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Sechstes Kapitel. Selbst ist der Mann

1

Ein junger Mann geht die Mönckebergstraße entlang. Unter jedem Arm einen großen Karton, drängt er sich eilig durch die Leute, die hier an diesem schönen Herbstmorgen bummeln, stehenbleiben, Schaufenster ansehen, in Läden eintreten und weitergehen – drängt er sich eilig, mit gesenktem Kopf.

Am Warenhaus Karstadt erfaßt sein Blick von der Seite den Schimmer eines großen Schaufensters voll strahlender Toiletten, seidiger Glanz von Frauen, sanfte Helle.

Der junge Mann geht hastiger, er sieht nicht noch einmal zur Seite, steuert vorbei an dieser Klippe. Drei Häuser weiter steht das große Bürohaus, das sein Ziel ist. Zum Portier murmelt er: »China-Export«, verschmäht Aufzug und Paternoster und klimmt eilig die Treppe hinauf.

Im Ausstellungssaal, voll von Kristall, Stoffen, Buddhas, Porzellan, ist es um die Morgenstunde noch still. Ein einziger Lehrling, ein kleiner, untersetzter Bengel mit abstehenden Ohren, so glührot, als habe ihn eben erst sein Chef daran gerissen, wedelt dort mit einem Federwisch herum.

»Bitte?« fragt der Lehrling.

»Zu Herrn Brammer«, sagt Kufalt. Und: »Danke, ich weiß schon den Weg.«

Er geht durch zwei Büros, in denen Mädchen an ihren Schreibmaschinen sitzen, und kommt in ein drittes. Dort waltet Herr Brammer hinter einer langen, knatternden, klingelnden Buchungsmaschine, zwischen vielen bunten Karten und Avisen.

»Die letzten zweitausend, Herr Brammer«, sagt Kufalt.

Herr Brammer ist auch noch ein junger Mensch, mit einem frischen Gesicht, blonden Haaren und der zu kurz geratenen Oberlippe der Hamburger.

Herr Brammer drückt ein paar Tasten, der Wagen ruckt, knattert, klingelt, spuckt eine Karte aus. Herr Brammer liest sie stirnrunzelnd und sagt: »Legen Sie immer hin.«

Kufalt tut es.

»Die Zahl wird ja stimmen, was?«

»Die stimmt«, sagt Kufalt.

»Na schön«, sagt Herr Brammer, legt die Karte aus der Hand, fischt irgendwo aus dem Hintergrund ein Quittungsformular, schreibt es aus, gibt es Kufalt nebst einem Kopierstift, und schon hat Kufalt einen Zehnmarkschein in der Hand.

»Danke schön«, sagt Kufalt.

»Wir danken auch«, sagt Herr Brammer mit Nachdruck. Er sieht sich nach seiner Maschine um, dann Kufalt an und sagt höflich lächelnd: »Also guten Morgen, Herr Kufalt.«

»Guten Morgen, Herr Brammer«, sagt Kufalt auch höflich. Aber er geht noch nicht ganz, trotzdem dies sichtlich von ihm erwartet wird, er fragt zögernd: »Sonst wäre weiter nichts?«

»Nichts«, sagt Herr Brammer.

»Nein, nein«, sagt Kufalt hastig.

»Der Chef will vorläufig weiter keine Propaganda machen, Sie verstehen: bei diesen Zeiten!«

»Ich verstehe«, sagt Kufalt. Er hat im Hintergrund die Geldkassette entdeckt, es scheint eine ganze Menge Geld darin zu sein, unwahrscheinlich viel Geld nicht zum direkten Ausgeben, einfach so für alle Fälle liegen gelassen.

»Ja ...«, sagt Herr Brammer und betrachtet Kufalt sehr aufmerksam.

Kufalt wird unter diesem Blick langsam rot. Er merkt, wie er immer röter wird, er sagt verlegen: »Und daß Sie mich vielleicht einmal einer anderen Firma empfehlen könnten?«

»Gerne, gerne«, sagt Herr Brammer. »Nur ... Sie wissen ja ...«

»Ja«, sagt Kufalt hastig. »Natürlich.«

Er versucht, von Brammers Blick los und wieder zur Kassette hinzukommen. Sie ist ein so lieblicher Anblick, aber nein, es läßt sich nicht machen, der Blick gibt ihn nicht frei.

Übrigens scheint sich Herr Brammer über irgend etwas geärgert zu haben: »Und dann, Herr Kufalt, Sie sind zu teuer. Fünf Mark fürs Tausend Adressen! Jeden zweiten Tag kommt hier einer, der es für vier oder drei machen will. Ich kann das vorm Chef gar nicht verantworten.«

»Nein«, sagt Kufalt plötzlich – er hat die Geldkassette nicht wiedergesehen und er weiß, er wird sie nie wiedersehen. »Nein«, sagt er. »Billiger kann ich es nun nicht machen, Herr Brammer.«

»So«, sagt der. »Also guten Morgen.«

»Guten Morgen«, sagt auch Kufalt und geht.

 

2

Der direkte Weg von der Mönckebergstraße zu den Raboisen dauert kaum fünf Minuten. Aber Kufalt geht nicht den direkten Weg. Er hat zwei Tage, und die halben Nächte auch noch, getippt ohne aufzusehen. Nun hat er alle Zeit, die Gott werden läßt, er ist mal wieder ohne Arbeit, er kann ruhig spazierengehen. Wenn er aber auch keine Arbeit hat, so hat er dafür Geld, zehn Mark frisch eingenommen und eins zwanzig war noch Kassenbestand, elf zwanzig also. Ganz schönes Geld. Dicke Mauer zwischen ihm und dem Nichts, nicht wahr? Übrigens müßte er der Wirtin, der Dübel, mindestens drei Mark auf Abschlag geben, sonst würde sie ihn wohl rausschmeißen.

Schöner Morgen heute morgen zum Spazierengehen, o Gott!

Nein, Kufalt wohnte nicht mehr in der Marienthaler Straße, jetzt wohnt er auf den Raboisen, in einem Loch, nach einem dunklen Hinterhof hinaus, außerdem ging er jetzt nicht dahin, sondern er ging spazieren an der Alster, am schönen Vormittag, wie ein Großkotz ...

›Übrigens sind Sie zu teuer, Herr Kufalt. Andere machen das für drei Mark ...‹

So ein Affe! So ein langschwänziger Affe! Also diese Arbeit war er nun auch los, bloß weil er so nach der Kasse geschielt hatte, alle Arbeit war er los. Hatte man deswegen weniger Kohldampf? Schlecht konnte es einem immer noch werden von den schlechten Zeiten, lieber jetzt erst ein bißchen Lebeschön machen.

Und Kufalt kaufte sich vier Rundstücke und ein Viertel Leberwurst, fünfundzwanzig Pfennig, Rest zehnfünfundneunzig.

Na, was denn? So zum Picknick? Was denn?

Also, das schöne Zimmer in der Marienthaler war vorbei. Nichts mehr von wehenden Vorhängen, klirrenden Bahnen, obszönen Müttern, perversen Liesen, nichts mehr. Ein schlichter Abschied, ein englischer Abschied. Als Kufalt damals zurückkam aus der Untersuchungshaft, da war niemand von denen zu Hause. Und da niemand von ihnen zu Haus war, packte Kufalt still und stumm seine Sachen und verzog. Unbekannt wohin.

Ja, die Wahrheit zu reden, es hätte da vielleicht noch eine Chance gegeben, es war da ein Augenblick des Wartens vorgekommen, genauer gesagt, eine ganze reichliche halbe Stunde, Kufalt war auf und ab gegangen. Er hätte ja nun die Taxe holen können, Umzug ins Blaue, auf den Rat eines Chauffeurs hin – aber nein, er war auf und ab gelaufen und hatte gewartet.

Kam sie nicht?

Nein, sie kam nicht.

Es hat einmal eine schmähliche Nacht gegeben, wo wir vor der Tür ihres Zimmers lagen – also jetzt gehen wir mal rein. Ja, wir sind verrückt, wir sind rot im Hirn, Feuersbrunst, wir riechen an ihren Kleidern, wir schnuppern an ihrem Bett ...

Aber dann geht eine Tür, und schon fliehen wir, schon stehen wir auf dem Vorplatz, unser Herz zittert vor Angst, daß sie es sein könnte. Dann war es nur die Tür bei den Nachbarn.

Damit war es aber auch genug, allzuviel halten wir nicht mehr aus, die letzten Tage kam es ein wenig dicke, mit Beerboom, mit Cito-Presto, mit Polizeihaft, mit den getreuen Freunden Maack und Jänsch – also her mit der Taxe und ab dafür!

Es genügt nicht, schließlich ein Zimmer in einem Hinterhof der Raboisen gefunden zu haben, ein dunkles, schmieriges, stinkendes Loch mit trüben Fenstern neben einer schwarzen Küche, so groß wie ein Handtuch, mit hunderttausend Schaben und einem verrückten alten Weib von Wirtin, das Dübel heißt – ach ja, es ist schon die rechte Wohnung für den geschlagenen, entmutigten, verzweifelten Kufalt, die dunkle Höhle, in deren knolligem Federbett man liegen und vor sich hindösen kann, Stunden und Stunden – aber es genügt nicht.

Denn zwischendurch immer wieder blitzt es in ihm auf, die Hoffnung, wie Tatendurst, es kann noch werden, o Gott, alles kann vielleicht noch wieder gut werden.

Und da rennt er denn hin, er hat eine Idee, hat er nicht die Schreibmaschine anbezahlt, hat er nicht Geld dafür gegeben, soll das Geld alles verloren sein –?

Ach, in seinen Träumen ist ein Blümlein aufgeblüht, eine eigene Schreibmaschine ist etwas Großes, nicht nur ein Ding aus Stahl und Eisen mit Bädern, Federn, Walzen, Gummi – eine Schreibmaschine ist eine Hoffnung, mit einer Schreibmaschine kann man sich durchs Leben schlagen, sie ist ein Wechsel auf die Zukunft. Nichts mehr von Dreihunderttausend-Stück-Aufträgen, aber, wie er da so auf seinem Bette lag, scheinbar betäubt von der Tiefe seines Sturzes, da ist er losgelaufen, zwischendurch, in Gedanken, zwischen der blöden, ewig gleich knarrenden Kaffeemühle der ewig gleichen Verwürfe: ›Hätt' ich – hätt' ich nicht – hätt' ich doch –!‹, – da ist er losgelaufen in Gedanken, von Bürohaus zu Bürohaus, von Geschäft zu Geschäft: »Hätten Sie vielleicht irgendeine Schreibarbeit für mich?«

So viel mußte sich doch zusammenbringen lassen im großen Hamburg, daß ein einzelner Mensch nicht darüber verhungerte?!

Nun, er hat es erreicht: er hat sich auf den netten Untersuchungsrichter berufen dürfen, eine ebenso nette Firma hat ein Einsehen gehabt, und er hat eine Schreibmaschine bekommen. Keine neue zwar, aber eine tadellose gebrauchte, Kostenpunkt hundertfünfzig, dreißig Mark Anzahlung von damals ab, Rest hundertzwanzig Mark in bar. –

O Gott, wie glücklich ist er in der ersten Zeit über seine olle Mercedes gewesen! Wie hat er an ihr gewischt und poliert, Stäubchen und Faserchen entfernt, immer wieder den Anschlag probiert und dem Klingling am Schluß der Zeile gelauscht!

Aber seltsam – er wohnt eben nicht in einem Zimmer, er haust in einer Höhle, einem Loch, worein man sich verkriecht Da steht der Wechsel auf die Zukunft unter seiner Wachstuchhaube – müßte er nicht aufstehen und Aufträge sammeln?

Gut, gut, gut. Er steht schon auf, er geht schon los, anderthalb Stunden ist eine Fernsprechzelle auf dem Hauptpostamt blockiert, weil einer da das halbe Branchentelephonbuch ausschreibt ...

Dann marschiert er ab, klingelt zweimal, spricht zweimal, erhält zwei Körbe – und heim ins Loch, auf das häßliche Bett Zieh gar nicht erst die Schuhe aus, es lohnt nicht, du hast keine Ahnung, ob du heute noch einmal Lust haben wirst, sie wieder anzuziehen ... also rein mit den Stiefeln in die Betten und losgegrübelt ...

Ich war ein Strafgefangener, ich bin ein Strafgefangener, ich werde ein Strafgefangener sein. Alle.

Ein Ganove werde ich sein – aber auch das nicht einmal richtig, gut, schön, ich werde ein paar Aufträge zusammenkriegen, aber davon leben? –

Und das Geld rinnt fort, wenn wir auch schmale Kost machen, es rinnt, es rinnt, zehn Mark fünfundneunzig zwischen uns und dem Nichts – und was dann?

Die Sachen kann man noch verscheuern, die Maschine noch verscheuern – und was dann? Die Höhle kann man noch aufgeben, eine Schlafstelle nehmen, selbst bei den Halleluja-Brüdern kann man pennen – und was dann?

Ein Entschluß, Kufalt, nur ein Entschluß!

Und was nach dem Entschluß –?

 

3

Also nun sitzt Willi Kufalt auf einer Bank an der Außenalster und ringt um einen Entschluß. Er verzehrt dabei seine vier Rundstücke und sein Viertel Leberwurst, das schmeckt, um seinen Appetit braucht ihm überhaupt nicht bange zu sein, wenn es um alles so gut stände wie um den!

Seltsam –: in den letzten belämmerten Wochen ist die Erinnerung an das Zentralgefängnis in jener kleinen Stadt wie eine selige Insel aus dem graunebligen Meer seines Lebens aufgetaucht. War es nicht eine herrliche, ruhige Zeit, als er dort in seiner Zelle lebte und nichts wußte von Geld, Kohldampf, Arbeit, Bleibe –?

Er stand morgens auf und wienerte seine Zelle, er ging zur Freistunde und schwätzte mit Schicksalsgefährten, er stand am Netz und strickte – die Stunden rannen dahin, mittags gab es Erbsen und man freute sich, oder Rumfutsch und man ärgerte sich, freute sich aber auf die Linsen morgen – eine selige Insel also, wie gesagt.

Was Wunder, daß bei der Insel auch der kugelige weißblonde Seehundskopf des kleinen Emil Bruhn mit seinen wasserblauen Augen auftauchte! Emil hatte recht gehabt, es wäre schlauer gewesen, er wäre mit ihm gegangen, statt nach Hamburg zu ziehen.

Es hatte ja nun zwei Richtungen damals gegeben: die Richtung Batzke (ich bin Ganove und ich bleibe Ganove) und die Richtung Bruhn (einmal und nie wieder): Ich, Kufalts-Willi, Dussel, das ich bin, ich habe es darauf ankommen lassen, ich habe nicht ja gesagt, ich habe nicht nein gesagt – und hier sitze ich mit meinem Talent!

Natürlich gab es immer noch die Möglichkeit, sich für das eine oder für das andere zu entscheiden, man konnte Bruhn einen Brief schreiben, daß man doch käme, oder man konnte mit Hilfe des Einwohnermeldeamtes auf die Suche nach Batzke gehen. Aber das war es ja gerade, wovor Batzke gewarnt hatte: es war zu spät. Nun war das Geld alle, man hatte kein Betriebskapital mehr, um ein rechtes Ding auszubaldowern, zu sichern, zu finanzieren, man mußte etwas Überstürztes machen, das immer mißlang. Und das Geld, hier seine Zelte abzubrechen und zu Bruhn zu fahren, das hatte man eben auch nicht mehr, mit all den Sachen – und sich jetzt bereits von ihnen zu trennen, stand es denn wirklich schon so schlimm?

Diese Oktobersonne meinte es noch recht gut, in ihrem Schein, in ihrer Wärme sah die Welt wirklich nicht so verzweifelt aus, es würde sich schon etwas finden, nur ein Entschluß mußte erst einmal kommen.

Nur ein Entschluß.

Einen Entschluß, der hier gewöhnlich um diese Stunde an regenfreien Tagen entlang stöckelte, den kannte Kufalt schon. Es war ein Parallel-Entschluß zu Batzke, dieser Entschluß hieß Emil Monte.

Ja, die beiden Prospekt-Packer aus der seligen Cito-Presto hatten sich hier wiedergetroffen. Aber in letzter Zeit kannten sie sich nicht mehr, sie zogen den Hut nicht mehr voreinander, sie verachteten einer den andern.

Zuerst, das erstenmal, war es ja ein freudiges Wiedersehen zwischen den beiden gewesen, sie hatten so viel zu erzählen, Kufalt von seinen Erlebnissen in der Polizeihaft und dem endlichen Triumph der Unschuld, Monte von der Auflösung der Schreibstube, wie sie gejammert, wie sie gefleht hatten, vor Marcetus, vor Seidenzopf, vor Jauch – man möchte sie wieder in Gnaden aufnehmen nach Presto, ins Friedensheim, zum halben Lohn ihrethalben – was in aller Welt sollten sie in dieser Welt anfangen, diese armen, von Kufalt und Maack verführten Herren Deutschmann, Oeser, Fasse oder wie sie alle hießen –?!

Und nach langem Zögern, nach strengen Zurückweisungen, nach fürchterlichen Anschnauzern hatte sich der Herr Pastor Marcetus schließlich doch wieder ihrer erbarmt – konnte man sie denn so verkommen lassen, im Pfuhle der Großstadt? Und schon seufzten sie, trafen sich noch einmal mit Monte, von neuem unter dem harten Joch Jauchs, der nicht mit Stichelreden, Tadeln, Strafen sparte –: »Noch ein Wort, und Sie sitzen auf der Straße! Sie wissen doch, nicht wahr –«

Was aber wieder die Herren Jänsch und Maack anging, so saßen sie immer noch in Untersuchungshaft. Dieser Diebstahl, der kein Einbruchsdiebstahl gewesen war, hatte sich als eine recht komplizierte Geschichte erwiesen – denn hatte nicht jeder von den beiden einen Anteil an diesen, von ihnen zusammengepackten Schreibmaschinen bezahlt? Kühnlich behaupteten sie, die Absicht gehabt zu haben, die Raten weiter abzutragen, und da sie im Besitz nicht unerheblicher Geldmittel waren, konnte man ihnen nicht einmal die Unmöglichkeit solcher Ratenzahlungen vorhalten.

Woher Monte das wußte? Monte wußte alles!

Denn Monte war nicht zu Kreuze gekrochen, Monte hatte, wie er schon öfter gesagt hatte, für eine längere Zeit seines Lebens genug gearbeitet, Monte hatte seinen alten Beruf wieder aufgenommen.

Und dieser alte Beruf war es ja eben, der ihn fast an jedem schönen Morgen durch die belebteren Straßen, die von Fremden bevorzugten Anlagen Hamburgs führte: Monte war auf Jagd nach Kundschaft, nach würdigen, älteren Herren, die so verschämt und zimperlich taten wie junge Bürgermädchen, und nach Engländern mit Raffzähnen, die nach abgewickeltem Geschäft mit einer Bullenbeißerwut um jede Mark feilschten.

Darum eben war es ja gekommen, daß diese beiden letzten Säulen der glücklichen Cito-Presto sich entzweien konnten, so daß sie sich heute nicht einmal mehr grüßten: Monte hatte jemanden, also Kufalten, haben wollen, der für ihn die Marie ziepte.

Oder genauer gesagt: eigentlich kam die Differenz aus einem Streit her, um das Rauchbare, diese Quelle aller Differenzen, im Kittchen und draußen. Über alles andere hätte sich eine Einigung erzielen lassen, aber in der Tabakfrage hatte Monte eine gewisse Engherzigkeit, eine große Kleinzügigkeit bewiesen: daher die Verstimmung.

Beim ersten Wiedersehen war natürlich alles in schönster Butter gewesen. Die beiden hatten angeregt miteinander geplaudert, Monte hatte häufig dem Kufalt sein dickes, silbernes Zigarettenetui hingereicht, und dabei hatte er natürlich gemerkt, daß Kufalt klamm war. Denn erstens hatte der nur Juno zu dreieindrittel bei sich gehabt, während Monte Ariston zu sechs rauchte, und zweitens hatte Kufalt von dieser Juno nur drei Stück gehabt, während Monte gleichgültig sagen konnte: »Wenn die alle sind, gibt's im nächsten Laden mehr.«

Nun gut, alles war in den angenehmsten Formen verlaufen, Kufalt hatte sich was zugute getan mit Rauchen, und für den nächsten Tag hatten sie sich wieder verabredet, an dieselbe Stelle.

Aber am nächsten Tage fing nun eben Monte an zu erzählen, was für Malesche er mit seinen Kunden wegen der Marie hatte. Er brauchte gerade einen, der für ihn das Geld ziepte, wie er es nannte, das heißt, sein Kompagnon sollte gegen fünfundzwanzig Prozent der Einkünfte sich in der Nähe aufhalten und, hatten die Herren sich erst ihrer Oberkleider entledigt, eine kleine Brieftaschenrevision vornehmen.

O Gott, nein, beleibe nein, etwa die Brieftasche klauen? Nicht in die Hand, nicht in die la main, nein, nur zur Erleichterung des Zahlungsverkehrs, nicht wahr, etwa einen Zehnmarkschein? Natürlich auch mal einen Fünfzigmarkschein, war die Tasche sehr bespickt.

Bis hierher war alles recht gut gegangen, Kufalt hatte sich im Bewußtsein des großmütigen Monte gar nicht erst mit Rauchware versehen, fleißig hatte er aus der Silberdose mitgeschmökt. Aber hier war nun der Punkt gekommen, der entscheidende, die Vorschläge waren gemacht, die Antwort wurde erwartet – und da hatte Monte ein gewisses Zögern, den Vorboten einer Abweisung gewissermaßen, auf Kufalts Zügen zu bemerken geglaubt.

So hatte er denn auseinandergesetzt, daß man bei solcher Zieperei überhaupt nichts riskierte, es gab einen Paragraphen hundertfünfundsiebzig, und Montes Kunden hatten einen großmächtigen Respekt vor diesem Paragraphen. Außerdem würde er seinen Kufalt schon anlernen, der würde bald wissen, wo es zu riskieren war und wo nicht.

Und während er dies alles auseinandersetzte, hatte er träumerisch in seine Zigarettendose geblickt, sich eine genommen, Kufalt angeblickt, sie sich angesteckt, Kufalt wieder angeblickt, weiter gesprochen, gepafft, weiter gesprochen.

Kufalt aber gehörte zu den Menschen, die andere nur rauchen sehen können, wenn sie selbst eine zwischen den Lippen haben. Er hatte den lieblichen Duft der Ariston gerochen, er hatte gut verstanden, warum ihn Monte so angeblickt hatte.

Jawohl, das Angebot war vielleicht nicht einmal so schlecht gewesen, trotzdem es Kufalt nicht ganz lag, jedenfalls hätte man es sich gründlich überlegen können – aber wenn dieser Bengel, dieser Pupe, da so saß und einem was vorrauchte und dachte, damit hätte er ihn, so hatte er sich geschnitten!

Eine kurze Auseinandersetzung war gefolgt, Kufalt hatte Montes Lebenswandel gemein, Monte Kufalts Verhalten dusselig gefunden, schließlich gingen sie auseinander, der eine hierhin, der andere dorthin – und kannten sich fürder nicht mehr.

Das war im August gewesen und jetzt war es Oktober, zwei Monate gleichen viel aus. Wenn Kufalt jetzt über seinen Leberwurst-Rundstücken die Vorübergehenden musterte, so vielleicht darum, weil Monte ihm nicht ungelegen gekommen wäre. Hätte Monte damals nur ein bißchen mehr Verstand in seinem Lockenschädel gehabt und begriffen, daß es mit Rauchwarenerpressung nicht zu machen war, so hätte man ein Geschäft tätigen, eine Kumpelage begründen können.

Aber kein Monte ließ sich sehen, kein Monte kam.

Wer statt dessen kam, war ein großer, dunkelhaariger Mann, mit einer lederartigen, grauen Haut, mit sehr eindringlichen, starken, schwarzen Augen, in einem äußerst auffallenden großkarierten Anzug.

»Mein Gott, Batzke!« rief Kufalt fassungslos aus.

»Hallo, Willi!« sagte Batzke und setzte sich neben ihn auf die Bank.

 

4

»Habe eben an dich gedacht, Batzke«, berichtete Kufalt.

»Dann geht's dir mies«, stellte Batzke fest.

»Und dir?« fragte Kufalt

»Dito, danke, dito«, antwortete Batzke.

Eine kleine Pause entstand, dann rückte Batzke so auf der Bank hin und her, als wollte er aufstehen. Und darum fragte Kufalt hastig: »Ist denn gar nichts zu machen, Batzke?«

»Zu machen ist immer was«, erklärte der große Batzke.

»Aber was?«

»Ach, du denkst, ich baldowere für dich?«

Ziemlich lange Stille.

»Warum bist du denn damals nicht unter den Pferdeschwanz gekommen?« fing Kufalt wieder an.

»Ach, quatsch bloß nicht, Mensch«, antwortete Batzke.

»Du warst wohl bei deiner Schiffsreederwitwe in Harvestehude?« erkundigte sich Kufalt weiter.

»Ach, hör' bloß auf, Willi«, sagte Batzke. »Hast du was zu rauchen?«

»Nee.«

»Ich auch nicht.«

Sie grinsten sich beide an.

»Haste Geld?« fragte Batzke wieder.

»Nee.«

»Und was zu verscheuern?«

»Auch nicht.«

»Also fahren wir nach Ohlsdorf.«

Und Batzke stand auf und dehnte seine pferdestarken Knochen, daß sie knackten.

Kufalt blieb sitzen. »Was tu ich denn in Ohlsdorf?«

»In Ohlsdorf«, erklärte Batzke, »ist der modernste Kirchhof von der Welt.«

»Was geht der mich an?« fragte Kufalt. »Begraben laß' ich mich noch lange nicht.«

Beide grinsten wieder.

»Also, komm schon, Mensch«, drängte Batzke.

»Aber was soll ich da?«

»Ich denke, du willst ein Ding drehen mit mir?«

»Aber wieso auf dem modernsten Kirchhof von der Welt?«

»Das wirst du schon alles sehen.«

»Fahrgeld zahl' ich jedenfalls nicht für dich«, sagte Kufalt unschlüssig.

»Wer hat dich darum gebeten, du Penner? Die paar Groschen habe ich noch.«

Und sie gingen los, zum Hauptbahnhof.

Hier, am Schalter, trotzdem das ganze Fahrgeld mit ein paar Nickeln abgetan war, sah Kufalt, daß Batzkes ganze Brieftasche vollgepfropft war mit Zwanzig- und Fünfzigmarkscheinen. Aber wenn Batzke auch daran gelegen zu sein schien, daß sein neuer Kumpel von dieser Tatsache Kenntnis nahm, so hütete er sich doch, für Kufalt zu zahlen, er begnügte sich mit dem fassungslosen Ausdruck auf dessen Gesicht.

Der Zug war zu voll, da konnte man nicht darüber reden. Aber kaum waren sie aus dem Ohlsdorfer Bahnhof heraus, da sagte Kufalt: »Mensch, Batzke, du hast aber einen Haufen Kies!«

»Na ja«, sagte Batzke. »Das muß auch so sein. – Da drüben liegt der Kirchhof.«

»Ja«, sagte Kufalt. Der Kirchhof interessierte ihn nicht. Er fühlte sich geborgener. Zwanzig Mark mußte sich Batzke abpumpen lassen. Das waren viertausend Adressen. Und ein gutes Stück weiter in der Sicherheit. Bereit also, sich Batzke völlig unterzuordnen, fragte er: »Gehen wir jetzt rauf auf den Kirchhof?«

»Willst du?«

»Wenn du meinst?«

»Ob du willst, frage ich.«

»Ich kann mir den Kirchhof ja mal ansehen.«

»Ach«, sagte der große Ganove Batzke, »mir liegt eigentlich an Kirchhöfen nichts.«

»Also gehen wir woanders hin.«

Und Batzke schlug einen Weg ein, der vom Kirchhof fortführte.

»Wo gehen wir denn nun hin?«

»Du mußt auch nicht alles wissen.«

»Hör mal, Batzke«, bat Kufalt »Kauf ein paar Zigaretten, was?«

»I wo ...«, fing Batzke an und besann sich. Dann: »Ich hab' kein Kleingeld.«

»Aber du hast doch genug Zwanzigmarkscheine«, sagte Kufalt.

»Ich mag jetzt nicht wechseln. Hol du sie. Ich geb' dir das Geld heute abend wieder.«

»Schön«, sagte Kufalt und sah sich nach einem Laden um. Er entdeckte einen und wollte rein.

»Halt«, rief Batzke und nahm einen Schein aus der Brieftasche. »Hier hast du zwanzig Mark, hol gleich fünfzig Stück. Juno. Ich geh' langsam voraus. Da runter.«

»Schön«, sagte Kufalt wieder.

Die Ladenbimmel in diesem Vorstadtgeschäftchen klingelte ziemlich lange, aber keiner kam. Kufalt hätte sich aus den aufgebauten Packungen ganz hübsch Zigaretten in die Taschen stecken können, aber so was tat er nun wieder nicht. Es lohnte nicht das Risiko.

Kufalt ging von neuem zur Ladentür, öffnete und schloß sie noch einmal, wobei er die Klingel lange lärmen ließ. Als noch niemand kam, rief er mehrmals laut ›Halloh‹.

Schließlich kam ein verschrumpeltes Weiblein mit aufgekrempelten Ärmeln in einer blauen Schürze aus dem Hinterzimmer.

»Entschuldigen Sie bloß, lieber Herr«, sagte sie mit ihrer hellen Altweiberstimme. »Ich hab' gescheuert, da hört man die Klingel schlecht.«

»Ja«, sagte Kufalt. »Ich möchte fünfzig Ariston.«

»Ariston?« fragte die Alte. »Ich weiß nicht, ob wir die haben.«

Sie sah zweifelnd die Regale an. »Wissen Sie, lieber Herr, was meine Tochter ist, die hat gerade ein Kind gekriegt, heute nacht, ich mach' es nur zur Aushilfe hier im Laden.«

»Also geben Sie mir eine zu fünf«, sagte Kufalt gottergeben. »Machen Sie ein bißchen schnell. Ich muß weiter.«

»Ja, ja, lieber Herr, ich verstehe ja.«

Und sie fischte eine Zigarette aus einer Packung und hielt sie ihm hin.

»Fünfzig hab' ich gesagt«, sagte Kufalt wütend.

»Sie haben doch eine zu fünf gesagt«, sagte das alte Weib.

»Also geben Sie mir schon fünfzig. Ja, lieber Gott, von denen!«

»So bedienen ist schwer«, seufzte die alte Frau. »Und die Leute sind immer so ungeduldig. Hier!« und sie reichte ihm die fünfzig Stück.

»Hier«, sagte Kufalt und reichte ihr das Geld.

Sie besah sich weitsichtig den Schein. »Zwanzig Mark?« fragte die Alte. »Haben Sie's nicht kleiner?«

»Nein«, sagte Kufalt dickköpfig.

»Ich weiß nicht, ob wir so viel da haben.« Und sie ging in das Hinterzimmer.

»Machen Sie bloß schnell!« rief Kufalt ihr nach und wartete weiter.

Aber dann kam sie doch. Drei Fünfmarkstücke, ein Zweimarkstück, ein Fünfziger –: »Ist es recht so, lieber Herr?«

»Ja, ja«, sagte Kufalt und rannte eilig los.

Von Batzke war nichts mehr auf der Straße zu sehen, soweit Kufalt auch den ihm bezeichneten Weg hinauflief. Nichts war zu merken von Batzke – dann kam er ganz überraschend aus einer Nebenstraße.

»Gehen wir hier weiter«, sagte er. »Na, hast du die Zigaretten?«

»Hier«, antwortete Kufalt. »Und hier ist auch das Geld.«

»Geht in Ordnung«, sagte Batzke. »Hier hast du zehn Zigaretten für dich.«

»Danke schön«, sagte Kufalt.

»Wer war denn im Laden?« fragte Batzke im Weitergehen.

»'ne alte Frau«, sagte Kufalt, »wieso?«

»Weil's so lange gedauert hat.«

»Ach so«, sagte Kufalt. »Ja, lange hat's gedauert, sie wußte mit nichts Bescheid.«

»Nein«, bestätigte Batzke.

»Wieso?« fragte wieder Kufalt.

»Weil's so lange gedauert hat«, lachte Batzke.

»Ich finde, du bist komisch, Batzke«, sagte Kufalt argwöhnisch. »Ist was?«

»Was soll denn sein?« lachte Batzke weiter. »Weißt du auch, wohin wir gehen?«

»Nein«, sagte Kufalt, »keine Ahnung.«

»Dann wirst du's ja gleich sehen«, sagte Batzke.

Und so gingen sie denn beide weiter, schweigend und rauchend.

Der Platz, an den Kufalt von Batzke geführt wurde, war mit einem großen Haus bebaut, mit einem ganzen Komplex aus Backstein-Zinnen, Zementwänden, hohen Mauern, kleinen rechteckigen Fensterlöchern, mit Gittern davor –.

»Das ist ja ein Bunker«, sagte Kufalt enttäuscht.

»Das ist Fuhlsbüttel«, erklärte Batzke fast feierlich, mit einer ganz andern Stimme. »Da drin habe ich sieben Jahre abgerissen.«

»Und darum sind wir hier rausgefahren, daß du dir dein Kittchen ansiehst?« fragte Kufalt halb empört und halb enttäuscht.

»Wollte den alten Bau mal wieder sehen«, sagte Batzke ungerührt. »War 'ne schöne Zeit drin, nich so mies wie heute ...«

»Na, weißt du, du magst es aber tun: soviel Marie und denn noch stöhnen ...«

»Komm auf die andere Seite rum. Ich zeig' dir die Tischlerei, wo ich damals drin gearbeitet habe.«

Kufalt ging mit.

»Siehst du da hinten? Das ist sie! Aber eine feine Tischlerei, sage ich dir, einfach Klasse, nicht solche Bruchdinger wie bei den Preußen.«

Kufalt hörte zu.

»Rolljalousieschränke habe ich gemacht«, sagte Batzke träumerisch und betrachtete seine Pranken, jetzt gepflegt, jetzt manikürt, »weißt du, das gibt Spaß, Willi, wenn man das so hinkriegt, daß die Stäbe nicht klemmen, rumplumplum und auf ist der Laden, ratschbumm und zu ist er!«

Kufalt lauscht. Batzke ist in seine Erinnerungen verloren: »Und dann haben wir mal für den Direktor eingebaute Schränke gemacht – ich hab' immer in seine Villa kommen dürfen. Warte, wir gehen rum, ich zeige sie dir.«

Sie gehen rum.

»Na ja«, sagt Batzke unzufrieden. »Von außen kannst du die Schränke nicht sehen, aber schnafte, sage ich dir, wie das so ging. Und alte Möbel hat er sich gekauft, der Direktor, da hatte er einen Narren daran gefressen, weißt du. – ›Kommen Sie mal wieder rüber, Batzke‹, hat er zu mir gesagt. ›Sehen Sie sich mal an, was ich da wieder für einen Bruch gekauft habe, ob Sie den zurecht kriegen.‹«

Und mit einem tiefen Aufatmen: »Ich hab's immer wieder zurecht gekriegt. Einlegearbeiten, die kaputt waren, uralte Dinger, ich hab' sie hingekriegt, Junge, einfach großartig!«

»Na – und?« fragt Kufalt mißbilligend. »Da kannst du doch immer wieder rein, wenn's so schön war. Die fahren dich von der Davidswache gratis raus, da hätten wir kein Fahrgeld auszugeben brauchen.«

»So?« sagt Batzke und sieht Kufalt böse funkelnd an. »So? Meinst du das? Ich will dir was sagen, Kufalt, du bist einfach doof!«

Und damit dreht sich Batzke um und fängt an, eilig auszuschreiten. Er umrundet den ganzen Bau, einmal, zweimal, und schweigend läuft Kufalt neben ihm her, zitternd, daß er sich die Gunst eines so mächtigen Geldgebers verscherzt hat.

»Du kannst ja schließlich machen, was du willst«, sagt plötzlich Batzke. »Ich hab' heute weiter nichts vor. Ich latsche nach Haus.«

»Ich auch«, sagt Kufalt eifrig. »Ich auch.«

Uns so wandern sie denn den langen Weg nebeneinander her, und so war Batzke ja nun auch wieder nicht, daß er den ganzen Weg gemuckscht hätte, nein, eine ganz vernünftige Unterhaltung kam zustande. Sie hatten ja so einige gemeinsame Erinnerungen, und man konnte herrlich lachen, wenn man all die Doofen ins Gedächtnis zurückrief, die man reingelegt hatte, Wachtmeister wie Strafgefangene.

Und als die zehn Zigaretten von Kufalt alle waren, spendierte ihm Batzke noch einmal fünf: »Damit mußt du nun aber auskommen.«

Als sie dann in der Stadt waren, stand Batzke einen Augenblick zögernd vor einem Lokal und sagte schließlich: »Na, komm mal mit rein, ich zahle dir ein Abendbrot.«

»Ich danke dir auch schön, Batzke«, sagte Kufalt.

Es war kein sehr berühmtes Lokal, in dem sie dann saßen, eher eine verräucherte, verschmutzte Stampe. Das Gängeviertel dichte bei. Aber das Essen schmeckte, das Bier schmeckte, und schließlich fragte Batzke: »Willst du wirklich was anfassen, Willi?«

»Kommt drauf an«, sagte Kufalt, der erst einmal satt war.

»Ich hab' was ausbaldowert«, sagte Batzke.

»Ja?« fragte Kufalt.

»Auf dem Postscheckamt«, sagte Batzke.

»Da ist ohne Kanone nichts zu machen«, sagte Kufalt sachverständig.

»Du bist wohl blöd? Überfall!« empört sich Batzke.

»Was denn sonst?« fragte Kufalt.

»Da kommt«, flüsterte Batzke und sah sich um, »jeden Mittwoch und Sonnabend so 'ne olle Schachtel und holt immer sechs-, achthundert ab. Damit rennt sie durch die halbe Stadt, bis in ein Geschäft an der Wandsbeker Chaussee.« – Pause. »Na, was meinst du?«

Kufalt zog ein Gesicht: »Das ist nicht so einfach.«

»Ganz einfach ist das«, erklärte Batzke. »Beim Lübecker Tor gibt ihr einer von uns beiden was über die Rübe, der andere reißt ihr die Tasche weg, einer rechts, der andere links ...«

›Das ist doch nichts‹, denkt Kufalt. ›Der haut mit der Marie ab und mich nehmen sie hops.‹

Und laut: »Ich verstehe dich nicht, Batzke, wo du die ganze Tasche voll Marie hast.«

»Ach, höre doch bloß auf mit meinem Geld!« schreit Batzke wütend. Und ruhiger: »Also willst du oder willst du nicht? Es gibt ja noch mehr, die mitmachen.«

»Das muß man sich überlegen«, erklärt Kufalt.

»Morgen ist Sonnabend«, sagt Batzke.

»Ja, ja«, sagt Kufalt nachdenklich.

»Also nein?« fragt Batzke.

»Ich weiß nicht«, sagt Kufalt zögernd. »Ein bißchen doof kommt es mir vor.«

»Wieso doof? Ohne Risiko is nichts.«

»Aber nicht so viel Risiko für so wenig Geld. Ich will nicht schon wieder Knast schieben.«

»Den schiebst du so und so«, sagt Batzke nachdenklich. Er pausiert und setzt dazu: »Wenn ich nämlich will.«

»Wieso?« fragt Kufalt verblüfft.

»Findest du nicht, der Kellner sieht mächtig blöd aus?« fragt Batzke ablenkend.

»Wieso muß ich Knast schieben, wenn du willst?« fragt Kufalt hartnäckig.

»Willst du dem Kellner nicht die Zeche bezahlen?« lacht Batzke plötzlich. »Ich geb' dir auch einen von meinen Scheinen.«

»Von – deinen – Scheinen –?« Kufalt glotzt.

»O Mensch, hast du's noch immer nicht kapiert?!« platzt Batzke los. »Linke Marie ist das, Inflationsgeld ist das! Und geht hin und kauft fünfzig Zigaretten damit!«

Plötzlich steht vor Kufalts Auge die Szene vom Vormittag: die runzlige, verwirrte Alte mit der hellen Stimme, im Hinterzimmer die Frau, die grade ein Kind bekommen hat, vielleicht deren letztes Geld – und in welcher Gefahr war er gewesen! Der Batzke hatte sich schön in eine Seitenstraße gedrückt, der Lump, der elende! Und wenn nun ein Verkäufer im Laden gewesen wäre, irgendeiner, der nur ein bißchen wacher war, dann hätte Kufalt um diese Stunde schon wieder auf der Polizei gesessen, mit einem hübschen, langen Knast vor sich ...

Aber der Batzke lacht ihm ins Gesicht, der elende Kerl, der steckt das Wechselgeld ein und macht nicht einmal Kippe ...

»Batzke!« schreit Kufalt. »Ich will jetzt sofort ...«

»Ober, mein Freund zahlt!« schreit Batzke, greift seinen Hut, und Kufalt zahlte drei Mark achtzig.

Blieb Rest sieben Mark fünfzehn.

 

5

An diesem ereignisreichen, schicksalsvollen Sonnabend wachte Kufalt früh auf, ganz früh. Er lag in seinem Bett und grübelte. Dachte nach in dem schmutzigen, verkommenen Zimmer mit dem knolligen Federbett, das Hunderte vor ihm beschlafen haben mochten, mit oder ohne ihre Mädchen, denn die olle Dübel war nicht so – nein, so was machte ihr Laune. Er sah gegen die Fenster, es mußte nun hell werden, aber in diesen kleinen Hof von ein paar Geviertmetern drang kaum Licht. Plötzlich hatte er das Gefühl, draußen schien die Sonne. Es sah sie nicht, aber er ahnte sie.

Er stand langsam auf, wusch sich viel und mit Gründlichkeit, rasierte sich sorgfältig, zog frische Wäsche an, seinen besten Anzug – und mit der geliebten Mercedes unter der Wachstuchkappe ging er los. Draußen schien wirklich die Sonne.

Die erste Enttäuschung war die, daß die Leihhäuser erst um neun aufmachten. Kein Mensch konnte ahnen, wann diese alte Ziege aufs Postscheckamt ging. Er stand unter der Reihe der Wartenden, manche trugen Federbetten, einer hatte einen Regulator unter dem Arm. Die Leute standen still, ohne zu sprechen, sie sahen alle vor sich hin, jeder war mit sich allein, gewissermaßen häuslich in seinen Sorgen eingerichtet. Nur, wenn jemand Frisches sich an die Reihe der andern anstellte, warfen sie einen raschen Blick auf ihn, um zu sehen, was er wohl zum Versatz brächte. Dann sahen sie wieder vor sich hin.

Als die Tür geöffnet wurde – endlich, endlich! – ging alles ganz schnell.

»Dreiundzwanzig Mark«, sagte der Beamte und, als Kufalt in Gedanken an seine hundertfünfzig zögerte, sagte er auch schon: »Bitte weitergehen!«

»Nein, nein«, sagte Kufalt, »geben Sie schon her.«

Eine Weile mußte er noch an der Kasse warten, dann hatte er das Geld und lief mehr, als er ging, zu einem Fahrradverleiher, den er sich schon am Abend vorher ausgesucht. Auch hier gab es Schwierigkeiten. Zwanzig Mark schienen dem Verleiher zu wenig als Sicherheit für ein nagelneues Rennrad. Kufalt redete endlos auf ihn ein. Schließlich hinterlegte er noch seinen Meldeschein, hinterlegte er noch den Pfandschein, und dann fuhr er los.

Es war gar nicht so einfach, so gut er früher geradelt hatte, nach netto sechs Jahren im modernen Straßenverkehr zurecht zu kommen. Und er mußte gut zurecht kommen. Heute kam alles auf Schnelligkeit, raschen Entschluß, Geistesgegenwart an.

Das Lübecker Tor (das kein Tor mehr ist, sondern ein Platz) ist eine unübersichtliche Geschichte. Viele Straßen münden dort ein, die Fußgänger laufen von hier und nach dort, man mußte immer den Kopf drehen. Und dann sind da Buden, die den Überblick erschweren, die Elektrischen fahren vorbei und verdecken die Passanten auf der andern Seite.

Plötzlich aber sah Kufalt – und er ging blitzschnell in Deckung mit seinem Rad – aus der Bedürfnisanstalt drüben auf der andern Seite ein Gesicht herausschauen, ein bekanntes Gesicht. Und nun wußte er, daß er, trotzdem die Uhr elf Uhr fünfzehn zeigte, nicht zu spät gekommen war.

Hier stand er. Vielleicht dachte er an alles mögliche, vielleicht sogar an die Zeit, da er ein Kind gewesen war, und seine Mutter war nach dem Abendessen in sein dunkles Schlafzimmer gekommen, hatte sich über sein Bett gebeugt und gesagt: ›Träume gut. Aber gleich einschlafen!‹

Hier stand er, und die Leute liefen, und sicher war in ihm das ganze Gefängnis wach, er hatte die Brücken abgebrochen, er wußte: ›Einmal bin ich wieder dort. Wann? Heute mittag schon? Oder erst in fünf Jahren?‹

Batzkes Kopf tauchte immer wieder auf, spähend wie ein Fuchs sah das harte, böse Gesicht, die blinzelnden Augen über die Straße, dann war es wieder fort, und man hatte von neuem die Möglichkeit, sich auf das Rad zu setzen und heimzufahren. Wozu heimfahren? Ehrlich und anständig unterkriechen, sich demütigen, betteln und doch verrecken!

Kufalt faßte die Lenkstange fester – wie sollte er wissen, wie diese ältliche Buchhalterin aussah?

Er wußte es. Da kam sie, mit einem trockenen Schritt, der braune Rock war ziemlich lang, die Füße setzte sie einwärts, ihr Gesicht war ältlich, sehr weiß, von dem kranken Weiß der Bürostuben. Unter einem kleinen Filzhut hervor hing graues, zum Bubikopf geschnittenes Haar.

Sie kam, und sein Herz klopfte immer schneller, und es flehte in ihm: »Wenn er es doch nicht wagt, ich könnte heimfahren, wenn er doch den Mut verlöre!«

Es fiel überhaupt nicht auf im ersten Augenblick, Batzke war hinter ihr, er schien sie zu streifen, als er rasch vorbei ging, so wie sich eben Passanten auf der Straße streifen, dann kam es ganz leise wie ein unterdrückter, verblüffter Schrei herüber zu Kufalt. Die braune Aktentasche in der Hand lief Batzke in eine Querstraße hinein, und plötzlich schrie sie ganz laut drüben, Leute liefen zusammen. Schon sah Kufalt nur den Auflauf, er sah Batzke nicht mehr, und dann – wie schwer wurde der Entschluß, saß er auf seinem Rad, die Pfeife eines Schupos trillerte, Autos hielten an, eine Elektrische stockte so jäh, daß die Schienen aufschrien, er trampelte an ihr vorüber, in die Querstraße hinein, kein Batzke, in die nächste Querstraße, geradeaus, kein Batzke – alles umsonst? Alles vergeblich?

Es war sinnlos, so weiterzufahren. Er müßte Batzke längst gesehen haben! Verloren! Und doch fuhr er weiter.

Es durfte nicht verloren sein, es durfte nicht umsonst sein. Plötzlich wußte Kufalt, das, was er heute früh gewollt hatte, war nicht der Anfang zu einer Ganovenlaufbahn gewesen, es war der Anfang gewesen zu einem ehrlichen, stillen, kleinen Dasein, untergekrochen in der winzigen Stadt dort hinten, vielleicht mit einem guten Mädchen, mit dem man Kinder haben würde. Nur das bißchen Betriebskapital für den Anfang – dafür hatte es der Anfang sein sollen! Es durfte nicht umsonst gewesen sein.

Hier stehen Villen und Mietshäuser durcheinander, der Lärm vom Lübecker Tor ist längst verklungen. Hier heißt es Maxstraße, Eilbecker Riede. Und nun kommt er wieder hinaus auf eine große, breite Straße. Es ist die Wandsbeker Chaussee, es ist eine Viertelstunde später. Kaum fünf Minuten ist er entfernt vom Lübecker Tor. Und dort, wo sich die Wandsbeker Chaussee und Eilbecker Weg gabeln, dort, wo eine kleine Verkehrsinsel ist, ein Häuschen mit einer Polizeiwache steht darauf, es ist ruhig dort, still, dort sieht er den Batzke, sieht er ihn wirklich und bremst und steigt ab und sieht ihn von fern an und sagt sich: ›Alles Unsinn. Ich habe ja Angst vor ihm.‹

Ein Schupo geht in die Wache hinein, sein Blick fällt flüchtig auf Batzke, aber Batzke stört das nicht: darf man hier etwa nicht stehen und auf sein Mädchen warten, eine Aktentasche in der Hand?

Kufalt lehnt sein Rad langsam und gedankenvoll an einen Baum, er läßt es da stehen, verloren ist doch verloren, und geht es gut, kommt es darauf nicht an.

Der Batzke sieht nach einer andern Richtung. Kufalt kommt bis auf einige Schritte an ihn heran, dann wendet der Große, Schwarze den Kopf und sieht den Kumpel von gestern. Ohlsdorfer Friedhof, die linke Marie, die Zeche von gestern abend.

Batzke zieht die Brauen zusammen, sein Gesicht sieht sehr finster aus, zum Fürchten. Und Kufalt fürchtet sich auch.

Trotzdem weiß er, jetzt hängt alles vom Ton seiner Stimme ab, von seinem Auftreten, von dem, was Batzke über ihn denkt.

Er sagt, er wirft dabei einen Blick auf das Fenster der Wache, hinter dem man einen Schupo sieht: »Kippe oder Lampen!«

Batzke sieht Kufalt an. Er sagt kein Wort. Kufalt merkt, wie seine rechte freie, ungeheure Tischlerpranke sich anhebt – und dann sieht er etwas in Batzkes Gesicht, was ihm ein bißchen Mut macht: Unschlüssigkeit.

»Alter Junge«, sagt er. Er sagt es ganz freundschaftlich. Plötzlich fühlt er, sie beide stehen auf gleichem Fuß. Endlich einmal nach Jahren der Bekanntschaft wirklich auf du und du. Er hat den Batzke angeschissen. Der Batzke ist natürlich wütend, aber Ganoven fressen einander auf, es gehört zum Geschäft. Es ist ein Naturereignis: was kannst du da schon machen!

Batzke sagt, und auch er sieht dabei nach dem Fenster von der Polizeiwache: »Aber doch nicht hier!«

»Gerade hier«, sagt Kufalt.

Batzke steht unentschlossen.

Ein Polizeiflitzer kommt die Wandsbeker Chaussee vom Lübecker Tor her angerast, hält vor der Wache, ein Beamter springt heraus, er sieht die beiden gar nicht an: welcher Ganove stellt sich denn gerade unter den Schutz einer Polizeiwache?! Der Batzke ist eben doch ein schlaues Aas!

Das beweist er auch dadurch, daß er jetzt ohne weiteres die Tasche öffnet, hineingreift, blind kramt seine Hand darin herum, knüllt was zusammen, gibt es Kufalt.

Aber Kufalt geniert sich nicht mehr. Er macht die Scheine wieder glatt, zählt sie, sechs Fünfziger, und er sagt mit milder Gelassenheit: »Kippe habe ich gesagt! Laß mich mal in die Mappe sehen.«

Batzke zögert wieder. Dann aber greift seine Hand noch einmal in die Tasche. Noch einmal bringt sie ein Paketchen hervor, diesmal sind es acht Fünfziger. Er gibt sie Kufalt und sagt: »Nun aber Schluß, Willi, sonst schmeiß' ich den ganzen Kram hin, hier vor der Wache. Aber vorher richte ich dich noch so zu, daß dich deine eigene Mutter nicht wiedererkennt.«

Jetzt ist es mit der Unentschlossenheit an Kufalt. Einen Augenblick steht er so da, sieht Batzke an, der die Tasche wieder schließt, sieht Batzke an, steckt die Scheine in sein Jackett, er sagt und lacht dabei: »Die drei Mark achtzig Zeche von gestern abend bleibst du mir aber noch schuldig, Batzke!«

»Tjüs«, sagt Batzke.

»Tjüs«, sagt Willi Kufalt.

Und sie gehen auseinander. Jeder in anderer Richtung über den Damm, Kufalt seinem Rade zu, das wahrhaftig noch dasteht.

»Hallo«, ruft es plötzlich, »hallo, Willi.«

Sie gehen wieder aufeinander zu.

Batzke faßt den Kufalt bei der Schulter, faßt ihn schmerzhaft fest und sagt: »Läufst du mir aber in nächster Zeit über den Weg ...«

Kufalt macht seine Schulter frei: »Also auf Wiedersehen im Bunker, Batzke«, sagt er und lacht.

Dann geht er zu seinem Rad, setzt sich darauf und fährt los. Er hat es sehr eilig. In spätestens zwei Stunden muß er mit all seinem Kram aus Hamburg sein: Batzke könnte sich den Fall doch noch einmal überlegen. Kufalt ist polizeilich gemeldet, und die Hinterhäuser in den Raboisen kümmern sich nicht viel darum, ob gerade mal einer schreit. Er tritt mit aller Wucht auf die Pedale.

 

6

Die kleine schleswig-holsteinische Industriestadt, D-Zug-Haltepunkt und mit einem Kanalhafen, liegt inmitten einer flachen, baumlosen Ebene, Äcker über Äcker und ihren einzigen Reiz könnten vielleicht die Knicks ausmachen, die um die Felder laufen. Buschbestandene Feldraine also.

Es ist eine betriebsame Stadt, diese Stadt, über der als einziges Wahrzeichen, bedeutender noch als die Kirchen, die Fabriken, der Bau des Zentralgefängnisses in Zement und roten Steinen aufragt.

Kufalt hebt diesen Anblick, dieses Wahrzeichen der kleinen Stadt, nicht sehr. Er ist eine Art Gefangener, der freiwillig an den Ort seines Gefängnisses zurückgekommen ist – immer wenn er um eine Ecke kommt, läuft ihm ein Wachtmeister entgegen und sagt grinsend: »Tag, Herr Kufalt.« Oder aber die Mauern sind da. Die Backsteinzinnen, die kleinen Gitter in den großen Wänden.

Wir kehren alle wieder heim zu uns. Immer wieder. Nichts blöder als das Geschwätz von dem neuen Leben, das einer anfangen könnte, in uns sitzt es. In uns bleibt es. Da hockt er nun in seiner Stube in der Königstraße, an der Peripherie der Stadt. Wenn er aus der Tür heraustritt und sich von der Stadt fortwendet, ist der Novemberwind da, mit dem Blättergetriebe, mit den öden, endlosen Landstraßen, die irgendwohin führen, wo es auch nicht anders ist. Ist der faulige Geruch da aus den Chausseegräben, von Sterben und Vergehen, ist die Einsamkeit da, mit der man nichts anfangen kann, ist alles, alles wieder da, ein verfehltes Leben ohne Aussicht, ohne Mut, ohne Geduld.

Er sitzt da in seinem Zimmer in der Königstraße, es ist ein gut bürgerliches Zimmer, Bruhn hat ein schlechteres. Bruhn hat ein Arbeitszimmer, eine Schlafgelegenheit gewissermaßen nur. Aber Kufalt sitzt zwischen Mahagoni und Plüsch und Nippes und Bildern, er hat eine Adressenliste neben seiner Maschine, er tippt Briefe. Es sind viel Briefe für einen Mann, der kaum mit einem Menschen Umgang hat, zehn oder zwölf etwa, er tippt den letzten fertig, unterschreibt ihn, kuvertiert ihn, frankiert sie alle, alle Stadtporto zu acht Pfennig, und dann zieht er seinen Mantel an und setzt seinen Hut auf. Er nimmt die Briefe in die Hand und steht an der Schwelle.

Es ist elf Uhr vormittags. Er hat sein Tagewerk gewissermaßen vollbracht. Das Bettlertagwerk der Aussichtslosigkeit, und man kann nicht immer schlafen und man kann nicht immer grübeln. Man hat so seine Sorgen, wenn man auch ein Rentier ist mit vierhundert Mark, mit über vierhundert Mark noch in der Brieftasche.

Er steht an der Schwelle und zaudert. Es ist ganz egal, ob die Briefe heute mittag in den Kasten kommen oder heute abend, wenn es schon dunkel geworden ist, es erfolgt doch nichts darauf. Es ist ganz egal – aber da ist der kleine Emil Bruhn, der grübelt für seinen Freund Kufalt, der hat gestern abend gesagt: »Die Pfaffen, Mensch, denk doch bloß an die Pfaffen, die müssen etwas für dich tun.« Er hat das ›müssen‹ so betont – und Kufalt wird heute abend den Bruhn treffen, und Bruhn wird fragen, ob er auch an die Pfaffen gedacht hat und zu ihnen gegangen ist. Bruhn ist ein Bohrer, Bruhn wird nicht nachlassen, bis Kufalt das getan hat, was er für richtig hält. Also muß Kufalt jetzt um elf aus seinem Zimmer in die Stadt gehen und sich die Adressen von den fünf oder sechs Pfaffen, die es in diesem Städtchen gibt, besorgen.

Kufalt steht immer noch zaudernd an der Tür. Plötzlich entschließt er sich. Er geht an seinen Koffer, er schließt den Koffer auf, in dem Koffer liegt die eine Antwort, die er auf alle seine Bewerbungsbriefe bekommen hat. Ein Mann hat sie geschrieben, der sich Malte Scialoja nennt. Er ist Chefredakteur einer hiesigen Zeitung, der größeren. Der Chefredakteur der anderen Zeitung hat gar nicht geantwortet. Nun gut, aber auch diese Antwort sieht nicht sehr hoffnungsvoll aus. Und doch müßte man eigentlich mal zu dem Mann hingehen. Kufalt liest den Brief. Er ist nicht lang, ein paar Zeilen nur, er lautet:

»Sehr geehrter Herr! Wenn mich auch Ihr trauriges Schicksal bekümmert, so glaube ich doch nicht, etwas für Sie tun zu können. Zwar ist die Auskunft, die Herr Strafanstaltsdirektor über Sie gab, ausgezeichnet, aber Sie wissen wohl selbst, welche Verantwortung für den leitenden Redakteur damit verbunden ist, einen vorbestraften Mann in seinen Betrieb zu bringen. Immerhin würde es mich freuen, wenn Sie mich einmal zwischen elf und eins aufsuchen würden. – Hochachtungsvoll usw.«

Kufalt seufzt, als er diesen Brief liest. ›Aussichtslos‹, flüstert er, ›völlig aussichtslos. Aber wenn ich mir doch die Adressen besorge, kann ich ja auch mal bei dem Manne vorgehen.‹

Er hat in der einen Hand zwölf Bewerbungsschreiben. Mit der anderen steckt er das Schreiben des Chefredakteurs Malte Scialoja in seine Tasche. Und nun geht er wirklich aus seinem Zimmer auf die Straße. – – – Malte ist ein niederdeutscher Vorname. Scialoja ist ein italienischer Nachname. Der Mann, der diese beiden Namen trägt, ist der berühmte Heimatschriftsteller Holsteins, der an der Scholle hängt und der Bücher von Bauern schreibt, deren Sprache das Platt ist, das auch er am liebsten spricht. Die Sache ist nicht so kompliziert, wie man denkt. Vor hundert Jahren einmal hat ein italienischer Matrose in einer der kleinen Hafenstädte an der Küste Wurzel geschlagen. Er hat ein friesisches Mädchen geheiratet und sein Urenkel ist es nun, der dort hinter seinem Schreibtisch auf dem Chefbüro sitzt, zwischen Papieren wühlt, auf das Radio horcht und eigentlich nichts tut. Er ist nicht mehr als ein Aushängeschild für die Zeitung, klüglich vom Besitzer zu diesem Zweck engagiert. Einmal in der Woche, am Sonntag, erscheint ein sinniger Artikel von ihm im Blatt, in der ›Heimatsprak‹.

Aber er ist ein wichtiger Mann. Er ist das rohe Ei in der Redaktion, das alle sorgfältig behandeln müssen, die Leute glauben an ihren versonnenen, schwärmerischen Dichter. Das Publikum will ihn haben. Da sitzt er zwischen seinen Papieren, eigentlich könnte er ebensogut zu Haus sitzen. Er hört unten die große Rotationsmaschine gehen, um halb eins ist die Abendausgabe fertig, das geht ihn nichts an. Dafür haben die kleinen Reporter ihre Sächelchen geschrieben, das geht ihn nichts an.

Scialoja ist ein blasser Mann mit einem untadeligen, dunklen Scheitel, in einem Lüsterjackett. Er hört auf die Tanzmelodien, er liest auch mal ein paar Zeilen aus den Manuskripten, und dann sieht er sich seine Nägel an. Er ist ein großer Mann, er weiß das sehr genau. Es ist nicht einfach, das Leben eines großen Mannes zu führen. Man hat seine Verpflichtungen. Das hat er immer verstanden.

Es klopft an seiner Bürotür. Er ruft unwirsch: »Herein.« Er ruft immer unwirsch ›herein‹. Denn er darf nicht zu viel gestört werden. Er ist ein Mann von großer Tätigkeit mit einem regen Innenleben.

Der Bürobote steht an der Tür. Er meldet: »Ein Herr Kufalt möchte Sie sprechen. Sie wüßten Bescheid.«

Scialoja hat einen Bleistift in der Hand und schreibt. Er sieht kaum auf, als er sagt: »Ich habe zu arbeiten. Ich kenne keinen Herrn Kufalt. Ich weiß nicht Bescheid.«

Die Tür schließt sich wieder. Herr Scialoja ist wieder allein. Er hat den Bleistift wieder hingelegt. Er horcht auf die Radiomusik. Die spielen Tänze. Es sind jene bösen falschen Tänze, die dem Volk so schaden. Es gibt so hübsche Bauerntänze, all das ist verdrängt von diesem Asphaltkitsch. Aber er horcht darauf. Es hört sich nicht schlecht an, aber es ist schlecht.

Schon klopft es wieder an die Tür. Da ist noch einmal dieser unausstehliche Bote. Er sagt vorsichtig: »Der Herr sagt, er ist zwischen elf und eins zu Ihnen bestellt.«

Der Chefredakteur antwortet: »Ich habe so viele Dinge im Kopf, ich muß arbeiten, verstehen Sie das doch! Ich bestelle keine Besucher. Schicken Sie den Herrn weg.«

Die Tür fällt wieder zu. Und wieder die Musik und das Papier, und all die langweiligen Mannskripte, die nicht von ihm geschrieben sind.

Kommt der Bote wirklich noch einmal wieder? Wagt er es? Ja, er wagt es! Er hat ein Stück Papier in der Hand, einen Brief also: »Der Herr will nicht gehen, Sie hätten ihm diesen Brief geschrieben.«

Der Bote bleibt unter der Tür stehen mit dem Brief in der Hand. Scialoja schreibt. Er sagt scharf: »Einen Augenblick bitte, ich habe zu arbeiten.«

Und er schreibt eine lange Zeit weiter.

Dann legt er den Bleistift hin. Er seufzt dabei. Er sagt: »Zeigen Sie mir also mal den Brief.«

Er liest ihn, einmal, zweimal, er betrachtet die Unterschrift genau. Unterschriften von großen Leuten können gefälscht werden: so betrachtet er die Unterschrift. Dann sagt er: »Führen Sie den Herrn herein. Aber sagen Sie ihm gleich, daß ich nur eine Minute Zeit habe. Ich habe zu arbeiten.«

Nun steht Kufalt in dem Chefredakteurbüro, vor dem weißgesichtigen Mann mit dem dunklen Scheitel, der schreibt und ihn nicht ansieht.

Vor einer halben Stunde in seinem Zimmer schien es Kufalt noch zweifelhaft, ob er den Brief überhaupt benutzen würde. Aber mit dem Widerstand wächst der Widerstand: was du geschrieben hast, Freundchen, das tu'.

»Also – Sie wollen?« fragt Scialoja und schreibt weiter.

»Ich habe Ihnen das ausführlich in meinem ersten Brief auseinandergesetzt«, antwortet Kufalt zögernd.

Der Chefredakteur sieht hoch. Er lächelt. »Ich habe so viele Dinge in meinem Kopf«, sagt er. »Hunderte kommen um Hilfe zu mir. Ich bin bekannt im ganzen Land. Was wollen Sie nun also?«

»Eine Stellung«, sagt Kufalt. »Irgend etwas zu arbeiten. Gleichviel was.«

Und er setzt leiser hinzu: »Ich habe Ihnen doch geschrieben, ich bin vorbestraft. Ich finde nichts. Ich dachte, daß gerade Sie ...«

Das ist eigentlich der richtige Appell an den großen Mann: ›gerade Sie‹; aber andererseits kann er wieder nicht zugeben, daß es Fälle gibt, die er noch nicht erlebt hat. Und so sagt er:

»Dutzende von Vorbestraften kommen zu mir um Hilfe, ich sage Ihnen, Dutzende.«

Er hat mit Schreiben aufgehört und sieht Kufalt freundlichkühl an.

Kufalt steht abwartend.

»Ja«, sagt der große Mann und noch einmal »ja«.

Kufalt weiß immer noch nicht, was er reden soll. Und so wartet er weiter.

»Sehen Sie«, sagt der große Mann, »ich habe zu arbeiten, ich vertrete das Volk, das einfache Volk, verstehen Sie. Blut und Scholle, verstehen Sie?«

»Ja«, antwortet Kufalt geduldig.

»Ich darf mich nicht zersplittern«, sagt der andere weiter. »Ich habe einen Beruf. Verstehen Sie, was Berufung heißt?«

»Ja«, sagt Kufalt wieder.

Der Chefredakteur betrachtet den Bittsteller, als sei nun alles erledigt. Aber Kufalt findet, es ist nichts erledigt, man hätte ihn nicht zwischen elf und eins zu bestellen brauchen, damit er sich anhört, ein anderer hat einen Beruf, er hat keinen.

So steht er weiter da.

»Wissen Sie«, sagt Herr Scialoja, »Sie können ja vielleicht später mal wieder vorfragen. Wie gesagt, ich bedaure Ihr unglückliches Schicksal. Der Strafanstaltsdirektor hat mir eine ausgezeichnete Auskunft gegeben.«

Das Erinnern scheint ihm also wiedergekommen zu sein, trotz der tausend Dinge, die durch seinen Kopf gehen. Und so versucht Kufalt es noch einmal.

»Nur ein bißchen Arbeit«, sagt er. »Ein, zwei Stunden täglich.« Und er setzt lockend hinzu: »Ich hab' eine eigene Schreibmaschine.«

Sein Gegenpart sieht bekümmert aus.

»Ja, ich weiß wirklich nicht«, sagt er zögernd, »ich lebe ja nur meiner Arbeit. Vielleicht sprechen Sie einmal mit unserem Geschäftsführer.«

»Würden Sie mich Ihrem Geschäftsführer empfehlen?« fragt Kufalt.

»Aber mein Heber Herr«, sagt der andere, »ich kenne Sie ja gar nicht.«

»Aber Sie haben doch mit Herrn Strafanstaltsdirektor gesprochen!«

»Der Strafanstaltsdirektor«, sagt der Chefredakteur und ist plötzlich ganz von dieser Welt, »empfiehlt natürlich alle seine entlassenen Gefangenen, damit er die Laufereien nicht mehr hat.«

»Aber warum haben Sie mich hierher bestellt?« fragt Kufalt.

»Wissen Sie was«, sagt der große Mann und hat eine Erleuchtung. »Wir haben da so einen Fonds, ich gebe Ihnen eine Anweisung an die Kasse auf drei Mark, und Sie versprechen mir, nicht wiederzukommen.«

Kufalt steht einen Augenblick still. Er besinnt sich. Dann sagt er plötzlich, und ist gar nicht mehr schüchtern:

»Sie wohnen doch in der Dottistraße, Herr Scialoja, in einer Villa?«

»Ja«, antwortet der Chefredakteur verwirrt.

»Na also«, sagt Kufalt. »Dann klappt es ja. Redaktionsschluß ist doch um sechs?«

»Wieso?« fragt der andere.

»Weil's da dunkel ist«, sagt Kufalt und lacht. Und lachend geht er aus dem Chefbüro.

Er läßt einen ziemlich aufgeregten Mann hinter sich.

 

7

Das Lachen, mit dem Kufalt das Büro verlassen hatte, hielt nicht lange vor. Gewiß war die Dottistraße abends um sechs dunkel, und gewiß war es höchst angenehm zu wissen, daß Herr Scialoja in der nächsten Zeit mit Angstgefühlen nach Hause gehen würde, wahrscheinlich eskortiert von irgendeinem Redakteur oder Setzer – aber was half das alles!

Vierhundertdreißig Mark sind nicht so sehr viel Geld, und das Ende war leichthin auszurechnen. Nun gut, er würde zu den sechs Pastoren gehen, deren Adressen er am Schalter der Zeitung eingesehen hatte, aber auch dabei würde nicht viel herauskommen. Unter den sechs Geistlichen war einer, den Kufalt kannte. Das war der katholische Pfarrer, dem Kufalt im Gefängnis den Altar hatte zurecht machen müssen, ein alter, strenger Mann. Kufalt hatte manchen Streit mit ihm gehabt, der Pfarrer hatte es ihn wohl auch entgelten lassen, daß ihm von der Beamtenschaft ein »Evangelischer« für diese Arbeit aufgezwungen worden war.

Aber trotzdem: jetzt, als Kufalt auf der Straße geht und den Fall bedenkt, scheint ihm der Mann nicht übel. Er ist eifrig gewesen für seine Gefangenen, er hat sie wohl angeschnauzt und gescholten, aber er war immer da für sie. Vielleicht ist er auch für Kufalt da?

Kufalt entschließt sich ganz schnell: jetzt sofort, nach diesem verfluchten Scialoja, wird er zum Pfarrer gehen.

Da empfängt ihn eine Nonne oder was das ist, man sieht fast nichts von ihrem weißen Gesicht unter der großen Haube. Kufalt muß lange warten, er steht da im Vorplatz, das Haus ist totenstill. Er steht lange da, aber er hat nichts zu versäumen, wirklich gar nichts.

Schließlich kommt auch der Pfarrer. Langsam geht der große, starke Mann auf ihn zu, langsam und leise fragt er ihn, was er wohl möchte. Er hat Kufalt nicht wiedererkannt, und Kufalt muß ihn erst wieder ans Kittchen erinnern.

»Ja so«, sagt der Pfarrer und erinnert sich noch immer nicht recht. »Sie sehen jetzt aber anders aus. Sehr ordentlich.«

»Die andere Kleidung«, erinnert Kufalt.

»Ja, gewiß«, sagt der Pfarrer. »Andere Kleidung, ja.«

Er spricht immer langsam und leise, sicher ist er ein Bauernsohn von der Wasserkante, da sind sie so leise und stark.

»Und was kann ich jetzt für Sie tun?«

Kufalt erzählt es und der Pfarrer hört zu, fragt auch einmal dazwischen, Kufalt merkt, er versteht, wie einem Menschen zumute sein kann.

Schließlich sagt der Pfarrer ganz kurz: »Ich gebe Ihnen ein Schreiben an den Prokuristen einer Lederfabrik. Ich sage nicht, daß das Schreiben Ihnen was nützt. Aber ich gebe es Ihnen.«

Er setzt sich hin und schreibt, einmal sieht er hoch und fragt: »Aber von meiner Konfession sind Sie nicht?«

Kufalt möchte lügen, aber dann sagt er doch leise: »Nein.«

»Gut«, sagt der Pfarrer und schreibt weiter.

»Also gehen Sie gleich«, sagt er dann. »Jetzt wird der Herr zum Essen zu Haus sein.« Er wiegt den Kopf: »Machen Sie sich keine Hoffnung«, sagt er. »Es gibt noch viel schlimmeres Elend. Geld haben Sie noch?«

»Ja«, sagt Kufalt.

»Und Kleidung?«

»Ja«, sagt Kufalt.

»Nun, vielleicht kommen Sie, wenn dies nichts ist, noch einmal wieder. Ich will sehen, ich will sehen ...«

Er reicht Kufalt die Hand.

Der gibt den Brief in der Wohnung des Prokuristen ab und wartet vor der Tür. Sein Herz klopft ein wenig, ein guter, alter Mann, hat ihm keine Hoffnungen gemacht – aber es kann doch sein?

Das Dienstmädchen kommt zurück, es drückt ihm Geld in die Hand, es sagt: »Es ist nicht nötig, daß Sie wiederkommen.« Dann schließt sie die Tür.

Er steht ziemlich traurig auf dem Treppenabsatz, zählt das Geld, es sind dreißig Pfennig. Er hört das Mädchen in der Küche hantieren, steckt die dreißig Pfennige durch den Briefkastenschlitz und läuft eilig die Treppe hinunter, als die Groschen im Kasten klappern.

Dann zottelt er ziemlich trübselig und mißvergnügt nach Haus. In einem Geschäft in der Königstraße kaufte er sich noch zwei Bücklinge, Brot war zu Haus, Milch war zu Haus, und so war das Alltagsmittagsessen à la Maack komplett. Dann konnte man nach dem Essen schlafen oder nicht schlafen, wie der Kopf es wollte, und dann kam der Lichtpunkt des Abends: der Besuch bei Emil Bruhn. Und vielleicht würde man sogar, wenn Emil Bruhn in seiner Holzwarenfabrik diese Woche gut verdient hatte, auf einen Tanzboden gehen. So phantastische Pläne hegte man. Die Bücklinge mit dem fettigen Pergamentpapier in der Hand, trat Kufalt in seine Stube ein und blieb unter der Tür stehen.

Am Fenster hatte ein schlanker, rötlicher Mann mit einer langen Nase gesessen, in einer Zeitung gelesen, die er jetzt zusammenfaltete.

»Herr Kufalt wahrscheinlich?« sagte der Mann. »Entschuldigen Sie, daß ich es mir bei Ihnen gemütlich gemacht habe. Ihre Wirtin hatte keine Bedenken.«

»O bitte«, sagte Kufalt verwirrt.

»Mein Name ist nämlich Dietrich«, sagte der Herr und sah Kufalt freundlich mit seinen geschwinden Mauseaugen an, die seltsam nah am Nasenrücken saßen.

»Kufalt«, stellte sich Kufalt ganz unnötig vor. Er wußte noch immer nicht, wer sein Besucher war.

Das kapierte der sofort.

»Ach so«, sagte er. »Sie erinnern sich nicht mehr. Sie haben doch an den ›Stadt- und Landboten‹ geschrieben wegen Arbeit. Wegen Ihrer unglücklichen Lage. Man hat da hin und her geredet auf der Redaktion wegen Ihres Briefes, aber natürlich tut keiner von den großen Leuten was, und so bin ich hier!«

Er lächelte einladend und schien den Fall für geklärt anzusehen.

Der ›Stadt- und Landbote‹ war die kleinere Konkurrenz jener größeren Zeitung, deren Herrn Scialoja Kufalt eben besucht hatte.

»Ja«, sagte Kufalt zögernd und legte die Bücklinge auf den Waschtisch. »Und Sie haben also Arbeit für mich?«

»Vielleicht«, sagte Herr Dietrich. »Wer lebt, wird erleben.«

»Und was müßte ich tun, um vielleicht Arbeit zu bekommen?«

Sie hatten sich beide gesetzt und sahen einander freundlich an.

»Wissen Sie«, sagte Herr Dietrich und neigte sich so nahe zu Kufalt, daß der feststellen konnte, Herr Dietrich hatte heute schon Kognak getrunken. »Wissen Sie, ich bin nämlich auch nicht angestellt beim ›Stadt- und Landboten‹. Ich bin ein freier Mann.«

Kufalt zog sich ein wenig zurück. Sowohl vor dem Atem wie vor der Eröffnung.

»Aber«, sagte Herr Dietrich – und dieses Aber hatte mindestens sieben a–, »ich habe vielerlei zu tun. Ich habe viele Dinge in meinem Kopf.«

Kufalt glaubte, das schon einmal heute gehört zu haben, und saß still abwartend da.

»Erstens«, erklärte Herr Dietrich und legte seine Hand sachte auf Kufalts Hand, »erstens bin ich Abonnentenwerber für den ›Stadt- und Landboten‹.«

Er hob seine Hand hoch, betrachtete sie nachdenklich. Daß die Nägel, so kurz sie auch abgebissen waren, ziemlich dreckig aussahen, schien er nicht zu bemerken. Nach der Betrachtung der Hand legte er sie ein zweites Mal auf Kufalt.

»Zweitens«, sagte Herr Dietrich, »bin ich Annoncenakquisiteur für dieselbe Zeitung.«

Wieder dasselbe Manöver mit der Hand. Und wieder kam die Hand zu Kufalts Hand zurück.

»Drittens«, sagte Herr Dietrich, »werbe ich für eine freiwillige Krankenkasse Versicherte und erhebe die Beiträge.«

Die Hand flog wieder in die Luft und kehrte wieder zu Kufalt zurück.

»Viertens kassiere ich für die hiesige Gastwirtsinnung die Innungsbeiträge.«

Kufalt war überzeugt, daß Herr Dietrich gerade an diesem Morgen bei den Gastwirten Innungsbeiträge kassiert hatte. Er wußte nicht, wie lange Herr Dietrich schon in seinem Zimmer gesessen hatte. Aber jedenfalls roch das Zimmer entschieden spirituös.

»Fünftens«, erklärte Herr Dietrich feierlich, »erhebe ich auch die Mitgliedsbeiträge beim Turnverein ›Alte Eiche‹.«

»Sechstens bin ich aber auch der Geschäftsführer des hiesigen ›Wirtschafts- und Verkehrsvereins‹ und gebe alle Auskünfte, die sonst von dem ganzen Stab eines Mitteleuropäischen Reisebüros erteilt werden.«

Kufalt wartete, ob noch Weiteres käme, aber die Hand blieb in der Luft und wanderte dann in die Tasche von Herrn Dietrich, wo sie mit Silbergeld klimperte.

»Jedenfalls will er mich nicht anpumpen«, dachte Kufalt.

»Ihr Schicksal hat mich direkt erschüttert«, sagte Herr Dietrich überleitend. »Ich versichere Ihnen: direkt erschüttert.«

Pause.

Eigentlich müßte Kufalt nun etwas sagen. Aber er sagte nichts. Herr Dietrich wandte sein Gesicht plötzlich scharf seinem Gesprächspartner zu: »Und was denken Sie nun, was ich für Sie tun kann?« fragte er.

»Ja, ich weiß doch nicht«, sagte Kufalt zögernd.

»Gehalt kann ich Ihnen nicht zahlen«, erklärte Dietrich mit Entschiedenheit. »Aber Sie haben Aussichten bei mir.«

»So«, sagte Kufalt nur.

»Ich will Ihnen mal was sagen«, erklärte Herr Dietrich, »ich will ganz offen mit Ihnen reden. Ich bin überhaupt ein sehr offener Mensch. Meine Offenheit hat mir schon tausendmal geschadet ...«

Er sah Kufalt freundlich lächelnd an, wußte aber entschieden nicht weiter.

Dann hatte er eine Idee.

»Wissen Sie was«, sagte er, »hier gleich an der Ecke hat der Gastwirt Lemcke eine Wirtschaft. Darf ich Sie zu einem Glas Bier und einen Korn einladen? Da spricht es sich viel besser.«

Kufalt zögerte einen Augenblick. Dann sagte er: »Ich trink' nie was am Vormittag. Ich vertrag' das nicht.«

»Ich auch nicht«, sagte Herr Dietrich, »aber Sie verstehen, wenn man Kassierer der Gastwirtsinnung ist ...«

Kufalt hüllte sich in Schweigen. Herr Dietrich rückte hin und her, sah unzufrieden seine Zigarre an und sagte dann, gewissermaßen zu dieser Zigarre:

»Zu einem Entschluß müssen wir kommen.«

»Ja«, sagte Kufalt höflich.

Plötzlich war Herr Dietrich in Fahrt.

»Wissen Sie was, mein lieber Herr Kufalt«, sagte er, »schließlich kennen Sie mich nicht, und Kognak habe ich heute auch schon ein bißchen getrunken. Gehen Sie morgen früh um zwölf auf die Redaktion. Da sitzt unser Obermuckermuck, der Freese, der wird Ihnen sagen, was ich für ein Mann bin. Und dann übertrage ich Ihnen gegen prozentuale Beteiligung das Inkasso bei allen Vereinen und der Innung. Und Sie können auch Annoncen und Abonnenten werben, und wenn Sie sonst eine Arbeit für mich machen, dann bezahle ich Sie extra. Was meinen Sie dazu?«

»Was könnte man denn da so verdienen im Monat?« fragte Kufalt vorsichtig.

»Das hängt ganz von Ihnen ab«, sagte Herr Dietrich. »Wenn Sie zum Beispiel hundert Abonnenten im Monat werben, pro Abonnent eine Mark fünfundzwanzig, macht hundertfünfundzwanzig Mark, ein Viertel an mich – das ist gewissermaßen so nebenbei verdientes Geld.«

»So«, sagte Kufalt, »und das Kassieren bei den Leuten? Die zahlen doch heute alle nicht gerne ihre Beiträge.«

»Na ja«, sagte Herr Dietrich. »Millionär werden Sie nicht werden. Aber Ihr Leben haben Sie. Wollen Sie oder wollen Sie nicht?«

»Zu Herrn Freese will ich schon mal gehen«, sagte Kufalt.

»Und noch eins, lieber Herr Kufalt«, sagte Herr Dietrich und neigte sich ganz dicht zu Kufalt hin, so daß er das ganze Aroma von einem halben Dutzend Kognaks zu spüren bekam. »Wissen Sie, das mit dem Inkasso, da kriegen Sie doch Hunderte von Mark in die Hände, und ich muß dafür geradestehen.«

Er sah Kufalt ernst besorgt an.

»Ich muß dafür geradestehen«, wiederholte er noch einmal.

»Ja«, sagte Kufalt und wartete. Er wußte schon, was da kommen würde, aber er wollte es dem andern nicht gar zu leicht machen.

»Sie wissen doch, lieber Herr Kufalt«, sagte Herr Dietrich. »Sie haben es mir doch selbst geschrieben. Das war doch dieselbe Geschichte, weswegen Sie ins Kittchen kamen, ich meine, weswegen Sie Ihr unglückliches Schicksal erlitten.«

»Also kann ich eben nicht kassieren«, sagte Kufalt.

»Doch, doch«, versicherte der andere. »Man kann da doch sicher irgendwas einrichten. Sie sind doch aus guter Familie. Eine Kaution ...«

»Also ich werde morgen mal zu Herrn Freese gehen«, sagte Kufalt und stand auf.

»Sie meinen, eine Kaution käme nicht in Frage? Ich würde sie natürlich in jeder Hinsicht sicherstellen.«

»Was glauben Sie denn eigentlich?« rief Kufalt. »Glauben Sie, ich hätte es nötig, Bettelbriefe zu schreiben, wenn ich große Kautionen stellen könnte?«

»Und eine kleinere?« fragte Herr Dietrich. »Sie können ja jeden Tag mit mir abrechnen.«

»Auch eine kleine nicht«, entschied Kufalt. »Jedenfalls werde ich aber mal Herrn Freese besuchen.«

»Das hat gar keinen Sinn«, sagte Herr Dietrich und pirschte sich gegen die Tür. »Freese ist das gröbste Schwein von der Welt. Im übrigen«, sagte er und bekam die Türklinke zu fassen, »im übrigen bin ich doch nur zu Ihnen gekommen, weil ich von Ihrem Schicksal erschüttert war, direkt erschüttert.«

»Ja, ja«, sagte Kufalt gedankenlos und betrachtete nachdenklich sein Gegenüber mit der langen Nase. Und plötzlich hatte er eine Idee.

»Können Sie mir nicht vielleicht mit zwanzig Mark aushelfen«, sagte er. »Ich bin nämlich ziemlich abgebrannt.« Er lachte.

Und nun geschah das Wunderbare. Dieser Dietrich, dieser halb betrunkene Kerl, der mit dem Silbergeld der Gastwirtsinnung in seiner Tasche klapperte, dieser Dietrich faßte einfach in die Tasche, holte eine Handvoll Geld heraus, zählte vier Fünfmarkstücke ab, drückte sie Kufalt in die Hand, sagte:

»Quittung ist unnötig. Wir arbeiten doch noch miteinander.«

Und verschwand mit dem sachten und vorsichtigen Schritt der regelmäßig Betrunkenen, die wissen, daß sie auf sich aufzupassen haben, treppab.

 

8

Emil Bruhn wohnte in der Lerchenstraße, auch weit draußen vor der Stadt, in der Nähe seiner Holzwarenfabrik, in der er, genau wie im Kittchen, Fallennester für Hühner im Akkord nagelte.

Er hatte seine grünlich getünchte Kammer nicht für sich allein.

Er teilte sie mit dem Wächter einer Lederwarenfabrik, der abends um acht fortging und erst morgens um acht wiederkam, anderthalb Stunden später, als Bruhn das Haus verließ. Sie schliefen im gleichen Bett. Sie teilten so ziemlich alles miteinander, und wenn es Differenzen gab, und es gab oft Differenzen, so wurden sie am Sonntag ausgetragen, wenn der Wärter der Lederfabrik seine freie Nacht hatte.

Kufalt, erst seit zwei Wochen im Städtchen, wußte alles über diese Differenzen. Daß der Lump, der andere, nie die eigene, sondern immer die fremde Seife benutzte, daß er nie sein Zeug weghängte, und daß er jeden Sonntagabend betrunken mit einem Mädchen auf die Bude kam und verlangte, Bruhn solle auf dem Fußboden schlafen: »Nur ein kleines Weilchen, Emil. Gleich sind wir fertig ...«

Ja, von diesen Differenzen erzählte Bruhn viel und ausgiebig. Aber davon zu hören, war Kufalt immer noch lieber, als wenn der Krüger im gleichen Zimmer mit Bruhn gewohnt hätte.

Der Krüger war gottlob längst wieder verschütt gegangen, hatte seine Arbeitskollegen bemaust. Kleine, klägliche, widerliche, sinnlose Diebstähle von Tabak und Manschettenknöpfen. Der saß schon wieder drin, und Bruhn trauerte ihm nicht nach.

Wenn sich der Emil Bruhn in einem geändert hatte, so darin, daß die Jungen keine Rolle mehr in seinem Leben spielten. Jetzt war er hinter den Mädchen her, aber irgendwie klappte es immer nicht damit. Entweder war er zu schüchtern, oder er war zu frech. Oder sie witterten an ihm, daß etwas nicht ganz in Ordnung war, und es kam zu nichts. Und er lief herum und glotzte sich seine gutmütigen, blauen Seehundsaugen nach ihnen aus und rannte auf die Tanzböden und schwitzte sich ab und zahlte von seinen paar Groschen zwei, drei Glas Bier für sie, und dann versetzten sie ihn. Verschluckt von der Nacht, oder sie zogen ganz offen mit anderen Kavalieren los, und Bruhn hatte das Nachsehen.

Vielleicht war es darum, daß er die Rückkehr Kufalts so freudig begrüßt hatte. So ein schicker Junge, so fein in Schale, da mußte es klappen. Die Mädels gingen immer zu zweien. Nun gut, Kufalt sollte die Hübsche nehmen, es gingen doch immer eine hübsche und eine schieche miteinander, aber so schiech konnte keine sein, sie hatte, was Emil Bruhn wollte.

Er stand vor seinem Spiegel und mühte sich mit seinem weißen Kragen ab, mit jenem Ding, das sie da oben ein Quäder nennen, mühte sich ab und erzählte, was für feine Mädels heute zum Tanz kommen würden, in den Rendsburger Hof. Und hoffte so treu auf seinen Kufalt und hatte keine Ahnung, daß es dem mit den Mädels auch nicht anders ging.

»Wenn es nur nicht zu teuer wird«, sagte Kufalt.

»Teuer?« fragte Emil »Ich sitze mit einem Bier den ganzen Abend. Aber natürlich, wenn man die Mädels erst besoffen machen muß ...«

»Kommt gar nicht in Frage«, sagte Kufalt.

»Na also«, sagte Emil. »Ich hab' doch immer gesagt, bei dir wird es was.«

»Und was hast du diese Woche verdient?« fragte Kufalt.

»Einundzwanzig Mark sechzig«, sagte Bruhn. »Die ziehen einem immer mehr ab, die Räuber, die wissen, sie können mit mir machen, was sie wollen. Jetzt haben sie schon dem Werkmeister erzählt, daß ich ein Raubmörder bin. Und der braucht nur die Fresse aufzutun und es den Kollegen zu sagen, und ich sitze draußen. Die arbeiten doch nicht mit so einem, wie ich bin, wenn sie's erst wissen.«

Er steht da vor seinem Spiegel, das Quäder und der Schlips sitzen nun richtig. Er sieht Kufalt an.

Auch Kufalt sieht seinen Emil Bruhn an.

Siehe, da ist ein bißchen Wärme. Verlorenste Erinnerung an damals, als sie sich Kassiber schickten, durch den Kalfaktor, als sie im Duschraum unter dieselbe Brause krochen, als sie sich liebten.

Sie sind da, wieder sind sie beieinander. Sie sehen einander an. Das Leben ist weitergegangen, vieles hat sich verändert, und sie vor allem sind anders geworden. Aber das ist der Duft von damals, und die Erinnerung an die nahe Berührung, und an die so heiß begehrte, so selten geschehene Erfüllung.

Nein, sie reichen sich heute nicht einmal mehr die Hand. Es ist eben weitergegangen, das Leben. Es ist ein anderer Leib als damals der zwischen den Mauern, ein anderes Begehren als früher. Über die Straßen laufen die Mädchen, und die Röcke wehen um ihre Beine, und sie haben eine Brust. Ach, es ist so schön, es könnte so schön sein ...

»Und mit deinem Sparkassenbuch ist auch nichts?«

»Nichts«, sagt Emil Bruhn. »Die haben mich schön angeschissen, die Lumpen. Aber wenn ich je wieder ins Kittchen komme ...!«

»Wenn du fertig bist, gehen wir also«, antwortete Kufalt.

Nein, es ist vorbei. Andere Welt, andere Gefährten, du hältst es nicht, du rufst es nicht zurück, aber immer, dort in der Königstraße, hier in der Lerchenstraße, steht das einsame Bett, mit den Grübeleien, den Sorgen, den selbstischen Erfüllungen.

Kann es denn gar nicht anders werden?

 

9

An der einen Seite des verräucherten Tanzbodens, unter dessen Decke noch die Papierkränze und Lampions der Venezianischen Nacht vom letzten Karneval hingen – an der einen Seite standen die Mädchen, auf der andern Seite standen die Burschen.

Die Mädchen trugen die kleinen Fähnchen der Fabrikarbeiterinnen, viele Burschen hatten die Mützen auf dem Kopf. Manche waren ohne Jacketts. Wenn sie tanzen wollten, winkten sie dem Mädel zu, und das Mädel kam herüber und trat vor seinen Herrn, der ruhig die Unterhaltung zu Ende führte, ehe er den Arm um seiner Tänzerin Rücken legte und mit ihr losschob.

An einem Tisch saßen Kufalt und Bruhn und tranken ihr Bier. Die andern Burschen gingen zwischen den Tänzen zur Theke und tranken im Stehen einen Schnaps oder ein Bier. Oder sie tranken auch nichts – wozu hatte man dreißig Pfennig Eintritt bezahlt?! Die Musik lärmte sehr, und die Mädchen sangen alle Schlager mit. Und wenn der Tanz zu Ende war, ließen die Bengels ihre Mädels stehen, wo es gerade war, und gingen von ihnen fort, zu den andern Bengels.

»Wollen wir nicht irgendwo anders hingehen, wo es netter ist?« fragte Kufalt.

»Aber wo es netter ist, kostet es viel Geld«, sagte Bruhn. »Und Weib ist Weib.«

Kufalt wollte etwas antworten, da sah er sie. Sie war ziemlich groß, mit einem fröhlichen, offenen Gesicht, einem lebendigen Mund und einer Stupsnase.

Vielleicht war ihr Kleid wirklich eine Kleinigkeit hübscher als das der andern. Aber vielleicht kam es auch Kufalt nur so vor.

»Wer ist die?« fragte er Bruhn plötzlich eifrig und hatte alles Fortgehen vergessen.

Bruhn fand natürlich zuerst nicht die, die Willi meinte, aber dann sagte er:

»Ach die, die mach dir bloß ab. Die hat nämlich schon ein Kind.«

»Wieso?« fragte Kufalt verständnislos.

»Na, weil keiner für das Kind zahlen will«, erklärte Bruhn.

»Aber dann gerade«, fing Kufalt an.

»Nein, nein«, sagte Bruhn, »die läßt sich mit keinem Mann mehr ein. Die hat die Neese voll. Die hat so viel Dresche gekriegt von ihrem Vater, dem Glasermeister Harder in der Lütjenstraße, die sieht keinen wieder an.«

»Wenn es so ist«, sagte Kufalt langsam.

Und dann saß er still da und sah sie an. Die Musik schien immer lauter zu werden, und manchmal tanzte sie auch und lachte. Und sie war die Hildegard von dem Glasermeister Harder in der Lütjenstraße. Dem sie heute nacht wohl ausgebimst war. Und er war der Kufalt aus der Königstraße mit gar keinen Aussichten. Aber mit noch etwas Geld, einem heilen Anzug – und manchmal sah sie ihn auch an.

Wenn die Mädchen weggehen, so kann man hinterher gehen. Und man braucht sich nicht zu genieren, wenn man sich auch lächerlich gemacht hat, weil sie gar nicht richtig weggegangen sind, sondern nur auf die Toilette. Man kann ruhig davor stehen, sich auslachen lassen, die haben es doch alle im Saal kapiert: der Neue in dem guten, blauen Anzug, der mit dem kleinen Seehund aus der Holzwarenfabrik geht, der hat Feuer gefangen. Was schadet es schon? Einmal, einmal muß man tun dürfen, wozu das Herz einen treibt. Fort sind die andern, und er sieht sie, und sie hat eine Art, sich ins Haar zu fassen, wenn sie tanzt, ihren Kopf gewissermaßen zu stützen beim Tanzen. Und sie hat ein Kind, sie hat schon mit andern Männern geschlafen. Alles wird leichter sein bei ihr ...

Und dann der Kopf, wenn sie ihn senkt über das Glas, und die Haare fallen alle über ihr Gesicht. O geh, flüstert es in ihm, o geh doch schon, daß ich mit dir sprechen kann ...

Aber sie tanzt weiter und lacht weiter und schwatzt weiter und sie sieht ihn gar nicht an, denn nun weiß sie, daß er sie sieht.

O geh doch!

Geliebte, einsame Nächte, ihr habt dies möglich gemacht, daß es so sein kann, daß es so kommen kann wie ein Glück, wie das eine, ganz große Glück. Und sie kann nicht nein sagen, und sie wird nicht nein sagen. Und sie mögen lachen über ihn. Nächsten Sonnabend wird er doch mit ihr tanzen, und er wird Arbeit bekommen, und er wird sie heiraten, er wird einen Jungen haben.

Ach, Liese von vor kurzem, wie anders ist diese Welt!

Das sind die kleinen, schlecht beleuchteten, schmalen Straßen der Stadt, mit den niedrigen Häusern. Und man fühlt tief den Himmel, fühlt ihn tief und ganz nahe. Und der Wind jagt um die Ecken, und die beiden Mädels da vorn kuscheln sich eng aneinander. Und er geht hinter ihnen her. Einen Schritt hinter ihnen her und hat noch immer nicht ein Wort gesagt. Die Lütjenstraße kommt, und sie schließt die Haustür auf und schwatzt noch einmal mit der Freundin, und er steht dabei, dicht dabei und fleht: O komm doch, komm.

Und die Haustür fällt zu, und das andere Mädchen geht an ihm vorbei und lacht und sagt: »Stiesel« und geht weiter. Und er steht da allein. Und es ist sehr dunkel, und er fürchtet sich vor seinem Zimmer.

Es ist viel später, als er entdeckt, daß ein Hof hinter dem Haus ist, und daß die Hoftür nicht verschlossen ist, und daß man auf den Hof gehen kann, und daß hinter einem Fenster im Erdgeschoß noch Licht brannte.

Und wie es kam, nun gut, einmal hat man Mut. Er kratzte mit dem Fingernagel an der Scheibe, leise, er klopfte lauter. Das Fenster ging auf. Und sie war am Fenster. Und fragte ganz sacht: »Ja?«

»O bitte du!« sagte Kufalt.

Und das Fenster ging wieder zu, und es wurde dunkel. Und er stand da, in dem fremden Hof, und plötzlich sah er nach oben, in seiner Einsamkeit sah er nach oben. Und er sah die Sterne, und sie gingen so seltsam nahe und bedeutend hervor. Und eine Hand war in der seinen. Und es flüsterte: »Komm.«

Es ist wieder Licht in dem Zimmer, aber es ist nicht ihr Bett, das er sieht. Es ist das Bett des Kindes, und das Kind schläft. Es hat sich zusammengerollt, die Knie hoch hinaufgezogen bis unters Kinn, wie es wohl früher in dem Mutterleib gehockt hat. Und die Wangen sind rosig und die Haare sind verwuselt über der Stirn ...

Beide sehen sie herunter auf das Kind.

Und dann sehen sie einander an.

›0 liebes, liebstes Gesicht du!‹

Und er nimmt seine beiden Hände und legt die Fingerspitzen gegen ihre Wangen und führt ihren Kopf seinem Kopf entgegen. Und er meint, ihr Blut raunen zu hören. Und sie sehen sich nahe an, und ihre Lider wehen über die Augen, die braun sind. Und das Gesicht kommt näher und wird ganz groß.

Eben waren noch die Sterne da und die Nacht und das einsame Stehen auf dem Hof. Und nun kann solch ein Mädchengesicht die ganze Welt sein. Mit Bergen und Tälern und den ertrunkenen Seen der Augen ... ›0 du, liebes, liebstes Gesicht!‹

Und ihr Mund ist da. Er ist fest geschlossen. Er gibt nicht nach unter dem Druck seiner Lippen.

Plötzlich entgleitet ihm erst ihre Schulter, dann ihr Gesicht. Das Kind schläft noch immer. Sie stehen da: fremde Welt.

»Geh«, sagt sie bittend und führt ihn an der Hand über den Hof auf die Straße.

Und er geht nach Hause.

So fing es an.

 

10

Es gab viele Dinge, über die man mit Emil Bruhn nicht sprechen konnte. Im Kittchen schien Gemeinsamkeit geherrscht zu haben – nun, nein, viele Dinge, über die man schweigen mußte.

»Wo bist du denn gestern nacht abgeblieben?«

»Ich war so müde und es wurde so langweilig ...«

»Wohl, weil die Hildegard Harder wegging?«

»Ach die!«

»Und läßt sich von einer, wie der Wronka Kowalska aus der Lederwarenfabrik ›Stiesel‹ sagen?«

»Quatsch«, sagt Kufalt nur. »Alles Quatsch.«

Und als Bruhn weiter schwieg: »Mit den Pfaffen war es auch nichts. Sie können alle nichts wollen. Da ist das Wohlfahrtsamt, sagen sie. Als wenn ich das nicht wüßte!«

»Nicht einmal bei ihr reingekommen bist du!«

»Ich habe mir was überlegt deinetwegen, Emil«, sagt Kufalt und tut eifrig. »Mit deiner Holzwarenfabrik ist es auf die Dauer nichts. Und ein perfekter Tischler bist du doch ...«

»Das bin ich«, muß Emil zugeben. »Wenn man elf Jahre im Kittchen getischlert hat ...«

»Wenn du nun deine Gesellenprüfung nachmachtest und gingest zu einem richtigen Meister, nach Kiel oder Hamburg, wo niemand was von dir weiß?«

Bruhn ist wieder mürrisch: »Und das Geld, mein Junge, das Geld für die Prüfung und all die Zeit, wo ich nichts verdiene?! Nein, du hast dich gestern schön blamiert vor der ganzen Stadt. Mit dir geh' ich so leicht nicht wieder aus!«

Kann man erzählen? Ja, man könnte erzählen, man ist doch schließlich in ihrem Zimmer gewesen, nachts, nach zwölf ... Aber das Kinderbett und das nahe liebe Gesicht ...

»Wenn ich nun einmal für dich zum Direktor ginge und für dich redete?« fragt Kufalt. »Es ist doch ein Fonds da für die Entlassenen. Und bei dir hat es doch Sinn, du kriegst doch vernünftige Arbeit dadurch.«

»Du drückst es nicht durch«, sagt Emil versöhnter. »Die ganze Beamtenkonferenz wird dagegen sein.«

»Also gehe ich hin«, sagt Kufalt. »Ich hab' immer beim Alten 'ne Nummer gehabt. Du wirst schon sehen –!«

Die Nacht ist vergessen und der Freund, mit dem man paradieren wollte, und der sich Stiesel nennen ließ, ohne so 'nem Polenweib eine zu kleben, wie sich das gehörte ...

»Wenn ich Tischlergesell würde«, sagt Emil träumerisch. »Du hast ja gar keine Ahnung, wie mich diese Arbeit anstinkt. Über acht Jahre bau' ich nun schon Fallennester. Jeden Hammerschlag weiß ich. Aber wenn man wieder mal einen Schrank bauen könnte oder einen richtigen Tisch, die Beine anständig verzargt ...«

»Werd' ich dem Direktor sagen«, erklärt Kufalt. »Aber dauern wird es wohl noch 'ne Weile, bis es bewilligt ist.«

»Ich hab' Zeit. Ich kann warten«, sagt Emil.

»Na schön! Also morgen«, sagt Kufalt. »Ich muß sehen, daß ich es mir so einrichte. Ich hab' morgen viel zu tun ...«

»Was hast du denn zu tun?« fragt Emil. »Du hast doch gar nichts zu tun.«

»Gerade habe ich viel zu tun. Laufen muß ich den ganzen Tag.« Er macht eine Pause und hustet. Er sieht die Straße entlang, es ist Herbstwetter, kalt, windig, näßlich, gegen sechs – immerhin ist es nicht ausgeschlossen, daß die Hildegard Harder einmal auf die Straße kommt.

Nein, sie kommt nicht. Er sagt so nebenbei: »Ich werde wohl von jetzt an meine zehn, zwölf Mark den Tag verdienen.«

»Anschiß«, sagt Bruhn bloß.

»Wieso Anschiß? Gar nicht Anschiß«, sagt Kufalt empört. »Ich bin heute mittag bei Freese gewesen ...«

»Kenn' ich nicht«, sagt Bruhn. »Einen Freese kenn' ich nicht. Was sollst du ihm denn im voraus für die pikfeine Stellung geben?«

»Gar nichts«, bricht Kufalt aus. »Nicht 'nen Pfennig! Erst war so ein Blasser bei mir, Dietrich hieß er. Der wollte 'ne Kaution haben. Na, den habe ich schön reingelegt, ein Viertel von all meinen Einnahmen hat er auch haben wollen. Nachher hat er mir zwanzig Mark gepumpt!«

Kufalt bricht in ein Gelächter aus und auch Emil lacht mit, trotzdem ihm all das nicht ganz klar vorkommt. Dann muß Kufalt von Dietrich erzählen: »Eine Molle und einen Korn an der Ecke, so dumm, daß er mir mein letztes Geld abnimmt, so doof ...«

Und nun lacht auch Emil: »Dem ist das recht, dem Bruder, dem! Und dann bist du hinter seinem Rücken zu dem Herrn Freese gegangen?«

»Bin ich«, sagt Kufalt und ist merkwürdig kurz. »Und ich darf Abonnenten und Anzeigen werben und von allem kriege ich Geld.«

»O Mensch, o Manning, Manning, Mensch!« jubelt Bruhn. »Und wenn du nun noch zum Direktor gehst und der Laden klappt auch – dann verdienen wir beide so viel Geld, daß wir in die richtig feinen Lokale zu den richtigen Weibern gehen können, und alle Wrunkas und Hildegards können uns ...«

Es war in diesem Augenblick, daß eine Stimme neben ihnen sagte: »Darf ich Sie mal einen Augenblick sprechen?«

Verlegenheit, Stille, Verlegenheit.

Dann sagte zuerst Kufalt: »Vielleicht komme ich heute abend noch mal bei dir vor, Emil!«

»Schön«, sagte Emil. »Und denk' an den Direktor!«

»Wird gemacht!« sagte Kufalt »Geht in Ordnung, alter Junge!«

Und seine Stimme klang unnatürlich frisch.

Dann aber gingen die beiden, Hildegard Harder und Willi Kufalt, gegen den dunklen Stadtpark, aus der Stadt hinaus.

 

11

Kufalt war nicht umsonst so schweigsam über die Unterredung mit Herrn Chefredakteur Freese gewesen. Der ›Stadt- und Landbote‹ mochte ein kleineres Blatt sein als ›Der Vaterlandsfreund‹ – aber ein ebenso großer Mann wie der Herr Scialoja war der Herr Freese sicherlich.

Freilich nichts von Schwierigkeiten, durchgelassen zu werden, nichts von Warten ...: »Gehen Sie da durch«, sagte ein langer, knochiger, pferdegesichtiger Mann und zeigte auf eine Tür. »Aber gute Stimmung hat er heute nicht.«

Also ging Kufalt durch.

Da saß ein dicker, schwerer, schmuddliger Mann hinter seinem Schreibtisch, einen weißgrauen Walroßbart hatte er, und einen Kneifer, dessen Gläser herabhingen.

Auf der einen Seite vom Schreibtisch sitzt Herr Freese, auf der anderen steht Kufalt. Zwischen beiden auf dem Schreibtisch ist ein Gewusel von Papieren, aber auch Bierflaschen, eine Kognakbuddel, Gläser. Herr Freese sieht grau aus, nur seine Augen sind gerötet und böse.

Er blinzelt nach Kufalt, er macht den Mund auf, als wollte er reden, dann macht er den Mund wieder zu.

»Guten Morgen«, sagt Kufalt, »ich komme auf Veranlassung von Herrn Dietrich.«

Freese krächzt einmal, krächzt zweimal, dann hat er die Kehle so frei, daß man deutlich verstehen kann: »Raus!«

Kufalt überlegt einen Augenblick, er ist ja nicht mehr der Kufalt von damals, als er aus dem Kittchen kam mit der Hoffnung, alles würde schon glatt gehen; er weiß, man muß ein bißchen zähe sein, schlucken, eigentlich genau wie im Kittchen – er überlegt also und sagt dann: »Oder eigentlich komme ich gerade gegen den Rat von Herrn Dietrich!«

Er steht und wartet ab, wie das wirkt.

Herr Freese sieht ihn mit seinen kleinen geröteten Augen böse an. Er krächzt wieder, er macht die Kehle frei – dann sieht er nach der Kognakflasche, und schüttelt trübe den Kopf, er krächzt noch einmal und sagt langsam: »Junger Mann, Sie sind schlau. Sie sind nicht schlau genug für einen alten Mann.« Plötzlich unterbricht er sich: »Stört der Ofen Sie nicht?!«

Kufalt ist verwirrt, er sieht sich um nach dem großen, weißen Kachelofen, der Hitze strahlt, er kann nicht raten, was der andere hören möchte (denn am liebsten sagte er das), so sagt er denn: »Nein, stört mich nicht.«

»Aber mich«, sagt Herr Freese mühsam. »Zu kalt, viel zu kalt. Werfen Sie drei Briketts auf, nein, halt, fünf!«

Eine Kiste steht da mit Briketts, aber nichts, womit die schwarzen Dinger anzufassen – Kufalt sieht sich um, er hat eine Erleuchtung, er nimmt vom Schreibtisch einen Fetzen Papier, ein Manuskript also wohl, damit faßte er die Briketts an, feuert sie in die Glut, hinterher das Papier ... Er dreht sich um nach Freese.

»Fuchsschlau«, murmelt der, »fuchsschlau. Doch nicht schlau genug.«

Er sitzt zusammengesunken da und sieht trübe aus, ein alter Mann. Durch das Fenster kommt etwas wie ein Herbstsonnenstrahl, über das graue, verwüstete Gesicht, die gerötete Stirn, das schändliche Gewusel aus weißen und grauen Haaren.

›Schläft er ein?‹ fragt sich Kufalt.

Der andere denkt nicht daran. »Aus dem Kittchen kommen Sie«, sagt er. »Die Gesichtsfarbe kenne ich. Pflegt sich noch die Hände, das Schwein, hofft noch auf anständige Arbeit.«

Er hebt trübe seine eigene Pranke und betrachtet sie, die seit Wochen nicht gewaschen scheint, so grau sieht sie aus.

Freese schüttelt den Kopf, er betrachtet wieder Kufalt, er sagt: »Es hat alles keinen Sinn, Jüngling, alles keinen Sinn. Durch den Stadtpark fließt die Trehne, bei den Lederwerken ist ein guter Hafen, überall ist das Wasser kühl und naß – bei Ihnen hat es noch einen Sinn.«

»Und bei Ihnen?« fragt Kufalt atemlos das Gespenst aus Alkohol und Trübsinn.

»Zu alt«, sagt Freese, »viel zu alt. Wenn man nichts mehr zu erwarten hat, lebt man immer weiter – Sie haben noch was zu erwarten, also Schluß!«

Die beiden sind still.

»Kalt«, sagt der alte Mann und schaudert mit einem Blick auf den Ofen. »Lassen Sie nur, es hilft doch nichts mehr. – Wie kommen Sie zu Dietrich?«

»Er ist bei mir gewesen auf der Wohnung.«

»Und was hat er Ihnen geboten?«

»Alle mögliche Arbeit, ein Viertel der Erträge an ihn.«

»Hat er Sie angepumpt?« fragt Freese.

»Nein«, sagt Kufalt stolz. »Ich hab' ihn angepumpt.«

»Wieviel?«

»Zwanzig Emm.«

»Kraft!« schreit der Mann laut. »Kraft!!!«

Die Tür zum Vorderzimmer tut sich auf, und das Pferdegesicht steckt den Kopf herein. »Na?« fragt es.

»Der junge Mann fängt morgen früh bei uns an, Annoncen- und Abonnentenwerben. Der gewöhnliche Satz. Wenn er nicht sechs am Tage schafft, fliegt er. Vorläufig fliegt erst einmal der Dietrich.«

»Aaaber ...«, fängt der Kraft an.

»Fliegt, der Dietrich, läßt sich anpumpen!« sagt Herr Freese mit Nachdruck. Und dann: »Raus!«

Und Herr Kraft geht wirklich raus.

»Also morgen früh um neun«, sagt Herr Freese. »Aber ich sage Ihnen gleich, es hat keinen Zweck. Sie schaffen nie Sechse und ich schmeiß' Sie raus und dann kommt doch das Wasser ...«

Er sitzt da, sicher sieht er es, er sieht es. »Das Wasser«, sagt er. »Grau, kalt, naß. Wasser ...«, sagt er. »Naß«, sagt er und schüttelt sich.

Diesmal schenkt er sich einen Kognak ein.

Er schaudert auch beim Trinken.

Dann sagt er klarer: »Und wie ist es mit den zwanzig Mark von Dietrich? Der hat noch Schulden hier. Zahlen Sie die gleich ab.«

»Aaaber ...«, fängt Kufalt an.

»Na also«, sagt der alte Mann. »Sie haben noch Angst, wovon Sie die nächsten Tage leben werden – und Sie wollen Abonnenten werben?!!! Guten Morgen.«

»Guten Morgen!« sagt Kufalt und ist schon beinahe bei der Tür. Dann hört er es noch einmal: »Das Wasser«, und sieht das graue, aufgeschwemmte Gesicht, das grauweiße Haar, diesen Nickelmann der Schnapsflasche ...

»Das Wasser ...«, sagt der.

 

12

»Wie gefällt dir der Junge?« fragte sie.

»Gut. Sehr gut«, sagte er hastig.

»Er heißt Willi. Wilhelm«, sagte sie.

»So heiße ich auch«, sagte er.

»Ja, ich weiß«, sagte sie.

Die Nacht war sehr dunkel. Über dem blattlosen Geäst der Stadtwaldbäume war der Himmel – ohne Sterne – mehr zu ahnen als zu sehen. Sie waren – erst getrennt nebeneinander durch die beleuchteten Straßen, dann eingehängt über die Chaussee, dann sich umfassend im verödeten Stadtwald –, so waren sie bis zu dieser Bank gekommen, um die junge Fichten standen. Der Wind war über ihnen, an den Seiten ferner, sie saßen dicht beieinander, warm.

Er sah ihr Gesicht wie einen hellen Schimmer, die Augenhöhlen ganz dunkel – und es leuchtete aus dieser samtigen Dunkelheit.

»Kinder müssen einen Vater haben«, sagte sie.

»Ich bin auch zu lange allein gewesen«, sagt er und lehnte den Kopf gegen ihre Schulter. Es war weich.

Sie zog ihn näher, mit einer Hand gegen die Brust. »Und ich erst!« sagte sie. »Wie das mit dem Kind passierte und alle sahen mich an und plötzlich war ich ein Dreck und Vater schlug mich immer und Mutter heulte ewig bloß ...«

Sie versank in Gedanken.

»Ich habe keinen Vater mehr«, sagte er.

»Ach, das wäre viel besser!« rief sie. »Dann könnte ich mir ein Zimmer mieten und für den Jungen arbeiten ... Aber so ...«

»Warum gehst du denn nicht weg?« fragte er. »Du bist doch mündig.«

»Aber das geht doch nicht«, widersprach sie eifrig. »Wo Vater hier Meister ist, und bis das passierte, war er Obermeister von der Glaserinnung. Wo mich hier alle kennen! Nein, nein, ich muß schon zu Haus bleiben, bis mich mal einer heiratet.«

Eine Weile Stille. Die Hand, die den Kopf an der warmen weichen Brust hält, ist lockerer geworden im Zugriff. Aber dann kommt die andere dazu, beide heben sie den Kopf, nun berühren sich die Lippen und diesesmal bleiben die des Mädchens nicht geschlossen. Halb geöffnet ist ihr Mund, die Lippen sind weich, es ist, als schwellten sie unter dem Kuß, als blühten sie auf.

Der Mund von Hilde löst sich einen Augenblick, sie stößt einen Laut aus: Befriedigung, Wasser nach langem Durst – und dann stürzt er gleichsam aus dem Nachthimmel auf den seinen herab, saugt, verlangt, wird immer voller, glühender, zärtlicher ...

Nein, kein Wort, keine Anrede, kein Kosename. Zwei Verdurstende, die endlich, endlich trinken. Stilles, endloses Küssen – und dazwischen hinein hört Kufalt den Nachtwind im Walde, ein Ast schabt knarrend an einem anderen, das plötzliche Aufwirbeln von Herbstlaub, eine Autohupe, fern, fern ...

Und während Kufalt atemlos trinkt, erfüllt eine grenzenlose Traurigkeit sein Herz: ›Vorbei, während ich küsse, schon vorbei ... Im Anfang Ende.‹ Und: ›Kinder müssen einen Vater haben ... er heißt Willi ... bis mich mal einer heiratet ... vorbei, im Küssen schon vorbei ...‹

Arme, düstere Erde, die mit der Erfüllung schon die Trauer bringt, Planet, kaum von Sonnenstrahlen durchwärmt, schon von Eiseskälten versteinert ... kalte Glut, armer Kufalt ...

Und – ach, wie sie sich küssen, nun haben sie schon umeinander die Arme geschlungen, sie atmen hastiger, das Hirn beginnt zu tanzen, das Herz flattert, vor den Augen glimmt es wie aus Asche entflammte Glut – und während sie sich immer verzehrender, begieriger, einwühlender küssen, geht durch Kufalts Kopf böses Denken: ›Wenn du schlau bist, vielleicht bin ich noch schlauer ... wenn du mich fangen willst, vielleicht fange ich dich ...‹

Und seine eine Hand gleitet von der Schulter unter den Mantel, über die Bluse, an die Brust, umfaßt sie. Und sein Bein bedrängt sie.

Mit einem Ruck reißt sie sich los, sie reißt ihren Leib von seinem los, wie man ein Eisen vom Magnet losreißt.

Einen Augenblick stehen beide taumelnd. Sie faßt – er ahnt es sogar in der Nacht – nach ihren Haaren, wie sie es gestern auf dem Tanzboden tat.

»Nein«, hörte er sie flüstern. »Nie, nie wieder.«

»Ich wollte ja nur ...«, sagte er hastig.

»Wenn du das willst«, sagt sie, »dann können wir gleich gehen. Von einem Male habe ich genug.«

Sie schaudert. Sie faßt nach seinem Arm. »Komm. Es wird kalt Gehen wir noch ein Stück.«

Sie gehen. Nein, übelgenommen hat sie es nicht, aber ... ›Das wird man nie überwinden‹, denkt Kufalt. ›Sie hat wirklich genug. Sie hat Angst.‹

Und laut: »Du muß noch nicht nach Haus? Was sagt denn dein Vater?«

»Vater hat Kegelabend«, sagt sie.

Sie findet im Dunkeln jeden Weg. Der Stadtwald ist nicht klein, aber sie weiß jeden Weg. »Links müssen wir hinein, dort wo es ganz schwarz aussieht. Dann kommen wir zum Rindenhäuschen.«

›Wie oft muß sie hier‹, denkt Kufalt, ›mit dem andern gegangen sein. Oder mit den andern. Denn es gibt keinen Vater, keinen, der für das Kind zahlt. Und ich muß ausgerechnet kommen, wenn sie nicht mehr will. Immer habe ich Pech.‹

»Der kleine Dicke, mit dem du warst, im Rendsburger Hof – ist das dein Freund?«

»Der Bruhn? Ja«, sagt Kufalt, »das ist mein Freund.«

»Vor dem nimm dich man in acht, ich hab' gehört, das soll ein Raubmörder sein.«

»Raubmörder ...«, sagt Kufalt böse. »Was weißt du von Raubmörder? Ein feiner Junge ist das.«

»Aber im Kittchen hat er schon gesessen«, sagt sie. »Ich weiß das sicher.«

»Na, und wenn schon«, versucht Kufalt. »Findest du das schlimm?«

»Das ist Geschmackssache«, erklärt sie. »Ich möchte keinen solchen. Auch keinen Arbeitslosen. Denke, vom Stempelgeld leben und den ganzen Tag den Mann im Haus! Solche könnt' ich einen Haufen haben. Ich könnt' immer noch eine Menge haben.«

»Ja«, sagt Kufalt.

Ihm ist, als wiche sie immer weiter von ihm zurück; es war so gut mit ihr, da sie noch schwiegen, jetzt, da sie reden, entfernen sie sich voneinander.

»Ja«, sagt er bloß.

»Wo arbeitest du?« fragt sie. »Bist du auf einem Büro oder bist du Verkäufer?«

»Nein, auf der Zeitung«, sagt er.

»O fein!« ruft sie. »Da kriegst du sicher viel Kinobilletts. Können wir bald mal ins Kino?«

»Ich weiß nicht«, sagte er unschlüssig. »Ich muß erst mal sehen, wie es paßt. Da sind noch mehr bei uns auf dem ›Stadt- und Landboten‹.«

»So, du bist auf dem ›Boten‹«, sagt sie etwas enttäuscht. »Ich dachte, du wärst auf dem ›Freund‹. Wir lesen immer den ›Freund‹. Der ›Freund‹ ist doch viel besser!«

»Wo ihr den ›Boten‹ gar nicht lest?«

»Doch, lesen tun wir ihn schon. Aber wir sind eben an den ›Freund‹ gewöhnt. – Vielleicht ist auch der ›Bote‹ besser geworden«, sagt sie einlenkend. »Ich weiß es ja nicht, wir sehen den ›Boten‹ immer nur flüchtig. – Komm, da ist das Rindenhäuschen. Drin ist es vielleicht wärmer.«

»Nein«, sagt er. »Ich möchte jetzt nach Haus.«

»O Gott, nun bist du böse!« ruft sie bestürzt. »Weil ich das vom ›Boten‹ gesagt habe? Ich will nie wieder was gegen den ›Boten‹ sagen, bestimmt nicht!«

»Nein, ich bin müde. Ich will jetzt nach Haus«, sagt er.

Sie stehen einander gegenüber. Auf der Lichtung, die der schmale Rindentempel ziert, ist es etwas heller. Er sieht ihr Gesicht, die Hände heben sich bittend auf die Höhe der Brust.

»O Willi«, sagt sie und nennt ihn zum erstenmal beim Vornamen. »Sei mir doch nicht bös. Bitte, komm.«

»Ich bin gar nicht bös«, sagt er, und seine Stimme klingt sehr verärgert. »Aber ich bin wirklich müde und muß schnell ins Bett. Ich habe morgen viel zu tun.«

Ihre Hände sinken herunter, sie schweigt einen Augenblick.

»Also geh«, sagt sie dann tonlos. »Geh.«

Er wendet sich zögernd, er murmelt ein ›gute Nacht‹.

»Gute Nacht«, sagt auch sie leise.

Und dann: »Gib mir noch einen Kuß, Willi, bitte.«

Er dreht sich um nach ihr. Er geht einen Schritt auf sie zu.

Und plötzlich umfaßt er sie. ›O Gott, es ist ja die Frau, die Frau, die Frau, nach der ich seit Jahren mich gesehnt, es ist das vermißte Glück, die ewig ausgebliebene Erfüllung ... Frau, Weib, Brust ... es ist das Glück, es ist das Glück, es ist das große, große Glück ... Müde zurück ins Zimmer, ins einsame Bett ...‹

Und er fällt hinab auf sie mit dem Sturm aller seiner Küsse. Er betäubt sie mit dem Sturzbach seiner Berührungen, er ist hier, da, dort. Er stammelt Worte dazwischen, abgerissene, sinnlose Worte: »O du, daß ich dich wiederhabe ... ach, du bist mein ... wie ich dich liebhabe! ...«

Sie taumeln. Das Rindenhäuschen kommt näher, eine Tür knarrt. Es ist sehr dunkel darin und eine modrige Kälte, voll des Geruchs von faulendem Holz ...

Es ist stiller. Das hastige Atmen ist ruhiger geworden und ruhig. Hilde weint leise vor sich hin. Er liegt mit dem Kopf auf ihrem Schoß, sie streichelt sein Haar, aber ein anderes Haar ist es wohl, an das sie denkt: seidigeres, helleres, jüngeres.

In seinem Bettchen, anderthalb Kilometer ab, schläft der kleine Willi. Sie kann zu ihm, aber wird sie bei ihm bleiben können? ›Nie, nie wieder‹, hat sie gesagt, und so ist es auch jetzt noch.

»Weine doch nicht mehr«, bittet er. »Es ist bestimmt nichts passiert.«

Sie weint.

Und dann flüstert sie: »Hast du mich denn wenigstens ein bißchen gerne, Willi? Sage es doch, bitte!«

 

13

Er hat es gesagt und hat gedacht: sagen kann man viel. Und sie hat es geglaubt oder hat es nicht geglaubt. Und dann haben sie sich getrennt. Im Licht einer Laterne, ihr Gesicht war verweint.

Sagen kann man viel.

Aber nun liegt er allein in seinem Bett; siehst du, es ist gut, allein in seinem Bett zu liegen zwischen den kühlen, glatten Laken, ohne fremde Wärme. Er liegt allein im Bett, das Zimmer ist nicht ganz dunkel, eine Straßenlampe wirft Licht gegen die Wand, dahin sieht er.

Sagen kann man viel. Und: sie hat mich reinlegen wollen, nun habe ich sie reingelegt.

Er macht die Augen zu, jetzt ist es dunkel. Aber in der endlosen Tiefe der Dunkelheit erscheint ein kleines, helles Bild: Hildegard von gestern nacht am Bett des Kindes. Sie hat sich darüber gebeugt – und auch heute nacht im Rindenhaus hat sie eine Bewegung gehabt ... Nein, sie ist nicht nur Abwehr, nicht nur Verzweiflung und Weinen gewesen, sie war auch bei ihm, einen kurzen Moment hat sie ihn in ihre Arme genommen, ihn, ihn, Willi Kufalt, auch sie hat ihn gewollt – einen kurzen Moment

Eine schnelle Sekunde voll Zärtlichkeit, ein hastigerer, seligerer Atem, ein Seufzer vom Glück ...

›Ich muß sie wiedersehen und ich muß anders zu ihr sein. Viel netter. Sie hat es doch nicht schlimm gemeint, Und das Kind? Grade wegen des Kindes! Sie hat recht, Kinder müssen einen Vater haben (wie er da schlief, so verwuselt und zusammengekrochen!), und sie hat grade recht, wenn sie versucht, einen Vater zu kriegen. Warum soll ich sie nicht heiraten? Vielleicht wird es wirklich was mit der Zeitung, vielleicht verdiene ich richtig Geld ... Und wenn wir später einmal verheiratet sind, erzähle ich ihr, daß ich vorbestraft bin ... Alles kann noch gut werden ...‹

Und er lächelt ein wenig. Er denkt an ihre Bewegung, als sie ihn im Glück fester in die Arme zog. Wann war ihm das geschehen?

Nein, er war nicht ganz schlecht, Reste waren noch da von früher, er kam aus einer Umwelt der Eigensucht, rücksichtslosen Selbstbehauptens, von Schmutz – ... Aber nur ein wenig Zärtlichkeit, ein wenig Vertrauen und Liebe, und es regte sich unter dem Geröll, nicht alles war verschüttet ...

»Liebe Hilde«, flüstert er. »Liebste Hilde.«

Es stimmt noch nicht ganz, aber beinahe konnte es schon stimmen. –

Am nächsten Morgen dann stört er im Goldwarengeschäft von Linsing kurz nach acht Uhr morgens beim Reinmachen: er kauft eine goldene Damenarmbanduhr für siebenundsechzig Mark.

 

14

Punkt neun Uhr betritt Kufalt die Redaktion des ›Stadt- und Landboten‹. Er trägt seinen besten Anzug – den blauen mit den weißen Nadelstreifen –, einen noch sehr anständigen, schwarzen Ulster, einen schwarzen, steifen Hut. In der Hand hat er eine braune Aktentasche, und in der Aktentasche liegt ein Paketchen, Inhalt goldene Damenuhr: man kann nie wissen, wem man unterwegs begegnet.

Hinter der Barre im Expeditionsraum sitzt der große, knochige Mann mit dem Pferdegesicht, dem gegenüber ein Fräulein an seiner Maschine.

»Kufalt«, stellt sich Kufalt vor.

»Das weiß ich nun«, knurrt der andere los. »Davon habe ich die Nase schon voll.« Und als Kufalt etwas bestürzt dreinblickt, setzt er wesentlich milder zu: »Was denken Sie, was ich für einen Stunk Ihretwegen mit dem Dietrich gehabt habe!«

»Aber ich hab' das doch nicht gewollt«, protestiert Kufalt. »Herr Freese hat's gesagt und ich weiß überhaupt nicht, wieso.«

Kraft sieht ihn mit einem langen Blick an.

»Kommen Sie mit«, sagt er dann. »Ich will Ihnen Bescheid sagen.«

Kufalt wird in ein kleines Loch geführt, in eine Art Rumpelkammer mit Eimern, Besen, Regalen voll vergilbten Zeitungsstößen. Auf dem Tisch steht eine zerbrochene Petroleumlampe, in der Ecke ein verknautschtes, verludertes Sofa, in der andern Ecke Flaschen, leere Flaschen, sogar Sektflaschen sind darunter.

»Na, Sie müssen sehen, daß Sie das hier gelegentlich zurechtkriegen. Hier können Sie arbeiten.« Mit einem Blick auf Sofa und Flaschen: »Das war früher das Paschazimmer, als der Olle« – Blick nach dem Nebenraum – »als der Olle noch mochte.«

Kufalt schaudert bei dem Gedanken an das grau versoffene Alkoholgespenst und Frauen.

»Hier haben Sie Listen«, sagt der Herr Kraft. »Da stehen alle Handwerksmeister drauf. Sie müssen sich nur noch die einzelnen Berufe geordnet rausziehen. Nehmen Sie immer eine Innung alleine vor, erst mal die Fleischer oder Bäcker, und dann immer weiter, systematisch jeden Beruf durch. Mitarbeiter unsres Blattes ist nämlich der Syndikus sämtlicher Handwerkerinnungen. Jede Woche schreibt der einen langen Riemen über Handwerkerfragen. Damit müssen Sie bohren: wir unterstützen euch, also müßt ihr uns auch unterstützen. Den ersten Abonnementsbeitrag kassieren Sie gleich gegen Quittung aus diesem Block. Das ist Ihr Werbelohn. Abends melden Sie mir die Neuabonnenten, damit die schon am nächsten Morgen ihre Zeitung bekommen. So ...«

Kraft geht gegen die Tür. Dann sagt er gelangweilt: »Es wird aber doch nichts mit Ihnen, wenn Sie den Dietrich auch rausgebissen haben.«

Und schiebt ab, ehe Kufalt noch antworten konnte.

Der macht sich den Tisch frei, reißt von dem Sofa – nach Umhersuchen – die Schmierdecke, wischt den Tisch ab und beginnt sein Tagewerk. Er stellt die Meister nach Berufskategorien zusammen, die Versuchung ist groß, mit den Glasern anzufangen, aber er widersteht und beginnt mit den Malern.

Nein, er wird nicht mit Bäckern und Fleischern anfangen, er hat sich überlegt, da muß man in einen Laden gehen, und er hat sich erinnert, wenn er früher mal in einen Laden kam, und da stand grade ein Reisender, wie der mitten im Satz abschnappte und mit einem höflich ernsten Lächeln zurücktreten mußte, dem Kunden freie Bahn zu lassen. Die Maler sind schon schwierig genug für den Anfang.

Er hat sie beisammen, und nun sucht er sich auf dem Stadtplan, wo sie alle wohnen, entwirft eine Tour – der Weg geht hin und her durch die ganze Stadt – wie wird er die Stadt kennenlernen in den nächsten Wochen!

Er ist noch bei dieser Arbeit, als sich die Tür auftut und der Herr Chefredakteur Freese hereinkommt: grau, zerknittert, mit roten, blinzelnden Augen. Er trägt ein paar Zeitungsblätter in der Hand. »Da«, krächzt er. Er räuspert sich, mehrmals, viele Male: »Von unserm Syndikus. Bockmist! Aber daß Sie wenigstens das kennen, was Sie empfehlen.«

»Ja«, sagt Kufalt gehorsam und greift nach den Blättern.

»Schön«, sagt der andere. Er sieht Kufalt an, o welch böses, bitteres Gesicht, welch fischiger, kalter Blick!

»Jung«, murmelt er. »Zu jung«, murmelt er. Und plötzlich wie ernstlich besorgt: »Glauben Sie, Sie werden es schaffen?«

»Was schaffen?«

»Abonnenten, jeden Tag sechs.«

»Ich weiß es ja noch nicht, hab es noch nie gemacht.«

»Weiß er nicht, hat's noch nie gemacht, schafft es nicht, und die andern werden größer und größer ...« Er steht da, der alte Freese, mit hängendem Kopf, seine dicken, blauen Lippen zittern unter dem Walroßschnurrbart.

Dann besinnt er sich. »Wo sind übrigens die zwanzig Mark von dem Dietrich?« fragt er. »Sie haben mir das Geld doch mitgebracht?«

»Ich habe keine zwanzig Mark mehr«, erklärt Kufalt.

Der Freese sieht ihn lange an. Ein Funke Spott erwacht in seinem Auge. »Traut mir keine zwanzig Mark mehr zu und geht für mich werben ... Wie sie sich abstrampeln! Wie sie strampeln!« flüstert er entzückt.

Der Funke erlischt. Ein böser, galliger Mann bleibt. »Die Decke gehört aufs Sofa, verstehen Sie, junger Mann«, sagt er grob. »Das ist 'ne wichtige Decke, verstehen Sie, von der kann ich träumen, he!«

Er kreischt das »he« unnatürlich laut heraus, als schreie ein Vogel, dann schrammt er die Tür zu.

Und Kufalt macht sich an einen Artikel über die Folgen des Nachtbackverbotes für den mittelständischen Bäcker. Dann irrt er in den Roman ab.

 

15

Es ist elf Uhr geworden und nun ist es so weit: Kufalt hat keinen Grund mehr, länger zu zögern. Er nimmt seine Aktentasche, sagt zu Herrn Kraft ganz geschäftsmäßig: »Also, ich geh' jetzt auf die Tour«, und marschiert los.

Die ursprüngliche Tour fing eigentlich zehn Häuser vom ›Stadt- und Landboten‹ an, beim Malermeister Retzlaff; aber das hat Kufalt eben im letzten Augenblick noch umgestoßen: seinen ersten Besuch wird er bei Malermeister Benzin machen, in der Ulmenstraße, ziemlich an der Peripherie der Stadt. Hinausgeschoben ist Schonzeit und auf dem Wege kann er außerdem noch seine Rede memorieren.

Unterwegs kann er seine Rede nicht mehr memorieren, denn Herr Dietrich stößt zu ihm. Drei Häuser vom ›Boten‹ tritt er an Kufalt heran und sagt: »Guten Tag, Herr Kufalt.«

»Guten Tag, Herr Dietrich«, sagt Kufalt, lüftet den Hut und marschiert weiter. Dietrich marschiert mit. Dietrich sieht heute nicht so gesund rotbraun aus wie am gestrigen Mittag. Dietrich ist fleckig und übernächtig, die Spitze seiner langen Nase ist ganz weiß.

»Ihr blaues Wunder werden Sie erleben«, sagt Dietrich, »beim Abonnentenwerben.«

Kufalt antwortet nicht und geht weiter. Es ist dumm, der Mann hat ihm nichts getan, nein, der Mann hat ihm noch zwanzig Mark geborgt, aber eine Wut hat er doch auf ihn.

»Ich würde nicht mit so 'ner Aktentasche gehen«, sagt Herr Dietrich mißbilligend. »Das sieht immer so nach Reisende aus. Den Quittungsblock stecken Sie einfach in die Manteltasche und jeder Dienstbolzen läßt Sie glückstrahlend als neuen Kunden ein.«

»Danke schön«, sagt Kufalt höflich und geht weiter. Aber dann kann er seine Neugier doch nicht bezähmen und fragt: »Wieso hat der Freese Sie eigentlich rausgeschmissen? Wegen der fünfundzwanzig Prozent, die Sie von mir abhaben wollten?«

»Wissen Sie was«, schlägt Dietrich vor, »ich gebe Ihnen alle Tips, namentlich für die Inseratenwerbung, und dafür geben Sie mir doch die fünfundzwanzig Prozent. Wegen der Abrechnung vertraue ich Ihnen vollkommen.«

»Ohne Kaution?« fragt Kufalt.

»Ohne Kaution«, bestätigt Dietrich.

»Ich brauch' keine Tips«, erklärt Kufalt.

»Auch schön«, sagt Dietrich gleichmütig. »Man weiß nie, manchmal sind die Menschen noch dußliger, als man denkt. Dem Freese tränk' ich es aber ein. Ich gehe jetzt auf den ›Freund‹.«

»Hier geht es aber nicht zum ›Freund‹«, sagt Kufalt.

»Wissen Sie was, Herr Kufalt«, sagt Dietrich. »Sie brauchen mir meine zwanzig Mark noch nicht wiederzugeben. Ich habe Ihnen gesagt: wir arbeiten zusammen, und wir arbeiten noch zusammen. Aber dem Freese geben Sie die auch nicht, verstanden? Sagen Sie dem Freese ruhig, Sie haben die mir gegeben.«

Pause.

»Der kauft sich nämlich doch bloß Kognak dafür.«

Pause.

Dietrich lacht, aber etwas kümmerlich. »Ich kauf mir allerdings auch bloß Kognak dafür.« Er lächelt beglückt: »Hier ist ›Der Tannenbaum‹ von meinem Freunde Schmidt. Wollen wir uns Mut antrinken, ich für den ›Freund‹, Sie für den ersten Kunden?«

»Ich trinke nicht ...«

»Ach nee, ach ja, Sie trinken nicht am Vormittag«, sagt der andere hastig. »Weiß ich, goldene Grundsätze, aber ich geh' rein ...«

Er bleibt stehen, sieht nach dem Fenster der Kneipe: »Sagen Sie, haben Sie das auch, wenn Sie zu viel gesoffen haben, daß Sie es am nächsten Tage gar nicht abwarten können, daß Sie wieder saufen? Davon wird der Magen so gelinde ...« Er lächelt. Dann trübe: »Aber es hält nicht vor, immer rascher wird er wieder böse ...« Abbrechend: »Also, ich hebe einen. Oder kippe.« Nachdenkend: »Mal sehen, ob das Bier schon gelaufen ist, bei meinem Freunde Schmidt. Sonst kippe ich.«

Er streckt die Hand aus: »Dann: Hals- und Beinbruch.«

»Danke, danke«, sagt Kufalt und schüttelt die Hand. Der Zorn ist weg, er ist sogar ein bißchen gerührt. »Wenn Sie heute mal gar nicht tränken, Herr Dietrich –?«

»Wissen Sie was«, sagt Herr Dietrich, »wenn Sie mich da auch rausgefunkt haben, den ollen ›Boten‹ muß ich doch weiterlesen. Schreiben Sie 'ne Quittung aus: Dietrich, Wollenweberstraße 37 III.«

Kufalt faßt zögernd Block und Bleistift.

»Ach, Geld?« lacht Dietrich. »Geld! Natürlich kriegen Sie Ihre Mark fünfundzwanzig. Hier ...« Er fischt in den Taschen. »Eine Mark fünfundzwanzig. Stimmt gerade.«

Kufalt schreibt. »Ich danke auch schön«, sagt er und gibt die Quittung an Herrn Dietrich.

»Keine Ursache«, sagt der. »Keine Ursache. Wir arbeiten noch zusammen, ich habe es Ihnen gesagt.«

Und er verschwindet in der Kneipe, den Quittungszettel hat er sich unters Hutband gesteckt

 

16

Das Herz klopfte dem Kufalt doch, als er vor der Tür seines ersten richtigen Kunden stand. Er wartete eine Weile, ehe er die Klingel zog: es sollte erst ruhiger gehen, aber es ging immer stärker.

Schließlich entschloß er sich zum Klingeln, Schritte kamen auf dem Flur, die Tür ging auf und ein junges Mädchen stand da.

»Bitte?« fragte sie.

»Kann ich wohl Herrn Malermeister Benzin sprechen?« fragte Kufalt.

»Bitte schön«, sagte sie.

Sie ging voran über den Flur, sie machte eine Tür auf. »Vater, da ist ein Herr.«

Im Zimmer saß eine ältere, nette Frau am Tisch und schnitt Kohl in eine Schüssel. Der Meister, ein bärtiger Mann, stand am Fenster mit einem anderen Herrn.

»Was steht zu Diensten?« fragte der Meister.

Kufalt, in der Mitte des Zimmers, machte eine Verbeugung. Das Herz zog sich krampfhaft zusammen: ›Werde ich denn überhaupt reden können –?‹ fragte er sich erschrocken.

Aber schon hörte er sich reden. Guten Tag, ja, er käme von der Redaktion des ›Stadt- und Landboten‹. Man erlaubte sich die Anfrage, ob Herr Malermeister Benzin sich nicht entschließen könnte, das Blatt, vielleicht erst einmal probeweise, zu beziehen.

»Wir«, sagt Kufalt gesteigert, »wir sind ja in erster Linie das Blatt des gewerblichen Mittelstandes, und ganz speziell treten wir für die Interessen des Handwerks ein. Ihr Syndikus, Herr Benzin, ist unser ständiger Mitarbeiter. Wir haben in den letzten Wochen Artikel über Handwerkerfragen von ihm gebracht, die bis zur Handwerkskammer Aufsehen erregt haben. In diesen schweren Zeiten müssen Freunde zusammenhalten, und da wir speziell fürs Handwerk kämpfen ...«

Er verhedderte sich. Aber er kam gleich wieder frei. Er warf einen Seitenblick auf die Frau, er sagte: »Und was unsere Romane angeht, so werden unsere Romane erster Autoren gerade in Familienkreisen besonders gerne gelesen. Wir haben jetzt einen Roman, dessen hundertsiebenundsechzigste Fortsetzung läuft. Es handelt sich da um den Gegensatz zwischen Förstern und Wilderern ...«

Plötzlich war er alle. Er war ausgepumpt, er hatte zum Schluß noch einen Schwung machen wollen, einen dringenden Apell, aber nein, nichts, alle. Er stand da und sah sich etwas verwirrt im Zimmer um.

Alle sahen ihn an, der Regulator an der Wand tickte unerhört laut, dann hörte er Kinder auf der Straße rufen.

»Man kann es vielleicht mal versuchen, Vater?« sagte die Frau schließlich. »Was kostet denn der Bote?«

Nun kam Kufalt wieder in Fahrt, der Quittungsblock erschien, Geld wechselte seinen Besitzer, ein höfliches ›Danke auch. Guten Tag.‹

Und Kufalt stand wieder auf der Straße, fünf Viertel Mark reicher. Fünf Viertel Mark in fünf Minuten. Zweihundertfünfzig Adressen!! Mindestens drei Stunden tippen!

Kufalt ging beschwingt weiter zum Malermeister Herzog.

 

17

»Wieviel haben Sie?« rief das Fräulein an der Maschine, als Kufalt gegen vier durch die Expedition stürmte.

»Wieviel?« fragte Herr Kraft, der im Redaktionszimmer neben Freeses Stuhl stand, und sah aufmerksam in Kufalts Gesicht.

»Na?« fragte Freese und zwinkerte mit den Augen.

»Raten Sie!« rief Kufalt, warf den Hut auf den Tisch, die Aktentasche auf einen Stuhl, als sei er hier schon zu Haus.

Aber er wartete es nicht ab. »Ich hab' heute die Maler genommen. Ich hab' mir das überlegt, Herr Kraft, die Maler sind der beste Anfang, morgen nehme ich die Tapezierer, Sattler, Dekorateure ...«

»Und wieviel?« fragt Kraft.

Freese guckte bloß.

»Ja, wieviel – neunundzwanzig Maler gibt es hier, fünf waren nicht zu Haus – klappere ich beim nächsten Male mit ab. Mit vierundzwanzig gesprochen ...«

»Und wieviel?«

»Übrigens sind vierundzwanzig viel zu viel an einem Tag. Von morgen an nehme ich höchstens fünfzehn. Bei den letzten war ich viel zu müde, habe ich bloß geleiert. Überzeugen muß man die Leute ...«

»Von was –?« fragte Freese.

»Na, daß es richtig für sie ist, den ›Boten‹ zu abonnieren.«

»Haben Sie denn den ›Boten‹ schon gelesen? Heute haben Sie nur die Leute davon überzeugt, daß Sie nötig Geld brauchen.«

»Auch schön«, lachte Kufalt. »Also raten Sie doch bloß, meine Herren, von vierundzwanzig habe ich ...«

»Also sechs«, sagte Kraft, der zum Schluß kommen wollte. »Zeigen Sie mal Ihren Block!«

»Gar nicht sechs!« rief Kufalt. »Neun!! Bitte, neun! Von vierundzwanzig neun, beinahe vierzig Prozent!«

Er strahlte.

»Neun«, sagt Kraft, »neun – na ja, das ist tüchtig ...«

»Neun«, krächzte Freese. »An einem Tag neun neue Abonnenten ...«

Seine Hand tastete über den Tisch nach der Kognakflasche, er sagte: »Darauf wollen wir alle drei mal einen ...« Er unterbrach sich, die Hand landete nicht bei der Flasche, beim Federhalter hielt sie an. »Gar nicht wollen wir darauf. Kraft, ich glaube, ich nehme meine Aufsatzreihe über die Geschichte der Stadt wieder auf ... Es ist doch Interesse bei den Leuten. Neun, sagen wir, fünfzig neue Abonnenten in der Woche ... Der ›Freund‹ wird spucken ...«

»Dietrich geht an den ›Freund‹«, meldete Kufalt. »Will jetzt für den werben.«

Die lachten bloß.

»Den werden sie da gerade nehmen! Den Windhund, der nie abrechnet und immer nur losläuft, wenn er keinen Pfennig mehr hat.«

»Ihm habe ich auch noch ein Abonnement angedreht«, prahlt Kufalt »Hat sogar bar bezahlt ... Dietrich ... Wollenweberstraße ...«

»Raus!« sagt Freese. »Ich will jetzt arbeiten. – Kraft, nehmen Sie die Kognakbuddel mit, gießen Sie sie ins Klo.«

Kraft grinste, er klemmte die Flasche achtsam und zärtlich unter den Arm.

»Nee, recht haben Sie. Schließen Sie die Buddel in Ihren Schreibtisch ein, vielleicht wirbt der aufgeblasene Kaffer morgen nur zweie. Oder keinen.«

Freese seufzte. Über die Klemmergläser schielt er skeptisch auf Kufalt.

»Außerdem habe ich heute Skatabend. Ich kann auch morgen mit arbeiten anfangen. Man muß erst sehen, wie der Hase läuft. Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer. Stellen Sie die Flasche wieder auf meinen Tisch, Kraft, mehr wird sie auch nicht in Ihrem Schreibtisch. Guten Abend, die Herren.«

 

18

Manche Strafentlassene kommen gerne wieder in ihr Kittchen – zu Besuch. Es ist wirklich wie ein Stück Heimat, als Kufalt an der Gefängnistür klingelt, zumal Oberwachtmeister Petrow, der Posener, öffnet.

»Tachchen, Kufalt, olles Haus. Is sich recht, daß du wiederkommst zu uns, jetzt, wo Winter ist. Willst du Untersuchung oder hast du schon Knast ...?«

»Nee, nee, Herr Oberwachtmeister, vorläufig möcht ich nur zum Direktor.«

»Ah – is sich Hose kaputt auf dem Arsch? Brauchst du Pinunse von Fürsorge? Direktor gibt, Direktor gibt immer. Beamte schimpfen, ich sage: laß Direktor machen, wird sich Geld alle so oder so, ob versoffen, ob sich angeschafft Mädchen oder Hose – Gefangener behält kein Geld ...«

»Ist der Direktor da?«

»Geh zu, altes Haus. Weißt du den Weg, was soll ich klingeln?«

Es ist nur das Verwaltungsgebäude vom Bunker, nicht der Bunker selbst, aber es ist schon der altvertraute Geruch nach Kalk, einer etwas staubigen Sauberkeit. Das Linoleum spiegelt, man grault sich ordentlich, mit Gummiabsätzen darauf zu gehen.

Jetzt ist die stille Stunde, Kufalt hat sie sich ausgesucht, keine Vorführungen, kein Gerenne. Die Herren Beamten frühstücken. Einen Augenblick lauscht er an der Tür vom Alten, aber es scheint kein Besuch drin zu sein. So klopft er, hört das frische Herein, tritt ein ...

Es ist nun Spätherbst geworden, beinahe Winter, der Dezember steht vor der Tür, aber der Direktor trägt noch immer einen hellen Sportanzug mit untadeligen Oberhemden. Kufalt kann sie gut sehen, denn der Direktor geht in Hemdsärmeln im Zimmer auf und ab.

Er bleibt einen Augenblick stehen und betrachtet den Kufalt. Drei-, vierhundert Gefangene hat der Direktor seit jenem Maitage sicher entlassen, aber er ist sofort im Bilde: »Tag, Kufalt. Ich hab' schon gehört, daß Sie wieder im Städtchen sind. Was arbeiten Sie hier? Oder arbeiten Sie nichts?«

Dabei schüttelt er ihm die Hand. Wie damals fragt er gleich: »Zigarette?«, und wie damals ist es eine Sechserzigarette. Nur, daß dieses Mal Kufalt eine solche Zigarette nicht so imponiert wie damals.

»In Hamburg haben Sie also Schluß gemacht, nicht wahr? Wir hatten da mal eine Anfrage von der Polizei nach Ihnen, ich hab' aber nichts mehr davon gehört. Haben Sie was abgekriegt oder mögen Sie nicht davon sprechen?«

Doch, Kufalt mag und er erzählt die Geschichte von Cito-Presto.

Der Direktor wiegt den Kopf. »Schade, ja, aber auch nicht schade, es hätte immer schief gehen müssen, all ihr Vorbestraften zusammen, es wäre nie etwas Rechtes geworden. – Und was machen Sie nun?«

»Werbe Abonnenten für die hiesige Zeitung. Den ›Landboten‹, Herr Direktor.«

»Und davon können Sie leben?«

»Auf zweihundert im Monat komme ich sicher, Herr Direktor«, sagt Kufalt stolz.

»Soso! Ich hatte mal gehört, die Zeitung wär' so gut wie pleite. Hab' sie nie gesehen. Und nun wollen Sie mir ein Abonnement andrehen?«

»Nein, nein, Herr Direktor«, sagt Kufalt hastig und ein bißchen gekränkt. »Das habe ich wirklich nicht nötig, ich kriege meine Abonnenten schon so zusammen.«

»Und –?« fragt der Direktor. »Alte Schulden –? Ein Wintermantel? Ihrer ist übrigens noch sehr gut. Wo fehlt's also?«

Kufalt ist wirklich ein wenig beleidigt. Kann man denn nicht zum Direktor kommen, ohne etwas für sich zu wollen, bloß mal, um ihm guten Tag zu sagen, aus Dankbarkeit also, aus Freundschaft –?!

Aber nein, ihm fällt ein, auch er will ja was vom Direktor, hier kommt wohl keiner, der nicht was will.

»Also, Kufalt ...?« fragte der Direktor wieder.

»Bruhn«, sagt Kufalt. »Herr Direktor kennen doch noch Bruhn?«

»Bruhn?« sucht Direktor Greve. »Ich weiß nicht recht, wir haben hier öfter Bruhns. Welcher war das zu Ihrer Zeit?«

»Der Emil, Herr Direktor, der Kleine mit dem runden Kopf, wegen Raubmord. Herr Direktor, aber es war kein Raubmord ...«

»Ach ja«, sagt der Direktor, »ich erinnere mich jetzt, elf Jahre oder so was. Etwas Bewährungsfrist.« Seine Stirn zieht sich zusammen. »Das war doch der Bengel der sich gleich am Entlassungstag sinnlos betrunken hat und mit 'ner Schlägerei und Weibern anfing? Leben Sie jetzt mit dem zusammen, Kufalt –?«

»Nein, nein, ich lebe allein, ich habe mein möbliertes Zimmer. Aber ich sehe ihn manchmal, Herr Direktor, er ist wirklich ein guter Junge und ein fleißiger Kerl ...«

Und dabei denkt Kufalt: ›Der Direktor hat ein besseres Gedächtnis als du. Du hast den Emil nie danach gefragt, was das war am Entlassungstag, hast es ganz vergessen.‹

»Die Sache«, sagt der Direktor, »die der Bruhn am Entlassungstage gemacht hat, war jedenfalls nicht gut. Die haben da den Hauswirt die Treppe hinuntergeworfen, der Pastor hat sechs-, siebenmal laufen müssen, bis der Strafantrag zurückgenommen wurde. Sonst wäre Ihr Freund Bruhn seine Bewährungsfrist los gewesen ...«

»Ich hab' nichts davon gewußt, Herr Direktor«, sagte Kufalt bestürzt.

»Na ja, es ist gut – und nun erzählen Sie, was ist mit Bruhn?«

Und Kufalt erzählt, was für ein geschickter, begabter Tischler der Bruhn ist, wie er all die Jahre im Gefängnis nichts gemacht hat wie tischlern, und wie er es nun draußen nicht weitermachen darf, weil er die Gesellenprüfung nicht hat. Und daß er, der Kufalt, sich ausgedacht hat, vielleicht könnte man den Bruhn noch einmal zu einem Meister schicken in die Lehre, der Meister stünde sich doch nur gut dabei, einen perfekten Gesellen als Lehrling ohne Lohn, und daß dann der Bruhn einen richtigen Beruf hätte, in dem er vorwärts kommen könnte ...

Kufalt erzählt das alles sehr eifrig, und aufmerksam hört der Direktor zu. Er wandert dabei in der Stube auf und ab, sagt einmal ›Ja‹, seufzt auch einmal und gibt dem Kufalt zwischendurch die zweite Zigarette.

Als der aber fertig ist, bleibt er stehen und sagt: »Also erstens einmal müßte man einen vorurteilslosen Meister finden, der sich nicht an dem Raubmord stößt. Sehr, sehr schwierig. – Ja, ja, ich weiß schon, Sie sagen, es war keiner, aber in den Akten steht Raubmord und gebrummt hat er auch dafür und Wiederaufnahme hat er auch nicht beantragt ...

Und dann müßte man für die lange Lehrzeit, wo er kaum was verdient, seinen Lebensunterhalt sicherstellen. Der Fürsorgefonds müßte herhalten, auf drei, vier Jahre, fünfzig Mark monatlich mindestens. Das wird noch viel schwieriger, denn wir wissen ja nicht, über wieviel Geld wir im nächsten Jahre verfügen können, und ob nicht viel, viel Bedürftigere da sind ...«

Kufalt möchte etwas einwenden, aber der Direktor sagt: »Nein, noch nicht. Und dann müßte ich die Sache vor die Beamtenkonferenz bringen, und, von allen andern Schwierigkeiten abgesehen, müßte man da nun erreichen, daß alle Beamten den Bruhn solcher Auszeichnung und Hilfe für würdig halten. Und da, lieber Kufalt, sehe ich sehr schwarz, denn allein die Sache an seinem Entlassungstage ...«

»Aber, Herr Direktor!« sagt Kufalt, »Herr Direktor wissen doch selbst, am Entlassungstage ist doch keiner normal. Jeder ist doch durchgedreht, wenn er rauskommt. Ich war's auch.«

»Na ja«, sagt der Direktor. »Das wissen wir schon. Und darum haben wir uns ja auch für ihn eingesetzt, daß der Strafantrag zurückgenommen wurde. Aber eine Empfehlung ist es nicht, das müssen Sie schon zugeben, Kufalt.«

»Und im Hause hat Bruhn nie 'ne Hausstrafe gehabt! Und der fleißigste Arbeiter von allen ist er immer gewesen.«

»Man müßte das mal nachsehen«, sagt der Direktor. »Wenn er wirklich so tüchtig ist ... Vielleicht ... aber nein, Kufalt, es ist eigentlich kaum zu verantworten, an einen Mann so viel Geld ...«

»Aber er verdient es wirklich, Herr Direktor, er ist ein so netter Junge!«

»Jaaa –?« fragt der Direktor plötzlich sehr gedehnt und sehr laut und sieht Kufalt dabei scharf an. »Jaaa –? Ist er ein so netter Junge? – Haben Sie eigentlich ein Mädchen, Kufalt –?«

Kufalt läuft langsam, aber sicher sehr rot an. »Ja, ich habe ein Mädchen, Herr Direktor. Und wie Sie das denken, Herr Direktor, so ist das nicht. Ich will ja nicht lügen, vor vier oder beinahe fünf Jahren, da war es mal, aber seitdem nie wieder. Ganz bestimmt nicht, Herr Direktor. Deswegen bitte ich nicht für ihn, weil er so mein Freund ist.«

»Ist schon gut«, sagt der Direktor. »Und weswegen bitten Sie für ihn, Kufalt?«

Ja, warum bittet er für ihn? Kufalt fragt es sich hastig, er weiß es nicht. Was ist es denn –?

Doch da sagt es der Direktor schon: »Sie sind nicht mehr der Vertrauensmann der dritten Stufe, Kufalt«, sagt der Direktor. »Lassen Sie ruhig nur jeden für sich selbst reden, Bruhn kann gut alleine zu mir kommen, ich versteh' schon, was er will, wenn er auch nicht so fließend spricht wie Sie, Kufalt.«

Aber als er Kufalt so beschämt dastehen sieht, sagt er noch: »Na ja, ich glaub's Ihnen ja, es ist nicht nur Wichtigtuerei gewesen, auch Freundschaft war dabei. Und nun bestellen Sie dem Bruhn, er soll in den nächsten Tagen mal zu mir kommen, Mittwoch oder Donnerstag um zwölf. Auf Wiedersehen, Kufalt. Noch eine Zigarette? Auf Wiedersehen.«

 

19

In seiner Schlafhöhle, diesem miesen Loch, saß am ungestrichenen Holztisch der Bruhn, den Kopf auf den Armen, und heulte. Ja, er hob den Kopf, antwortete ›'n Abend‹, und ließ dabei ohne Scham seine blanken Tränen, das rot verheulte Gesicht sehen – und weinte weiter.

»Nanu!« sagt Kufalt leichthin. »Wo brennt's?«

Aber in seines Herzens tiefstem Grunde war er ehrlich erschrocken, denn er dachte daran, daß er in fünf Jahren Knast den Emil nie hatte heulen sehen, im Gegenteil, immer lustig, immer munter – und Knast, das sagte schon der Name, war doch wirklich ein harter Ast im Lebensbaume.

Nun heulte er also ganz still vor sich hin, ließ die Tränen laufen, die Ärmel der feldgrauen Arbeitsjacke waren schon ganz naß. Weinte ganz kindlich, ließ sie laufen, ihm war so, ›uah!‹, weinte er, ›ach Gott, uah!‹

»Was ist denn los, Emil?« fragte Kufalt.

Keine Antwort, uah und nichts weiter.

»Haben Sie dich aus der Fabrik gestenzt?«

Nichts. Heulerei.

»Ist was mit 'nem Mädchen?«

Nichts. Uah.

Kufalt überlegte, er setzte sich auf die Bettkante neben den Tisch, legte seinen Arm auf Bruhns Arm und sagte: »Ich hab' heute schönes Geld verdient, wollen wir ins Kino?«

Einen Augenblick schien das Heulen zu stocken, aber dann ging es doch weiter.

Kufalt bekam Angst.

»Bruhn, Emil, bist du krank?«

Nein, nichts, keine Äußerung.

Kufalt stand auf, würdig: »Also, wenn du mit mir nicht reden willst, kann ich ja gehen ...«

Pause, nichts erfolgte, kein Protest.

»– – Und ich hatte dir gerade von meiner Unterredung mit dem Alten erzählen wollen ...«

Das wirkte!

Mit einem plötzlichen Schnüffeln brach das Weinen ab, pielgerade saß Bruhn da, zwinkerte mit den Lidern, über denen die weißblonden Brauen knallrot angelaufen waren, und fragte atemlos: »Bist du bei ihm gewesen? Tut er's?«

»Sachte! Sachte!« erklärte Kufalt. »Glaubst du, so was geht in einer halben Stunde? Der Mann muß sich das doch erst einmal überlegen.«

»Also Neese«, sagte Bruhn, wieder trostlos, »wenn der Direktor sich was überlegen will, wird es immer nein – das weiß ich von den Vorführungen.«

Und er war schon dabei, den Kopf wieder auf die Arme sinken zu lassen.

Kufalt bekam gerade noch den Ärmel zu fassen. »Halt, Emil, fang doch nicht wieder an. Du sollst Mittwoch oder Donnerstag um zwölf zu ihm kommen, er will mit dir selbst reden.«

»Da ist doch gar nichts mehr zu reden!« bockte Bruhn. »Entweder tut er's oder er tut's nicht. Reden ist immer Scheiße.«

»Sei kein Dussel, Emil«, sagte Kufalt streng. »Natürlich muß er erst mit dir reden. Vor allem muß er doch einen Meister für dich finden. – Das ist schon nicht so einfach, da kannst du ihm vielleicht helfen.«

»Ja«, sagte Bruhn, schnüffelte, ging an die Waschkommode, zog das Schubfach auf, sah rein, murmelte: »Hat das Schwein von Nachtwächter doch mein Taschentuch genommen!« und nahm den Ärmel.

»Siehst du!« sagte Kufalt. »Und dann muß er doch sehen, wie's mit dem Gelde wird. Es hat doch keinen Zweck, er fängt die Sache an, und nach einem halben Jahre kann er dir kein Geld mehr geben.«

»Och«, sagte Bruhn ungläubig, »der hat doch immer Geld, wenn er will.«

»Nein, das hat er nicht«, entschied Kufalt. »Du weißt doch, wie die Brüder sind, mal wollen sie 'nen neuen Anzug von der Hilfe und mal Schuhe oder sie brauchen Handwerkszeug oder ein Koffer mit Sachen muß eingelöst werden – nein, Geld hat er nicht immer, da muß vorgesorgt werden.«

»Und wenn er's Geld und den Meister hat – fehlt dann noch was?«

»Dann muß die ganze Beamtenkonferenz zustimmen, daß du würdig bist.«

Bruhn atmete erleichtert auf: »Wenn's weiter nichts ist. Das ist das wenigste! Da ist keiner gegen mich, nicht einmal der Pfaffe.«

»Ach nee ...«, sagte Kufalt gedehnt »Denkst du das?! Aber du hast doch ...« Und besann sich. Warum sollte er es Bruhn erzählen? Womöglich fing der wieder mit Heulen an.

»Was habe ich?« fragte Bruhn.

»Nee, nichts. Ich dachte nur ... Bist du denn auch immer zur Kirche gegangen?«

»Selbstredend – und zum Abendmahl auch immer.«

»Dann klappt es ja«, sagte Kufalt befriedigt. »Geh man morgen gleich um zwölf zu ihm.«

»Um zwölf muß ich in der Fabrik sein.«

»Du wirst dir doch mal 'ne Stunde frei nehmen können?«

Bruhn antwortete nicht, einen Augenblick sah es so aus, als wollte er wieder losweinen. Aber dann wurde nichts daraus, die traurige Stimmung war verflogen, Wut kam statt dessen.

»Frei nehmen –? Am liebsten schmissen die mich ganz raus. Bloß, ich hab' gesagt, so hintenrum, daß Holzfabriken wunderschön brennen.«

»Bruhn!«

»Na, Mensch, was denn –?! Wie die mit mir Schindluder spielen! Erst haben sie mich um mein Sparkassenbuch gebracht! Und dann sollte ich Vorarbeiter werden mit Vorarbeiterlohn und bin Vorarbeiter geworden mit Ungelerntenlohn. Und immer neue Abzüge haben sie mir gemacht, bloß weil sie denken, der Bruhn kriegt keine andere Arbeit, der Bruhn ist vorbestraft, der muß – bei dem machen wir's.«

Er sieht Kufalt an, bitterböse, als sei sein Freund der Herr Steguweit von der Holzwarenfabrik, ja, in seine wasserblauen, freundlichen Augen kommt ein richtiger Ausdruck von Wut, von besinnungsloser Wut ...

»Na und –?« fragt Kufalt. »Das bist du doch alles längst gewöhnt, Emil!«

»Aber ich will nicht!« schreit der plötzlich. »Wo ich mir die Schwarte von den Händen arbeite und soll weniger kriegen als jeder grüne Stiesel, der keinen Nagel richtig einschlagen kann! Und bloß, weil ich vorbestraft bin, weil das nie aufhören soll, und ich habe doch meinen Knast abgerissen –!«

»Arbeite doch auch langsam«, rät Kufalt.

»Hab's versucht«, sagt Bruhn ruhiger. »Kann's nicht, liegt mir nicht. Wühler bleibt eben Wühler, ich muß drauf wie Blücher, richtig robotten.« Er holt Atem. Dann: »Nein, ich hab' mich hinter die Jungens gesteckt, und wir haben so gearbeitet, daß immer Reklamationen kamen, da ein Nagel gespießt, da ein Brett lose, da eine Klappe nicht in Ordnung. Und wie sie gekommen sind und gemeckert haben, was wir bloß arbeiten, und alle Ware kommt wieder zurück, da haben wir gesagt, für solchen Lohn kann man nicht anders arbeiten, da laufen eben Fehler mit unter, wenn man sich so hetzen muß ...«

»Na und –?«

»Die Brüder!« sagt Bruhn verächtlich. »Speckjäger, die! Einen Aufpasser haben sie neu eingestellt zur Kontrolle, wo wir mit dem Gelde, was der verdient, heile zufrieden gewesen wären. Der revidiert jetzt die Ware, und immer sagt er ›Ausschuß‹, ›Zurück, Ausschuß‹.«

Bruhn schnauft wütend.

»Weiter! Weiter!« drängt Kufalt.

»Na, da habe ich wieder gesorgt, daß alles tadellos abgeliefert wird. Zurück, Ausschuß? habe ich gedacht; warte, Anschiß! habe ich gedacht. Und wenn alles abgeliefert war und stand unten fertig zum Versand, da bin ich nachts eingestiegen, jede dritte, vierte Nacht, mit zwei, drei andern von den Jungen – und wir haben die Ware wieder schön fertig gemacht für Reklamationen.«

»Dinger drehst du!« sagt Kufalt.

»Wo sie mir mein Geld, das mir zukommt, nicht geben? Was würdest du denn tun, Willi?!«

»Weiß ich nicht«, sagt Kufalt. »Erzähl fertig. Deswegen hast du doch vorhin nicht geheult?«

»Nein, aber die Brüder haben natürlich Lunte gerochen, daß ich dahinter stecke, und die Jungens, mit denen ich's gemacht habe, das sind natürlich Achtgroschenjungens –: es hat mich einer in die Pfanne gehauen. Und weil sie das wissen von mir, daß ich das mal gesagt habe, Holzwarenfabriken brennen so gut, da haben sie's gedreht, daß ich von selber die Arbeit hinhauen soll ...

Und wie ich da heute morgen hinkomme und zeige dem Stachu, daß er die Deckel immer zu lose annagelt, schlägt er mit dem Hammer nach mir und schreit, Pierunna, dreckiger Raubmörder hat nichts zu sagen, hat er kein Blut an den Händen – der lausige Pollacke, der! Und wie ich still werde und arbeite für mich, fragt einer, was die Zeit ist, ob die Mörder nicht die goldene Zwiebel zeigen wollen. Und in der Mittagspause haben sie mir mein ganzes Handwerkszeug gestohlen und ich steh' den ganzen Nachmittag da und muß es suchen und ich kann keinen Handschlag tun und muß die Reden hören, mit einem Raubmörder haben sie es nicht nötig zu arbeiten. Und der Werkmeister sagt noch, jeder soll auf seine Sachen sehen, die Firma kommt für nichts auf ...«

Bruhn schweigt, er starrt vor sich hin.

»Mach doch Schluß da, Emil«, sagt Kufalt, »das hat doch keinen Zweck. Eine Weile wirst du ja zu leben haben und vielleicht klappt mit dem Direktor der Laden, und dann können die dir alle im Mondschein begegnen.«

»Nee, Willi, nee«, sagt Bruhn langsam, »das verstehst du nicht. Sollen die immer recht behalten und ich immer unrecht? Wenn ich gehe, dann –!«

Er schweigt.

»Aber wenn es was wird mit dem Direktor, gehst du doch auch?«

»Ich denk' oft«, sagt Bruhn, »mit uns wird es sowieso nichts mehr. Manchmal denkt man, es geht, aber es geht doch nie.« Leiser: »Und dann denkt man an den Bunker, da hat niemand einem was vorzuwerfen und sein Fressen hat man und arbeiten tu' ich gerne ...«

»Mach doch keine Geschichten, Bruhn«, warnt Kufalt. »Vielleicht bist du in ein paar Wochen schon bei einem Tischler und lachst über die lausigen Fallennester.«

»Und wenn es nun beim Tischler auch nicht anders geht –?« fragt Bruhn langsam. »Die riechen doch auch den Braten, wenn einer mit neunundzwanzig Jahren in die Lehre geht, nicht?«

 

20

Die Lütjenstraße liegt im Zentrum der Stadt, Kufalt muß sie jeden Tag auf seinen Werbegängen vier-, fünfmal durchqueren. Er durchquert sie zehn-, zwölfmal.

Oben im ersten und einzigen Stock des Hauses, sechs Fenster Front, ist ein Spion angebracht. Kufalt denkt bei jedem Vorübergehen: ›Vielleicht schaut sie gerade hinein und sieht dich!‹

Dann bleibt er vor dem Schaufenster des Glasermeisters stehen, zum dreißigstenmal betrachtet er das dem Herbst angemessene Prunkstück ›Kämpfende Hirsche‹ – könnte sie ihm nicht einen Wink geben? Nein, sie bleibt verschwunden.

Die Damenuhr in der Aktentasche, jeden Morgen aufgezogen und wieder sorgfältig eingepackt, tickt umsonst. Keine Gelegenheit ... Aber er kommt immer wieder, es wird Dezember und die Hirsche weichen dem Bild ‹ Schwesterchens Weihnachtstraum‹, und immer noch läuft er umsonst. Diese Uhr wäre so ein schönes Geschenk gewesen am Tage danach, jetzt, anderthalb Wochen später, sieht sie wie ein Anbandelversuch aus, auch nach Reue, nach Bestechen, nach Kleinbeigeben.

Und doch mußte sie ihr gegeben werden!

Am Tage danach, ja, am Tage danach war die Versuchung groß gewesen, die Glaser auf die Liste zu setzen – jetzt wurde es immer wieder hinausgeschoben. Kraft hatte schon gefragt: »Die Glaser vergessen Sie wohl ganz?« Aber womöglich in ihrer Gegenwart dem Vater sein Sprüchlein betreffs Abonnement aufsagen, und dieser Grobsack gab ihm ein derbes ›Nein‹ –?

»Wollen Sie denn nie zu den Glasern gehen?«

»Doch, ja, morgen.«

Morgen kamen dann die restlichen Bäcker ... Es gab da einen Bäcker, Süßmilch hieß er, einen jungen, glatt- und mehlgesichtigen Kerl mit dicken, schwarzen Brauen, der bestellte sich öfters den Kufalt. »Ich möchte ja gerne Ihren ›Boten‹ abonnieren, aber ganz bin ich noch nicht überzeugt. Vielleicht überlegen Sie sich noch einen Grund, der völlig durchschlägt, und kommen damit am Freitag –?«

Kufalt wußte gut, er wurde einfach durch den Kakao geholt, aber als Abschluß seiner Tour ging er doch immer wieder mal gerne zu Süßmilch. Dann kam der Meister schläfrig aus dem Backraum gelatscht, mehlbestäubt, die nackten Füße in mehlbestäubten Pantoffeln, und fragte: »Na, junger Mann, wie ist es mit einem kräftigen Grund?«

»Der beste Grund ist mein Block«, sagte Kufalt. »Sehen Sie, was für Meister heute wieder alle unser Blatt bestellt haben!«

Und Süßmilch sah an und rieb sich das Gesicht, und Kufalt dachte: ›Jetzt könnte ich eigentlich in Harders Laden stehen.‹

Nein, dieses Mal bestellte Süßmilch auch noch nicht, an sich war alles in Ordnung, aber er mußte heute noch Mehl bezahlen, bis Dienstag war dann vielleicht wieder soviel Geld zusammen, um die Zeitung zu bestellen –. »Also am Dienstag, junger Mann!«

Und damit latschte der Meister wieder schläfrig in seinen Backraum, und Kufalt trabte zur Redaktion, die Lütjenstraße ließ er links liegen.

Geld wäre jetzt schließlich genug dagewesen für zwei Kinokarten, und übrigens hatte Freese auch mal gesagt, ins Kino könne er immer ›so‹, auch mit Braut. Er solle nur sagen, er käme vom ›Boten‹ ... Wieso übrigens Braut? Er dächte, Kufalt hätte die Trehne vornotiert? Mit weiblicher Braut wäre die auch nicht wärmer ...

Also wieder mal besoffen, mit der Arbeit hatte er auch immer noch nicht angefangen, trotzdem die gegebenen Sechs fast jeden Tag überschritten wurden – aber Geld für zwei Kinobillets wäre jedenfalls dagewesen.

›Schwesterchens Weihnachtstraum‹ – und besonders schön ist der Hampelmann auf der Bettkante. Er hat ein richtiges Nußknackergesicht wie Kraft, aber die Tür zum Laden ist mit einer Milchglasscheibe versehen, in der Mitte. Drum herum sind bunte Butzenscheiben, mit roten, blauen und gelben Glasknöpfen ...

›Ach Gott, es ist ja ganz egal, in so viel Läden und Wohnungen bist du nun schon gewesen – und in diesen traust du dich nicht?‹

Das ist nun schon wieder die nächste Ecke, der Laden vom Konsumverein, und umsonst hat er sich Ruck um Ruck gegeben ... Soll er diese verdammte Siebenundsechzig-Mark-Uhr denn ewig spazieren tragen oder soll er sich wegen so einer Butterglock ein anderes Mädchen anschaffen –?

Sie war doch süß!

Kehrt! Marsch, marsch! Besinnungslos in die Kugeln, Bomben und Granaten, Geschwindschritt, im Spion kann sie dich vielleicht sehen, nicht so mit der Tasche schlenkern, das ist der Uhr nicht gut ...

Was du auch rennst, am Laden wirst du abbremsen und beim Weihnachtstraum enden, oder durchgaloppieren bis zur Redaktion ...

›Feierabend! Heute nur fünf, Herr Kraft. Übrigens gehe ich morgen zu den Glasern, bestimmt!‹

Vorbei! Nicht vorbei! Vorbei! Nicht vorbei!

Was die Klingel scheppert! Wie ein Komet funkt er in den Laden! O Gott, wie sieht der Töchterverklopper Harder anders aus! Ein kleiner Mann mit einem dicken Bauch und einem schwarzen Bart, fast wie ein Bruder von Wolle-Teddy ...

»Und Sie wünschen –?«

»Ich komme im Auftrage ...«

In diesem Augenblick sah er sie, seitlich hinten im Laden, Sie ordnete was, sah nicht her, ihr Gesicht war sehr bleich.

Er riß sich zusammen, der Satz wurde nie zu Ende gesprochen.

Bleich? Tränen? ›Nie, nie wieder!‹ Wir wissen nicht, was wir tun. Nie wissen wir, was wir tun werden.

Er riß sich zusammen.

»Herr Glasermeister Harder?«

»Ja – und für welche Finna?«

»Könnte ich Sie vielleicht einen Moment unter vier Augen sprechen?«

»Meine Tochter stört nicht.«

»Doch! In diesem Falle doch!«

»Also, Hilde, geh mal rauf.«

»Könnten wir nicht raufgehen? Was ich zu sagen habe, läßt sich schlecht im Laden abmachen.«

»Aber um was handelt es sich denn? Ich kauf doch nichts.«

»Es ist ganz privat.«

Der kleine Mann sagt: »Hilde, paß auf den Laden. Du kannst mich aber jederzeit rufen.«

Er betont jederzeit!

Kufalt sieht sie an beim Hinausgehen, ihre Lippen bewegen sich, er versteht nicht, was sie sagen will, aber ihr Gesicht, ihre ganze Gestalt sind ein Flehen: ›Oh, bitte nicht!‹

Sie gehen die Treppe hinauf, die Scheiben sind schön verglast. Parterre: Trompeter von Säckingen, Erster Stock: Die Lorelei. Höher geht es nicht.

Das Zimmer mit dem Spion ist das Wohn-Eßzimmer. Am Spion sitzt eine dürre Frau, beinahe blaugesichtig, so durchscheinend ...

»Also!« sagt der Glasermeister Harder fast drohend. Plötzlich versteht Kufalt, daß der kleine Mann schlagen kann.

Die Frau, ihre Mutter, hat sich für den Gast halb erhoben und wieder rasch auf den Stuhl gesetzt, als sie das böse ›Also‹ gehört hat.

Nein, zum Sitzen wird er nicht aufgefordert Sie stehen einander gegenüber, der Glaser hat ›Also‹ gesagt und nun antwortet Kufalt (seltsam, hier ist er ganz ruhig, aber beim Abonnentenwerben noch lange nicht jedesmal), sagt er also ruhig: »Mein Name ist Kufalt, Wilhelm Kufalt Ich bin zur Zeit als Annoncen- und Abonnentenwerber beim ›Stadt- und Landboten‹ beschäftigt. Mein Einkommen beträgt zwei- bis dreihundert Mark im Monat ...«

»Und –?! Und –?!« schreit der kleine Bärtige und fährt mit rechten Wutaugen auf ihn los. »Was geht mich das alles an! Ich abonniere Ihr Käseblatt doch nicht!!!«

Kufalt holt tief Atem. »Ich bitte um die Hand Ihrer Tochter!« sagt er.

»Wie –???«

Dann ist es lange still.

Die erfrorene Frau im Fenster hat sich umgedreht und starrt den jungen Mann fassungslos an.

Der wiederholt: »Ich bitte um die Hand Ihrer Tochter.«

»Stuhl!« sagt der Bart, sieht die Stühle an um den Eßtisch, den Mann vor sich. Er entscheidet sich: »Also setzen Sie sich.« Und springt gleich wieder auf: »Wenn Sie mich aber veräppeln –!«

»Eugen!« ruft die Frau warnend.

»Wie hießen Sie?« fragt der Glaser und setzt sich wieder.

»Kufalt«, sagt Kufalt, »aber ohne Ha, einfach U Eff.« Und er lächelt beruhigend.

»Kufalt, ja. Und was sagten Sie, verdienten Sie?«

»Zwei- bis dreihundert Mark im Monat. Aber das ist leicht steigerungsfähig.«

»Steigerungsfähig«, murmelt der Mann. Und plötzlich: »Woher kennen Sie denn die Hilde?«

»Eugen!« ruft die Frau wieder warnend.

»Das ist unsere Sache«, lächelt Kufalt.

Der reibt sich den Bart, steht auf, setzt sich wieder, wirft einen raschen Blick zur Frau, zur Tür, flüstert (und es ist, als kröche sein Kopf dabei in die Schultern): »Und Sie wissen auch –?«

»Von Willi? Weiß ich. Übrigens heiße ich auch Willi.«

Die Hand im Bart stockt. Der kleine Mann steht auf, baut sich vor Kufalt hin, er scheint immer größer zu werden, drohender vor Kufalt emporzuwachsen: »Dann sind Sie also der Lump –«

»Kommt gar nicht in Frage«, antwortet Kufalt rasch. »Ich bin erst seit sechs Wochen hier in der Stadt. – Aber es stört mich auch nicht.«

»Es stört ihn auch nicht«, sagt der Glaser verständnislos, hilfeflehend zum Fenster.

»Und wenn wir jetzt einmal die Hilde fragten, ob sie einverstanden ist?«

»Ob sie einverstanden ist –?!« schreit der kleine Mann. »Das will ich Ihnen zeigen!«

Er stürzt zu einem Sekretär, wühlt in einem Fach, holt ein Blatt weißesten Bilderkartons, malt darauf, hebt es triumphierend: »Da!«

›Wegen Familienfestlichkeit geschlossen‹, liest Kufalt.

»Ich mache es gleich an die Ladentür«, flüstert der Kleine feierlich. »Die Hilde bringe ich dann auch mit.«

 

21

Er hatte nichts erwartet, denn er hatte nicht gewußt, daß er sich dazu entschließen würde.

Nun hatte sie da am Tisch gestanden, sehr bleich, und als ihr Vater zu reden begonnen und sie zu begreifen angefangen hatte, hatte sie geschrien: »Nein! Nein! Nein!«

Und dann war sie hingefallen auf einen Stuhl wie ein Klotz aus Blei und den Kopf auf den Tisch und geweint, so geweint –!

Da kannst du dabeistehen. Du hast es nicht gewollt, und daß du einmal verheiratet sein wirst mit ihr, du glaubst es noch jetzt nicht. Nein, an dir soll es nicht liegen, wer so fassungslos weint vor Erlösung, den kann man nicht willentlich kränken. Aber es wird doch nichts, immer wird alles anders. Die Sache mit Batzke kommt ans Tageslicht, wie lange kann ihrem Vater verborgen bleiben, wer du warst, hier im Städte! – ach, daß sie sich nicht so freute! Daß sie nicht so glücklich wäre!

»Was haben wir heute zum Essen, Mutter?«

Und dann geht die Mutter selbst und holt noch frische Blutwurst zur Linsensuppe, denn Hilde darf bei ihrem Bräutigam bleiben. Und der zweijährige Willi wird gebracht und soll ›Pappa‹ sagen, und es gibt einen Süßwein, einen Malaga, achtundachtzig Pfennig die Flasche, etwas wirklich Gutes, Reines ...

Aber immer, bei allem Essen und Trinken und Reden und Lachen, hat Kufalt ein Gefühl, als träumte er: wenn sie unter dem Tisch nach seiner Hand tastet, ist ihm, als müßte der Hauptwachtmeister mit dem Schlüssel gegen die Glocke schlagen ...

Doch er schlägt nicht, und Kufalt träumt weiter, und in seinem Traum sagt er, daß er noch auf die Redaktion müsse, damit die neuen Besteller auch morgen früh ihre Zeitungen hätten, und zum ersten Male brächte er nur fünf ...

Und in tiefem Baß lachend, abonniert Glasermeister Harder, Lütjenstraße siebzehn, das Käseblatt und bricht damit sein Wort und bleibt seinem Schwiegersohn die eine Mark fünfundzwanzig schuldig: »Ich zieh's dir von der Aussteuer ab, Willi« ... und Hilde darf ihn zur Redaktion begleiten ...

Aber drinnen, als Kufalt aufgeregt erzählt, was er getan hat und die Herren bittet, ja doch dichtzuhalten und eine gute Auskunft über ihn zu geben, er würde es selbst mal erzählen, in einem passenden Augenblick ... Drinnen also ist er einmal dicht vor dem Aufwachen aus seinem Traum, denn die beiden sehen ihn so seltsam an und Freese sagt ganz unmotiviert als Antwort: »Stört Sie der Ofen nicht? Ist er Ihnen nicht zu heiß –?«

Aber schon geht der Traum weiter, denn Hilde hängt sich bei ihm ein, und es ist ihr unterdes wohl eingefallen, daß auch sie etwas zu sagen hat, und sie sagt es: »Du bist so gut! Nicht wahr, du hast verstanden, warum ich damals so geweint habe –?«

Und die Uhr wird übergeben und im Goldwarengeschäft von Linsing werden Ringe gekauft. Und dann kommt der Abend, und die Verwandten sind da und es ist eine sehr diskrete, gefühlvolle Verlobung mit manchem Seitenblick von Tante Emma zu Tante Bertha ...

Und schließlich geht er nach Haus in sein Bett und der Traum ist aus und er wacht auf und weint: ›Was habe ich getan!‹

 

22

Aber doch – trotz allen Weinens – wurde dieser Dezember der glücklichste, verzaubertste Monat in Willi Kufalts ganzem Leben.

Eines Tages sagte Herr Kraft zu ihm: »Ich weiß nicht, in diesem Jahre trudeln die Weihnachtsinserate nicht so ein wie früher, Sie müssen mal auf Inserate losgehen, Kufalt!«

Und Kufalt ging los auf Inserate.

Morgens von acht Uhr an klapperte er die größeren Läden ab, die Konfektionshäuser, die Goldwarengeschäfte, Wäsche, Leinen, Betten, Besteckvertretungen, Delikatessen, Weine – er verkaufte Sechzehntel- und Zweiunddreißigstelseiten. Er verkaufte auch drei- oder viermal eine ganze Seite, nicht selten eine halbe – und am Sonnabend rechnete er mit Herrn Kraft ab und erhielt seine hundertachtzig, seine zweihundert Mark Werbelohn: »Sie verdienen ja das Doppelte von Freese, Kufalt! Von mir ganz zu schweigen.«

Ja, Kufalt war in eine Erfolgsserie geraten, nun erwies es sich, daß der Knast doch zu was gut war. Dort hatte er eine gewisse Hartnäckigkeit im Bitten und Betteln erlangt, eine Abweisung entmutigte ihn nicht so leicht, in der Bestürmung von Wachtmeistern mit Sonderwünschen hatte er sich als ein überzeugender Kämpe im Wort erprobt – das kam ihm nun zugute!

Wenn er Herrn Lewandowski, dem Inhaber eines kleinen ›Kaufhauses‹ in der nördlichen Vorstadt, klarmachte, er dürfte keinesfalls hinter der Konkurrenz zurückstehen und eine Achtelseite sei einfach eine Schande für ein so gut geleitetes Geschäft, während eine Sechstel- oder gar eine Viertelseite einen verdoppelten Weihnachtsumsatz bedeuten würde –

Wenn er weitertrabte, jede Fassade musternd, jedes Schild lesend, und überraschend bei einem blinden Stuhlflechter einfiel, dem er ein Sechzehntel versetzte, da doch alle Menschen den Wunsch hätten, zu Weihnachten ihre Stühle in Ordnung zu bringen –

Wenn er um halb elf keuchend in der Setzerei erschien und gegen den schreienden Protest aller Setzer durchdrückte, daß noch dreiviertel Seiten neue Inserate mitgenommen wurden (und die Zeitung kam doch schon um halb eins raus) –

Und wenn er dann mit Kraft und Freese zappelig vor Spannung auf Fräulein Utnehmer wartete, die die Zeitung der Konkurrenz brachte, und sie stürzten sich alle drei über den Inseratenteil, und Kraft sagte vorwurfsvoll: »Die haben doch eine Viertelseite von Haase und wir nicht!« und er unwirsch antwortete: »Bin heute früh dagewesen, hat mir gesagt, er will noch nicht inserieren, der alte Kaffer, rücke ihm heute nachmittag wieder auf die Bude – aber den Löhne haben wir allein und den Wilms auch ...« –

Dann war er besessen von einem übersteigerten Kraftgefühl und Selbstvertrauen. Jetzt war der Bunker endgültig überwunden, Kufalt taugte was, Kufalt konnte was, und kein Alkoholgespenst Freese vermochte mit Hinweisen auf die kühle Trehne irgend was bei ihm zu erreichen ...

In seinen Taschen klimperte das Geld, und war das Weihnachtsgeschäft vorüber, kam Silvester mit Inseraten von Pfannkuchenbäckern, Weinhandlungen und Gastwirten mit Schwof. Und im Januar kamen die Inventurausverkäufe, und so ging es weiter durch ein langes, nahrhaftes, mit Geldverdienen verbrachtes Jahr.

Schlug es aber sechs, so stürmte er nach Haus, warf sich fein in Schale, rasierte sich und ging dann beschwingt durch die Straßen der Stadt, ein freier Mann. Dann kaufte er noch beim Schlächter Godenschweger eine Sardellenleberwurst für die Schwiegermutter oder beim Zigarrenfritzen zehn Brasil für den alten Harder oder ein Blechspielzeug für den Jungen, und alle Geschäftsleute waren überaus höflich zu ihm und sagten: »Guten Abend, Herr Kufalt. Danke auch schön, Herr Kufalt.«

Ja, nie kam er ohne ein Geschenk zu seinen Schwiegereltern, und der alte Harder hatte vollkommen recht, zu seiner Frau zu sagen, die heutige Welt stünde auf dem Kopf, und daß ein Mädchen wie die Hilde, die sich mit allen Kerls herumgetrieben habe, einen so gut verdienenden, so gut aussehenden Mann abkriege, das sei im Grunde doch eine Sünde und Schande und direkt gegen Gottes Gebot.

Aber seinen Schwiegersohn mochte er gern, der alte Harder, den ganzen Abend über schwatzten die beiden eigentlich alleine zusammen – die Frauen saßen still, die Aussteuer nähend, dabei. Harder aber berichtete von den einzelnen Geschäftsleuten, daß Kufalt sich bei Thomsen nach seinem Zucker erkundigen und bei Lorenz die Kakteen im Straßenfenster bewundern müsse.

Er führte ihn ein in das Leben der Stadt, er wußte alle Skandalgeschichten seit hundert Jahren, sorgfältig überliefert von Mund zu Mund. Darum konnte er genau begründen, warum die jungen Lävens ein schwachsinniges Kind hatten, denn der Großvater Läven hatte mit der Mutter von Frau Läven, die nämlich eine geborene Schranz war ...

Ja, Kufalt war ein glänzender Zuhörer für all diese Hinweise und Geschichten, gierig faßte sein Kopf sie auf und hielt sie fest, während Harders Freude über den Schwiegersohn ständig wuchs. Nein, trotzdem Hilde es wahrhaftig nicht verdient hatte, sollte seinetwegen nichts an der Aussteuer fehlen, obwohl ... obwohl ... Ein dunkler Schatten blieb beim alten Harder. Etwas war nicht in Ordnung bei diesem tüchtigen, jungen Geschäftsmann, Es wollte nicht in seinen alten, menschenerfahrenen Schädel, daß ein Mann wie dieser Kufalt ausgerechnet ein Mädchen mit Kind heiratete, ein Mädchen, das noch nicht einmal sonderlich hübsch war. Die große Verliebtheit – ah bah, sie waren ja nicht einmal so verliebt!

In der Dämmerstunde saß er und sah zu, wie der kleine und der große Willi miteinander spielten auf dem Teppich, wie sie übereinanderkugelten, lachten, alberten, ritten, sangen – zwei Kinder, zwei unvernünftige, übermütige Kinder. Der Junge aber rief ›Pappa‹ und Kufalt horchte darauf und stieß sich nicht daran und verzog keine Miene – es war nicht in Ordnung, etwas stimmte nicht.

Der alte Harder lag nachts manche Stunde sorgenvoll in seinem Bett und grübelte, und am liebsten wäre er aufgestanden und in das Wohnzimmer hinübergegangen und hätte wütend auf den Tisch hauen und schreien mögen: »Zum Donnerwetter sagt endlich, was los ist mit euch!«

Aber das tat er denn doch nicht, und er lag so lange wach, bis er die Tür leise einklinken hörte, und die beiden gingen hinunter und die Haustür fiel ins Schloß. Vielleicht hatte sie ihn wirklich fortgeschickt, aber vielleicht war die Haustür auch nur so ins Schloß geworfen worden, und sie hatte ihn mit in ihr kleines, dunkles Hofzimmer genommen, das sie seit ihrem Fall mit dem Balg bewohnen mußte. Ihm, dem alten Harder, war das ja nun egal, sie würde ja aufpassen gelernt haben, und verlobt war verlobt – aber das schlimmste war eigentlich, daß er ganz fest der Überzeugung war, der Schwiegersohn ging wirklich nach Haus und nicht auf ihr Zimmer, und daß ihn das eigentlich am unheimlichsten dünkte.

Recht hatte er, sie nahm ihn nicht mit auf ihr Zimmer, und wenn doch einmal, so nur, daß sie wieder einmal an des Kindes Bett standen, wie damals in der ersten Nacht, und auf das Kind hinabsahen. Hand in Hand, ihr Kopf an seiner Schulter, ein Bild wie eine kolorierte Photographie – aber vor dem Fenster hing die Nacht, und die Stadt war still geworden, wie das Leben still geworden war – in der Geduld! In der Geduld! Herz um Herz ruhig, sachte Nacht, Aufatmen, Stille.

»Komm, jetzt will ich nach Haus.«

»Schlaf auch schön, Willi.«

»Danke, dito.«

Ein rascher Kuß und der Heimmarsch durch die verödeten Dezemberstraßen, in denen unter dem Wind die Glasscheiben der Laternen klapperten, vielleicht noch drei, vier Stehschnäpse an einer Theke, damit man schneller, ohne sich Gedanken zu machen, einschlafen konnte.

Dann aber am nächsten Morgen frisch los auf die Inserate, fröhliche Jagd auf das Geld, Schwätzen und Überreden und Herumstehen in Läden und schließlich wieder der Abendweg zu ihr ...

Es war unsinnig, wenn Vater sich da ausmalte, was sie wohl redeten und trieben im Wohnzimmer: sie trieben gar nichts.

Einmal hatte Harder seine Tochter gefragt, warum sie denn noch so laut gewesen seien, und Hilde hatte erklärt: »Willi hat mir Gedichte aufgesagt.«

»Gedichte –?!!« hatte Harder zurückgefragt und sich wieder einmal gewundert, wie ein solcher Ausbund und Abgrund von Verlogenheit seine Tochter sein konnte.

Und doch hatte Hilde die Wahrheit gesprochen und Kufalt hatte wirklich Gedichte rezitiert.

Das Rindenhäuschen in jener durchwehten Novembernacht lag weit dahinten, daran durfte man nicht mehr denken, sonst mußte man sich nur schämen. Jetzt saßen die beiden in einem richtigen bürgerlichen, gut durchwärmten Zimmer auf dem Sofa nebeneinander als ein richtiges Brautpaar, er erzählte von seinem Tag, erzählte von Freese und Kraft und der Stenotypistin Utnehmer, die er schon wieder mit einem andern Herrn auf dem Bummel gesehen harte. Aber der Stoff war bald alle, das meiste hatte er ja schon seinem Schwiegervater erzählt.

Und wenn sie dann von ihrer künftigen Wohnung gesprochen hatten und von der Einrichtung, anderthalb Zimmer mit Küche – dann war es aber gänzlich vorbei.

Sie saßen stumm nebeneinander auf dem Samtsofa, Hand in Hand, er sehr gerade, mit den Augen auf die Lampe zu; sie mit der Neigung, gegen seine Schulter zu sinken und zärtlich zu werden.

Dann küßte er sie ein- oder zweimal und sagte beruhigend: »Ja, meine Liebste, es ist ja gut, Hilde, ich weiß ja.« Und dabei dachte er nach, worüber sie sprechen könnten, und ihre Brust war ihm so nah, und jetzt hätte er alles mit ihr tun können – aber nein, Rindenhäuschen vorbei. Jetzt hieß es Ordnung, Geldverdienen, Bürgerlichkeit. Ein klares Leben – und er wollte sich doch auch nicht schämen müssen vor den Harder, Freese und Kraft. Er hatte aufgeatmet, als sie ihm andeutete, damals – nein, es war nichts passiert, und vor Ostern wollten sie keinesfalls heiraten, und kam etwas, so würden sie doch alle mit den Fingern parat stehen und neun abzählen und sagen: »Aha, darum!!!«

Nein, gerade nicht: Aha, darum!

Sie war sehr blaß, mit dunklen Ringen unter den Augen, sicher war: sie verstand nichts.

Einmal brach sie aus: »Willi! Willi!! Warum willst du mich heiraten!! Bloß, weil ich damals nicht mehr gekommen bin?! Du liebst mich ja gar nicht!«

Aber er beruhigte sie, er wiegte sie in seinen Armen, er sagte, es sei alles richtig, wie er es machte, und eines Tages würde sie alles verstehen.

Und dann saßen sie wieder stumm da, die Lampe brannte still weiter und sie wußten wieder nicht, wovon reden. Und da eben geriet er auf seine Kindheit.

Sie gehörte hierher, in dieses gutbürgerliche Zimmer, diese geordnete Brautzeit. Sie gehörte genau an diese Stelle seines Lebens – Straftat, Gericht, Gefängnis wurden ausgemerzt; wo das bürgerliche Leben aufgehört hatte, da setzte er wieder an.

Gedichte, jawohl, aber nicht nur Gedichte. Manchmal saßen sie zusammen und summten ein Lied, leise, daß es die Eltern im Schlafzimmer nicht hörten: ›O Täler weit, o Höhen ...‹ – ›Ännchen von Tharau ...‹ – ›Wer hat dich, du schöner Wald ...‹ –

Und beider Gesichter wurden heller, eilig trat ihr kleiner Fuß im durchbrochenen Halbschuh den Takt, die Gardinen hingen weiß und friedlich vor den Fenstern – er aber sagte: »Jetzt laß mich mal allein ...« Und er sang: ›Beatus ille homo ...‹ und ›Gaudeamus igitur ...‹

Seine paar Gymnasialjahre waren wieder da, und ihre Augen hingen an ihm.

Dann kam das Weihnachtsfest, und die beiden Verlobten standen richtig unter dem Lichterbaum, und richtig spielte der kleine Willi zu ihren Füßen mit einer Puffbahn. Herr Harder aber schenkte seinem Schwiegersohn eine kalblederne Brieftasche mit einem dreimal angespuckten blanken Pfennig darin: »Daß euch das Geld nicht ausgeht« – und Frau Harder schenkte ihm einen Schal.

Von Hilde war nichts da, aber Hilde lächelte, ihre Backen waren rot, sie war sehr glücklich, und alles war so unwahrscheinlich friedlich und geborgen mit dem weißgezuckerten Stollen und dem Karpfen in Bier, als gäbe es gar keine Welt voller Gefahren, gäbe es nicht Verbrechen, Not, Kittchen, Vorbestraftheit.

 

23

War es da bei solch glücklichen Zeiten ein Wunder, daß Kufalt sich kaum noch um den kleinen Emil Bruhn kümmerte, ja, daß er ihm eigentlich aus dem Wege ging?

Er besuchte ihn nicht mehr, und wenn Bruhn zu Kufalt kam, so war der entweder nicht zu Haus oder in großer Hast, sich umzuziehen und wieder wegzukommen.

Einmal aber, kurz vor Weihnachten, hatte sich Bruhn bei solchem Umziehen in den großen Plüschsessel gehockt und zugesehen. Er hatte noch kleiner und rundlicher als sonst ausgeschaut, aber sehr sorgenvoll – ›Gehört zu den Leuten, die Kummerspeck ansetzen‹, dachte Kufalt flüchtig.

»Stimmt es, daß du mit der Hilde von Harders gehst?«

»Ja, Emil.«

»Daß du dich richtiggehend mit ihr verlobt hast?«

»Ja, Emil.«

»Viole oder ernsthaft?«

»Ernsthaft, Emil.«

»Und der Junge?«

»Ein netter Junge, Emil, mag ihn furchtbar gerne.«

»Wissen die das eigentlich von dir?«

»Nein, Emil.«

»Willst du's ihnen erzählen?«

»Noch nicht, Emil.«

»Mir hast du damals gesagt, man muß es gleich erzählen.«

»Man weiß nie, wie was kommt.«

»Also doch Viole!«

»Nein, ernsthaft.«

»Warum sagst du's denen dann nicht?«

»Sage es ihnen schon noch.«

»Wann?«

»Bald.«

Kufalt rasiert sich sehr sorgfältig, deswegen wohl antwortet er auch so kurz. Nun aber ist er mit dem Rasieren fertig, macht Oberhemd zurecht, Kragen und Schlips, und so kann er fragen.

»Bist du eigentlich immer noch in der Fabrik, Emil?«

»Wie –?« fährt Bruhn zusammen.

Kufalt lacht. »Wo bist du denn mit deinen Gedanken, Emil? – Ob du noch in der Fabrik bist, frage ich.«

»Ja«, sagt Bruhn auch kurz und ist weiter gedankenvoll. Dann fragt er: »Wie ist das, Willi, wenn nun einer den Harders erzählt, daß du vorbestraft bist?«

»Wer soll denen denn das erzählen?«

»Nun irgendeiner – ein Wachtmeister zum Beispiel.«

»Wachtmeister dürfen doch nichts erzählen, so was ist Dienstgeheimnis.«

»Oder ein Ganove?«

»Warum soll ein Ganove denn das erzählen? Der hat doch nichts davon.«

»Vielleicht kriegt er ein Trinkgeld vom ollen Harder, daß er ihn gewarnt hat?«

Kufalt denkt angestrengt nach, er schiebt die Unterlippe vor, besieht sich in seinem Rasierspiegel, probiert, ob die Haut am Kinn auch glatt ist, und denkt immerzu nach.

Ziemlich lange kriegt Emil Bruhn keine Antwort.

Und als Kufalt spricht, ist die Antwort auch keine Antwort, sondern eine Frage: »Warst du eigentlich beim Alten, Emil?«

»Ja«, sagt Emil.

»Na – und?«

»Schieterkram.«

»Wieso Schieterkram? Ja oder nein?«

»Kostet sehr viel Geld.«

»Ob er ja gesagt hat?«

»Ich hab' ihm erzählt, ich hab' fünfhundert Mark erspart, die schustere ich zu.«

»Und was hat er gesagt?«

»Dann will er's versuchen.«

»Also ist ja alles in Butter.«

»Nein.«

»Wieso ist nicht alles in Butter?«

»Weil ich keine fünfhundert Mark zuzuschustern habe.«

»Wieviel hast du denn gespart?«

»Gar nichts.«

»Warum sagst du denn, du hast sie?«

»Weil ich denke, ich kriege sie, Willi.«

Kufalt zieht sich bedächtig seinen Mantel an, dann betrachtet er sich im Spiegel und zieht das Jackett hinten etwas herunter. Er nimmt seinen Hut.

»Also komm noch ein Stück mit längs, Willi.«

»Schön, Emil.«

So gehen sie, beide drucksen. Bruhn weiß nicht recht und möchte gern, aber Kufalt ist komisch, er müßte es doch eigentlich gewohnt sein aus dem Bunker, Kippe oder Lampen ist Satz, Kippe oder Lampen ist ein klares Geschäft.

Kufalt aber ist wütend und todestraurig. Hat er ihn wirklich gerne gemocht, den kleinen Bruhn? Ja, nun scheint es so, er hat ihn wirklich gerne gemocht und nie, nie hätte er gedacht ...

»Weißt du, Willi«, versucht Bruhn zu erklären, »ich muß aus der Fabrik, das hält keiner aus, verstehst du?«

»Ja, ja«, sagt Kufalt.

»Sonst passiert nämlich was.«

»Ja, ja«, sagt Kufalt wieder gedankenvoll. »Sicher hast du es falsch angefaßt mit dem Direktor.«

»Du kannst ja selber mal mit ihm reden, Willi?«

»Nein, nein«, sagt Kufalt mit Bedeutung. »Weißt du, mit den Ganovengeschichten möcht' ich nichts mehr zu tun haben, verstehst du, Bruhn?«

Er bleibt stehen.

»Ich geh' jetzt hier rein in die Lütjenstraße, Emil. Lütjenstraße siebzehn wohnt mein Schwiegervater. Na, du kennst ja den Laden, Emil.«

Er steht aber immer noch und betrachtet den kleinen Bruhn mit dem Seehundskopf.

»Und übrigens ist mir alles scheißegal, Emil. Die Hilde ist mündig, und dafür, Emil –«, Kufalt beugt sich vor und flüstert geheimnisvoll in Bruhns Gesicht hinein – »dafür, Emil, hab' ich schon gesorgt, daß sie wieder ›Fest‹ ist, verstanden?«

Er starrt, plötzlich grinsend, den Bruhn an, lacht schallend los und geht die paar Häuser bis zu Harders weiter, ohne sich umzusehen.

›Mann über Bord, kann man da nur sagen‹, denkt er.

 

24

Nach Weihnachten war das Annoncengeschäft sehr still geworden und Kufalt hatte sich wieder auf Abonnenten legen müssen, um etwas Geld in die Kasse zu bekommen. Bitter war das. Bei einer Annonce blieben fast mühelos fünf oder acht oder zehn Mark Prozente hängen, und nun mußte er wieder endlos für ganze fünfviertel Mark reden und unter fünf Malen auch noch vier erfolglos.

Denn mit den Handwerkern, die verhältnismäßig bequeme Kunden gewesen waren, war er nun durch. Jetzt mußte er Haus für Haus abklappern, straßenweise. Nie wußte er genau, was da für Menschen hinter den Türen wohnten, an denen er klingelte, was er sagen mußte, um ihnen angenehm zu sein. Schließlich kam da so eine mißtrauische Frau raus, bei der die feinsten Formen nicht verfingen, die gar nicht erst die Kette losmachte, sondern, ohne ihn anzuhören, die Tür zuschlug: »Wir brauchen nichts.«

Aber es konnte auch vorkommen – und das war vorgekommen –, daß er einmal an ganz unverhoffter Stelle, bei irgendeiner roten Arbeiterfrau, Erfolg hatte, ihr ein Abonnement aufschnackte. Kam er dann aber abends auf den ›Boten‹, so war der Mann schon dagewesen, hatte Krakeel gemacht und sein Geld zurückverlangt: sie läsen ihr Soziblatt und nicht solchen Bourgeoisdreck, und wenn er den windigen Kerl von Anreißer erwischte, würde er ihm alle Knochen im Leibe zerschlagen. Arme Frauen dumm zu reden, verdammter Hund, der!

Kraft aber hatte milde bemerkt, zu schlimm sollte es Kufalt auch nicht mit dem Zureden machen, und Kufalt hatte gereizt gefragt, ob Herr Kraft glaube, die Leute jauchzten gleich, daß sie den ›Boten‹ lesen dürften –?

Dann aber waren die letzten Dezembertage gekommen, und richtig hatte sich das Geschäft in Annoncen wieder lebhafter angelassen, und gar zum Silvestertag hatte Kufalt zweieinhalb Seiten zusammenbekommen. Er hatte aber auch gegrübelt und zu allem andern noch die Spielzeugläden mit ihrem Feuerwerk und die Porzellangeschäfte mit Neujahrstellern mobil gemacht. Und schließlich waren noch all die guten Wünsche an die werte p.t. Kundschaft zum Neujahrsfeste dazugekommen.

Süßsauer lächelnd hatte Kraft wieder einmal zweihundertfünfzehn Mark an Kufalt ausbezahlt, nicht ohne die Bemerkung zu machen: »Wie gewonnen, so zerronnen.«

Das kümmerte Kufalt aber einen Dreck, erstens kamen bald die Inventurausverkäufe, und zweitens hatte er jetzt ein richtiges Sparbuch und auf dem Sparbuch standen trotz aller Geschenke über tausend Mark. Nein, nichts von zerronnen!

So ging Kufalt denn, abgeseift von Kopf bis zu Fuß, sauber eingepuppt und mit glänzenden Nägeln, festlich zu den Harders, trank seine paar Gläschen sanften Punsch und hörte befriedigt, wie Frau Harder um halb zehn sagte: »Na, Eugen, für uns wird es jetzt wohl Zeit, wir warten doch nicht bis zum Läuten?«

Der Alte brummte verneinend und sagte: »Aber, Kinder, ihr könnt gerne noch ein bißchen ausgehen. Immer zu Haus hocken, ist auch nichts, und übers Jahr seid ihr ja schon verheiratet, und wer weiß, ob ihr da noch ausgehen könnt.«

Wobei er wieder mal die Gestalt seiner Tochter betrachtete.

Hilde verschwand und dann kam sie in einem entzückenden, hellen, ganz blaß geblümten Kleid wieder, und einen schönen, geflochtenen Goldzopf hatte sie um den Hals ... »Wirklich nett sieht das Mädchen aus«, hatte Harder ganz verwundert gesagt. Und das Rosa in ihren Backen war beinahe rot geworden, und übermütig hatte sie Vater und Mutter einen Kuß gegeben und: »Alles Gute und schlaft schön rüber ins neue Jahr!«

Dann aber waren die beiden Jungen losgezogen, und vom Fenster hatten die beiden Alten ihnen nachgeschaut.

Es schneite leicht, viele Leute waren unterwegs, und in den meisten Schaufenstern am Bummel brannte Licht. Sie schleuderten zuerst ein wenig umher, und Hilde hatte die eine Gardine schön gefunden, er aber eine andere, bis sie sich schließlich auf eine dritte geeinigt hatten. Sie hatten Möbel angesehen, und ihm war eingefallen, daß in der Helmstedter Straße solch entzückendes Schlafzimmer ausstand, das er ihr schon immer hatte zeigen wollen. So waren sie denn den langen Weg bis dahin gegangen, um zu finden, daß Tischlers Schneeweiß sein Schaufenster nicht beleuchtet hatte.

Hier aber waren sie in der Nähe vom Rendsburger Hof, und Hilde bat ihren Willi, doch einen Augenblick da hineinzugehen; sicher wollte sie sich ihren ehemaligen Freundinnen mit Bräutigam präsentieren.

»Und da haben wir uns doch zum ersten Male gesehen und ich habe dich auch gleich gesehen. Aber wie du mich so anstarrtest, durfte ich es ja nicht merken lassen. Und weißt du noch, wie du der Wrunka und mir beinahe bis auf die Toilette nachgelaufen bist? Der geht ran, hat die Wrunka gleich gesagt. Komm, wir sehen nur einen Augenblick rein, wenn es auch nicht so fein ist da ...«

Er aber schlug es ihr rundweg ab, denn sicher würden sie angepöbelt. Ihm war so was nicht piepe, und daß man ihr ausgerechnet in seiner Gegenwart die Jungfer mit Kind vorhalten sollte, und womöglich warfen die ihm noch das Kittchen vor, und sicher war der kleine Emil Bruhn da –: »Also, unter allen Umständen, nein!«

Er dagegen hatte ein kleines Kellerlokal am Markt für sie beide in Aussicht genommen, ein Café Zentrum, das ihn schon immer durch irgendwas Verstaubtes, Verludertes gelockt hatte, in das er aber bisher durch irgendeinen Zufall noch nicht gekommen war. Doch kaum sprach er Hilde davon, als sie nun wieder dies Lokal entschieden ablehnte.

»Nein, unter keinen Umständen! Nein.«

»Was hast du denn dagegen? Ich wollte es mir doch nur mal ansehen.«

»In solch' Lokal geh' ich nicht!«

»Aber du mußt doch sagen können, warum!«

»In solch ein Ding – was die Leute davon erzählen!«

»Bist du denn einmal drin gewesen?«

»Ich –? Nein, nein, und ich geh' auch nicht rein. Auch mit dir nicht.«

Sie standen noch immer an der Ecke beim Tischlermeister Schneeweiß, es war dunkel und zugig, sie froren.

Ein Mann kam vorüber, er hatte gemerkt, daß sie sich stritten, er rief: »Na, Lottchen, will he nich? Schall ick em en beten an de Büx?«

»Komm!« sagte Kufalt hastig und ging mit ihr los. Der betrunkene Silvesterschwärmer rief ihnen eine Schweinerei nach.

Sie gingen eilig, lose ineinander eingehängt, dem Stadtinnern zu.

»Ich möchte wohl wissen«, sagte Kufalt aus tiefem Nachsinnen, »warum du nicht in das Café Zentrum willst.«

»Weil ein anständiges Mädchen nicht in solch ein Café geht.«

»Ach nee?! Und auf den Rendsburger Hof geht solch Mädchen zum Schwof?«

Sie machte sich mit einem Ruck von ihm los, sie rief verzweifelt, und sie war wirklich verzweifelt: »O Willi, Willi, mußt du mich denn immer quälen?!«

»Quälen –?!« fragte er verblüfft, »immer quälen –?! Weil ich mit dir in ein Café gehen will?«

Sie sah ihn einen Augenblick an, ihr Gesicht zuckte, ihre Lippen bewegten sich, sie wollte etwas sagen. Aber dann nahm sie nur seinen Arm und bat leise: »Komm, bring mich nach Haus.«

»Wir gehen doch jetzt nicht nach Haus!« rief er verblüfft. »Wenn du eben durchaus nicht ins Zentrum willst, gehen wir woanders hin. Ist dir Café Berlin recht?«

Sie antwortete nicht, und nach einem Augenblick merkte er, daß sie leise vor sich hin weinte.

»Nicht, Hilde«, sagte er und sah nach den Leuten. »Nicht doch.«

»Es ist gleich wieder gut«, sagte sie schluckend. »Komm, wir stellen uns einen Augenblick an das Schaufenster.«

»Aber warum weinst du denn? Wieso quäle ich dich denn? Sag doch, Hildeken, ich versteh' ja nichts.«

»Nichts, nichts«, sagte sie, schon wieder lächelnd. »Jetzt reib' ich mich nur ein bißchen ab und schnaub' die Nase –«

»Aber ich möchte doch gerne –«, fing er hartnäckig wieder an.

»Bitte nicht«, sagte sie. »Wir wollen heute doch lustig sein.«

Und sie waren es dann auch. Denn im Café Berlin gab es einen herrlichen sächsischen Komiker, der so gut sächsisch sprach, daß man ihn sogar verstand, und der sie ununterbrochen lachen ließ, und eine Spitzentänzerin mit rasierten Achselhöhlen und weißgepuderter Brust – und eine ältere Dame sang ungemein freche Lieder.

Sie saßen im Trubel, alles lachte, schrie, trank, jubelte, Konfetti hagelte, Papierschlangen hüllten sie ein und sie saßen stocksteif, diese Zier nicht zu zerreißen. Dann spielte die Kapelle einen Tusch und es war Mitternacht. Sie gaben sich feierlich die Hände.

»Auf ein recht gutes Jahr, Hilde, für uns beide!«

»Dir auch, mein Willi! Dir auch! Ach, mein Willi!«

Sie tranken noch einen kleinen Grog und Hildes Backen fingen zu glühen an. Sie erzählte, kleines Geschwätz, Getratsch, was die eine ausgefressen und wie verrufen die andere war und was die dritte sich alles einbildete ...

»Aber ich bin auf keine neidisch. Wo ich meinen süßen Willi habe. Und jetzt noch einen süßen Willi–zwei süße Willis ...« Sie lachte laut. Und wenn auch dies Geschwätz und Lachen im allgemeinen Trubel untergingen und kaum einer den Kopf nach den beiden an der Wand drehte – Kufalt war es doch peinlich und doppelsinnig war es auch, das Gerede von den beiden süßen Willis, und nett war ihr Lachen auch nicht gewesen ...

»Komm, Hilde, wir gehen.«

»Aber du kannst doch morgen ausschlafen!«

»Wir gehen noch wohin, wo wir tanzen können.«

»Fein«, sagte sie. Sie lachte. »In den Rendsburger Hof.« Ihre Augen funkelten wagemutig: »Da hast du wohl deine andere Braut, die du nicht zeigen willst?«

Er fragte böse: »Und wen hast du im Café Zentrum?«

Einen Augenblick war sie verlegen, dann lachte sie los: »Bist du eifersüchtig, armer Willi? Nein, du brauchst nicht eifersüchtig zu sein, ich bleib' dir treu und laß mich nicht verführen ...«

Sie sang es nach einer Schlagermelodie.

Leute umher lachten beifällig: »Das Mädchen ist richtig.«

»Komm doch, Hilde«, bat er. Und dachte: ›Und hat sich doch von mir verführen lassen, und wenn von mir, ist auch jeder andere möglich ...‹

Eine tiefe Traurigkeit erfüllte ihn. ›Was hat das denn alles für einen Sinn!‹ dachte er. ›Ich hab' ja nichts mit ihr zu tun, ich mag sie nicht einmal gerne. Und weswegen denn alles? Wirklich nur, weil sie sich damals nicht mehr sehen ließ und weil ich ein bißchen Mitleid mit ihr hatte? Ach, nur das Fleisch, nur das Fleisch, bei jeder andern wäre es auch noch einfacher und ich brauch's nicht einmal, das Fleisch ... Wenn man doch rauskäme, fortkäme, wegkäme ... Dies geht im Leben nicht gut. Wenn man doch einmal ganz von frischem anfangen könnte –!‹

»Woran denkst du?« fragte sie.

»An nichts Besonderes«, antwortete er.

Dann aber kamen sie doch nicht mehr zum Tanzen, sondern irgendwie landeten sie in einer kleinen Weinstube und tranken noch eine Flasche Süßwein. Hilde war traurig gewesen und gereizt, übermütig, lustig und geschwätzig – jetzt, von der Flasche Wein, wurde sie einfach müde, todmüde, die Augen klappten ihr zu –: »Bitte, bring mich nach Haus, Willi, bitte!«

Vor der Haustür stand sie, beinahe wankend vor Schläfrigkeit, in seinem Arm.

»Noch einen Kuß, Willi. Oh, ich bin müde!«

»Ich aber auch«, sagte er.

Es war, als ermuntere sie sich etwas: »Nicht wahr, du gehst gleich nach Haus, du gehst nicht mehr irgendwo hin.«

»Wohin soll ich denn jetzt noch gehen um vier? Ich hau' mich sofort hin.«

»Ganz bestimmt?«

»Aber todsicher«, sagte er und versuchte zu lachen.

»Gibst du mir dein Ehrenwort?«

»Aber natürlich geb' ich dir mein Ehrenwort. Ich geh' gleich nach Haus.«

Sie schwieg, irgendwie schien sie unzufrieden zu sein und nachzudenken.

»Also, Hildeken«, sagte er und reichte ihr die Hand.

Sie nahm ihn ganz fest in ihre Arme. »Mein Willi, mein lieber, süßer Willi ...« Sie küßte ihn, sie flüsterte: »Komm doch mit, mein süßer Willi, die Eltern gehen nie in mein Zimmer ...«

»Nein, nein«, sagte er erschrocken.

»Aber warum denn nicht? Ich sehn' mich so nach dir. – Willi, ich halt' das nicht aus! Was hast du gegen mich? Bis Ostern halt' ich das nicht mehr aus.«

»Denk' doch an den Jungen, Hilde. Das geht doch nicht.«

»Ach, der Junge wird nie vor acht wach. Ich weiß das doch. Komm schon. Einmal, nur einmal, Willi.«

»Nein«, widerstand er. »Nein, ich will das nicht. Nachher passiert was, und alle reden über uns.«

»Das tun sie doch schon so. Das kann uns doch egal sein.«

»Nein, ich tu' es nicht. Sei vernünftig, Hilde, denk' doch, die paar Wochen bis Ostern!« Er nahm sie in seinen Ann, er tröstete sie (und wußte dabei: jedes Wort war unwahr. Etwas anderes würde geschehen. Was aber das andere war, das geschehen würde, das wußte er nicht.)

»Denk doch daran, wie schön wir es dann haben werden, ganz allein in unserer eigenen Wohnung für uns, ein helles freundliches Zimmer. Und ich glaub' bestimmt, ich schaff es mit den blauseidenen Steppdecken statt der Federbetten. Dann können wir alle auslachen, und niemand kann uns noch etwas wollen, und es ist alles viel sauberer als so in der Heimlichkeit, und vor deinen Eltern müßte ich mich auch schämen. Jetzt kann ich die doch grade ansehen ...«

»Aber du hast doch –!« rief sie verständnislos und erschrocken aus. »Du hast doch schon einmal, Willi –«

Sie sahen sich an.

»Also, ich geh' jetzt nach Haus«, sagte er böse. »Ich glaub', du hast einen sitzen, gute Nacht.«

Er wartete ihr Gute Nacht nicht ab, er wartete nicht ab, bis sie über den Hof verschwand.

Im Fortgehen hatte er, obwohl er sich nicht umdrehte, das ganz genaue Bild von ihr vor Augen, wie sie dastand, ihm nachstarrend, Todesangst im Blick.

 

25

An den Rest dieser Nacht hatte Kufalt nur eine verwirrte Erinnerung, von dem Moment an, da er die Kellertreppe zum Café Zentrum hinunterpolterte und mit einem Krach im Lokal landete, bis zu dem Augenblick, da er, Arm in Arm mit Herrn Chefredakteur Freese, auf einem wüsten Fabrikhof stand und wie gebannt in ein graues, öliges, langsam ziehendes Wasser starrte, während Freese geheimnisvoll flüsterte: »Die Trehne entspringt bei Rutendorf, unterhalb des Galgenberges, nimmt in unserer Vaterstadt die Abwässer von sechsunddreißig Lederfabriken mit Gerbereien auf, berühmt als Verbreiterin des Milzbranderregers ... Die Trehne ...«

Eine gespensterhafte Nacht Unwahrscheinlich schon, wie er in che Gaststube polterte, eine ganz kommune Gaststube, ohne jede Luderei und Verworfenheit, wie er sich suchend umsah und in den dicken Schwaden von Zigarrenrauch doch nichts erkennen konnte, und eine Stimme schrie aus dem Winkel: »Heh, Kufalt! Bräutjamm Kufalt!!«

Er folgte der Stimme und fand an einem Ecktisch in trauter Gemeinsamkeit erstens den Freese, zweitens den Dietrich – über Grog hockend, Freese glühend rot, die wüsten Haarzotteln wüst ins schändliche Gesicht, und Dietrich gelblich-bleich, mit stumpfen, dummen Mauseaugen.

»Setz dich, Kufalt«, sagte Freese. »Das ist der Dietrich, den ich deinetwegen rausgeschmissen habe.«

»Sehr angenehm«, murmelte Dietrich und machte eine halbe Verbeugung.

»Besoffen!« sagte Freese. »Setz dich, Kufalt. Besoffen wie ein Besenstiel. Wo hast 'en deine Braut?«

»Versteh' immer Braut«, murmelte Dietrich.

»Halt die Schnauze, du!« rüffelte ihn Freese. »Hier wird nicht angespielt. Hier wird überhaupt nicht gespielt. Was trinkst 'en?«

»Ein Helles«, sagte Kufalt.

»Minna, ein Helles und einen dreistöckigen Kognak für den Herrn. – Minna, das is en Bräutjamm, reell, kiek ihn dir an.«

Kufalt sah das dicke Weib mit dem groben, gemeinen, roten Gesicht, das ihm seine Getränke hinstellte, böse an.

»Ach so, Sie sind der junge Mann, der sich mit Harders Hilde verlobt hat? Hab' davon gehört, jaja, man hört allerlei ...«

»Abschwirren!« befahl Freese, und sie wackelte gehorsam hinter das Büfett.

»Is 'ne Perle, was, die Minna?« fragte Freese, der Kufalt nicht aus den Augen gelassen hatte. »Gefällt sie dir nicht? So werden sie alle, äußerlich oder innerlich oder äußerlich und innerlich, Speck oder kein Speck, so werden sie alle, die Weiber.«

»Ja – hupp«, machte Dietrich.

»Hältste die Schnauze!« brüllte Freese. »Ich engagier' dich, ich engagier' dich mit fünf Mark Vorschuß auf der Stelle, bloß daß ich dich auf der Stelle wieder rausschmeißen kann!«

Und Freese suchte in seinen Taschen nach Geld.

Er fand nichts.

»Gib die zwanzig Mark, die du mir schuldig bist, Kufalt.«

Kufalt sah Dietrich an, der verneinend mit den Augen blinzelte.

»Na, mach schon, Mensch, ich bestell' auch 'ne Lage.«

»Geben – Sie – sie – nicht – wieder«, sagte Dietrich mühsam, als buchstabierte er. »Ich – hab' – gesagt – wir – arbeiten – zusammen – arbeiten wir zusammen.«

Freese brach in ein brüllendes Gelächter aus. Er lachte, daß es ihn schüttelte.

»Zusammen arbeiten, feste, ihr beiden Bohrer, was? Im selben Loch arbeiten, was?!«

Und er lachte mit zusammengekniffenen Augen, daß das schwammige Fett seiner Backen zitterte.

Kufalt sah ihn an, angstvoll, etwas in ihm erbebte, seine Hand tastete nach dem Bierseidel.

»Also engagierst du uns beide?« fragte plötzlich Dietrich und konnte richtig sprechen. »Können wir jetzt beide arbeiten in deinem Loch, in deinem pleiten ›Boten‹?«

Dietrichs Stimme klang streng und böse.

Freese hatte zu lachen aufgehört, er starrte Dietrich an.

»Du kannst ganz gut zwei Werber brauchen«, beharrte Dietrich.

In Kufalts Schädel drehte es sich. ›Habe zuviel getrunken‹, dachte er. ›Von was reden sie eigentlich? Reden sie von dem, wovon sie reden, oder reden sie nicht davon?‹

Er horchte wieder auf die beiden.

»1848«, sagte Freese gerade feierlich, »war Herr van der Smissen Bürgermeister unserer Stadt. Herr van der Smissen war ein echter Aristokrat, ein aufrechter Herr ohne Scharniere, mit blütenweiße Wäsche ...

Der Mob zog vor sein Haus und fing an, alle Arten Kot und Dreck durch die Fensterscheiben des Herrn van der Smissen zu werfen. Der Stadtpolizei gelang es an diesem Tage noch, die Menge zu zerstreuen. Der Herr Bürgermeister, der gar nicht anwesend gewesen war, kam erst am späten Abend von einer Reise zurück. Schweigend ging er, von einem Stadtsoldaten begleitet, durch die verwüsteten Räume ...

Im Speisesaal hing an der Schmalwand ein sehr großes Ölgemälde seiner früh verstorbenen Gemahlin, einer geborenen Freiin von Putkammer. Ein besonders widerlicher, stinkender Dreckbatzen hatte das Bild der schönen Frau grade auf dem schneeigen Busen getroffen ...

Der Stadtsoldat, ein gewisser Wilms, hat angegeben, der Herr Bürgermeister habe ungefähr fünf Minuten regungslos, aber ohne eine Miene zu verziehen, vor dem geschändeten Porträt gestanden. Dann sei er an einen Schrank gegangen, habe eine Flasche Wein und ein schön geschliffenes Glas geholt und beides vor ihn, den Wilms, hingesetzt, mit der strikten Anweisung, sich die Zeit mit Trinken zu vertreiben. Er, nämlich der Herr van der Smissen, werde unterdes das notwendige Reinigungsgerät zusammensuchen. Darauf sei der Bürgermeister festen Schrittes aus dem Speisesaal gegangen ...

Am nächsten Morgen zog man ihn, aufs Säuischste beschmutzt, aus der Trehne, die am Bürgermeistergarten vorüberfließt.«

Dietrichs Kopf war längst auf die Brust gesunken, er schnarchte. Die Zigarre im Mundwinkel war erloschen, nachdem sie ein kreisrundes Loch in seine Hemdbrust gebrannt hatte.

Freese hatte mit der falschen, leiernden Stimme eines Fremdenführers gesprochen, nun, als er fertig war, rief er ganz anders: »Na prost, Kufalt, soweit ist es mit uns noch nicht, was?!«

»Warum erzählen Sie mir das?!« fragte Kufalt erbittert. Er verwünschte sich, daß er hierher gegangen war, er verwünschte sich, daß er nicht wegfinden konnte, er verwünschte sich, daß er weitertrank, er verwünschte sich, daß er überhaupt mit Freese sprach.

»Das ist«, sagte der, »ein Abschnitt aus der Chronik dieser Stadt, an der ich seit vierzig Jahren arbeite. Dieser Abschnitt wird den Namen führen ›Opfer der Trehne‹.«

»Aber ich werde nicht darin stehen, Sie Lump Sie!« schrie Kufalt, plötzlich todwütend. »Denken Sie, ich kapier' nicht, Sie Schwein, daß Sie mich dahin treiben wollen?! Aber ich geh' nicht, Ihnen zu Gefallen gehe ich noch lange nicht, wenn Sie auch auf meine Braut Dreckklumpen schmeißen –!«

Er hielt tief erschrocken inne. Es hätte gar nicht des Fingers von Freese bedurft, den er warnend, auf Dietrich deutend, an den Mund legte.

Denn jetzt stand plötzlich deutlich vor Kufalts Augen das schöne, großfenstrige Bürgermeisterhaus unter den Lindenbäumen, an dem er so oft vorbeigetrabt war. Er meinte, die zerbrochenen Scheiben zu sehen, den Sternenfall der Glassplitter ins Gras, den düsteren Speisesaal, von einer einzigen Kerze erhellt – und eine lange schmale Hand mit dicken blauen Adern und rundlichen gelben Altersflecken hebt den Leuchter, in dem die Kerze steckt. Aus dem Schatten der Wand tritt strahlend das Gesicht der schönen jungen Frau, ihr schlanker weißer Hals, die herrlichen Schultern und nun ... und nun ...

»Sehen Sie es –?!« schreit Freese. »Sehen Sie es –?!«

Es ist ein anderes Gesicht, komm doch mit, komm doch nur ein einziges Mal mit, bittet, bettelt ein Mund.

Oh, verloren, verpaßt, vergeudet. Oh, alles falsch getan. Zerronnen, vertan, vorüber die Frist ...

Keine Hand hält einen Leuchter mehr, es ist sehr dunkel, eine Dunkelheit, die sich nur allmählich aufhellt ...

»Na, ein Nickerchen gemacht?« fragt Freese. »Sie haben geschrien im Schlaf. Der da pennt fester.«

Und er zeigt auf Dietrich.

»Ich gehe«, sagt Kufalt, taumelnd vor Müdigkeit.

»Warte, ich komm' mit«, sagt Freese. »So findest du doch nie nach Haus.«

Er sah zweifelnd auf den Schläfer Dietrich. »Wer' ich der Minna sagen, kann ihn zu sich ins Bett nehmen«, murmelte er.

Plötzlich fing er an zu grinsen. »Warte noch einen Augenblick, Kufalt, sollst mal sehen, was ich mit ihm tue.«

Kufalt wollte fort. Er hielt sich an seiner Stuhllehne, tastete mit der andern Hand nach dem nächsten Tisch, erreichte ihn nicht, versuchte es von neuem.

Schon tauchte Freese wieder auf, eine Pappe, durch die er eine Schnur gezogen hatte, in der Hand. Er blinzelte Kufalt listig und aufmunternd zu, als verspräche er ihm einen glänzenden Witz, und ging an Dietrich heran.

Er setzte ihn grade.

»Sitz ordentlich, versoffenes Schwein«, schrie er. »Grade sollst du sitzen!«

Dietrich riß die Augen auf, sie fielen sofort wieder zu, er röchelte einmal und schlief weiter. Aber schon hatte Freese ihm das Schild um den Hals gehängt –: »Da, kannst du noch lesen?«

Mit Kohle in Druckbuchstaben hingeschmiert, stand es da deutlich: »Mädchenschänder« ...

Alles wurde erst schwarz vor Kufalts Augen, dann rot. Er hatte das Gefühl, als stürze seine Hand förmlich auf ein Bierseidel zu, das sie schon in der Luft herumwirbelte ... Er hörte noch deutlich die Stimme der dicken Minna kreischen: »Achtung, Freese, er schmeißt ...!« Er hörte Freese hämisch kichern ...

Und dann machte es: ›Gluckgluck! Gluckgluck! Gluckgluck!‹

Arm in Arm mit Freese stand er am Ufer der Trehne, grau und neblig war der Morgen heraufgedämmert, grau und ölig gluckste das Wasser gegen die Bohlen des Fabrikhofes, und er hörte Freese sagen: »Die Trehne entspringt bei Rutendorf, unterhalb des Galgenberges, nimmt in unserer Vaterstadt die Abwässer von sechsunddreißig Lederfabriken mit Gerbereien auf. Berühmt als Verbreiterin des Milzbranderregers ... Die Trehne ...«

Aber alles war nur verwirrte, gespensterhafte Erinnerung, als er am Nachmittag erwachte.

Er hatte geträumt, er hatte sicher alles nur geträumt – aber jedenfalls fing das neue Jahr mit solch bösem Traum an.


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