlassene waren gekommen, er hatte Gesellschaft genug. Aber er kam doch immer wieder zum alten Kufalt, aus Anhänglichkeit vielleicht, in Erinnerung an jene Zeit, da sie beide allein in Friedensheim gehaust hatten.

Beerboom ging es auch nicht besser, sah man ihn an, merkte man, es ging ihm schlechter, noch viel schlechter. Gelb und zerknittert; dicke, graublaue, körnige Tränensäcke; ein huschender, feiger, schwarzer Blick, der stach, sah er einen an; törichtes, haltloses Geschwätz ohne Sinn und Verstand ...

»Ach die, der Seidenzopf und der Mergenthal und ihr schöner Pfaffe, der Marcetus, den Buckel können sie mir runterrutschen, alle! Ich mache überhaupt nichts mehr, gestern hab' ich vierzig Adressen getippt – was die getobt haben!«

Er grinst.

»Da wird Ihr Geld aber rasch alle werden«, sagt Kufalt.

»Mein Geld? Ist schon beinahe alle. Ist mir ja so egal. Ich brauch' bald überhaupt kein Geld mehr.«

Kufalt betrachtet aufmerksam das grüblerische, gelbe Gesicht. »Denken Sie bloß nicht an so was, Berboom. Sie gehen todsicher gleich beim erstenmal hoch.«

»Das macht nichts«, grinst Beerboom wieder. »Egal, wenn ich hochgehe. Was ich haben will, hab' ich dann gehabt.«

Kufalt überlegt, dann fragt er weiter, aber in diesem Punkt hält der schwatzhafte, ewig klagende Beerboom dicht: »Sie werden's ja sehen. Und übrigens mach' ich es vielleicht überhaupt nicht.«

Kufalt überlegt immer weiter: »Haben Sie den Berthold mal wieder gesehen?«

Beerboom macht eine wegwerfende Handbewegung: »Berthold? Ja, der wohnt jetzt in der Langenreihe. Feine Bude, scheint ihm gutzugehen.«

»Lassen Sie sich bloß nicht mit dem Berthold ein!« warnt Kufalt.

»Ich mit dem? So blau! Meine drei Mark wollte ich wieder, aber dann hat er mir noch fünf Mark abgeknöpft. Er hat mir ehrenwörtlich versprochen, am Ersten kann ich mir dafür zwanzig Mark abholen von ihm.« Und ganz im alten Tonfall, ganz der alte Beerboom: »Glauben Sie, daß ich sie kriege? Glauben Sie, daß er sie mir gibt? Er muß sie mir doch geben, nicht wahr? Ich kann ihn doch darauf verklagen, was?«

»Ich denke, Sie brauchen bald kein Geld mehr?« fragt Kufalt.

»Ach was«, sagt Beerboom plötzlich wieder mürrisch. »Geld braucht man immer. Denken Sie, ich schenk' dem Berthold Geld? So doof!«

Nein, die richtige Gesellschaft ist Beerboom nicht, aber Kufalt findet ihn noch immer besser als das Warten allein, bis die Flurtür klappt, der leichte, rasche Schritt über den Vorplatz geht, er die halblaute Stimme dann hört mit zwei gleichgültigen Sätzen zu Mutter Behn.

»Seien Sie doch einen Augenblick still!« ruft Kufalt aufgeregt und verbietet Beerboom das Wort. »Herein, bitte.«

Ja, sie hatte geklopft, ausgerechnet, da Beerboom da war, kam sie. Sie blieb auf der Türschwelle, Beerboom stand zögernd auf, sah nach ihr hin.

»Darf ich Ihrem Freund und Ihnen noch etwas Tee bringen?«

Oh, sie war gnädig heute, irgendwas saß ihr im Kopf, vielleicht war ihr etwas schiefgegangen am Tage, sie besann sich auf den Mieter ihrer Mutter, sie bot ihm und seinem Freunde Tee an.

Beerboom sagte rasch: »Für mich bitte nicht. Ich muß gleich weg. Ich muß um zehn Uhr im Heim sein.«

Und Kufalt wütend: »Beerboom, ich habe Ihnen doch gesagt, wenn Sie je wieder ...«

Liese Behn stand auf der Schwelle, sie sah von einem zum andern.

Beerboom wollte hastig wiedergutmachen: »Ich bin übrigens gar nicht sein Freund. Herr Kufalt nimmt mich hier nur manchmal so auf.« Beteuernd: »Er hat gar nichts mit mir zu tun.«

Sie trug ein bläuliches, sehr helles Kleid, ohne Ärmel, mit einem kleinen viereckigen Ausschnitt. Wohl wegen der Hitze hing ihr Haar lose und leicht um ihr Gesicht, ihr Mund, halb geöffnet, sah kindlich aus.

»Also ich mache Ihnen dann Tee«, sagte sie. »Das Wasser kocht gleich.«

Aber sie ging nicht. Sie zog vielmehr die Tür hinter sich zu and sagte: »Wollen Sie mir nicht Ihren Freund vorstellen?«

»Beerboom«, sagte Kufalt. »Fräulein Behn.«

»In was für einem Heim leben Sie denn, Herr Beerboom?« fragte sie. Sie sah Kufalt nicht an.

»Ja, wie soll ich sagen?« sagte Beerboom verwirrt. »Ich weiß nicht ...« Und als habe er plötzlich eine Erleuchtung: »Ne richtige Klappsmühle ist es nicht, aber ein bißchen meschugge bin ich schon.« Er war sehr stolz auf diesen Ausweg, er setzte erklärend hinzu: »Darum darf ich ja auch manchmal zu Herrn Kufalt kommen.«

Kufalt spürte – vor lauter Verzweiflung – einen fast unwiderstehlichen Lachreiz, aber Liese lachte nicht. Sie hatte sich auf den Rand eines Plüschsessels gesetzt und sah Beerboom freundlich an: »Wieso sind Sie denn meschugge? Ein bißchen meine ich.«

»Ach, wissen Sie«, sagte Beerboom. »Das ist eine lange Geschichte und ich muß wirklich gleich weg.« Er dachte nach, er gab sich Mühe, Kufalt nicht zu schaden: »Wissen Sie, Fräulein, es ist was mit Frauen. So was kann ich Ihnen nicht erzählen, nicht wahr?«

»So«, sagte Liese. »Ich glaube, ich weiß mehr davon, als Sie denken.«

Nachdenklich betrachtete sie Beerboom, dann Kufalt. Kufalt zitterte, es war ja so leicht, alles zu kapieren, wenn man sie beide so vor sich hatte. Sie hatte es in den Nächten gespürt, wie er sie begehrte und sich verkroch, begehrte und verkroch. Gelähmte Männer, beschädigte Männer, Männer mit einem Wurm im Hirn – leicht zu kapieren.

Sie sagte plötzlich lächelnd: »Also erzählen Sie schon, ein ganz klein bißchen. Ich sage bestimmt halt, wenn es zu schlimm wird.«

›Quälerin‹, denkt Kufalt. Und dann laut: »Übrigens kocht das Teewasser sicher längst, Fräulein Behn. Ich meine nur ... Sie wollten doch Tee ...«

Er verwirrt sich unter ihrem Blick, hält inne.

»Ja, was ich noch sagen wollte, Herr Kufalt«, sagt sie. »Mutter erzählt, neulich war einer da, einer in Zivil mit der Marke, verstehen Sie, und hat sich nach Ihnen erkundigt. Ob Sie abends lange ausgehen, ob Sie viel Geld haben, mit wem Sie verkehren und all so was.«

Sie macht eine Pause, sie sieht nicht mehr Kufalt, sie sieht Beerboom an.

»Ich versteh' nicht, wieso ...«, Kufalt ist wie vor den Kopf geschlagen.

»Nur, daß Sie Bescheid wissen«, sagt Liese. »Mutter und mich stört's nicht – Also, was ist mit Ihnen, Herr Beerboom?«

Kufalt steht da. Er ist zerschmettert und glücklich, er darf wohnen bleiben und schämt sich, sie hat alles verstanden, vielleicht lange schon – und was nun?

Er sieht auf sie, aber sie ist längst nicht mehr bei ihm, sie spricht mit Beerboom, sieh doch, ihre Wangen sind ganz rosig, ihre Augen glänzen, so eifrig ist sie. Nun steht sie auf von ihrem Sessel, sie geht zu Beerboom, sie setzt sich zu ihm auf das Sofa, die beiden flüstern – wie alt ist sie? Einundzwanzig? Zweiundzwanzig? Mehr sicher nicht.

»Es ist«, sagt Beerboom, »ich kann keine einzige Frau ansehen, ich muß immer daran denken. Verstehen Sie. Immer nur daran. Und wenn ich mit einer sprechen möchte, mit einer ausgehen, muß ich immer an alle andern denken. Ich entschließe mich nicht. Es ist so lange her ...«

»Wie lange her?«

»Elf Jahre. Alle elf Jahre ist es immer nur das eine gewesen, und nun ist es so vieles, so vielerlei, verstehen Sie ...«

Er betrachtet sie hilflos.

»Und nun ist es immer noch so wie ... wie im Gefängnis?«

Sie hat die Unterlippe vorgeschoben, sie sieht ihn unverwandt an. Wie der sachte Flügel eines Vogels steht weiches, loses Haar über ihrer Stirn.

»Gefängnis, nein«, verbessert Beerboom eifrig. »Ich bin Zet, Zuchthaus, Kufalt ist Kittchen ...« Er sieht schuldbewußt auf: »Es macht Ihnen doch nichts, Kufalt? Fräulein weiß doch alles.«

Kufalt sieht zu, antwortet nicht.

»Nein«, sagt Beerboom. »Oder doch. Bis ganz vor kurzem. Aber jetzt ist alles anders geworden ...«

Er hält inne. Sie sitzen, warten lautlos, alle zwei, ob er es sagen wird. Es ist wie ein schwüler Dunst im Zimmer, eine heiße, trockene Luft ... Sie sehen vor sich hin, keines sieht das andere an.

»Wissen Sie ...«, fängt Beerboom wieder an und stockt von neuem.

Kufalt wagt einen Blick. Das verkniffene, gelbe Gesicht ist hell geworden, sieht glatt aus, es glänzt, strahlt. Wie eine Landschaft ist es, Berge und Täler und weite Flächen ... Ist es Glück, kann so etwas das Glück sein?

»Ich hab' 'ne Schwester«, sagt Beerboom langsam. »Wie ich weg kam von Haus – dahin, war sie noch ganz klein, zehn Jahre, zwölf Jahre?«

Er schweigt, fängt neu an: »Ich weiß alles von den Kindern, wissen Sie, von den kleinen Mädchen, ich hab' doch die Schwester. Ich hab' im Zet schon damit angefangen, daß ich immer an die denke. – Und nun ...«

Wieder Pause, Schweigen. Der Beerboom steht auf, geht hin und her, schnell, setzt sich wieder, sagt: »Die Kinder, die kleinen Mädchen, in den Anlagen, verstehen Sie ...«

Pause, Vorsichhinsehen.

Wenn man sich rühren könnte, das Fenster weiter aufstoßen, Luft, Nachtwind, daß der Spuk verblasen wird. Es ist Spuk, Hexerei, aber sie, sie sitzt da, sie ist eine Hexe, Quälerin ...

»Ich steh' da so und sehe zu, immer, wenn ich fortkommen kann aus dem Heim, sehe ich zu. Es ist schrecklich, was man da denken kann. Im Zet war es nicht so schrecklich, man dachte, das ist nur hier hinter den Gittern so, nachher wird alles anders.«

Wieder lange Stille. Kufalt regt sich, zwingt sich dazu, setzt an, räuspert sich: »Also ...«

»Mit den Frauen und Mädchen«, sagt Beerboom. »Die wissen doch alles. Oder ich weiß alles, wie es mit denen ist. Mit diesen ... Sie verstehen, jede kann meine Schwester sein, es ist so neu ...«

Er grübelt. Seine lange, gelbe Hand, schwarzbehaart, mit den bläulichen, dicken Adern, kommt auf den Tisch gekrochen, streckt sich, und plötzlich schließt sie sich mit einem Ruck, als zerdrücke sie etwas, zerstöre sie etwas ...

»Ich hab' gedacht«, flüstert er. »Sie haben mich fertiggemacht, drin, für das ganze Leben, und nun fängt doch alles von neuem an ...«

Er schluchzt beinahe vor Glück: »Die Kinder«, flüstert er. »Die kleinen Mädels mit den nackten Beinen ... Es ist schlimm für mich, man sieht so wenig, aber vielleicht, vielleicht ...«

Er hält inne, sieht die beiden an. Sein Mund zittert.

»Gehen Sie!« schreit Fräulein Behn. »Gehen Sie sofort!«

Sie steht da, sie zittert am ganzen Leib. Sie hält sich am Stuhl fest, sie murmelt: »Sie Mörder, Sie, gehen Sie ...«

Weg alles bei Beerboom, weg aller Glanz, alles Glück, alles Redenkönnen. »Ich«, stammelt er. »Sie hatten doch selbst ...«

»Geh los, Mensch!« schreit Kufalt und schiebt ihn gegen die Tür. »Verfluchte Quatscherei, perverse! Hier hast du meinen Hausschlüssel, mach, daß du wegkommst. Ich hol' ihn morgen wieder.«

»Aber ich ... Fräulein, Sie haben doch selbst gewollt ...«

»Gehen sollst du!« Kufalt schiebt ihn hinaus.

Die Entreetür fällt hinter ihm zu, Kufalt geht zurück in sein Zimmer, zögert an der Schwelle ...

Ach, sie ist vielleicht doch nur eine Hure, kalt, etwas Unnatürliches, verpfuscht von der Natur, vielleicht braucht sie Kitzel und Dunst und Blutgeruch ...

Sie hat sich über sein Bett geworfen, sie weint – und, da er eintritt, hebt sie, mit verweintem Gesicht, die nackten Arme ihm entgegen: »Ach, komm doch, komm doch nur schnell! Er ist schrecklich, dein Freund. Komm nur schnell zu mir, du!«

 

6

War es Erlösung gewesen? Hatte es auch nur Erleichterung gebracht?

In den Nächten, in denen er sich um Liese gequält hatte, hatte er sich alles leicht und erlöst gedacht, wenn sie nur einmal zu ihm gekommen wäre. Nun war sie gekommen – und wo waren Leichtigkeit und Glück? Wieder saß er an seiner Schreibmaschine – diese Nacht war nun zwei Wochen vorbei – oder gar drei? – und alles war genauso schwer. Oder noch schwerer –?

Da sitzt er nun also und tippt. Ein paar Tage lang, direkt danach, war es besser gegangen, ja, es war sogar so gut gegangen, daß Jauch es aufgegeben hatte, hinter seinem Stuhl zu stehen – nichts mehr zu machen.

Dann sackte er langsam wieder ab. Er riß sich zusammen, er wollte nicht wieder der Prügelknabe werden, zwei- oder dreimal war Maack schon in die Diktatstube geholt worden – sollte er ewig über diesen Adressen sitzen bleiben?

Aber es war, als sei seine Kraft von innen gelähmt: eben noch war er wach gewesen und mitten in der Arbeit eigentlich fröhlich; plötzlich war es, als versagte sein Gehirn, es war nur noch eine Leere da, als gäbe es einen Kufalt nicht mehr. Kann in einem Hirn eine Gefängniszelle stehen, enger Raum mit Gitter und Schloß, und etwas Gestaltloses darin, auf und ab, auf und ab, etwas Eingesperrtes, das nie heraus kann?

»Paß Achtung, Mensch!« flüstert Maack.

Schon ist Jauch da. »Ich habe hier fünf Originalzeugnisse, Herr Kufalt. Abschrift mit vier Durchschlägen, normalzeilig, in einer Stunde werden sie abgeholt. Aber fehlerlos, wenn ich bitten darf, kein Übertippen, keine schwebenden ›S‹!«

»Nein«, sagt Kufalt.

»Sie sagen Nein, natürlich sagen Sie Nein, nun, ich werde ja sehen. Es ist jedenfalls mein letzter Versuch.«

Kufalt ging groß daran, es war seine erste qualifizierte Arbeit, er würde zeigen, die würden sehen, Jauch würde staunen –! Aber seltsam, es waren zwei Worte oder drei von diesem Jauch: fehlerlos, kein Übertippen, keine schwebenden ›S‹ – jedes Wort wurde zum Hindernis.

Waren es nur zwei oder drei Hindernisse? Alles war Hindernis!

Vier Durchschläge – wie leicht konnte man sich verzählen! Lag das Kohlepapier richtig? Originalzeugnisse – nur keinen Fleck darauf machen, der Daumen hat etwas Schwärze vom Kohlepapier abbekommen, zur Wasserleitung, drei Minuten Schreibzeit verloren – ans Werk!

›Lehrzeugnis. Elmshorn, den 1. Oktober 1925. Herr Walter Puckereit, geboren den 21. Juli 1908 als Sohn des Bäckermeisters Walter Puckereit, hierselbst, hat vom 1. Oktober 1922 bis heute in meinem altrenommierten Eisenwarengeschäft seine Lehrzeit als ...‹

Usw. Usw.

»Bald fertig, Herr Kufalt?«

»Ja, bald.«

»Sieht nicht so aus. Sagen Sie lieber gleich, wenn Sie's nicht können. Sie können's ja doch nicht.«

»Doch, ich kann.«

»Wir werden es ja sehen. Jedenfalls müssen Sie bei vier Durchschlagen viel kräftiger anschlagen – lassen Sie mal sehen, na ja, wie ich gedacht habe, blaß, grau. Noch einmal von vorne ...«

Während Kufalt seine Bogen neu zurechtlegt, flüstert Maack: »Immer Ruhe! Immer die Nerven behalten! Der will dich nur einschüchtern!«

Kufalt lächelt ängstlich und dankbar, beginnt zu tippen: »Lehrzeugnis – schreibt man Zeugnis nicht eigentlich mit ›ß‹? Egal, wie's hier steht, ist's richtig. – Puckereit, nicht Packereit – o Gott! Übertippen? Darf ich nicht. Fünfmal radieren? Neu anfangen? Also noch einmal neu anfangen! Aber diesmal muß es werden!«

Maack sieht nicht mehr hoch, Jauch ist in sein Zimmer gegangen, keiner sieht hin zu ihm. Oder sehen sie doch verstohlen hin zu ihm?

Diesmal kommt er bis zur dritten Zeile des ersten Zeugnisses, das schwebende ›S‹ (diesmal ist es ein schwebendes ›G‹) bricht ihm den Hals. Während er das Durchschlagpapier mit dem Kohlepapier neu zurechtlegt, schielt er nach Maack hinüber, aber Maack sieht nichts, tippt wie wild.

Ach, er reißt sich zusammen, es gelingt, Zeile auf Zeile, fehlerlos, gleichmäßig, nun ist sofort die erste Seite fertig – und eine Ahnung überkommt ihn, er sieht nach: Also doch! Er hat das Kohlepapier falsch herum eingelegt, Spiegelschrift auf vier Blättern, das fünfte, letzte Blatt ist weiß!

Er sitzt da, es ist zwecklos, dagegen anzugehen, es ist ein Teufel in ihm, der gegen ihn kämpft. Sie haben den in ihm groß gezogen fünf Jahre durch, sie haben ihn unfähig gemacht. »Geh dorthin«, haben sie gesagt, »tu das und jenes«, haben sie befohlen – und nun draußen hat es geschnappt, die Feder ist schlaff geworden –: zwecklos!

Es war am dritten Abend danach, er war auf den Gang hinausgelaufen, als die Flurtür ging, er hatte atemlos gesagt: »O meine Süße, ich habe mich so nach dir gesehnt!« Er hatte sie um den Hals gefaßt – »Was bilden Sie sich denn eigentlich ein?!« hatte sie gefragt, hatte sich freigemacht, war schon fort gewesen in der Küche bei ihrer Mutter ... Zwecklos ...

»Gib's schnell rüber, Kufalt«, flüstert Maack. »Ich tipp's dir. Rasch! Vorsichtig, daß es keiner sieht, die machen ja alle Lampen, die Brüder! Danke! Tipp du weiter Adressen.«

Wie die Maschine drüben schmetterte, hämmerte, klingling, weiter, neue Zeile, klingling, weiter, neue Zeile, klingling ...

Ging die verhaßte Tür da hinten nicht? Noch elf Minuten. Maack hat gleich die dritte Seite fertig, nein, die Tür ging nicht, höchstens noch eine halbe Seite ...

»Also geben Sie her, Kufalt!« Und – höchstes Erstaunen: »Wieso –? Wieso schreibt Herr Maack das? Habe ich ihm die Arbeit gegeben oder Ihnen?«

»Ich ...«, stammelt Kufalt. »Ich habe ihn gebeten, ich war so nervös, ich habe mich ein paarmal vertippt ...«

»Sooo«, sagt Herr Jauch. »So! Und warum wenden Sie sich da nicht an mich? Bin ich Schreibstubenleiter oder sind Sie es? Jedenfalls werde ich den Vorfall Herrn Pastor Dr. Marcetus melden. Durchstechereien dulde ich nicht. Hier einen falschen Eindruck erwecken ... Geben Sie her, Herr Maack.«

Weiterschreiben, weiterschreiben, immer tüchtig weiter, es bringt nur fünfzehn Mark die Woche, diesmal nur zwölf vielleicht, aber heute ist Dienstag und am Freitag erst hält Marcetus seinen allwöchentlichen Gerichtstag ab in der Schreibstube Presto. Man kann nicht tatenlos warten, man muß weitertippen – Quälerin!

»Mach' dir nichts draus, Kufalt. Mit dem Pfaffen werde ich schon reden. Und wenn wir wirklich hopps gehen, ich hab' 'ne ausgezeichnete Idee. Nicht, was du denkst, keine Spur, was ganz Reelles. Nun, wir werden ja sehen ...« – – – »Und, Herr Pastor«, sagt Maack zu dem weißhaarigen Doktor honoris causa, »ich bin überhaupt der Ansicht, mit Einschüchtern ist es nicht zu schaffen. Sehen Sie her, mein Freund, der Kufalt ...«

»Einen Augenblick«, unterbricht Pastor Marcetus und hebt seine weiße, volle Hand. »Einen Augenblick, bitte! Sie wissen, meine Herren, sehr genau, daß ich diese Freundschaften unter Bestraften nicht wünsche. Ihnen beiden ist grade darum erlaubt worden, außerhalb des Heims zu wohnen, damit Sie wieder Anschluß an die rechtsbewußte bürgerliche Welt finden. Und Sie sagen: mein Freund, der Kufalt!« Er sieht die beiden streng an. »Überhaupt ist, wie Sie wohl wissen, das Sprechen der in den Schreibstuben Beschäftigten untereinander verboten. Woher kennen Sie sich da –?«

Er betrachtet sie, die stumm sind.

»Einschüchtern«, grollt der Pastor. »Ich kenne Herrn Jauch seit zehn Jahren, ich habe ihn nie anders als freundlich, pflichteifrig, seiner Aufgabe hingegeben gefunden. Aber vielleicht ist es grade das, was Sie einschüchtern nennen, daß er pflichteifrige Arbeit von Ihnen verlangt –?«

»Aber ...«, setzt Maack ein.

»Einen Augenblick bitte. Als Herr Kufalt zu uns kam, war er alles andere als ein guter Arbeiter, aber – ich habe das verfolgt – er hat achtzehn, zwanzig, auch ein- oder zweimal zweiundzwanzig Mark die Woche verdient. Von einem gewissen Zeitpunkt ab sank seine Arbeitsleistung ständig. Wie mir Herr Jauch mitteilt, wird er diese Woche kaum zehn Mark verdienen. Also, Herr Kufalt ...«

Kufalt setzt an. Es ist ja gar nicht so lange her, daß er groß dastand vor Pastor Marcetus, er hatte ihn gewissermaßen in der Tasche, aber auch vorher hatte er mit ihm reden können. Wo war das hin?

Zögernd sagt er: »Herr Pastor, Sie denken, es ist, weil ich aus dem Heim rausgegangen bin, daß ich jetzt etwas anderes im Kopf habe. Aber glauben Sie mir, Herr Pastor, ich geb' mir Mühe, ich geb' mir alle Mühe von der Welt. Aber es ist plötzlich wie Schluß, ich geb' mir alle Mühe von der Welt, und dann ist es, als wenn ich krank wäre, nicht richtig krank, verstehen Sie, aber so von dem langen Sitzen, als könnte man nichts mehr ...«

»So«, sagt der Pastor. »So, sie behaupten also, Sie haben jetzt noch nachträglich so etwas wie eine Haftpsychose gekriegt – es klingt nicht sehr wahrscheinlich. Wir haben nun wieder durch Herrn Petersen ermittelt, daß Ihre Zimmerwirtin eine besonders hübsche Tochter hat, eine Tochter von nicht übermäßig gutem Ruf. Ja, Herr Kufalt –?«

Kufalt steht da. Wenn doch Maack ein Wort sagte! Aber Maack steht da und schweigt, rückt an seiner Brille und schweigt. Natürlich ist er wütend, weil Kufalt ihm nie etwas von dieser Tochter gesagt hat, ihn hat Angebote machen lassen – und es ist doch alles ganz anders!

»Also«, sagt Marcetus nach langem Schweigen, »Wir versuchen es noch eine Woche mit Ihnen. Wenn da Ihre Arbeit nicht klappt – mindestens achtzehn Mark die Woche –, müssen wir von einer weiteren Beschäftigung absehen, Herr Kufalt. Ich werde auch Herrn Jauch sagen, daß er Sie völlig in Ruhe läßt, damit nicht wieder von Einschüchtern die Rede ist. Guten Morgen, meine Herren. – Ach, einen Augenblick, Herr Maack. – Nein, Sie können immer gehen, Herr Kufalt«.

 

7

Erst nach Feierabend kann Kufalt wieder mit Maack sprechen: es sitzen zu viel Aufpasser und Zwischenträger in der Schreibstube. Sie gehen langsam im hellen Sonnenschein den Alsterdamm hinunter, überqueren den Glockengießerwall und sind nun an der Außenalster, die schön sommerlich von weißen Segeln und kleinen Dampfern belebt ist.

»Was wollte er eigentlich noch von dir?« fragt Kufalt

»Ach«, sagt Maack, »so das Übliche, was die alle machen, die Antreiber: uns gegenseitig aufhetzen, Neid ...«

»Erzähl schon«, sagt Kufalt etwas betroffen, ihm wird plötzlich klar, was die Schreibstube ohne Maack sein würde.

»Ich soll morgen 'ne Aushilfe kriegen in einem Exportgeschäft. Wenn ich mich da mache, werden die mich für immer behalten. Sagt er.«

»So«, sagt Kufalt wieder. »Und du?«

»Dreh dich rasch um!« flüstert Maack. »Rasch, rasch.«

Er faßt Kufalt unter dem Arm und zieht ihn hin zu einem Herrn, der, einen Strohhut in der Hand, halb hinter einem Baum versteckt, gedankenvoll das hamburgische Wasserleben betrachtet.

»Guten Abend, Herr Patzig.«

Der lange schlenkrige Jüngling sieht verlegen auf, er grüßt mit der Kreissäge in der Hand, er sagt: »Ach, guten Abend ...«

»Das war nämlich die Hauptbedingung, Kufalt, für die Aushilfsstellung im Export: daß ich den Umgang mit dir aufgebe, Kufalt. Schickt sich nicht, daß Verbrecher mit Verbrechern umgehen, lernen nichts Gutes voneinander, weißt du.«

Die beiden betrachten ernst den Jüngling, der immer röter geworden ist.

»Ich bin wirklich hier nur spazieren gegangen«, sagt Patzig von der Portokasse.

»Ja, nun wird der Herr Patzig wohl die Aushilfsstellung im Export bekommen.«

Maack schiebt mit einem Stoß des Zeigefingers die Brille auf dem Nasenrücken zurecht und reibt dann gedankenvoll das Kinn. Wenn Maack auch alte Sachen anhat, er sieht immer tadellos aus, gut rasiert und mit gepflegten Händen und die Hosen in tadellosen Brüchen.

»Wird ihm vielleicht doch noch mal sauer aufstoßen, dem Jungen, die Arschkriecherei, was meinst du?« sagt Maack.

Kufalt sagt nichts, er betrachtet Patzig, der nicht mehr rot, sondern sehr weiß ist.

»Ich bin wirklich nur spazieren gegangen«, beteuert er noch einmal, »wirklich und wahrhaftig!«

»Natürlich«, höhnt Maack. »Immer fein hinter uns her, von der Schreibstube an ...«

»Paß auf!« schreit Kufalt.

Aber Maack hat seinen Hieb schon weg, von unten her gegen das Kinn, gar nicht so schlecht für so ein mickriges Geschöpf, wie es der Patzig ist.

»Ihr könnt mir doch alle ...!« sagt er und sieht befriedigt Maack an, der sich energisch sein Kinn reibt. Dann setzt er sich energisch den Strohhut auf, sagt nun seinerseits »guten Abend« und will gehen.

»Augenblick mal«, sagt Maack. »Augenblick, Patzig – sind Sie wirklich nur spazieren gegangen?«

»Wenn du noch eine haben willst?«

»Hat dich nicht der Jauch uns nachgeschickt oder der Pfaffe, daß du uns in die Pfanne haust?«

»Ich will euch mal was sagen«, erklärt der Patzig und gibt gewaltig an, »ich will euch mal was erzählen! Ihr denkt immer, ihr seid was, ihr alten Ganoven. Ihr spuckt Bogen, noch und noch, weil ihr fünf Jahre Knast geschoben habt oder zehn – und weil ich nur ein halbes Jahr abgerissen habe ...«

»Halt mal«, sagt Maack.

»Nee, nicht halt mal. Aber ein halbes Jahr oder zehn Jahr: ich hab's genauso schwer wie ihr, wieder reinzukommen, nee, ich hab's noch viel schwerer, denn ihr habt einen Zusammenhalt und ich hab' gar nichts ...«

»Halt, halt du! Und wie ist es mit dem Verpfeifen?«

»Hab' ich dich schon verpfiffen oder den anderen, deinen Freund, den Pflaumenweichen? Paß man Achtung, daß der dich nicht mal verpfeift, der sieht viel eher so aus ...«

»Wenn du wieder keß wirst, Patzig ...«

»Krieg ich noch eine wie eben?« fragt Patzig und grinst. »Natürlich muß ich katzbuckeln und kriechen vor dem Jauch und dem Pfaffen – aber deswegen Lampen machen – noch lange nicht! Ich habe noch keine gemacht, im Kittchen nicht und hier draußen auch nicht. Aber ihr, ihr denkt immer gleich, das ist ein Linker, ihr denkt, ihr habt die Solidarität gepachtet. Ihr seid ja bloß 'ne Clique, ihr Brüder, du denkst, du bist der Bulle und kannst alle – aber du kannst nur die paar von deiner Clique, und Solidarität – davon hast du überhaupt keine Ahnung, weißt du das!«

Im Eifer seines Redens hat er sich wieder den Strohhut vom Kopf gerissen und fuchtelt damit dem Maack vor dem Gesicht herum.

»Säg mir bloß nicht die Glotzer aus der Kohlrübe«, sagt Maack freundschaftlich. »Aber ich versteh' schon, du willst sie alle beglücken und bist für Gerechtigkeit und so 'nen Quatsch. Ich geb' mich nicht mit Politik ab, ich denk' an mich und meine Olle, und vielleicht brauch' ich den Kufalt mal und ein paar Jungen, die stiekum sind – danach lins' ich ...«

»Ach, was du schon linst! Große Sache in Gang – und hast noch nichts gerochen, was?«

Er sieht erwartungsvoll die beiden an und fängt an zu lachen, als er den Maack richtig verlegen gemacht hat.

»Große Sache?« murrt der. »Ich fass' kein Ding mehr an, daß du's nur weißt, kannst du ruhig deinem Jauch bestellen.«

»Komm doch nicht wieder auf die Tour. Ganz reelle Geschichte, großer Auftrag unterwegs, hast du noch nicht gemerkt, daß der Jauch jeden Morgen telephoniert und läuft?«

»Na und?« fragen die beiden und verstehen noch immer nichts. »Zweihundertfünfzigtausend Adressen unterwegs, vielleicht sogar dreihunderttausend. Textilversandfirma. Zur Herbst- und Wintersaison ein bißchen Propaganda, nicht?«

»Wäre fein, wenn das die Schreibstube kriegte. Mindestens ein Monat Arbeit«, stimmt Maack zu.

Aber Patzig lacht: »Wenn die ihn kriegte! Jauch verlangt zwölf fürs Tausend einschließlich Kuvertieren und Markenkleben und die Schreibstube Cito im Großen Burstah macht's vielleicht für elf. Aber die schludern. Wenn da einer käme und täte es für zehn oder vielleicht gar für neun ...«

Er macht eine lange träumerische Pause. »Dreihunderttausend Adressen«, sagt er dann.

»Dreitausend Mark Arbeitsverdienst«, sagt Kufalt hingerissen.

»O Junge, Junge ...«

»Für zehn Mann einen Monat Arbeit – macht auf die Nase dreihundert Mark«, rechnet Maack. »O Mensch, Patzig!« bricht er plötzlich aus. »Wenn wir's kriegen, ich nehm dich mit, du kannst mitmachen. Du sollst nicht mehr auf Solidarität schimpfen, Geld verdienen sollst du.«

»Nee, nee«, sagt Patzig. »Ich hab's euch erzählt, damit ihr seht, ich bin gar nicht so. Damit ihr kapiert, was für flaue Köppe ihr seid, nichts merkt ihr. Aber ich geh' weiter zum Jauch, ich denk' immer, mit den Pfaffen fährt man am sichersten.«

»Na, schön«, sagt Maack. »Jeder muß wissen, wie dumm er verträgt Wir geben dir dann was ab, wenn es soweit ist, kannst dich mal satt futtern auf unsere Kosten.«

»Ach, nee?« fragt Patzig. »Darf ich das? Und wißt noch nicht mal den Namen von der Firma? Und habt keine Schreibmaschinen? Und den Auftrag auch nicht? Will ich erst mal nach Hause gehen futtern, wenn ich auf euch wartete –!«

Und will wirklich gehen.

Nun, sie kriegen ihn herum, ach, wie anders stehen sie nun vor dem Portokassenjüngling. Sie bitten und beschwören ihn: »Nur die Adresse, bist auch ein feiner Kerl, bloß Namen und Adresse. Hundert Mark geben wir dir.«

»Behaltet man eure hundert Mark, könnte ich schön lange darauf warten. Klemmzig und Lange, Hamburger Straße in Barmbeck. Nummer 128.«

So – endlich, uff! Schwein, miserables, uns so zu quälen! Der kann seinen hundert Mark auch lange nachgucken, Stubben, der dämliche, uns so hochzunehmen!

 

8

Sie müssen schnell handeln und sie müssen ganz im geheimen handeln, soviel ist sicher. Sie müssen weiter brav auf die Schreibstube gehen, denn vielleicht kriegen sie den Auftrag noch nicht und dann bleibt die Schreibstube einzige Existenzmöglichkeit. Sie müssen sich erkundigen, unter welchen Bedingungen Schreibmaschinen zu kaufen sind, natürlich auf Raten, sie müssen sich nach einem Geschäftslokal umsehen – aber den ganzen Tag müssen sie auf Presto an der Maschine sitzen!

Kufalt und Maack haben sich die Lunge aus dem Hals gerannt: es ist ihnen gelungen, noch an diesem denkwürdigen Abend fünf Leute von der Schreibstube zusammenzutrommeln, die stiekum sind: den wilden Jänsch, Sager, Deutschmann, Fasse, Öser.

Sie sitzen in Maacks Dachkammer auf Bett, Fensterbrett, Waschkommode, dem einen Stuhl. Maacks Mädchen haben sie hinausgeschmissen. »Geh ein bißchen auf die Straße, Lieschen. Tu auch mal was für deinen Süßen«, haben sie gesagt.

»Grade schön!« hat sie geantwortet und mit ihren blanken Kirschaugen durch ihre gedrehten Pferdelocken gelacht.

»Hier! Jeder gibt 'nen Groschen. Kannst ins Café gehen, Lieschen.«

»So dumm! Wenn ich endlich mal Ausgang habe! Wann soll ich denn wiederkommen?«

»Hau bloß ab. Du brauchst überhaupt nicht wiederzukommen. – Na, sagen wir um zwölf«, sagt Maack.

Zuerst sind sie alle geblendet von der Aussicht auf selbständige Arbeit und so viel Geld! Alle reden sie durcheinander, sie beweisen sich, daß es geht, daß sie vollkommen genug sind zu sieben, man wird eben ganz anders reinhauen in die Maschinen, neun Stunden Arbeit ist nicht, zwölf, vierzehn, Sonntag ist nicht, siehst mal dein Lieschen vier Wochen gar nicht an, du reißt dich zusammen, Kufalt, geht alles auf Kippe oder bezahlen wir wie auf Presto nach dem Tausend?

»Aber wir haben den Auftrag noch nicht!«

»Ja, wer holt den Auftrag rein?«

»Du mußt in der Schreibstube Schluß machen, Kufalt, du fliegst ja doch!«

»Wieso fliege ich? Ich schaff's schon. Ich hab's mindestens so nötig wie ihr.«

Es zeigt sich, daß keiner von den sieben gesonnen ist, den Spatzen in der Hand fliegenzulassen für die Taube auf dem Dach.

»Dann müssen wir eben jemanden nehmen, der sich von uns schicken läßt.«

»Aber er muß anständig aussehen.«

»Natürlich kein Ganove, das wissen wir selbst.«

»Und reden muß er können.«

»Und fein in Schale muß er sein.«

»Ja, wer weiß da einen?«

Keiner keinen.

»Die müssen doch auch Auskünfte einholen können über den!«

»Ja – ha?«

Sehr gedehnt, sehr gedehnt.

Es war doch verrückt, hier saßen sie, sieben Mann, sie brauchten nur jemanden, der einen oder zwei Wege für sie machte, jemanden mit reiner Weste aus der anderen, der bürgerlichen Welt.

Nein, keinen.

Arbeitslose genug, Vorbestrafte genug – aber schickt man so einen zu so was?

»Wenn man es ganz telephonisch machte?«

»Ausgeschlossen! Die müssen uns doch die Briefmarken anvertrauen und die Drucksachen und die Umschläge – da müssen sie doch jemanden Knorken zu sehen kriegen, was?«

Ja, Vorschläge kamen schon, einer verdrehter als der andere.

»Unsinn! Ich kenn' doch deinen Schwager! Der stottert ja schon, wenn ihn ein Hund anbellt!«

»Der Otsche? Der hat doch noch nie 'ne heile Hose auf dem Arsch gehabt, den bringen sie doch gleich auf die Wache!« – – – Sie saßen da und sahen sich stumm an. Schließlich stand Jänsch langsam auf: »Also gehen wir nach Hause, Jungens. Mit uns wird es doch nie nichts. Schreiben wir eben die Adressen für Jauch und den fetten Pfaffen für fünf Mark. Die beiden fünf Mark, die ganze Schreibstube die anderen fünf Mark – ist doch sauber Kippe gemacht, nicht?«

Sie stehen alle da, noch etwas zögernd, es ist so schwer, aus diesem Traum fortzugehen. Eigene Arbeit, eigene Unternehmer, eigenes Geld, eigenes Geschäftslokal, eigene Maschinen – und die Aussicht auf Vorwärtskommen, vielleicht einmal eine eigene große Schreibstube.

»Also, Atjüs ...«, sagt Jänsch.

»Wißt ihr«, sagt Kufalt langsam, »Ich hab's ja nicht sagen wollen, aber vielleicht weiß ich doch einen. Er ist zwar ein ganz versoffenes Huhn ...«

»Kommt gar nicht in Frage.«

»Aber er ist ein richtiger, gebildeter Herr, hat mal studiert, der würde es vielleicht fertigbringen ...«

»Wie heißt er denn?«

»Woher kennst du ihn denn?«

»Kannst du ihn gleich holen?«

Schwierigkeiten über Schwierigkeiten, Beerboom allein weiß die Adresse vom Berthold, und, abgesehen davon, daß sich Kufalt geschworen hat, nie wieder mit Beerboom zusammenzukommen –: Jetzt ist es gleich neun, er müßte nach Friedensheim zu Beerboom, ob der da ist, ob dann Berthold zu Hause ist, ob er mitkommen will, ob er gerade einigermaßen nüchtern ist ...

»Also lassen wir es«, sagt Kufalt, entmutigt von so viel Hindernissen.

»Wieso? Lassen wir es? Hau ab, Mensch, und in einer Stunde zitterst du hier an mit deinem Berthold –!«

»Wir schmeißen dich die Treppe runter.«

»Los, angefaßt! Läufst du freiwillig oder sollen wir dich koppheistern –?«

Kufalt läuft schon, es ist verrückt, aber er läuft, es ist aussichtslos, aber er läuft schon ...

Friedensheim, altes, gutes Friedensheim, altes, sorgenloses Friedensheim in der Apfelstraße –!

»'n Abend, Minna! Wolle-Teddy zu Hause? Nee, will ihn gar nicht sehen. Petersen da? Im Gesellschaftszimmer? Nee, will ihn gar nicht sehen. Beerboom da? Nee, nee, ich hol' Sie nicht durch den Kakao, hab' ich nie gemacht. – Beerboom da? Oben im Schlafsaal? Heult? Na schön, lassen Sie mich mal rauf. Dürfen Sie nicht? Ach, Minna, Goldminna, süßes Ekel, lassen Sie mich einmal rauf, mich, Ihren Heimbruder! Ich frag' ihn nur was, Minna, ich geh' gleich wieder weg, Sie kriegen auch einen ...«

»Mit wem sprechen Sie denn da unter der Tür, Minna?« ertönt klagend Frau Seidenzopfs Stimme. »Fangen Sie mir bloß das nicht an in meinem Hause, mit fremden Herren!«

»Ist bloß der Kufalt, Frau Seidenzopf. Will den Beerboom besuchen, ich laß ihn schon nicht rein, Frau Seidenzopf ...«

Und Minna schrammt die Tür zu.

Kufalt steht draußen.

›0 Gott, o Gott, was mach' ich? Lauf' ich zu denen zurück ohne Berthold, schimpfen die bloß ... Und noch mal klingeln? Nachher erzählt es Seidenzopf dem Marcetus und ich fliege gleich ...‹

Er steht unschlüssig. Schließlich schleicht er durch den Vorgarten, denselben Vorgarten, in dem einmal der heute sehnsüchtig gesuchte Berthold – den Hut im Munde – kroch. Kufalt lugt durch das Fenstergitter, klopft kräftig gegen die Scheibe des Gesellschaftszimmers.

Es ist richtig Petersen, der herausschaut, zwei oder drei Köpfe hinter ihm.

»Guten Abend, Herr Petersen. Würden Sie wohl so freundlich sein, Herrn Beerboom ans Fenster zu rufen? Es handelt sich um etwas sehr Wichtiges ...«

Nun ist es doch so, daß Kufalt und Petersen sich nie wieder ganz richtig ausgesöhnt haben, seit jenem Abend mit dem mißglückten Ausflug. Also legt Petersen sein Gesicht in bedenkliche Falten:

»Sie wissen, Kufalt, Herr Kufalt, die Hausordnung, ich müßte erst mal Herrn Seidenzopf fragen.«

»Ach, seien Sie doch nicht so, Herr Petersen. Sie wissen doch, wie Vater Seidenzopf ist, der macht doch gleich wieder um das bißchen einen Haufen Kokolores. Ich verspreche Ihnen, es dauert keine zwei Minuten. Sie können alles mit anhören ...« Und als er das Gesicht des anderen sieht: »Es ist wirklich sehr wichtig für mich und mein Fortkommen ...«

Petersen, Student Petersen, Berater und Freund der Strafentlassenen, wiegt den Kopf: »Nein, lieber Herr Kufalt, die Hausordnung ... natürlich gehe ich gerne zu Herrn Seidenzopf, wenn Sie es wünschen ...«

»Also läßt du es, du Dussel!« brüllt Kufalt plötzlich wütend, am meisten wütend, weil er umsonst gebettelt hat – und geht los.

Der hinter ihm ruft plötzlich mit ganz anderer Stimme: »Kufalt! Herr Kufalt!! Hören Sie mal ...«

›Ach was‹, denkt Kufalt erbittert, ›Hörensiemal ist genau so ein Arschloch wie ich. Erst große Töne und nachher schlapp. Geh' ich nun wieder zu denen, schmeißen sie mich die Treppe runter, Topf voll Brei und kein Löffel zu kriegen. Geh' ich nach Hause, denk' ich an die Liese, Topf voll Brei und so weiter – geh' ich aber ...‹

Er hat plötzlich eine Idee, macht kehrt, rennt am Friedensheim vorbei (das Fenster zum Gesellschaftsraum steht noch offen), erwischt eine Elektrische und fährt hinunter zur Langen Reihe.

Die Lange Reihe ist zwar nicht sehr lang, aber auch nicht übermäßig kurz, von Haus zu Haus zu fragen, wäre ein wenig schwierig. Aber wozu gibt es Kneipen, in denen Berthold sicher gut Gast ist, zumal ein Berthold, dem es, wie Beerboom gesagt hat, gut geht?

»Berthold?« fragt der Mann hinter der Tonbank gleich in der zweiten Kneipe, »Sie meinen wohl Herrn Doktor Berthold? Was wollen Sie denn von dem? Geld?«

»Ich bin doch auch Doktor der Nationalökonomie«, sagt Kufalt vorwurfsvoll.

»Ach so, ach so, entschuldigen Sie man, Herr Doktor! Herr Doktor Berthold sitzt im Hinterzimmer. Da durch!«

»Berthold! Herr Berthold!« beschwört Kufalt den langnasigen, bleichen Mann: »Seien Sie doch einen Augenblick nüchtern! Sie können doch Geld verdienen! Viel Geld. Es handelt sich um dreitausend Mark.«

»Spatzen«, sagt der Betrunkene. »Gar kein Geld. Oder willst du Geld von mir? Dann schmeißt dich der Adi an der Tonbank gleich raus.«

»Hören Sie einmal zu, Herr Berthold ...« fängt Kufalt nochmals an. »Es handelt sich darum ...«

Er erzählt es noch einmal, langsam, Wort für Wort, der andere scheint zuzuhören, nickt, sagt einmal Prost –: »Richtig mit Kuvertieren und Markenlecken, ja, pfui Deubel! Magst du 'nen Rum-Grog?«

»Und Sie sehen doch ein, Herr Berthold, so was darf man sich nicht entgehen lassen, wo so viel Geld zu verdienen ist.«

»Gar kein Geld«, beharrt Berthold und trinkt.

»Aber ich habe Ihnen doch alles erklärt, dreihunderttausend Adressen, vielleicht zehn Mark das Tausend, macht dreitausend Mark. Sie sollen auch gut abhaben, Herr Berthold.«

»Angeschissene Hühner«, grinst Berthold. »Hamburger 128 gibt's gar nicht in Barmbeck.«

»Aber wenn ich es Ihnen doch sage! Jetzt brauchen Sie auch gar nicht dahin, jetzt sollen Sie nur mit mir zu meinen Freunden, um die Sache zu besprechen.«

»Adi«, ruft Berthold. »Bring 'nen Stadtplan. Der glaubt hier noch an Gedrucktes.« Und zu Kufalt: »Du Strohkopf, ihr Strohköpfe, euch nimmt ja jeder Bauernfänger hoch. Ganoven seid ihr? Trottel seid ihr, Idioten seid ihr, Flachköpfe seid ihr ...«

Er steht da, ziemlich sicher noch auf den Beinen. »Firma heißt?« »Klemmzig und Lange«, sagt Kufalt atemlos, während der Krüger Adi mit einem Stadtplan grinsend im Hintergrund auftaucht.

»Klemmzig«, sagt Berthold und macht einen Griff mit der Hand. »Klemmt-sich-was, siehste, Strohkopf? – Lange ...«, sagte Berthold und macht einen Griff mit der Hand, »Langt-sich-was, siehste, Idiot? Barmbek – barmt-sich-was, hörste, Flachkopf? Grüß die anderen Trottel von mir, grüß sie schön, grüß sie vom Berthold ...«

Kufalt ist längst fortgeschossen, das Hirn erleuchtet von zehntausend Kilowatt Kerzen.

 

9

Die sieben Reingelegten hatten einen einzigen Trost: die Abrechnung mit Herrn Patzig am nächsten Tag. Umsonst! umsonst! kein Patzig ließ sich sehen.

»Hat deine Stelle im Export bekommen, todsicher«, flüstert Kufalt zu Maack.

»Darum hat er auch so angegeben, feiger Stubben der, feiger.«

»Den erwischen wir doch noch mal«, sagt Jänsch zu den beiden und streicht an ihnen vorbei zum Farbbandkasten.

»Mein Farbband wird auch so grau«, sagt Maack zu Kufalt und streicht nach.

»Ich muß doch auch mal ...«, sagt Kufalt zu niemandem als zu sich selbst und stellt sich zu denen.

»Vielleicht hat er doch bei Jauch gequatscht«, sagt Jänsch zu Maack.

»Mußt du auch hier stehen!« protestiert Maack gegen Kufalt. Und zu Jänsch: »Hoffentlich nicht. O Gott, nun kommt auch noch Deutschmann! Mensch, wenn Jauch uns hier zusammen sieht ...!«

»Farbband ganz blaß«, knurrt Deutschmann. »Und Jauch telephoniert endlos. Ich kann's von meinem Platz durch die Tür hören. Wegen einem großen Auftrag. Ich denk immer ...«

»Genau wie ich«, unterbricht ihn Maack. »Der Stubben, der Patzig, hat uns zuerst gar nicht verkohlen wollen. Mit dem Auftrag auf dreihunderttausend, das stimmt, das geht in Ordnung. Erst wie wir ihn dann so angebettelt haben wegen der Adresse, da ist er auf die Idee gekommen, uns reinzulegen.«

»Das kann stimmen«, pflichtet Kufalt bei. »Vielleicht reist er selber auf die Tour mit dem großen Auftrag?«

»Aber er kann ihn doch nicht allein machen.«

»Wer weiß, mit wem er die Sache schieben will?«

»Wer will die Sache schieben –?!!« sagt direkt zwischen ihnen Jauchs böse Stimme. Die vier, in ihrem Farbbandeifer, sie haben nicht die plötzliche tiefe, nebengeräuschfreie, arbeitsam schmetternde Stille der Schreibstube beachtet, auch nicht das warnende Räuspern Sagers.

Jauch steht unter ihnen, rot angelaufen, beinahe zitternd vor Wut. »Hier wird wohl ein Verbrechen verabredet, ja, meine Herren? Hier reißen ja Zustände ein. Zustände ...«

Er steigert sich zum Schreien. Die Tür zum Nebenzimmer öffnet sich, die Köpfe der beiden nicht vorbestraften Mitarbeiterinnen erscheinen, die größere, die Zibbe, sagt: »Nicht so laut, Herr Jauch. Es sitzt doch Kundschaft in der Diktatstube.«

Und sie schauen ungeniert weiter der Szene zu.

»Wir haben«, sagt Maack, »über Herrn Patzig gesprochen, wie der das wohl geschoben hat –: die Aushilfsstelle im Export sollte ich doch kriegen. – Wegen Verbrechen und so aber werde ich mich bei Herrn Pastor Marcetus beschweren.«

Maack ergreift sein Farbband und geht ruhevoll an seinen Platz.

»Ich dito!« sagt Jänsch. »So was haben Sie überhaupt nicht zu sagen, in Gegenwart von denen ...«

Kopfbewegung zur Tür mit den Mädchen, und mit einem Farbband geht auch er.

»Ich werde Strafantrag gegen Sie stellen, Herr Jauch«, sagt Deutschmann empört und verschwindet an seinen Platz.

»Meine Herren ...« sagt Jauch atemlos, hilflos. Die ganze Schreibstube glotzt auf ihn. Kufalt will sich wortlos drücken.

»Das ist alles, seit Sie hier sind, Herr Kufalt«, brüllt Jauch in einem neuen Wutanfall. »Halt! Kommen Sie mit! Kommen Sie mit auf mein Zimmer.«

»Laß dir nichts gefallen von dem, Willi«, flüstert Maack ziemlich deutlich.

Und Kufalt verloren, zerfallen – ›warum habe ausgerechnet ich immer das Pech?‹ –, und Kufalt zottelt brav hinter Jauch in seine Stube, deren Tür er hinter dem Schreibstubenvorsteher höflich schließt.

Aber noch kommt nicht der gefürchtete Ausbruch. Jauch zwar rennt auf und ab wie ein Stier, der stoßen möchte. Aber schon geht er langsamer, hebt den Kopf, betrachtet einmal die Gestalt an der Tür, geht weiter, nimmt ein Blatt vom Schreibtisch.

Und schließlich stellt er sich ans Fenster und sagt – zum Fenster, nicht zu Kufalt: »Bankier Hoppensaß bekommt viele Bettelbriefe von Vorbestraften. Das hat sich herumgesprochen, daß es sein Steckenpferd ist, Vorbestraften zu helfen, ja.«

Er macht eine lange Pause, Kufalt wartet.

»Bankier Hoppensaß«, sagt Herr Schreibstubenvorsteher Jauch, nicht mehr zum Fenster, sondern mehr gegen die Schreibtischlampe hin, »Bankier Hoppensaß hat eine Idee gehabt, über die ich mir kein Urteil erlaube. Er will jetzt die Recherchen, ob die sich an ihn wendenden Strafentlassenen würdig oder unwürdig sind, durch einen Strafentlassenen machen lassen. Er meint, der wüßte am ersten Bescheid. Ja.«

Kufalt hält den nachdenklich betrübten Blick der bösen Schweinsäuglein drüben aus. ›Wär ein herrlicher Posten für mich‹, ist sein erster Gedanke. ›Krieg ich doch nie. Mit Speck fängt man Mäuse‹, sein zweiter.

»Wir wollten ihm also jemand Vertrauenswürdiges empfehlen, ja, Herr Kufalt –?«

Stille.

Lange Stille.

Dann sagt Kufalt, schluckend, aber mit wilder Entschlossenheit: »Wir haben wirklich nur darüber gesprochen, warum Patzig den Aushilfsposten im Export bekommen hat. Patzig schreibt kaum besser als ich.«

»So«, sagt Herr Jauch. »Ihre Ansicht«, sagt Herr Jauch böse. »Ich will Ihnen was sagen«, setzt Jauch an, kommt aber nicht zu dem, was er Kufalt zu sagen hat, denn das Telephon klingelt.

»Schreibstube Presto. – Ja, Herr Jauch ist selber am Apparat. – Wie? Wir müssen endlich zum Abschluß kommen? Ich soll mich entscheiden? – Aber natürlich! Elf Mark ist schon sehr niedrig. Nur weil es dreihunderttausend sind, sonst immer zwölf. – Ihr Adressenmaterial schreibt sich glatt runter? Ja, da müßte ich doch Ihr Adressenmaterial erst mal sehen. – Schön, schön, wenn es sehr gut ist, vielleicht noch eine halbe Mark weniger, ich würde dann sofort mit Herrn Pastor Marcetus sprechen. – Nein, nein, Sie bekämen heute nachmittag endgültige Nachricht. – Na also, ich komme dann sofort, in einer Viertelstunde bin ich bei Ihnen.«

Jauch hängt den Hörer an. Er hat Kufalt ganz vergessen. Jetzt entdeckt er ihn neben der Tür, aufmerksam die Rückentitel von Nienkammers Güteradreßbuch studierend.

»Ich habe jetzt keine Zeit für Sie«, sagt er mürrisch. »Ich muß sofort weg. Wir sprechen uns aber nachher.«

»Darf ich noch um etwas bitten?« fragt Kufalt und ist von einer ungewohnt schmeichlerischen Demut. »Ich habe so wahnsinnige Zahnschmerzen. Darf ich nicht mal gleich zum Zahnarzt?«

»Ich kann Ihnen jetzt keinen Schein fürs Wohlfahrtsamt ausschreiben«, erklärt Jauch. »Heute mittag.«

»Ich geh' von meinem Geld, Herr Jauch. Ich will Ihnen doch keine Scherereien machen.« Und ängstlich: »Zahnziehen kostet doch sicher nicht mehr als anderthalb Mark?«

»Ich muß weg«, sagt Jauch.

»Ich mach' auch ganz schnell«, erklärt Kufalt. »Ich halt's wirklich nicht mehr aus.«

»Also meinethalben«, sagt Jauch und rennt aus seinem Zimmer.

 

10

Kufalt huscht wie ein Wiesel durch die Schreibstube, im Vorbeilaufen flüstert er Maack zu: »Hat doch nicht gelogen, der Patzig«, und ist schon aus der Tür –: sicher hat Maack sein hastiges Flüstern gar nicht verstanden.

Mantel und Hut – was das alles dauert! Jauchs Schritt ist schon nicht mehr auf der Treppe zu hören, ach, alles kommt darauf an, daß Jauch nicht fährt, daß er zu Fuß geht. Kufalt kann nicht fahren, er kennt seinen Kassenbestand in der Tasche genau: ein Groschen gleich drei Juno. (›Lieber nicht mehr mitnehmen, man kommt doch nur in Versuchung, es auszugeben.‹)

Straße. Blick nach rechts, Blick nach links: kein Hauch mehr. Unschlüssig stehen hilft nichts, nach dem Stadtinnern zu? Nach den Vororten zu? Textilhaus – also ins Zentrum! Kufalt läuft.

An der nächsten Straßenecke sind es schon drei Möglichkeiten, Kufalt rennt blindlings um die Ecke. Die reine Wilde-Gänse-Jagd – es ist sinnlos.

Kein Jauch. Kein Jauch. So viele Menschen. Kein Jauch. Umkehren? Umkehren?

Kufalt läuft zurück, er kommt wieder an die Kreuzung, die Verkehrsampel ist rot, aber hat er Zeit zu warten? Er hat keine Zeit. Er stürzt zwischen Autos und Elektrische, ist plötzlich eingekeilt, einer flucht, er drängt zurück, wieder auf das alte Trottoir – und, als er sich umsieht, siehe, wer kommt aus dem Eckzigarrengeschaft, eine Zigarre qualmend? Nu, nu, der Herr Jauch!

»Na, Kufalt, wo gehen Sie denn lang?«

»Hier rauf.« Er deutet. Er weiß ja kaum in Hamburg Bescheid, wenn der nach der Straße und dem Namen des Zahnarztes fragt –!

Aber er fragt nicht.

»Machen Sie nur schnell. Sie wissen, Sie haben diese Woche achtzehn Mark zu schaffen. Mit oder ohne Zahnschmerzen. Sie verstehen mich doch? Entschuldigungen gibt's nicht«

»Ja«, sagt Kufalt demütig, zieht seinen Hut und bleibt zurück.

Dann schiebt er Jauch, gedeckt von einem Pärchen, nach. Der wandelt dahin, mit dem federnden Zehenspitzenschritt der Dicken, wohlgemut paffend, und wenn er sich einmal umdreht, so sicher nicht nach Kufalt, sondern mehr nach den jungen Mädchen in ihren leichten Blusen, mit ihren bloßen Armen, auf ihren raschen Beinen.

»Pickelhengst, verdammter«, flüstert Kufalt und entert sicherheitshalber die andere Straßenseite, um sich besser zu verbergen.

Jauch entert sie ebenfalls. Kufalt wechselt zurück und sieht Jauch um eine Ecke drüben verschwinden. Kufalt nach – oh, welch unangenehm leere Straße! Hier wird's schwer. Er muß ziemlich zurückbleiben. Jauch um die Ecke, Kufalt Dauerlauf nach. Und Herr Jauch ist weg, wie sagt man? vom Erdboden verschluckt!

Kufalt steht keuchend. Also war es doch umsonst! Weg, endgültig weg, in einem dieser Häuser. Schließlich besinnt sich Kufalt auf seinen Verstand und bedenkt, daß eine Textilfirma einen Laden oder mindestens ein Schild an der Haustür hat, daß höchstens zehn, zwölf Häuser in Frage kommen – und er fängt an zu suchen.

Laden? Nein, keiner. Und Firmen – an fünfzehn Häusern finden sich zwei Schilder, die in Frage kommen: ›Lemcke & Michelsen, Kinderkonfektion en gros‹ und ›Emil Gnutzmann, Stielings Nachf. – Textil-Versand –‹.

›Alles in Butter‹, denkt Kufalt erleichtert, faßt hinter einer Anschlagsäule Posto und sieht richtig zwanzig Minuten später Herrn Jauch aus dem Haus treten, stehenbleiben, gegen den Himmel schauen, eine Zigarre aus der Tasche holen, sie abschneiden, anbrennen, zur Straßenecke gehen, rumsteuern ...

Und Herr Jauch macht kehrt, geht schlank auf Kufalts Anschlagsäule zu, Kufalt zirkuliert angstvoll, immer rum um die Säule: ›Von welcher Seite kommt er? Wenn ich ihm nun direkt vor den Bauch renne?! Hat das Aas mich gesehen‹ – und schon verschwindet Herr Jauch in einem hübschen, kleinen, verhängten Café, und Kufalt begreift plötzlich: ›Jauch ist direkt vor dem Abschluß, er telephoniert nur noch mit Marcetus!‹

Kufalt steht da, immer noch hinter der Litfaßsäule, er denkt ganz schnell. ›Es geht uns weg, es geht uns weg! So 'ne schöne Chance, solch großer Auftrag kommt höchstens zweimal im Jahr ... Ich müßte raufgehen. In einer Woche sitze ich doch auf der Straße, achtzehn schaffe ich nicht, solange Liese ... Wenn er da hinter den Gardinen sitzt, komme ich nicht mal ungesehen über die Straße. Es ist Wahnsinn, ich gehe um die Ecke, ich gehe auf die Schreibstube, Berthold müßte hier sein, vielleicht schaffe ich doch achtzehn ...

Und wagt es und läuft schon und steht im Eingang von Emil Gnutzmann, Stielings Nachfolger, und schielt nach dem Café, ob dort die Tür sich öffnet, ob hinter den Gardinen Jauchs verfluchte Faust erscheint ...

Langsam steigt Kufalt die Treppe empor. Beruhigend ist es wenigstens zu wissen, daß man einen tadellosen Anzug trägt, den blauen, mit den weißen Nadelstreifen, daß man ein schickes Oberhemd anhat, daß man überhaupt nicht nach Vorbestraftheit riecht (wenn man sich nur richtig benimmt), sondern daß man so aussieht, wie ein Kufalt eben in seinen besten Tagen aussehen kann.

»Chef zu sprechen?« fragt Kufalt in dem gemacht munteren Ton, den er vor manchem Jahr auf manchem Büro von manchem Geschäftsreisenden gehört.

»Um was handelt es sich denn bitte?« fragt das nette blonde Fräulein in der Anmeldung mit jenem gemacht höflichen Ton, der in jedem Büro für jeden Unerwünschten von jedem Angestellten mühelos bereitgehalten wird.

»Um den Adressenauftrag«, sagt Kufalt und horcht nach dem Treppenhaus, in dem ein Schritt hörbar wird.

»Das bearbeitet Herr Bär«, sagt das Fräulein. »Aber ich glaub', der Auftrag ist schon vergeben. Augenblick mal. Wenn Sie solange Platz nehmen wollen?«

Der Stritt ist vorbeigegangen, aber deswegen wagt Kufalt doch nicht, sich hinzusetzen, jeden Augenblick kann Jauch eintreten. Er geht auf und ab, sein Herz klopft gewissermaßen im Halse, der Mut der Feigen ist mal wieder weg.

»O Gott, in was habe ich mich da eingelassen?«

»Herr Bär läßt bitten«, sagt das Fräulein und geht Kufalt voran. Die Tür der fatalen Anmeldung schließt sich hinter ihm, erst einmal ist Kufalt sicher.

»Sie wünschen?« fragt Herr Bär kurz und schneidig.

Kufalt verbeugt sich. Er hat sich Herrn Bär als einen ältlichen, sorgenvollen, dicken Herrn vorgestellt und findet einen jungen, gut gepflegten Sportsmann.

»Wir haben gehört«, sagt Kufalt, aus seiner Verbeugung auftauchend, »daß Sie einen größeren Adressenauftrag zu vergeben haben. Meiner Firma würde sehr viel an diesem Auftrag liegen. Wir sind eine ganz junge Firma, wir machen Ihnen daher Kampfpreise, die von keiner Seite unterboten werden können.«

»Und die Preise –?«

»Wenn das Adressenmaterial einigermaßen glatt zu schreiben ist, würden wir sagen: zehn Mark fürs Tausend.«

Das Gesicht des jungen Herrn Bär verdüstert sich. »Der Auftrag ist so gut wie vergeben. Ich bin gewissermaßen im Wort.«

Er sieht Kufalt fragend an.

»Nun«, sagt Kufalt hastig. »Wir würden es schließlich für neun Mark fünfzig machen.«

»Neun Mark«, sagt Herr Bär. »Und ich würde sehen, daß ich aus meinem Wort komme.« Kufalt zögert, und Bär erklärt: »Wenn ich mir die Unannehmlichkeiten schon mache, muß es sich wenigstens lohnen.«

»Neun Mark fünfundzwanzig«, setzt Kufalt an, als die Tür sich öffnet, die hübsche Anmeldedame hereinschaut und sagt: »Herr Jauch ist jetzt da, Herr Bär.«

Kufalt sieht fassungslos zur Tür ... gleich wird sie sich öffnen ... sein Schreibstubenvorsteher ... und er in Konkurrenz mit ihm ... er ist doch bloß ein entlassener Strafgefangener ... und außerdem ist er beim Zahnarzt ... Aber gesetzlich ist es verboten, daß man jemandem öffentlich vorwirft, er ist vorbestraft ... oder ist es in so einem Falle erlaubt–?

»Soll warten«, knurrt Herr Bär. Und zu Kufalt: »Ihr Konkurrent, wissen Sie, der macht es für acht ein halb.«

»Nicht unter zehn ein halb«, sagt Kufalt. »Den kenn' ich doch.«

»So«, sagt Herr Bär. »Wie heißt übrigens Ihre Schreibstube?«

Kufalts Gehirn versagt ... schnell einen Namen! Nur schnell einen Namen!

»Cito ... Presto«, sagt er atemlos. Und ruhiger, es war gewissermaßen ein Kurzschluß in seinem Hirn: »Schreibstube Cito-Presto.«

»Ach nee!« lacht Herr Bär. »Sie überbieten Ihre Konkurrenz doppelt. Na ja. Und wann können Sie anfangen?«

»Morgen früh«, sagt Kufalt und ihm schwindelt. (Keine Schreibmaschinen – kein Geschäftslokal – und Telephon müßte eigentlich auch sein.)

»Und wieviel würden Sie täglich abliefern?«

»Zehntausend.«

»Schön. Macht einen Monat. Nee, noch fünf Tage drüber, wenn wir die Sonntage abrechnen.«

»Wir würden in einem Monat Dreihunderttausend liefern.«

»Sch–ö–n«, sagt Herr Bär nachdenklich und betrachtet Kufalt, denkt dabei aber sichtlich an etwas anderes. »Sie können dann morgen früh Umschläge und Adressenmaterial abholen lassen. Wo sagten Sie, ist Ihr Geschäftslokal?«

»Wir sind gerade im Umzug«, sagt Kufalt hastig. »Wir sind noch nicht dort und nicht mehr hier. Sobald wir übergesiedelt sind, gebe ich Ihnen unsere Adresse.« Und denkt verzweifelt: ›Welch ein Stuß, ich muß doch wissen, wohin wir ziehen!‹

Aber Herr Bär ist noch immer mit seinen Gedanken anderswo: »Na schön«, sagt er gedankenvoll. Und plötzlich lebhaft: »Wissen Sie, hören Sie mal ...« Er unterbricht sich: »Ich weiß nicht mal Ihren Namen, Herr ...«

›Es kann ja irgendwie schiefgehen, wozu soll ich mir die Sache ans Bein binden? Draußen sitzt Jauch ...‹, denkt Kufalt. Und sagt hastig: »Meierbeer ist mein Name, Meierbeer!«

»Mit dem Komponisten verwandt? Oder hinten mit mir? Haha!« Herr Bär lacht. »Also, Herr Meierbeer, würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn ich Sie über den Lieferantenausgang hinausließe? Sie wissen, Ihr Konkurrent, Herr Jauch ... ich bin da gewissermaßen im Wort ... ich muß das irgendwie drehen – Sie verstehen?«

»Aber gerne!« lacht Kufalt erleichtert, und sein Herz beginnt ruhiger zu klopfen. Es begreift plötzlich, daß er heute seinen Glückstag hat. »Wäre mir ja auch peinlich, wenn die Konkurrenz sähe, ich habe ihr den Auftrag weggeschnappt.«

»Na also!« sagt Bär. »Dann kommen Sie man.«

»Wieviel Drucksachen legen Sie denn überhaupt ein?« fragt Kufalt plötzlich.

»Ach, nicht schlimm«, tröstet Herr Bär. »Einen achtseitigen Prospekt falzen und eine Bestellkarte in den Falz.«

»Bestellkarte einlegen macht auch wieder Extraarbeit.«

»Ist ja nicht so schlimm«, tröstet Herr Bär.

»Na, erlauben Sie mal, bei dreihunderttausend! Das sind mindestens vier, fünf Arbeitstage extra!«

»Also neun Mark«, sagt Herr Bär und hält die Hand hin.

»Neun Mark fünfzig ist das Äußerste«, sagt Kufalt und versteckt die seine.

Herr Bär entrüstet sich: »Erlauben Sie mal, Sie haben schon neun Mark fünfundzwanzig gesagt!«

»Nicht mit einer Antwortpostkarte«, sagt Kufalt. Er steht auf der obersten Treppenstufe, Herr Bär auf einem Absatz vor der Tür.

»Also lassen wir es«, sagt Herr Bär und nimmt seine Hand wieder an sich. »Herr Jauch wartet.«

»Sie müssen uns auch leben lassen«, sagt Kufalt, sicher, daß Jauch es nie für den Preis tut. »Und Sie bekommen von uns Adressen sauber wie von keiner Firma.«

»Das sagen Sie alle!« grollt Herr Bär. »Nachher kommt die Hälfte unbestellbar zurück.«

»Dann kann es nur am Adressenmaterial liegen.«

»Nicht bei uns, unsere Adressen stimmen alle.«

»Das sagen nun wieder alle Adressen-Auftraggeber«, lächelt Kufalt.

»Also sagen Sie ein vernünftiges Wort, Herr Meierbeer«, sagt Herr Bär und lächelt, von neuem bezwungen durch den Namen. »Schreiben Sie sich mit a Umlaut wie ich?«

»Nein, mit Doppel-E«, erklärt Kufalt, »Neun fünfzig.«

»Also sagen wir neun fünfundzwanzig, hier ist meine Hand.«

»Ich will ja auch nicht so sein«, besänftigt sich Kufalt. »Neun vierzig.«

»Herr Jauch sagt, er kann nicht länger warten«, erklärt die Anmeldedame.

»Herr Jauch kann mir ...!« schreit Herr Bär wütend. Und einlenkend: »Nein, halt, nein, Fräulein, er kann nicht. Er soll nur noch drei Minuten warten.« Bittend zu Kufalt: »Neun dreißig.«

»Neun fünfunddreißig«, sagt Kufalt. »Meinethalben. Aber bar Kasse alle Zehntausend bei Ablieferung.«

»Abgemacht«, sagt Bär. »Bestätigen Sie mir das schriftlich. Ich gegenbestätige es Ihnen dann.«

»Gemacht«, sagt Kufalt. Und nun treffen sich die Hände. »Also morgen früh ...«

»Ich danke auch namens meiner Firma bestens für den Auftrag«, sagt Kufalt plötzlich wieder sehr formell. Er schüttelt nochmals die Hand des andern: »Auf weitere gedeihliche Geschäftsverbindung!«

Er steigt würdig treppab, während Herr Bär sich zögernd dem Falle Jauch und seinem zu drehenden Worte zuwendet.

 

11

Es ist kurz nach der halbstündigen Mittagspause, ein brennend heißer Sommermittag. In der Schreibstube ist es stickig und schwül, die weißen Scheiben lassen nicht einmal den Trost blauen Himmels und heller Sonne ein – erstickende heiße Luft, nichts sonst.

Die Finger tanzen schlaff auf den Tasten, ist der Wagen am Ende, wird er langsam, träge zurückgezogen, eine Sekunde, zwei Sekunden Pause, und die Finger beginnen neu.

Heiße, feuchte Stirnen, verschlossene, verkrampfte Gesichter, kein Geschwätz, kein Flüstern, nur Schlaffheit und Verdrossenheit.

Im Nebenzimmer, die Weiber von der Vervielfältigungsmaschine, die schwatzen. Sie haben nichts zu tun, sie haben schon den dritten oder vierten Tag keine Arbeit, nichts da zu vervielfältigen. Aber ihr Gehalt bekommen sie darum doch, sie brauchen sich keine Sorgen zu machen, manchem wächst das Fressen wirklich ins Maul, wer sich aber nicht satt essen kann, kann sich auch nicht satt schlecken.

Jawohl, zwanzig Schreibmaschinen klappern, aber darum hört man doch: Drüben, in Jauchs Büro, ist die Tür gegangen, und nun fliegt sie zu, mit einem donnernden Getöse: bumm, bumm!

Es schüttert.

Kufalt wirft Maack einen Blick zu. Maack wirft Kufalt einen Blick zu. Maack senkt die Lider über die Augen zum Zeichen, daß er den Blick verstanden hat.

Hinundhergelaufe drüben im Büro, ein Fenster wird aufgerissen, nun fängt Jänsch an, unterdrückt vor sich hin zu lachen, denn der Jauch da drinnen schimpft mit sich. Aber er wird sofort wieder stille, denn die Tür geht auf, Jauch brüllt mit aller Kraft, nur den blauroten Kopf durchsteckend: »Fräulein Merzig!! Fräulein Merzig!!!!«

»Ja, Herr Jauch?«

Auf der anderen Seite der Schreibstube öffnet sich die Tür, Fräulein Merzig (die Große, Zibbe) steckt ebenfalls den Kopf durch: »Ja, bitte, Herr Jauch?«

»Das Hamburger Adreßbuch, aber ein bißchen flott, ja?«

»Sofort, Herr Jauch!«

Jeder merkt: Sturm im Anzug, Gewitterböe am Himmel. Fräulein Merzig läuft eilig in der Schreibstube von Platz zu Platz, zu sehen, wo das Hamburger Adreßbuch liegt.

Jauch, immer mit dunkelrotem Gesicht, folgt ihr mit seinem Blick: »Wer, zum Donnerwetter, hat es denn? Kann der sich nicht melden?!«

Sie findet es bei Sager und nimmt es ihm fort.

»Hören Sie mal, Fräulein, ich muß arbeiten«, protestiert Sager matt.

Sie läuft schon damit zu Herrn Jauch, der drohend verkündet: »In Kürze werden sehr viel großkotzige Herren ohne Arbeit sitzen.«

Er reißt das Adreßbuch an sich und verschwindet.

»Sie können wenigstens Entschuldigung oder bitte sagen, Fräulein«, grollt Sager.

»Mit Ihnen rede ich überhaupt nicht«, erklärt Fräulein Merzig. und sie meint nicht etwa nur Sager, sondern alle in diesem Zimmer. Sie geht und verschwindet bei ihrer Kollegin, nicht ohne die Tür einen Spalt offenzulassen –: »Denn heute gibt's was, so habe ich Jauch noch nie gesehen, sicher wirft er einen von denen raus!«

Vorläufig flucht er weiter in seinem Zimmer, raschelt mit dem Adreßbuch und erscheint wieder in der Tür, diesmal in voller Figur.

»Kann ich mein Adreßbuch wiederhaben, Herr Jauch?« fragt Sager hartnäckig.

»Kennt jemand von Ihnen eine Schreibstube Cito-Presto?« fragt Herr Jauch und kommt bis in die Mitte des Zimmers.

Stille.

Dann läßt sich eine Stimme vernehmen: »Schreibstube Cito, Herr Jauch ...«

»Cito-Presto habe ich gefragt, Sie Idiot«, brüllt Herr Jauch los und ist beim Nebenzimmer, wo er seine Frage wiederholt

»Schreibstube Cito ...«, sagt Fräulein Merzig.

»Gänse!« brüllt Jauch, besinnt sich und sagt milder: »O pardon«, schmettert aber immerhin die Türe zu.

Er dreht sich um, nun hat er die ganze Schreibstube wie eine Schulklasse vor sich, alle mit den Gesichtern zu ihm hin. Er lehnt sich mit dem Rücken gegen die Tür, steckt die Hände in die Taschen, spielt in der einen mit seinen Schlüsseln, in der anderen mit Silbergeld und nagt dabei an der Unterlippe, die Stirn in Querfalten.

»Hol mal einer die Zigarre aus meinem Aschenbecher ...«

Er überlegt, sieht die Reihe entlang, bleibt bei Maack hacken – der tippt. Jauch überlegt wieder, springt dann zu Maacks Hintermann und ruft: »Lammers!«

Lammers steht ängstlich auf, geht beinahe laufend in das Chefbüro, kommt wieder mit einem Zigarrenstummel, reicht ihn Herrn Jauch.

»Feuer!« sagt der.

Lammers sucht in seinen Taschen, findet Streichhölzer, brennt eins an, gibt Jauch Feuer, alles in angstvoller Haltung. Jauch zieht, pafft, dann: »Sie wissen doch, daß das Rauchen hier verboten ist? Wenn ich das noch einmal sehe, daß Sie Streichhölzer bei sich haben –!«

»Ich habe aber nicht geraucht, Herr Jauch«, stammelt Lammers.

»Hältst du den Mund?! Hältst du den Mund?! Soll ich dich rausschmeißen oder hältst du den Mund?!!!« brüllt Jauch den aschfahlen Lammers an.

Der steht einen Augenblick, läuft dann torklig an seinen Platz, setzt sich hastig, zieht den Kopf zwischen seine Schultern und tippt los.

Einen Augenblick Stille. Jauch schnauft. Jeder fühlt, es war erst der Windstoß vor dem Losbruch, es soll erst losgehen. Jauch sucht sein nächstes Opfer mit dem Auge, sein Blick fällt auf Kufalt, der wie verzweifelt tippt. Jauch bewegt schon die Lippen, da klingt ein kräftiger Baß aus dem Hintergrund: »Stinkt, der Affenstall!«

Jauch fährt herum, sein Mund steht töricht halboffen, er fragt atemlos, als sei ihm von einem Magenschlag die Luft weggeblieben: »Wie bitte?! Wer sagte da was?«

Jänsch steht auf hinter seiner Schreibmaschine, wie ein kleiner Junge zeigt er mit dem Finger hoch: »Ich, Herr Jauch.«

Er steht einen Augenblick abwartend da, sieht zu, wie Jauch sich aus seiner Fassungslosigkeit zu einem Ausbruch sammelt, dann gerade, als der loslegen will: »Hab' gesagt, daß der Affenstall hier stinkt, Herr Jauch. Und das tut er denn ja auch bei so ner Affenhitze, nicht?«

»Kommen Sie mit!« schreit Jauch. »Kommen Sie mit in mein Zimmer! Ihre Papiere. Sie sind entlassen, Sie Mensch Sie, Sie undankbares Geschöpf! Ihre Papiere!«

»Und mein Geld«, sagt Jänsch unerschütterlich und geht gleichzeitig mit Jauch auf dessen Zimmer los.

Sie sind im Begriff, dort zu verschwinden, als in einer anderen Ecke der Schreibstube einer aufsteht, Deutschmann diesmal, und schreit: »Herr Jauch, ich finde auch, daß dieser Affenstall stinkt.«

Jauch steht fassungslos, er bewegt wortlos die Lippen, er sieht von einem zum anderen, er fängt an nachzudenken, dann hebt er die Hand: »Kommen Sie auch, Herr Deutschmann, Sie sind beide entlassen.«

»Schön«, sagt Deutschmann, »geht in Ordnung.«

Aber sie kommen noch immer nicht in Jauchs Zimmer, denn nun steht Sager auf und sagt höflich und bescheiden: »Darf ich mir wohl mein Hamburger Adreßbuch holen, Herr Jauch? Ich muß arbeiten.«

»Lassen Sie mich zufrieden!« brüllt Jauch den Höflichen an.

»Dann bin auch ich der Ansicht, daß dieser Affenstall stinkt«, sagt Sager mit derselben lächelnden Höflichkeit. Und etwas schneller: »Ich stell' mich von selbst zu den anderen, Herr Jauch, ich komme schon.«

»Das ist Meuterei!« schreit Herr Jauch. »Das ist ...«

»Meuterei gab's im Kittchen, Herr Jauch, da täuscht Sie Ihre Erinnerung«, sagt Maack kühl und steht nun auch seinerseits auf. »Hier sind wir doch nicht mehr im Kittchen, nicht wahr?«

»Natürlich der Herr Maack«, sagt Jauch langsam, und nun ist seine ganze Wut weg. Er sieht auch nicht mehr rot aus, er ist fahl. Er ist sehr aufgeregt, aber er hat sich wieder am Bändel. Er sagt langsam: »Darf ich zur Abkürzung des Verfahrens fragen, wer von Ihnen noch der Ansicht ist, daß es in – diesem – Affenstall – stinkt? Bitte, meine Herren, nicht genieren. Ja, bitte?!«

Es stehen noch auf: Kufalt, Fasse, Oeser.

»Ich übrigens auch«, sagt Maack.

»Nun, natürlich. Herr Fasse, Herr Oeser. Und der Herr Kufalt. Aber ich weiß Bescheid, meine Herren, so leicht ist es nun doch nicht. Ich weiß Bescheid ...«

Die Herzen der Verschwörer bleiben stehen: ›Wenn das Aas wirklich Bescheid weiß, wenn er uns die Arbeit vermasselt ...!‹

»Das ist eine Verschwörung und der liebe, gute, demütige Herr Kufalt ist der Anführer. Ich habe wohl gehört, wie Sie sich heute am Farbbandkasten verabredet haben, ein Ding zu schieben. Ich werde die Kriminalpolizei benachrichtigen, ich werde ...«

»Ich finde auch, es stinkt in diesem Affenstall«, sagt eine helle, überschlagende Stimme. Siehe da, es erhebt sich noch einer, Emil Monte, Hundertfünfundsiebziger, schlanker, blonder Puppenjunge ...

»Mensch, bleib du doch bloß sitzen, du gehörst doch nicht zu uns!« schreit unbedacht Jänsch.

»Der Beweis ist erbracht«, sagt Jauch feierlich, »daß eine planmäßige Verabredung vorliegt. Kommen Sie einer nach dem anderen in mein Zimmer und holen Sie Papiere und – Geld. Das weitere werde ich mit Herrn Pastor Marcetus besprechen. Sie werden schon sehen, wie Ihnen das bekommt!«


 << zurück weiter >>