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Ruhe, jetzt wird gearbeitet!

Ein paar Tage gehe ich noch still umher. In meinem Kopf wiederholt sich mit hartnäckiger Regelmäßigkeit ein ganz bestimmter Satz, der erste Satz meines neuen Romans. Wenn ich mit dem Hund spazieren gehe, oder wenn das Licht gelöscht ist, im Einschlafen, oder mitten in unserer fröhlichen Tischrunde überfällt es mich, und ich fange an, die erste Szene aufzubauen. In der großen Linie weiß ich längst, wie der neue Roman laufen wird, aber nun arbeitet mein Kopf an dem ersten Kapitel, was der sagen wird, wie jene Person einzuführen ist. Mein Kopf ist hartnäckig, unerbittlich kaut er den Stoff des ersten Kapitels immer wieder durch.

Ärgerlich sage ich zu ihm: ›Ja, ja, das weiß ich nun schon, mein Lieber! Denk doch mal über das zweite Kapitel nach!‹

Aber das will er nicht. Er will sich jetzt nur mit dem ersten Kapitel beschäftigen; bis das niedergeschrieben ist, weigert er sich, über das zweite nachzudenken. Also muß ich mich zur Niederschrift des ersten entschließen.

Ich nehme all meinen Mut zusammen, ich benutze einen Augenblick, da ich mit Suse allein bin, und sage zu ihr: »Du, Suse, ich glaube, ich fange wieder mit Arbeiten an ...«

»O Gott, Junge!« ruft sie und schaut mich erschrocken an. »Schon wieder? Und du hast mir fest versprochen, diesmal mindestens ein Vierteljahr Pause zu machen! Du warst das letztemal völlig erledigt, als du fertig warst!«

»Ja, ich weiß«, gebe ich schuldbewußt zu. »Diesmal wollte ich auch bestimmt gründlich ausruhen. Aber die Sache ist die, daß mein Kopf plötzlich wieder zu arbeiten angefangen hat, ich wollte es wirklich nicht. Und nun predigt er mir ewig den gleichen Text vor, und wenn ich ihn jetzt nicht niederschreibe, so wird er abgestanden und verbraucht, und ich habe ihn für ewig verloren.«

»So laß ihn verlorengehen!« ruft Suse. »Dir fällt immer wieder etwas Neues ein. Du mußt dich wirklich einmal gründlich ausruhen. Du machst eigentlich überhaupt keine Pause mehr zwischen deinen Arbeiten!«

»Suse«, sage ich vorwurfsvoll, »sage doch bloß so was nicht! Ich habe jetzt volle drei Wochen pausiert. In diesen drei Wochen habe ich alles aufgearbeitet, was liegen geblieben war. Ich habe sämtliche Rohbilanzen gemacht, die Kasse stimmt auf den Pfennig. Ich habe die Bücher neu geordnet, und das Bücherverzeichnis ist auf dem laufenden, auch das Schallplattenverzeichnis. Alle Photos sind eingeklebt, alle Schränke geordnet. Ich habe den Schalter in deinem Zimmer repariert und aus der Senkgrube den silbernen Löffel gefischt, den Achim reingeworfen hatte. Meine Bienen sind versorgt, ich habe sogar schon den Bestellplan für das nächste Jahr gemacht und den Kunstdüngerbedarf ausgerechnet. Meine Briefmappe ist völlig leer, ich weiß keinen Menschen mehr, an den ich schreiben könnte. Suse«, sage ich bittend, »ich komme mir ohne Arbeit wie der überflüssigste Mensch von der Welt vor, ich muß wieder arbeiten!«

»Aber ruhe dich doch einmal richtig aus! Lege dich doch im Liegestuhl in die Sonne und lies ein Buch. Bade. Geh mit den Kindern spazieren. Nimm richtig einmal Urlaub, wie es jeder vernünftige Mensch tut.«

»Aber da ist dieser Stoff, den ich im Kopf habe«, widerspreche ich hartnäckig. »Es ist ein hübscher kleiner Stoff, ich möchte ihn nicht gerne verlieren.«

»Du wirst ihn schon nicht verlieren!« ruft Suse wieder. »Wenn du es hier nicht aushalten kannst, so geh ein bißchen auf Reisen. Deine Mutter schreibt schon so lange, warum du gar nicht kommst? Zwei Jahre bist du jetzt nicht bei ihr gewesen!«

»Ach, Reisen!« sage ich. »Du weißt, ich vertrage das Reisen nicht, ich kann nicht unter so vielen Menschen sein. Und dann das ewige Reden ... Nein, am wohlsten fühle ich mich hier in meiner Höhle. Ich möchte mit Arbeiten anfangen.«

»Ja«, sagt Suse bitter. »Das möchtest du. Und ich weiß ja auch, alles Reden nützt nichts, wenn du dir das erst einmal in den Kopf gesetzt hast. Aber wenn du fertig bist, klappst du wieder zusammen, und ich kann dich als halbe Leiche in ein Sanatorium schaffen –!«

»Diesmal klappe ich bestimmt nicht zusammen!« sage ich siegesgewiß. »Diesmal wird es ja nur ein Romänchen, dreihundertfünfzig, höchstens vierhundert Druckseiten. Ich habe gedacht, Suse«, fahre ich überredend fort, »ich setze mein Tagespensum auf sechs Druckseiten fest. Dann kann ich vormittags noch mit dem Hund spazieren gehen und habe den Nachmittag für allen Kleinkram frei. Das ist doch wirklich ein bequemer Arbeitsplan!«

»Das von den sechs Druckseiten täglich«, sagt Suse, »das habe ich nun schon bei jedem Roman von dir gehört, und nie hast du es eingehalten. Zum Schluß schreibst du dann doch wieder zwanzig oder gar fünfundzwanzig und schläfst überhaupt nicht mehr!«

»Aber Suse«, lächle ich überlegen. »Das kann bei diesem Romänlein nun wirklich nicht passieren. Wenn ich zwanzig Druckseiten am Tage schreiben wollte, so wäre ich in vierzehn Tagen mit dem ganzen Buch durch. So was tue selbst ich nicht!«

»Ach, red du!« meint Suse ärgerlich. »Aber wem nicht zu raten ist, dem ist auch nicht zu helfen! Wann willst du denn anfangen?«

»Ich habe gedacht, morgen ...«

»Und in welchem Zimmer willst du diesmal arbeiten?«

»Ich nehme das Balkonzimmer. Es ist doch am ruhigsten. Man hört dort nichts vom Hof und von der Küche.«

»Aber wenn jemand im Garten ist, wirst du gestört.«

»Das wird ja diesmal alles gar nicht so schlimm. Sechs Seiten Tagespensum, das ist doch nur ein Klacks für mich. Ich bin augenblicklich auch gar nicht sehr geräuschempfindlich und schlafe für meine Verhältnisse ganz gut.«

»Also schön«, ergibt sich Suse. »Dann werde ich allen im Haus Bescheid sagen, daß du von morgen an arbeitest. Die werden sich aber freuen –!«

Erleichterten Herzens begebe ich mich in mein künftiges Arbeitsgemach hinauf und fange an, mich einzurichten. Die Aussprache mit Suse liegt hinter mir, sie ist einverstanden, daß ich wieder arbeite. Gottlob, daß dies Schwerste erledigt ist!

Ich glaube alles, was ich ihr gesagt habe, von den sechs Seiten täglich, von dem Romänchen, von der geringen Geräuschempfindlichkeit, von dem guten Schlaf. Das alles ist im besten Glauben gesagt, ich habe nicht geschwindelt. Ich fühle mich wirklich frisch und arbeitslustig.

Und doch ist dies alles eigentlich ohne innere Verbindlichkeit gesagt. Ich hoffe, daß es so kommt, ich wünsche es. Denn ich hasse es, hinter einem Roman als kranker, von völliger Schlaflosigkeit geplagter Mann in einem Sanatorium herumzuliegen. Ich habe Angst vor jenem Zustand der Überreizung, in dem mich schon die Fliege an der Wand ärgert.

Aber im geheimsten Innern weiß ich, daß vielleicht alles anders kommen wird. Ich glaube, daß es ein Romänchen von dreihundertfünfzig Seiten werden wird, aber ich weiß es nicht. Ich hoffe es, aber ich habe doch schon erlebt, daß aus einer geplanten Filmerzählung von einhundertfünfzig Seiten ein ausgewachsener Roman von siebenhundertfünfzig Seiten wurde. Der Stoff wollte es so, ich stehe von Stund an unter dem Gesetz des Stoffes, unter höherem Befehl.

Ich will mich hier beileibe nicht als der gottbegnadete Dichter aufspielen, der, das Auge in holdem Wahnsinn rollend, vom Himmel inspiriert losdichtet. Ich weiß, ich bin ein Bücherschreiber, wie es viele gibt. Aber jeder von uns vielen hat seine eigene Arbeitsart, und wenn ich die meine nicht schilderte, so wäre dieser Bericht von dem Leben heute bei uns zu Haus ganz unvollständig. Das Wichtigste fehlte ihm, nicht etwa nur für mich, denn meine Arbeitsart, zu der ich nun einmal von Natur her verdammt bin, lastet auf allen Hausgenossen. Ich schildere, wie es ist, noch heute, noch jetzt, da ich diese Zeilen schreibe, und wie es wahrscheinlich sein wird, solange ich noch einen Federhalter in meiner schreibkrampfbehafteten Hand halten kann.

Es gibt glücklichere Kollegen, die schreiben dann und wann, wie es ihnen Zeit und Einfall eingibt. Dann setzen sie wieder aus, sie erholen sich, reden mit andern, erleben was, und nun schreiben sie wieder. Und es gibt andere glückliche Kollegen, die setzen sich sogar an die Maschine, sie können ›in die Maschine dichten‹, munter tippen sie los, und druckreif entrollt sich der Roman der Walze!

Von alledem weiß ich nichts. Ich bin ein alter Arbeitsesel. Sitze ich erst einmal über der Arbeit, so muß ich jeden Tag, den Gott werden läßt, mein gesetztes Pensum schreiben, mindestens mein gesetztes Pensum. Ob es stürmt oder die Sonne scheint, ob mir ein Kind krank ist, ich Streit mit der Suse hatte, ob lieber Besuch kommt – alles ganz egal, erst kommt das Tagespensum. Und wenn ich mir die Zeit stehlen muß, wenn ich nachts um zwei Uhr aufstehen muß, wenn mir jede Arbeitslust fehlt, dies ist das eherne, unumstößliche Gesetz meines Lebens, das einzige Gesetz vielleicht, das ich nie gebrochen habe: das Pensum wird geschrieben!

Aber davon wird noch zu reden sein, jetzt habe ich noch gar nicht begonnen zu arbeiten, ich bin noch bei den Vorbereitungen. Ich sagte nur, daß ich meine Versprechungen der Suse im besten Glauben gegeben habe. Was ich nun aber tue, da ist vielleicht schon eine Spur von Selbstbetrug dabei. Ich suche das Papier aus, auf dem ich diesen Roman schreiben werde. Es gibt vielerlei Schreibpapier, aber man kann es in zwei große Klassen teilen: in liniiertes Papier und in unliniiertes. Aus irgendwelchen unerfindlichen Gründen will ich diesen Roman durchaus auf liniiertes Papier schreiben, und nun wühle ich in meinen Papiervorräten herum. Ich habe da ein ganz hübsches Papier, leicht gelblich, was meinen überanstrengten Augen guttut, und noch Quart, nicht dieses Din, wo rein gar nichts auf die Seite geht.

Aber die Linien stehen verdammt weit auseinander, sechs solche Seiten am Tage vollschreiben, das ist einfach lächerlich! Zu so was braucht man sich gar nicht erst hinzusetzen! Schließlich finde ich ein Papier, das enger liniiert aussieht. Ich zähle die Zeilen nach. Wahrhaftig, es sind sechs Zeilen mehr darauf, das bedeutet, daß mein Tagespensum auf diesen Seiten ein ganzes Fünftel größer ist als auf dem anderen Papier.

Die Stunden, da ich alles für die neue Romanarbeit vorbereite, gehören zu den glücklichsten meines Lebens. Was seit Tagen, seit Wochen oft, in meinem Kopf leierte, morgen werde ich es los sein. Ich werde weiterkommen, über das nächste Kapitel nachdenken können. Ich loche das Schreibpapier, und mit Lineal und Zentimetermaß ziehe ich Seite für Seite einen sauberen Bleistiftstrich, der einen Rand für Verbesserungen und Einschaltungen abgrenzt.

Dann wähle ich einen Schnellhefter für die Arbeit aus. Jedes Buch verlangt eine bestimmte Farbe. Diese Erinnerungen liegen in einem blauen Deckel, ›Damals bei uns daheim‹ war resedagrün behaust, ›Wolf unter Wölfen‹ natürlich knallrot.

Dann lege ich die Zettelchen an, die geliebten Zettelchen. Über einem steht ›Personen-Namen‹. Ich weiß schon eine ganze Menge Personennamen des neuen Romans, sorgsam, mit der besten Schrift der drei Wochen ausgeruhten Hand werden sie eingetragen. Auf den zweiten Zettel kommen die Ortsnamen, auch von denen weiß ich schon ein paar. Der dritte Zettel wird die Kapitelüberschriften tragen, eine Überschrift weiß ich. Sie wird hingeschrieben.

Nun kommt der vierte, der wichtigste Zettel. ›Arbeitskalender‹ steht darüber. Sorgfältig ziehe ich Linien, mache Karos. Vom morgigen Tag an schreibe ich die Daten der Tage in den nächsten zwei Monaten hin. Hinter jedem Tagesdatum ist ein Karo frei, dort wird das erfüllte Tagesquantum an Seiten eingetragen. Dahinter wird die Gesamtzahl der geschriebenen Seiten stehen. Und alle Woche wird das Wochenquantum festgestellt, das Wochenquantum ist maßgebend. An den einzelnen Tagen kann es Abweichungen geben, das Wochenquantum aber ist unerbittlich.

Oh, was für ein Pedant ich bin, ich weiß es wohl! Aber vielleicht liegt das daran, daß ich so lange Jahre meines Lebens ein verbummelter, tatenloser Mensch war, der vormittags um zehn noch aus seinem Bett die Stubendecke anstierte. Nun hasse ich Bummelei. Ich begrenze mich, errichte Zäune, schaffe Verpflichtungen. Fronherr und Fröner in einer Person! Diese jetzt noch leeren Karos werden mich vorwurfsvoll anstarren, lasse ich nur eines leer, habe ich nur einen Tag gefaulenzt. Der ganze Arbeitskalender wäre dann geschändet, nicht auszudenken!

Habe ich dann noch den Füllfederhalter ausgewaschen und neu gefüllt, den Löscher frisch bezogen, kommt die Schlußarbeit, die Krönung aller Vorbereitungen: ich schreibe das Titelblatt des neuen Romans. Oben steht ›Hans Fallada‹, darunter kommt der Titel, dann folgt, wieder eine Zeile tiefer, das Wort ›Roman‹ und darunter ›Rowohlt-Verlag, Stuttgart–Berlin‹.

Ich sehe mir das an, mein Herz pocht, ich bin glücklich.

Nun schreibe ich ganz unten links hin: ›Begonnen am ...‹, darunter ›Beendet am ...‹. Ich fülle das Datum bei ›Begonnen‹ nicht aus, trotzdem ich weiß, daß ich morgen beginnen werde. Nein, nein, das tue ich nicht. Ich habe ja noch nicht begonnen – ich kann mir den Arm brechen, ein Zahngeschwür bekommen, das Haus kann abbrennen – nein, nur noch nicht das Datum! Schriebe ich heute das Datum hin, käme bestimmt etwas dazwischen, und ich könnte morgen nicht anfangen. In diesen Dingen bin ich verdammt abergläubisch!

Nun tue ich noch in meinen Tabaktopf einen besonders schönen Tabak – für morgen. Morgen ist ein Festtag, morgen fange ich an, morgen rauche ich also etwas Auserwähltes. Leise ziehe ich die Tür zu meinem Arbeitszimmer zu. Alles ist vorbereitet. Morgen! ...

Unterdes hat Suse im Hause die Kunde verbreitet, daß ich morgen mit Arbeiten anfangen werde. Ich kann nicht behaupten, daß dies für meine Hausgenossen eine freudige Nachricht ist. »Du lieber Himmel!« sagt Fridolin. »Da kann man wieder beim Abwaschen nicht mehr singen!«

Und Edeltraud: »Und die Treppe! Immer auf Strümpfen rauf und runter, und knarren tut sie doch!«

Wieder Friedel: »Und der Plisch hat sich in letzter Zeit das Bellen so angewöhnt! Es braucht nur einer bei der Erbschmiede aufzutauchen, schon legt er los!«

Meine Frau beruhigt die erregten Gemüter: »Mein Mann wird diesmal nur einen ganz kleinen Roman schreiben, er arbeitet höchstens zwei, drei Stunden täglich. Sicher werdet ihr beim Abwaschen singen können und mit der Bodentreppe kann man sich schon so einrichten. Wenn man sich ganz rechts hält und die dritte Stufe von oben ausläßt, knarrt sie fast gar nicht. – Den Plisch aber übernehme ich.« Und zu der Mücke: »Also, Mückchen, du hast es gehört: von morgen an arbeitet der Papa wieder. Der vordere Hof ist euch verboten, ihr spielt nur hinter der Scheune. Und wenn ihr im Obstgarten seid, denkt ihr daran, daß ihr immer ganz leise sein müßt.«

Mücke antwortet weinerlich: »Aber, Mummi, wenn wir schaukeln, dann müssen wir schreien dürfen. Je höher die Schaukel fliegt, um so döller muß man schreien!«

Mitleidslos antwortet Suse: »Dann werdet ihr eben eine Zeitlang mal nicht so hoch schaukeln, und es wird auch gehen. Du weißt, Mücke, wenn Papa erst Krach macht, wird euch die Schaukel ganz ausgehängt. Also seht euch lieber von Anfang an vor.«

Und Suse ergreift eine Ölkanne und macht sich daran, sämtliche Türen des Hauses sammetweich zu ölen. –

Ich erwache. Draußen der Himmel ist noch grau, ganz sachte erst fangen die Vögel an zu zwitschern. Ich sehe auf die Uhr: es ist noch nicht ganz halb vier. Wieso bin ich heute so früh aufgewacht? In der letzten Zeit schlief ich doch ganz befriedigend, selten wurde ich vor fünf Uhr wach!

Dann fällt mir ein: heute ist mein erster Arbeitstag! Mein Kopf ist klar, noch einmal wiederhole ich mir die ersten Sätze, denke den Stoff des ersten Kapitels durch. Alles ist parat, eine innerliche Freude erfüllt mich.

Einen Augenblick liege ich noch behaglich da. Dann fällt mir ein, daß es noch reichlich zwei Stunden Zeit ist, bis die Mädchen aufstehen, bis das Haus lebendig wird. Soll ich nun etwa hier liegen und mich langweilen? Es ist ein glücklicher Zufall, daß ich an diesem ersten Tage zeitig aufgewacht bin! Um sechs kann ich schon einen großen Teil meines Tagespensums hinter mir haben! Die werden heute gar nicht zu merken bekommen, daß ich arbeite! Die können singen und Türen schlagen, soviel sie wollen!

Eine Viertelstunde später sitze ich an meinem Schreibtisch. Auf das erste weiße Blatt Papier schreibe ich jene ersten Sätze, die meinem Kopf so lange zugesetzt haben. Ich schreibe sie langsam mit meiner allerschönsten Schulschrift, jedes Kind könnte sie lesen.

Aber schon beim Niederschreiben dieser ersten, so bekannten Sätze geschieht mir etwas Seltsames. Schon nach dem zweiten Satz merke ich, daß etwas fehlt, ein ganzes Bindeglied, mindestens einen ganzen Absatz muß ich dazwischenschieben, ehe der dritte Satz folgt, sonst versteht der Leser die ganze Situation nicht.

So geht es mir immer, und doch falle ich immer wieder darauf herein. Ich denke: diesmal habe ich bestimmt alles beisammen. Aber ich kann nur beim Niederschreiben denken. Erst bei der Niederschrift, beim langsamen Malen der schweren Hand, den Federhalter verquer durch die vom ständigen Schreibkrampf gehemmte Hand gesteckt, kommen mir jene plötzlichen Einfälle, die wie Eingebungen des Himmels sind, die beglücken, begeistern, die Mut machen. Dann denke ich: es steckt doch noch etwas in dir. Etwas Glut ist noch, nach so vielem Schreiben, unter der Asche von Handfertigkeit und Routine geblieben. Die Freude, die du eben fühltest, muß auch dein Leser spüren, den Schmerz, der dich eben ergriff, muß auch er empfinden!

Und doch, während ich diesen plötzlichen, überraschenden Einfall niederschreibe, kommt er mir bekannt vor. Nie habe ich bewußt daran gedacht, aber im Unterbewußtsein hatte mein Hirn den Faden weitergesponnen. Wie oft ist es mir so gegangen, daß ich mich abends völlig verzweifelt schlafen legte: ich wußte nicht, wie es morgen weitergehen sollte. Die Situation war so verfahren, mit allem Nachdenken fand ich nichts, was mein Held in dieser Lage anfangen sollte!

Ich wache trübe auf, zu einer grämlichen grauen Stunde. Noch immer weiß ich nicht weiter. Es ist ganz zwecklos, heute zu arbeiten, erst muß der erlösende Einfall kommen. Aber da ist dieses eiserne Muß, dieses Tagespensum, ich muß soundsoviel Druckseiten schreiben, und wenn es lauter Geschwafel ist! Da hilft mir kein Gott davon, die Zahl regiert! Also schreibe ich. Ich schreibe widerwillig einen Absatz und noch einen Absatz, und plötzlich fängt die Hand an, schneller zu schreiben, ein Blitz und noch ein Blitz: mein ganzer Weg liegt plötzlich klar vor mir. Du lieber Himmel, daran hätte ich nie gedacht, darauf wäre ich nie gekommen!

Aber ich bin ja darauf gekommen, ich, nur ich allein! Mit niemandem, habe ich ein Wort über meine Nöte gesprochen, auch mit Suse nicht. Mein gutes braves Hirn hat alles für mich fertig gemacht, während ich schlief. Ich mußte mir keine Sorgen machen, ganz unnötig war ich gestern abend so grätig zu meiner Familie. Es geht ja doch immer weiter, dafür sorgt mein Kopf schon. Natürlich schlafe ich ein wenig dünn in dieser Zeit dadurch, daß mein Hirn immer weiterarbeitet, daß es nie ausruht. Aber damit werden wir uns schon abfinden, es ist ja nur eine kurze Zeit, zwei Monate etwa. Hinterher werde ich gründlich ausruhen, tief schlafen, viele Wochen lang. Diesmal mache ich mindestens ein Vierteljahr Pause!

Ich nehme an, daß es diese plötzlichen Einfälle sind, diese Eingebungen von oben, die meine Leser dazu bringen, meine Bücher ›spannend‹ zu finden. Wenn nicht einmal der Autor es von heute auf morgen weiß, wie das Buch weitergehen wird – wie kann es da der Leser erraten? Gewiß, in großen Zügen weiß ich wohl, wohin die Straße geht. Ich kenne auch schon die Szenen, um derentwillen das Buch eigentlich geschrieben wird. Aber wie der Weg dahin geht, die Biegungen, die plötzlichen Ausblicke, Hindernisse, die ich nicht voraussah, die im Charakter des Helden liegen, die seine Mitspieler ihm bereiten – das alles weiß ich nicht, das alles überrascht mich genauso wie meine Leser!

Soviel von dem einen Gesetz meines Schaffens. Da ist aber noch ein anderes Gesetz, das ich erwähnen muß. Dieses andere Gesetz aber ist dem einen fast gleich. Der aufmerksame Leser hat es vielleicht ein paar Seiten zuvor nicht übersehen, daß ich meiner Frau nur die Eröffnung machte: »Von morgen an arbeite ich wieder!« Kein Wort darüber, was ich denn arbeiten werde. Vielleicht hat er gedacht, daß ich diesen Punkt nur ausgelassen habe, daß ich mit meiner Frau doch wenigstens von meinen Arbeitsplänen spreche, und seien es auch nur ein paar Worte, die ich ihr darüber sage, über das Thema wenigstens.

Nichts, mein lieber Leser, kein Wort davon. Zu niemandem. Sie weiß heute, daß ich an einem Band Erinnerungen arbeite, und sie wußte vor einem halben Jahr, daß mich ein Roman beschäftigte, mehr nicht. Was ich arbeite, womit ich umgehe, das weiß nur ich allein, bis die letzte Zeile des Buches geschrieben ist.

Dies ist ein heiliges, unantastbares Gesetz, auch im Glauben unseres Volkes tief verankert: du sollst über ein Ungeborenes nicht reden. Dies ist nichts, was ich mir etwa ausgedacht habe, ich kann einfach nicht darüber sprechen. Es ist mir verboten. Es ist ein Tabu. Allein muß ich sein, mit denen, die ich schaffe, allein will ich mit ihnen umgehen, die in mir entstehen, zum Leben erwachen.

Nur in sehr geringem Maße ist mir die Gabe verliehen, mich durch Sprechen mitzuteilen. Ich werde erst ich selbst, wenn ich die Feder in der Hand halte. Früher, zu Olims Zeiten, als mir dieses Gesetz noch nicht so klar war, konnte ich einmal beglückt sagen: »Du, Suse, mir ist da ein herrlicher Stoff eingefallen!« Dann erzählte ich ihn. So erfüllt ich von diesem Stoff auch war, ich wußte immer merkwürdig wenig davon zu erzählen. Gleich war ich wieder alle. Und Suse sagte ein wenig verlegen: »Entschuldige, Junge, so recht was kann ich mir darunter nicht vorstellen!«

Meist war der Stoff mir dann verdorben.

Heute weiß es Suse längst, daß ich über das, was ich schreibe, nicht reden kann. Sie fragt mich gar nichts mehr, sie scheint völlig interesselos. Im Anfang ging sie noch so weit, zu mir zu sagen, wenn ich zerrauften Haares von meinem Olymp hinabstieg: »Na, ging's gut heute?«

Sie fragt das längst nicht mehr. Vielleicht sieht sie mich schnell von der Seite an, um den Stimmungsstand zu erkunden, aber bestimmt so, daß ich nichts davon merke. Sie weiß, ich bin verletzlich wie ein rohes Ei. Ich gefriere innerlich, ich bin nur noch böseste Abwehr, werde ich etwas gefragt nach meiner Arbeit. Es ist ein heiliges, völlig unverbrüchliches Tabu, dieses Schweigen über das Werdende.

Habe ich je die Absicht gehabt, in diesem Abschnitt von so geheimen Dingen zu reden? Ich hatte die Absicht, ein wenig zu erzählen, wie ein Roman bei mir entsteht, von meinen pedantischen Vorbereitungen, von meiner umständlichen Arbeitsart, die am ehesten der eines gewissenhaften, ein wenig schrulligen Aktenschreiberleins zu vergleichen ist. Von der Tyrannis dieses Schreiberleins, der wegen eines Romans ein ganzes Hauswesen auf den Kopf stellt, wollte ich berichten, mich selbst persiflieren.

Nun habe ich von Dingen geschrieben, die mein innerstes Sein berühren, meine tiefsten Geheimnisse entblößen. Ich, der ich vor mir immer die These verfochten habe, der Autor dürfe in seinen Büchern nicht mit Lob, nicht mit Tadel, nicht mit Erklärungen zu spüren sein, jeder Leser müsse sich selbst sein Urteil bilden – ich rede nun nur von mir. Ich weiß nicht, ob diese ganz privaten Dinge irgendeinen Menschen interessieren können. Ich weiß auch nicht, ob ich nicht mein Tabu verletze dadurch, daß ich von diesen Dingen schreibe. Schließlich weiß ich nicht, ob ich je diese Seiten irgendeinem Menschen zu lesen gebe.

Aber ich weiß, daß ich dies jetzt, zu dieser Stunde, am 4. Mai 1942, an einem beliebigen Wochentag, niederschreiben mußte. Nichts, draußen wie drinnen, ließ mich diese Überraschung erwarten. Es ist, in diesem elenden, kalten Frühjahr, ein besonders elender und kalter Tag. Draußen legen die Leute bei mir Kartoffeln, ein paarmal versuchte es sogar zu schneien. Ich bin im Gleichgewicht mit mir, ich habe keine besonderen Sorgen. Die Arbeit freut mich. In ein oder zwei Wochen werde ich die letzte Zeile dieses Buches geschrieben haben, wieder einmal liegt dann ein Werk hinter mir. Ich kann, so sehr ich Umschau halte, nicht den geringsten Grund entdecken, warum ich grade heute alle meine geheiligten Bräuche breche und von diesen geheimen Dingen rede. Und doch tue ich es.

Immer habe ich einen Mann wie Knut Hamsun bewundert, der nie wollte, daß sein Privates die Öffentlichkeit beschäftigt. ›Ihr habt meine Bücher‹, dachte er. ›Laßt mich zufrieden! In meinen Büchern habt ihr mich viel deutlicher, als ihr mich je mit Augen sehen werdet!‹ Er mochte sich nie photographieren lassen, vor Besuchern floh er. Ich verstehe ihn so gut, er war mir immer ein Vorbild.

Und hier sitze ich nun und tue das grade Gegenteil dessen, was ich bewundere, was mir bis heute Richtschnur war. Ich weiß wahrhaftig nicht, warum ich es tue. Ich muß dies eben jetzt schreiben. Da ist das Papier, und hier bin ich. Soundsoviel Seiten Tagespensum habe ich heute erledigt, fleißig, wie ein Schüler seinen Aufsatz schreibt. In etwa fünf Minuten, wenn diese Seite heruntergeschrieben ist, habe ich mein Tagespensum fertig. Ich packe zusammen und gehe an meine anderen Beschäftigungen. Was morgen wird, nach diesem hier, das weiß ich nicht. Aber wiederum weiß ich, daß ich auch morgen mein Tagespensum schreiben werde, vielleicht das, was ich mir ausgedacht habe, vielleicht etwas ganz anderes, das erst unbewußt in mir lebt. So ist es und nicht anders. Ich kann nichts daran ändern. Niemandem zur Lust, keinem zu Leide, wie es eben die Stunde bringt ...

Ich bin weit vom Wege abgeschweift, weit bin ich meiner Arbeit vorausgeeilt. Erinnert man sich noch? Ich schrieb den zweiten ausgedachten, geplanten Satz nieder, als ich entdeckte, vor dem dritten Satz sei zur Klärung der Situation ein langes Einschiebsel nötig. An dieser Stelle wich ich vom Wege ab. Nun kehre ich wieder dorthin zurück.

Ich schreibe also dieses Einschiebsel, es ist am Morgen meines ersten Arbeitstages, kurz nach vier Uhr. Ich bin frisch und gut aufgelegt. Dann erwische ich meinen dritten Satz, und nun schreibe ich fort, langsam eine Seite um die andere füllend. Als um sechs die Mädchen zur Arbeit hinuntergehen, als das Haus lebendig wird, habe ich schon reichlich vier Seiten fertig, und sechs sind mein vorgesetztes Arbeitspensum!

Pünktlich um sieben Uhr fünfzehn wird in diesem Hause der Kaffee getrunken. Trotzdem ich heute Freiherr und Baron bin, mit zwei Dritteln meiner Tagesarbeit hinter mir, werfe ich mehr als einen unruhigen Blick auf die Uhr: wenn Suse bloß nicht zu spät kommt! Pünktlich um sieben Uhr fünfundvierzig muß ich wieder an meiner Arbeit sitzen!

Im Gegensatz zu mir bleibt Suse abends gerne länger auf, findet dafür aber morgens nicht leicht aus dem Bett. Und da schon eine Überschreitung von zwei Minuten der gewohnten Tischzeit meine beste Laune in eine sehr üble verwandeln kann, so entsteht hieraus mancher Ärger. Zwar behauptet Suse, es sei manchmal einfach nicht möglich, die Zeiten auf die Minute innezuhalten. Plötzlich hat sich ein schon fertig angezogenes Kind wieder eingedreckt, oder Achim hat den so notwendigen Kamm unauffindbar versteckt.

So was sind natürlich ganz lahme Entschuldigungen, die vor mir nicht bestehen können. Entweder ist man pünktlich, oder man ist es nicht. Sieben Uhr fünfzehn ist pünktlich, sieben Uhr sechzehn die Hölle! Sind Zwischenfälle zu erwarten, so steht man eben eine halbe Stunde früher auf. Aber da liegt es eben, meine Liebe, du findest morgens nicht aus dem Bett! Ich wecke dich um sechs Uhr fünfzehn, und der Sicherheit halber wecke ich dich noch einmal um sechs Uhr dreißig, aber wenn ich dann der äußersten Sicherheit halber noch einmal um sechs Uhr fünfundvierzig ins Schlafzimmer schaue, so liegst du womöglich noch in den Posen! Dann kann natürlich ein versteckter Kamm das Gefüge der Welt zerbrechen und mir meinen ganzen Arbeitstag verderben! Mir kann man nichts vormachen mit Zwischenfällen! Pünktlich ist unter allen Umständen sieben Uhr fünfzehn!

Aber an diesem Morgen meines ersten Arbeitstages habe ich Glück. Schon um sieben Uhr vier erscheint Achim in der Küche, fertig gewaschen und bekleidet, klappert gewaltig mit dem Deckel des Mülleimers und erscheint von Zeit zu Zeit bei mir, in der Absicht, mich zu einem Stallbesuch zu verführen. Diese Stippvisiten benutzt er dazu, angebissene Äpfel unter den Radioapparat zu schieben oder Mohrrüben hinter meinen Bücherreihen zu verstecken. Ich habe wenig Zeit für ihn, ich kann nicht mit in den Stall: ich muß die Uhr im Auge behalten, ob wir auch sieben Uhr fünfzehn ...

Um sieben Uhr neun erscheint die Mücke, in Filzlatschen, eine Haarschleife in der Hand. Sie wird angedonnert ob solchen liederlichen Auftretens und zu dem Mädchen geschickt, um sich frühstücksfertig machen zu lassen. Um sieben Uhr dreizehn tritt sie zum zweitenmal bei mir an, befriedigend anzuschauen.

Um sieben Uhr vierzehn erscheint Suse, und meine schon recht gereizte Stimmung verklärt sich rapide. Wir werden pünktlich frühstücken, pünktlich werde ich an meiner Arbeit sitzen – welch glückverheißender Tagesanfang!

»Also heute fängst du mit deiner Arbeit an!« sagt Suse und macht dabei Achim ein Honigbrot fertig.

»Natürlich!« antworte ich möglichst kurz, um weiteren Fragen nach meiner Arbeit vorzubeugen. Mit keinem Wort verrate ich, daß schon zwei Drittel meines Tagespensums hinter mir liegen.

»Mücke hat heute Schule, und Achim wird von Frau Vogler ins Dorf geholt«, sagt Suse. »Die Kinder stören dich also nicht. Und wir andern werden uns die größte Mühe geben, leise zu sein, nicht wahr?«

Alle nicken.

»Na ja«, antworte ich unerhört großmütig. »Ich glaube, heute wird alles gut gehen, ich bin ziemlich in Form.«

Dann sitze ich an meiner Arbeit und fange wieder an zu schreiben. Es kann natürlich nicht die Rede davon sein, daß ich nur noch zwei Seiten schreibe. Dann wäre ich ja schon um halb zehn fertig und hätte mich schön lächerlich gemacht. All solch Aufwand wegen einer guten Stunde Arbeit! Nein, den heutigen glücklichen Tag muß ich dazu ausnützen, um eine kleine Arbeitsreserve zu schaffen. Es kann im Lauf der Woche immer irgend etwas dazwischenkommen, Besuch oder was im Stall, oder ich muß nach Bergfeld; nachholen ist schwer, vorausarbeiten leicht.

Überhaupt sind natürlich die sechs Seiten Tagespensum nicht so wörtlich zu nehmen. Das gäbe bei sechs Arbeitstagen in der Woche ein Quantum von sechsunddreißig Seiten. Denn der Sonntag bleibt stets frei zum Kopfausruhen, zum Posterledigen, für die Familie, bleibt frei bis auf die Fälle, wo er aus irgendwelchen Gründen doch nicht frei bleibt. Sechsunddreißig ist eine verdammt krumme Zahl, vierzig klingt viel besser, trotzdem auch das noch eine jämmerliche Wochenleistung ist. Ich weiß von Zeiten, wo ich vierzig Seiten in knapp zwei Tagen schrieb. Also vierzig Seiten in der Woche, das bedeutet, daß ich an vier Wochentagen je sieben, an zweien je sechs Seiten schreiben muß. Na also! Fünfzig ist natürlich eine viel hübschere, rundere Zahl, aber ich habe mir nun einmal fest vorgenommen, mich bei dieser Arbeit nicht zu hetzen. Suse habe ich auch so was versprochen, wenn ich mich recht erinnere ...

Aber lassen wir vorläufig diese ganze alberne Rechnerei! Wir werden schon sehen, wieviel ich heute fertigbringe. Es ist immer gefährlich – aber das versteht Suse nicht –, das Tagespensum gar zu gering anzusetzen. Man muß sich alle Tage wieder warm schreiben, erst auf der dritten, vierten Seite kommt man richtig in Gang! Und dann kann man nicht plötzlich aufhören, das Feuer ausgehen lassen. Ein bißchen muß man da schon weiterschreiben dürfen! Und dann kann man auch nicht mitten in einer Schilderung aufhören, einen Dialog unterbrechen, es muß da ein Einschnitt sein –! Aber über all so was kann man mit Suse nicht reden, sie hat immer Angst, ich überarbeite mich! Ich mich überarbeiten, wo ich so in Form bin!

Gegen halb elf Uhr mache ich Schluß, eigentlich nur darum, weil ich mit dem Hund spazieren gehen muß. Auch der Hund muß sein Recht haben, so ein großes Tier kann nicht immer nur auf dem Hof gehalten werden, auch das ist ein ›Muß‹, das mich verpflichtet. Um diese Zeit habe ich neun Seiten hinter mir, ein ganz befriedigender Start.

Ich gehe spazieren, ich esse zu Mittag, ich lege mich schlafen – für diesen geheiligten Nachmittagsschlaf, der Ausgleich für den kurzen und dünnen Nachtschlaf ist, krieche ich noch einmal richtig ins Bett. Als ich dann um vier Uhr wieder herunterkomme, glotzt mich die Welt blöde und langweilig an. Was soll ich nun eigentlich anfangen? Schon wieder spazieren gehen? Ausgeschlossen! Lesen? Am Tage liest man nicht, man liest abends im Bett, um die Gedanken abzustellen! Arbeiten? Aber ich habe nichts zu arbeiten, ich habe alles aufgearbeitet!

Und gleichgültig sage ich zu Suse: »Ich habe heute früh noch nicht alles geschafft. Ich gehe einen Augenblick hinauf, vielleicht für eine halbe Stunde. Sorge ein bißchen für Ruhe, nicht wahr?«

Als ich nach zwei Stunden wieder herunterkomme, habe ich zwölf Druckseiten fertig, zwei Tagespensen! Und was sehr wichtig ist, ich habe einen schönen ›Überhang‹ für morgen, morgen werde ich viel besser starten als heute!

Der ›Überhang‹ ist noch eine Extrakinderei von mir, die ich mir alle Tage spendiere. Trage ich die Tagesleistung in den Arbeitskalender ein, so werden nur die vollen Seiten gezählt, angebrochene Seiten gelten nicht, sie kommen dem nächsten Tage zugute. Breche ich diese Seite nun sehr an, schreibe ich sie so voll, daß nur noch zwei oder drei Zeilen an ihr fehlen, so habe ich einen prachtvollen Überhang für den nächsten Tag. Ich brauche nur drei Minuten zu schreiben, und schon liegt eine Druckseite erledigt hinter mir! Welch göttliche Idee, namentlich wenn man alle Tage das gleiche macht, in Wirklichkeit also immer eine Neun-Zehntel-Seite mehr schreibt, als man sich anrechnet! Welch pedantischer Kindskopf!

Dann wache ich am nächsten Tage auf, und meine Uhr ist dreiviertel sechs! Um diese Zeit hatte ich gestern schon vier Seiten fertig – was nützt mir da das bißchen Überhang? Heute werde ich mich wahnsinnig hetzen müssen, um noch etwas Vernünftiges fertigzubringen! Es kann nämlich nicht die Rede davon sein, daß ich heute nur sechs oder acht Seiten schreibe! Wie sieht denn das aus im Arbeitskalender, gleich am zweiten Tag so nachzulassen?! Aus solchem Roman kann nie etwas Vernünftiges werden, der den Autor selbst so wenig fesselt! Also los, mein Lieber! Und von morgen an wird der Wecker auf vier Uhr gestellt!

Schon bin ich verloren, schon weiß ich, jetzt geht die Hetzerei los, wie noch bei jedem Buch. Ich halte das Tagespensum auf zwölf, und dann steigere ich es, denn zweiundsiebzig als Wochenleistung ist wieder eine krumme Zahl. Fünfundsiebzig ist viel besser, achtzig aber wäre wünschenswert.

Schon nach einer Woche fühle ich in der rechten Schläfe ständig, erst nur leicht, bald schwerer, den Kopfschmerz, den ich immer von zu vieler Arbeit bekomme. Mein Schlaf wird ganz dünn und kurz, ununterbrochen mahlt das Gehirn, um Stoff für vierzehn Druckseiten zu schaffen! Auf vierzehn Druckseiten passiert schon eine ganze Menge.

Dann versuche ich, mich zu bremsen. Ich will nicht wieder hinterher daliegen, mit aller Welt zerfallen, ich will nicht wieder in ein Sanatorium müssen, weil ich völlig überreizt bin, weil ich fast gar nicht mehr schlafen kann. Ein paar Tage gelingt es mir, ich arbeite wirklich weniger.

Aber dann packt mich der Zahlenwahn von neuem! Du lieber Gott, in der vorigen Woche hatte ich achtzig Druckseiten geschrieben, und in dieser sind es nur fünfzig! Ich werde ja nie fertig werden, wenn ich weiter so bummele! Längst hat sich ja herausgestellt, daß auch dies kein Romänchen, sondern ein voll ausgewachsener Roman ist. Nun muß ich schon die paar Wochen durchhalten, bis ich fertig bin. Je langsamer ich arbeite, um so mehr verlängere ich diese Qual! Jetzt nur fertig werden, so schnell wie möglich! Dann werde ich mich erholen, meinethalben ein ganzes Jahr lang, es kommt gar nicht darauf an.

Und ich rase weiter, von Seite zu Seite, von Kopfschmerzen geplagt, fast ohne Schlaf, von plötzlichen schrecklichen Wutausbrüchen überrascht, Wutausbrüchen wegen einer knarrenden Tür, wegen eines Hundegebells, wegen eines Garnichts! Bis ich fertig bin!

Ich müßte ein sehr schlechter Erzähler sein, wenn der Leser noch nicht verstanden hätte, daß ich bei all dem unter einem Zwang handele. Von dem Augenblick an, da ich mich hinsetze und die erste Seite niederschreibe, bin ich verloren, nur der Zwang regiert! Ich habe zu schreiben, so viel und wie der Zwang es will, ob ich mag oder nicht, ob ich mich krank mache oder nicht. Gute Vorsätze, die aufrichtigsten Versprechungen gelten nichts – ich muß schreiben! Dies ist es, dafür bin ich auf der Welt, so muß ich arbeiten, schreiben, anders ist es mir nicht gegeben, dazu bin ich verurteilt, so bin ich begnadet.

Lange Jahre habe ich sehr unter diesem Zwang gelitten, ich verstand das alles nicht. Da ich ein ziemlich menschenscheuer Mann bin und einsam auf dem Lande lebe, habe ich keinen Umgang mit anderen Schriftstellern. Ich weiß nicht, ob einer von ihnen ähnlich arbeitet. Nach allem, was ich gehört und gelesen habe, tun sie es nicht.

Ich habe mir hundertmal überlegt, was mich denn eigentlich so hetzt? Ist es die Sorge um Geld? Wenn es die je einmal war, wenn ich je möglichst rasch schrieb, um Geld zu schaffen, so ist die Sorge vorbei. Mein Verleger hat immer ein oder zwei Manuskripte von mir liegen, die auf die Veröffentlichung warten. Er kann ja nicht gut im Jahre drei ›Falladas‹ herausbringen; ich gelte schon ohnedies als Vielschreiber. Also die Sorge um Geld ist es nicht.

Oder habe ich Angst, daß die Eingebung, die ›Inspiration‹ abreißen könnte, daß ich, solange die glückliche Stunde noch dauert, das Werk zu Ende führen will, das sonst ein Torso bleibt? Es gab eine Zeit, da ich an diesen Grund glaubte. Aber jetzt weiß ich seit Jahren aus Erfahrung, daß der Faden, solange ich arbeite, nicht abreißt. Noch nie habe ich ein Buch liegengelassen, unvollendet, weil der Strom aussetzte. Nein, deswegen könnte ich ruhig langsamer schreiben.

Oder fürchte ich, krank zu werden, ehe die letzte Seite geschrieben ist? Es ist eine solche Qual, ein Buch auch nur nach einer kurzen Pause wieder in Gang, die Feuer wieder ins Glühen zu bringen! Ob mir das nach einer längeren Pause glücken würde – ich weiß es nicht! Aber das weiß ich, daß ich noch nie schlapp gemacht habe, solange ich schrieb, vor der letzten Seite. Ich habe mit Grippe geschrieben, und mit einer schrecklichen Kiefervereiterung, aber mein Tagespensum habe ich geschrieben. Im Auto bin ich nach Berlin gefahren, habe mir eine Kieferresektion machen lassen, bin sofort zurückgefahren und habe mein Pensum geschrieben, der Zwang war über mir!

Es ist doch ein wundervolles Abenteuer, dieses Leben! Es ist – trotz allem, wegen allem – herrlich, über Papier gebeugt zu sitzen und von dem größten aller Wunder, dem Menschen, zu schreiben, meinethalben auch einmal von sich. Wenn die dunklen Mächte sich regen in Hirn und Herz, wenn sie Gestalt annehmen, wenn sie zu wandeln anfangen, zu sprechen, Menschen wie du und ich, die doch nie gelebt haben – herrlich!

Es ist eine Gnade, ein Geschenk der Götter – und nichts ist wahrer, als daß die Götter nichts umsonst geben. Man zahlt für alles Glück seinen Preis – warum für dieses nicht? Ich möchte kein anderes Glück, ich möchte mit keinem Menschen tauschen. Ich möchte auch nicht anders arbeiten, als ich arbeite ...

Und dann: ich bin fünfzig, und alles mildert sich. Ich schreibe nicht mehr fünfundzwanzig Seiten täglich, wie noch vor fünf Jahren. Ich brülle nicht mehr plötzlich los. Mein Schlaf ist nicht üppig, aber ganz erträglich. Der Zwang ist noch da, aber er ist ein milder Zwang geworden. Ich habe es mir für heute vormittag vorgesetzt, noch mit dem Hund in den Wald zu gehen und nachzusehen, ob in diesem kalten Frühling nicht endlich die ersten Morcheln kommen. Aber ich habe gestern acht Seiten am Vormittag geschrieben, und so werde ich auch heute acht schreiben. Wenn ich darum nicht in den Wald komme, weil die Zeit zu knapp ist, um so schlimmer für mich! Der Zwang ist da, nicht so hoch wie früher in seinen Anforderungen, aber nicht weniger unerbittlich!

Die achte Seite ist geschrieben, es ist fünf Minuten vor zehn Uhr morgens: ich kann noch in den Wald. Ich lege die Feder hin ...

Wieder zurück. Es gibt noch keine Morcheln, am 5. Mai noch keine einzige! Nichts war schon grün im Walde, noch nicht einmal das Gras auf den großen Kahlschlägen. Aber es war schön, wieder einmal dort zu sein, auch ohne Morcheln. Ganz oben und fern ging der kalte Wind in den Wipfeln der Fichten, unten, wo ich suchte, war es still und fast warm.

Brumbusch, der zum erstenmal in seinem Leben in einem Wald war, zerrte an seiner Leine. Sein großer Kopf fuhr hierhin und dorthin, überall roch es so neu und erregend! Er ging ungern mit mir wieder nach Hause, ich ging ungern mit ihm wieder nach Hause, wo das Papier auf mich wartete. Es war so schön im Walde, ich sah nicht einen Menschen auf dem ganzen Wege. – Noch vor drei, vier Tagen habe ich zu Suse geseufzt: »Es ist nicht mehr zu machen! Ich habe gedacht, dies wird ein Büchlein, und nun wird es doch wieder ein Wälzer! Endlos habe ich noch zu schuften!«

Suse hat sich das mit höflicher Anteilnahme, aber stumm angehört. Sie weiß ja, sie darf wohl gelegentlich Mitteilungen empfangen, aber beileibe kein Wort dazu äußern!

Aber nun, plötzlich, mitten im Schreiben, dämmert es mir, daß das Ende ganze nahe ist. Plötzlich ist der Stoff verbraucht. Alles, was ich noch plante, Szenen, die ich mir ausdachte, sind nicht mehr nötig, der Roman hat sich gerundet. Er ist zu Ende.

Ich lege die Feder hin, nachdem ich das Wort ›Ende‹ unter den Text geschrieben habe. Ein kleines Bedauern überfällt mich, als ich sehe, es sind ›nur‹ sechshundertsiebenundachtzig Manuskriptseiten geworden. Siebenhundert sähe doch viel besser aus! Aber da ist nichts zu machen, es ist wirklich vorbei.

Die letzten Seiten werden eingeheftet, ich wiege das stattliche Manuskript in der Hand. ›Ganz hübsch‹, denke ich befriedigt und müde. ›Das soll mir erst einmal einer nachmachen – in der Zeit!‹ Ich setze auf das Titelblatt hinter das Wort ›Beendet‹ das Datum dieses Tages. Dann räume ich auf und gehe hinunter.

»Wo ist meine Frau?« frage ich die jungen Mädchen.

»Im Kinderzimmer«, sagen sie. »Macht grade den Achim fertig.«

Ich gehe ins Kinderzimmer. Suse blickt halb erschrocken auf zu mir. Achim turnt auf seinem Wickeltisch, vor Vergnügen schreiend. »Was ist, Junge?« fragt Suse. »Hat dich jemand gestört?«

»Nein, nein«, sage ich beruhigend. »Ich bin – bloß – fertig ...«

Sie sieht mich an. In ihre Augen kommt Licht. Sie drückt mir schnell und fest die Hand. »Ich gratuliere!« lächelt sie. »Das ist ja mächtig schnell gegangen! Vor ein paar Tagen sagtest du doch noch ...«

»Ja, mächtig schnell ...« antworte ich und denke einen Augenblick an die Länge des Weges, an all die Anstrengungen, an den aufreibenden Kampf um eine einzige Seite pro Tag mehr. Aber auf Unterhaltungen über dies Thema lasse ich mich nicht ein.

Eine Weile sehe ich stumm zu, wie Suse mit dem Achim Gymnastikübungen macht. Sie hält ihn bei den Beinen und schwingt ihn kopfabwärts wie einen großen Uhrenpendel hin und her. Dann mache ich, gnädig wie ich heute gestimmt bin, noch eine kleine, hübsche, ermunternde Anmerkung: »Ja, Suse, nun bin ich also mal wieder fertig. Wenn ich jetzt tot umfalle, habt ihr doch noch eine Weile zu leben. Zur Not kannst du mein Manuskript ja entziffern.«

»Rede bloß keinen Unsinn!« lacht Suse, die ihren Mann kennt. »Ich denke, du willst auf meinem Grabe noch einen Krakowiak tanzen und eine ganz Junge heiraten?!«

»Ja«, antworte ich. »Und du sagst immer: wenn einer von uns zuerst stirbt, willst du die Bibliothek verkaufen!«

Wir lachen beide, dann sage ich ernster: »Aber, Suse, sag's auch den Mädchen: wenn irgend etwas passiert, Feuer oder so, das Manuskript liegt in der obersten Schieblade der gelben Kommode in meinem Zimmer. Meinethalben soll das ganze Haus niederbrennen, aber das Manuskript muß gerettet werden.«

»Plage dich doch nicht schon wieder mit solchen Sorgen!« bittet sie.

»Nein, natürlich nicht. Ich meine es auch nicht im Ernst. Aber sage es den jungen Mädchen.«

»Ich werde es ihnen schon sagen, habe bloß keine Angst.«

»Und im gegebenen Augenblick denkt natürlich doch kein Mensch daran!« sage ich bitter, als sei ich schon zehnmal abgebrannt. »Ich kann es so, wie es da oben liegt, nie in meinem Leben wieder schreiben, nicht für alles Geld der Welt. Es wäre für immer futsch, Suse!«

Suse zieht es vor, zu schweigen, sonst schwelge ich noch eine halbe Stunde lang in Katastrophen. Und doch verläßt mich diese Sorge um das unersetzliche Manuskript erst wieder, wenn es mit soundso vielen Durchschlägen abgetippt ist, wenn diese verschiedenen Exemplare, an verschiedene Adressen gehend, das Haus verlassen haben – erst dann atme ich auf. Aber bis dahin ist noch ein weiter Weg!

»Willst du gleich mit dem Tippen anfangen?« fragt Suse.

Aber dies geht nun doch zu weit. Dies ist ein Eingriff in meine geheiligten Reservate. Das grenzt ja an eine Vernehmung durch den Untersuchungsrichter! »Weiß ich nicht!« sage ich kurz. »Keine Ahnung!« Und ich verlasse grabesfinster das Kinderzimmer.

Ich schlendere ziellos durch Haus, Hof und Garten. Ich stehe eine Weile bei den Leuten, ich rede auch ein paar Worte mit ihnen. Dann gehe ich weiter und komme zum Bienenhaus. Die Bienen fliegen höchst erfreulich, alle meine zwölf Völker sind lebhaft im Gang. Es ist nichts bei ihnen zu tun. Im Augenblick weiß ich überhaupt nichts, was ich zu tun hätte! Ein höchst komisches Gefühl, hier mitten am hellerlichten Tag zu stehen und einfach nichts zu tun zu haben! Ich, der ich mich durch Wochen und Monate hetzte, der von einer Arbeit zur anderen lief, mit jeder Minute geizte, stehe hier und habe gar nichts zu tun! Und dieser tatenlose Tag ist noch verdammt lang! Vielleicht lege ich heute nachmittag schon Kohlebogen zwischen Papier, putze meine Schreibmaschine und fange morgen mit Tippen an?

Aber nein, nein, das darf ich nicht! Das geht bestimmt schief! Ich muß eine kleine Pause einlegen, vor allem muß ich erst richtig wieder schlafen lernen. In der letzten Zeit war mein Schlaf mehr als mäßig, zwei bis drei Stunden, das ist nicht genug. Heute abend werde ich mich ein paar Stunden lang schön in die Badewanne packen, ganz still im heißen Wasser liegen, mich ausruhen in dem Gefühl: ich bin wieder fertig! Wieder einmal habe ich es geschafft!

Das wird mir schon helfen, es hat doch schon öfter geholfen. (Manchmal freilich auch nicht.) Und ich bummle den Tag so herum, innerlich schon ganz kribbelig über meine Untätigkeit, aber äußerlich von heitrer Güte und Leutseligkeit ob des beendeten Werkes. Am Abend lege ich mich dann in die Wanne; es wird mir sehr schwer, nur zwei Stunden darin liegenzubleiben, die Zeit, die sonst raste, will nicht vergehen! Dann sage ich Suse gute Nacht. »Du bleibst noch länger auf? Schön, geh doch auch einmal früh ins Bett, es würde dir nur guttun. Ich glaube, ich werde herrlich schlafen. Ich bin todmüde.«

Ich lege mich hin, ich lese noch ein Stündchen. An so etwas wie meinen Roman denke ich überhaupt nicht mehr, ich bin völlig abgelenkt, darüber hin. Ich lösche das Licht, und kaum ist es dunkel, bin ich schon weg.

Dann wache ich plötzlich mit einem Ruck auf, als hätte eine Hand mich gestoßen. Ich tauche aus völliger Schwärze auf, als sei ich bewußtlos gewesen. Jetzt bin ich hell wach, kein Gedanke mehr an Schlaf. Ich mache Licht, und die Uhr zeigt auf halb zwei Uhr morgens! Zwei und eine halbe Stunde habe ich geschlafen –!

Ich bin völlig verzweifelt. Du lieber Gott, was soll ich nur tun? Ich habe doch nicht das geringste mehr zu arbeiten! Es sind noch fast zwölf Stunden, bis ich mich zu meinem Nachmittagsschlaf hinlegen kann! Ich kann doch nicht tatenlos zwölf Stunden herumlaufen! Und arbeiten darf ich auch nicht. Arbeiten halte ich jetzt nicht aus, ich muß mich erholen, schlafen, tief schlafen ... Aber ich bin hell wach!

Es ist schon richtig, in der letzten Zeit bin ich immer um diese Stunde wach geworden, aber da war mir das nur recht. Um so eher konnte ich an meine Arbeit gehen! Aber jetzt – wozu jetzt früh aufwachen? Und plötzlich fällt mir ein, daß diese Stunde um zwei, drei Uhr morgens die Stunde der Verzweiflung, die Stunde der Selbstmörder ist. Bisher habe ich nie daran gedacht, aber nun fällt es mir ein. Um diese Stunde kann man keine fröhlichen Gedanken haben, aller Mut hat mich verlassen, Selbstvorwürfe und Reue peinigen mich! Daß ich dies getan, daß ich jenes unterlassen habe! Wie anders könnte mein Leben sein, wenn ich –!

Nein, ich halte es nicht mehr im Bett aus. Ich werde hinuntergehen, mir einen Kaffee kochen, ganz leise das Radio anstellen und zu lesen versuchen! Vielleicht brenne ich auch ein Feuer unter dem Badeofen an und gehe noch einmal lange in die Wanne, endlich muß dieser alte Kopf doch müde werden!

Also gehe ich leise im Bademantel nach unten, um mir einen Kaffee zu kochen. Das erste, was ich feststelle, ist, daß die Schraube an der Kaffeemühle, die den Mahlgrad regelt, ganz lose gedreht ist. Natürlich, so dreht sich die Mühle am leichtesten, aber grober Kaffee wird schlecht ausgenutzt! Es kommt eben gar nicht darauf an, ich verdiene ja mit Leichtigkeit Geld wie Heu, wir können mit Kaffee schmeißen!

Erbitterung erfüllt mein Herz. Natürlich sind die jungen Mädchen während meiner Arbeit völlig verbummelt! Suse ist viel zu gutmütig, sie sagt nur im höchsten Notfall etwas. Ich werde diese Morgenstunde benutzen und das Haus mal gründlich revidieren. Beim Frühstück werde ich sie dann alle auf den Trab bringen!

›Sachte!‹ sagt es warnend in mir. ›Sachte! Du bist völlig überreizt. Laß das lieber jetzt. Du wolltest Kaffee kochen und lesen. Fang heute lieber keinen Krach an, du tust Suse damit bloß weh.‹

Aber hartnäckig bestehe ich auf meinem ›Recht‹! So kann es doch unmöglich weitergehen, das muß doch auch Suse einsehen! Da liegt ein angebissener Apfel – was soll das nun? Ein Apfel wird entweder gegessen oder nicht gegessen, ein Drittes gibt es nicht! Am Kühlschrank sind Fingerspuren zu sehen. Hinter dem Badeofen entdecke ich ein Spinngewebe! Nichts in Ordnung, das ganze Haus verlumpt und verlottert, wenn ich nicht aufpasse, nichts wie Verschwendung und Liederlichkeit!

Nachdem ich so noch eine halbe Stunde gewütet und zähneknirschend überall die Spuren des Verfalles entdeckt habe, stelle ich fest, daß es noch immer nicht einmal halb drei ist – eine schlechte Stunde, seine Wut an andern auszulassen! Selbst ich in meinem Wahn sehe ein, daß ich die jungen Mädchen jetzt nicht aus ihren Betten holen und wegen eines angebissenen Apfels zusammenbrüllen kann!

Ich erfülle also mein ursprüngliches Programm und koche mir einen Kaffee, einen Mokka so steif, daß der Löffel darin steht. (Wir befinden uns in Friedenszeiten!) Während ich bei dieser Kocherei und Filterei bin, kommt mir der erlösende Gedanke: Schlafmittel! Ich muß ein Schlafmittel nehmen! Zwar weiß ich aus langjähriger Erfahrung, daß auch die schwersten Schlafmittel in diesem Zustand bei mir versagen, sie machen mich nur trüber und gereizter. Weiter ist mir ziemlich klar, daß halb drei Uhr morgens kaum die richtige Zeit zum Einnehmen von Schlafmitteln ist. Und schließlich scheint sogar mir die Kombination Mokka–Schlafmittel nicht ganz glücklich.

Aber stur wie ein Hornochse trinke ich die erste Tasse Mokka und schleiche mich auf Zehenspitzen in Suses Schlafgemach. Warum ich so schleiche, wüßte ich nicht zu sagen, denn ich muß doch Licht machen und Suse wecken, sie hat den Schlüssel zum Apothekerschränkchen. Das ist alles schon vorsorglich so eingerichtet, denn Suses Gatte benimmt sich zu Zeiten wie ein Idiot und ist imstande, zehn Tabletten auf einmal zu fressen nach dem Satz: viel hilft viel.

Suse schlummert selig, es ist eine Gemeinheit, solchen Schlummer zu stören! Platzen könnte man vor Neid, wenn man solchen dicken, runden, festen Schlaf sieht! Wie man nur so schlafen kann – unverständlich!

»Du, Suse –!« Pause. Schlafen. »Du, hör mal, Suse ...« Nichts. Kräftiges Räuspern. »Suse, bitte –!« Keine Ahnung! Kräftiges Rütteln an der Schulter. »Suse, wach doch endlich mal auf –! Ich stehe hier schon eine halbe Stunde –!«

Sehr verschlafen: »Ja –? Was ist denn los –?«

»Ich kann nämlich nicht schlafen, Suse. Würdest du mir wohl ein Schlafmittel geben?«

»Was ist los–? Hat Achim gerufen?«

Mit starker Stimme: »Nein! Wach doch endlich mal auf! Wie kann man nur so verschlafen sein? Ich möchte ein Schlafmittel haben!«

Suse sieht auf die Uhr. »Nach halb drei! Jetzt willst du Schlafmittel nehmen? So spät? Geh lieber ins Bad, warte, ich mache dir gleich Feuer an. In einer Viertelstunde ist der Ofen heiß!«

Endlose Verhandlung zwischen mir und Suse. Von meiner Seite immer gereizter, von ihrer mit unermüdlicher Geduld geführt. Sie versucht, mich davon zu überzeugen, daß ein Schlafmittel mir jetzt nichts nützen, sondern nur schaden würde. Ich weiß das auch sehr gut, aber ich will durchaus mein Schlafmittel haben. Vielleicht hilft's doch. Wenn Gott will, schießt ein Besen, sagen die Russen.

Natürlich siege ich über meine sanfte Frau und ziehe ab in mein Bett, ein Schlafmittel im Bauch, die Mokkakanne mit mir tragend. Die nächsten anderthalb Stunden verbringe ich ganz erträglich, irgendein Buch lesend. So gegen halb fünf entschließe ich mich, das Licht auszumachen und es ernstlich mit dem Schlafen zu versuchen.

Natürlich wird nichts daraus. Immer zorniger wälze ich mich hin und her. Das ist nun also die Belohnung für Fleiß! Artig wie ein Musterknabe habe ich Monate hindurch geschuftet, Tag für Tag meine Schularbeiten machend – und dies ist nun der Lohn dafür! Eine reizende Welt, phantastisch gerecht eingerichtet! Ich habe Kollegen, die setzen sich an die Schreibmaschine und klimpern einen Roman herunter wie eine Klavier-Etüde! Ich aber, an dem ein unversorgtes Weib und drei Kinder hängen ...

Ich versinke in tiefe kummervolle Betrachtungen über mein unseliges, ungerechtes Schicksal. Diese Betrachtungen tun mir so wohl, daß ich wirklich ein bißchen eindrussele. Rums! Da poltert die Scheuergarde die Treppe hinunter! (Sie gehen zwar auf Strümpfen, aber wenn ich sie wäre und hätte einen schlaflosen Chef, ich ginge noch viel leiser!) Warte, jetzt werde ich euch das besorgen! Angebissener Apfel, Fingerabdrücke und Spinnweb hinter dem Badeofen machen mich hellwach. Mit Schwung fahre ich in meine Kleider. Jetzt sollt ihr was erleben –!

Genug und übergenug. Schon viel zu lange habe ich die Geduld meines Lesers mit diesem trübseligen Bericht auf die Probe gestellt. Das Ende vom Liede ist doch, daß Suse mich entweder mit unendlicher Geduld zurechtkriegt, oder daß sie mich entschlossen einpackt und in ein Sanatorium steckt, weil ich für meine sämtlichen Hausgenossen (und für mich selbst) völlig unerträglich geworden bin.

Eines Tages bin ich dann wieder ziemlich in Ordnung. Den Vorsprung zwar, den ich durch mein gehetztes Arbeiten gewonnen, habe ich unterdes dreimal wieder eingebüßt. Aber das stört mich nun, da die Niederschrift beendet ist, gar nicht mehr so sehr. Auch beim Tippen, an das ich nun gehe, habe ich es nicht übermäßig eilig. Natürlich habe ich als Pedant auch dabei ein Tagespensum, es läßt sich aber darüber reden, es kann auch einmal ganz ausfallen ... Du lieber Gott, die auf dem Verlag halten es gut noch ein paar Wochen aus, ehe sie den neuen Fallada zu lesen kriegen! Und das deutsche Lesepublikum erst recht.

Morgens in der Frühe sehe ich das Manuskript durch, schreibe um, verbessere, feile stilistisch. Am Tage tippe ich, und abends sehe ich das täglich Getippte auf Tippfehler durch und verbessere die, in vier, fünf Exemplaren.

Dann bekommt Suse regelmäßig als erste täglich ihre zwanzig, dreißig Seiten zu lesen. Endlich macht sie Bekanntschaft mit dem, was mich durch Monate beschäftigt, was ihr so viel zu schaffen gemacht hat. Sie liest das neue Buch mit Notizblock und Bleifeder in der Hand, sie jagt nach übersehenen Tippfehlern. Sie notiert: ›Seite 67, Zeile 5 von oben: nicht wahrschienlich, sondern wahrscheinlich‹. Sie könnte ja den Fehler alleine verbessern, aber da es vier, fünf Exemplare sind, die verbessert werden müssen, ist dieser umständliche Weg notwendig.

Suse ist aber auch ein unübertrefflicher Spürhund für das Auffinden von Unstimmigkeiten. War auf Seite 73 eine Steppdecke rosa, und ist sie auf Seite 698 rot – Suse entdeckt diesen Farbenwechsel! Solche Fehler, die mir im Eifer des Schreibens leicht einmal unterlaufen, ärgern die Leser meist sehr. Sie haben auch völlig recht, sich über den Autor zu ärgern, die Leser: schludrige Arbeit sollte in keinem Beruf geduldet werden!

Nun also, dann bekomme ich das Manuskript zurück, mit Suses Zettel, und wieder verbessere ich, lese nach, prüfe ihre Änderungsvorschläge, die sie auch macht.

Bis dahin habe ich ein ziemlich herzliches Verhältnis zu meinem Buch gehabt, ich bin nicht blind für seine Schwächen und Fehler, bei manchen Stellen habe ich ein verdammt flaues Gefühl, schon tagelang graule ich mich vor dem Abtippen! Manches kann ich noch ausbessern, aber manche Fehler sind solchem Kind angeboren, man bekommt sie nicht mehr fort. Sie liegen im Gesamtplan oder im Charakter des Helden – man müßte das ganze Buch umschreiben, ein ganz anderes Buch über das gleiche Thema schreiben. Und das kann man nicht, das Thema ist eben erschöpft!

Aber nun ändert sich rasch die Stellung zum eigenen Kind. Man bedenke: 1. Niederschreiben. 2. Durchfeilen. 3. Tippen. 4. Erste Tippkorrektur. 5. Zweite Tippkorrektur – sind wir nun fertig? Bei weitem nicht! Nun geht das Manuskript an den Verlag, und auch der Verlag macht noch Vorschläge. Es geht aber auch an irgendeine Zeitung, und die Herren der Zeitung würden den Roman ganz gerne bringen. Aber er müßte kürzer sein, und diese oder jene Szene ist für eine große Lesergemeinde, die alle Alter und Berufe umfaßt, zu kraß. Also: 6. Verlagsänderung. 7. Zeitschriftenänderung.

Sind wir nun endlich fertig mit diesem elenden Roman? Aber nein! Jetzt wird das Buch gesetzt, und der Autor bekommt zu lesen: 8. die Fahnenkorrektur, 9. den Umbruch. Und das ist eine Arbeit, die sehr sorgfältig, Wort für Wort erledigt sein will. Denn mit Recht sind Bücher mit ›Druckfehlern‹ unbeliebt.

Um diese Zeit, bei diesen Korrekturen habe ich schon die größte Schwierigkeit, meine Aufmerksamkeit auf den Text zu konzentrieren. Ich kenne jeden Satz auswendig, ich weiß, was im nächsten Abschnitt, was auf der nächsten Seite stehen wird – das Buch elendet mich an! Papier, nichts mehr vom Leben. Ich hasse das Buch nicht, aber es ist mir völlig gleichgültig. Es ist tot, es liegt begraben unter der neunfachen Erdschicht neunmaligen Durcharbeitens!

Versteht man nun, daß ich nie etwas von meinen früheren Büchern sehen oder hören mag? Sie sind vergessen! Ich vergesse sie wirklich vollkommen, nie habe ich mich überwinden können, auch nur eine Zeile in einem von mir erschienenen Buch wiederzulesen. Ich öffne diese Bücher nie. So vollkommen vergesse ich sie, daß ich Suse fragen muß: »Du, sag mal, habe ich die und die Geschichte irgendwo schon mal erzählt?« Ich weiß es nicht, ich weiß es wirklich nicht.

Darum ist es mir auch nicht möglich, Kritiken, seien sie nun lobend oder tadelnd, über meine Bücher zu lesen. Es ist Suses Aufgabe, etwa übersandte Kritiken aus meiner Post zu entfernen und dem Feuer zu übergeben. Warum soll ich an Totes denken? Wenn das Buch erscheint, wenn die Rezensenten schreiben, bin ich längst mit einem anderen Buch beschäftigt. Mit dem alten Buch war nicht viel los, aber dies, das mich jetzt beschäftigt, das wird etwas! Geh mir doch mit den alten Geschichten, Suse –!

Schwierig ist natürlich nur der Leserbrief. Ich weiß es gut, welchen Entschluß es die meisten Leser kostet, sich hinzusetzen und einem ganz fremden Bücherschreiber Freude oder Empörung über sein Buch auszudrücken! Mit der Empörung wird man schon am leichtesten fertig. Man ist ja selber gar nicht mehr befriedigt von dem Buch, man teilt – gemäßigt – die Gefühle des Schreibers und findet nur, er hat grade die falschen Stellen getadelt. Außerdem verlangen die Empörten meist keine Antwort, die haben einem bloß mal richtig Bescheid sagen wollen –!

Aber was fängt man mit denen an, denen man eine Freude gemacht hat, die es einem sagen müssen, wie sehr das Buch ihnen gefallen hat?! Sie haben ja keine Schuld daran, daß der Roman längst für einen tot ist, sie wissen nichts davon. Sie haben eine Freude gehabt, und nun haben sie einem wieder eine Freude machen wollen.

»Du, Suse«, sage ich dann eines Tages über der Post. »Es ist ja eigentlich scheußlich, wie viele Briefe das heute wieder sind. Ich mache bald ein richtiges Büro auf. Aber nach diesen Briefen zu urteilen, war das letzte Buch vielleicht doch nicht ganz schlecht. Es scheint den Leuten Freude zu machen.«

»Was du dir nur alles wieder einbildest!« antwortet Suse. »Natürlich war das Buch gut, natürlich macht das Buch Freude.«

»Na ja«, sage ich und bremse diesen Überschwang ein wenig. »Irgend jemand findet sich ja immer auf dieser Welt, der sogar Milchreis mit Hering und Himbeersoße gern ißt!« Und als Suse eine ärgerliche Bewegung macht: »Ich meine ja bloß ... Und jedenfalls haben diese Briefe das Gute, daß ich mir bei meinem nächsten Roman wieder ganz besondere Mühe geben werde! Man denkt es gar nicht, aber die Leser achten doch genau auf jede Kleinigkeit.«

»O Gott!« ruft Suse erschrocken. »Du denkst doch nicht schon wieder an deinen nächsten Roman?! Du wolltest diesmal bestimmt mindestens ein Vierteljahr pausieren!«

Und nun können wir dieses Kapitel wieder von vorne anfangen. Aber wir tun es nicht, denn wir wissen schon, wie es weitergeht. Nur der Autor weiß es nicht, und er lernt es auch nicht. Ewig wird er an das geruhige Tagespensum von sechs Seiten glauben!


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