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Ballinger zieht in den Krieg


Als John Ballinger auf dem Polizeipräsidium in Luffs Zimmer stürmen wollte, streckte ihm der Sergeant Armstrong ein dickes gelbes Kuvert entgegen.

»Sechs Dollar Nachnahme schulden Sie mir«, verkündete er.

Ballinger hatte den Umschlag schon aufgerissen und blätterte vergnügt in dem dünnen Stoß gelblichen Durchschlagpapiers.

»Ich habe telegrafiert, die Brüder sollten keine Ausgaben scheuen. Sie haben sich das zu Herzen genommen, das muß man schon sagen.«

Er lehnte sich bequem gegen die Brüstung, hinter der Armstrong saß, und zündete sich die erste Morgenzigarette an. Als er sich in den Briefinhalt vertiefte, spannte sich sein Gesicht an, dann glitt ein helles Leuchten darüber. Er las den Schlußabsatz des Briefes zweimal, dann faltete er die Seiten sorgfältig zusammen und steckte sie in die Rocktasche. Als er bei Luff eintrat, war er in einer so gehobenen Stimmung, daß er dem ruhmvollen Leiter der Mordkommission am liebsten einen schallenden und höchst unpassenden Klaps auf den breiten Rücken gegeben hätte.

Aber ein Blick auf das düster umwölkte Gesicht des anderen ließ ihn schleunigst seine Absichten ändern. Er beschränkte sich auf ein heiteres »Guten Morgen!«

Luffs ganze Antwort war ein kaum hörbares Knurren.

Ballinger ließ sich gemütlich auf seinen angestammten Sessel nieder und nahm nicht die geringste Rücksicht auf die Politur, als er seine Füße nacheinander genußvoll auf dem Tischrand placierte.

»Schade!« sagte er grabestief. »Schade, daß Redstone gestanden hat und nun der ganze Klamauk vorüber ist.«

Luff, der wild an einer unangezündeten Zigarre kaute, schien ihn verschlingen zu wollen.

»Tun Sie mir den Gefallen und seien Sie ruhig ...« Er nahm sich mehr in die Gewalt. »Redstone hat nicht gestanden und wird es auch nicht tun. Das medizinische Handbuch hatte er am Donnerstagabend gekauft, und der Buchhändler hat es auch schon bezeugt.«

Ballinger spielte äußerstes Erstaunen.

»Ach nein. Und warum hat er es denn gekauft?«

»Weil«, erklärte Luff verbissen, »er selbst ein bißchen Detektiv spielen wollte. Er hatte Porcell von Anfang an in Verdacht, und als er hörte, daß die Jugularvene durchstochen worden war, fiel ihm sofort ein, daß Porcell Jäger ist. Das ist nämlich das erste, was diese Jungens lernen, wo die Jugularvene ist. Zum Abfangen des geschossenen Wildes und so ... Na also, Redstone war überzeugt, daß Porcell genau wissen mußte, wo er das Messer anzusetzen hätte. Er wollte aber auf jeden Fall sicher gehen, und deshalb hat er sich das Buch gekauft, um mal nachzuschlagen.«

Er sah resigniert zur Decke.

»Na, das von Porcell hab' ich auch schon vorher gewußt, aber ausreichen tut es noch lange nicht. Ich habe die beiden natürlich gehen lassen müssen.«

Er seufzte schwer und kaute weiter aufgebracht an seiner kalten Zigarre.

»Also, wenn das der Fall ist«, sagte Ballinger nach einiger Zeit trocken, »schätze ich, daß wir nunmehr nichts weiter tun können als darauf warten, daß der Mörder sich selbst stellt. Gefragt haben Sie nun jeden, und keiner hat Ja gesagt.«

Luff in seiner Lethargie merkte gar nicht den Spott in Ballingers Worten.

»Noch bin ich nicht am Ende«, meinte er grimmig. »Farland ist unterwegs mit dieser Raynor. Jetzt werde ich der mal die Daumschrauben anlegen von wegen ihren Handschuhen und so.«

Kaum vier Minuten später saß die Schauspielerin vor Luff, für den sie beim Eintritt ein gnädiges Nicken gehabt hat. Ballinger war ganz und gar als Luft behandelt worden.

»Es tut mir leid, daß ich Sie wieder bemühen mußte«, begann Luff mit gutgespielter Bonhomie.

Sie lächelte leicht.

»Es geht allmählich ein bißchen auf die Nerven, Inspektor«, sie sah ihn kokett an. »Sie rauben mir rücksichtslos meinen Schönheitsschlummer. Wenn Sie so weiter machen, werde ich bald ganz hager und häßlich sein.«

Sie kramte ihren Lippenstift hervor und begann sorgfältig, die üppigen Kurven des Mundes nachzuziehen.

»Was wollen Sie denn heute von mir wissen?«

»Nichts Besonderes«, Luff richtete sich im Stuhl auf. »Nur den wirklichen Grund, warum Sie in jener Nacht zu Beverley Bancrofts Haus zurückgegangen sind.«

Die Schauspielerin erstarrte.

»Der wirkliche Grund?« fragte sie stockend. »Was heißt das? Ich verstehe nicht ... Ich habe Ihnen doch schon gesagt, daß ich zurückging, um meine Handschuhe zu holen.«

»Das weiß ich. Aber deshalb sind Sie nicht zurückgegangen.«

Sie kniff die Augen zusammen und warf den Kopf in den Nacken.

»Doch, es ist der Grund.«

»Sind Sie sicher?«

»Das dürften Sie doch wohl merken.«

Luff schlug einen neuen Kurs ein.

»Sie haben vermutlich an jenem Abend ein Abendkleid getragen.«

Sie bestätigte es mit einem schweigenden Kopfnicken.

»Und was haben Sie für ein Täschchen dazu getragen?«

Sie sah ihn gereizt an.

»Ein perlenbesticktes Täschchen natürlich. Aber ich weiß wirklich nicht, was die Frage bezwecken soll.«

Luff sah ihr forschend in die Augen.

»Und Sie wissen ganz genau, daß Sie ein Abendtäschchen benutzt haben?«

»Ganz genau.«

»Und wie groß war es?«

»Ungefähr so.«

Sie beschrieb mit Daumen und Zeigefinger die ungefähre Größe des Täschchens, das vielleicht fünfzehn Zentimeter lang und sieben Zentimeter breit gewesen sein muß.

»Wieviel Fächer hat es denn?«

Sie drehte nervös an einem Brillantring.

»Also es wäre doch wirklich viel einfacher, wenn Sie hinunterschickten und eins kaufen ließen. Haben Sie noch nie ein Abendtäschchen gesehen?«

»Ich habe gefragt«, drängte Luff unbeirrbar, »wie viele Fächer das Täschchen hat.«

»Eines.«

In Luffs Augen flammte ein triumphierendes Leuchten auf.

»So! Dann hat es also kein Seitenfach gehabt?«

Ihr Gesicht nahm einen verwunderten Ausdruck an.

»Ein Seitenfach?«

Luff nahm ihre Handtasche an sich und zeigte auf deren Außenfach.

»Solch eines.«

Sie schüttelte den Kopf.

»Nein.«

Luff ließ die Tasche auf die Tischplatte klatschen.

»Sehen Sie, wie Sie gelogen haben!« fuhr er sie an. »Als Sie das letztemal hier waren, sagten Sie aus, daß Sie Ihre Handschuhe in der Außentasche gefunden haben. Und jetzt geben Sie zu, daß Ihr Täschchen gar kein Außenfach hat.«

Man sah Ruth Raynor ihr Erschrecken an. Aber im nächsten Augenblick lächelte sie schon wieder, wenn sie auch trotz der dicken Puderauflage jetzt auffällig blaß erschien.

»Ich glaube zwar nicht, daß ich das gesagt habe«, erwiderte sie hochmütig, »aber wenn es tatsächlich der Fall gewesen sein sollte, so war es ein Irrtum. Die Handschuhe steckten in meiner Tasche, wo ich sie immer habe, wenn ich sie nicht trage.« Sie zog ein Paar Handschuhe aus dem Außenfach ihrer Handtasche. »Bei einer Straßentasche wie dieser stecke ich sie immer in das Seitenfach, daher ist es möglich, daß ich unbewußt von einem solchen gesprochen habe.«

Das klang selbst für Luffs Ohren plausibel.

»Soso«, war alles, was er darauf zu erwidern hatte.

»Wie kommt es aber«, fragte er dann gleich darauf lauernd, »daß Sie nicht gleich in der Handtasche nachgesehen haben, wenn es doch Ihre Gewohnheit ist, sie dort hinzustecken?«

Ruth Raynor sah unsicher zum Fenster. Sie mied seinen Blick.

»Warum?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Ich ... ich weiß wirklich nicht, was Sie schon wieder wollen.«

Luff lachte laut auf.

»Ach so, Sie verstehen mich nicht? Also jetzt wollen wir mal Schluß machen mit dieser kindischen Komödie. Bitte, warum sind Sie zur Villa von Beverley Bancroft zurückgekehrt?«

Ruth Raynor wußte nichts zu antworten.

»Nun mal offen heraus damit«, er schob sich gespannt mit dem Oberkörper näher. »Machen wir reinen Tisch. Sie sind zurückgegangen, um Beverley Bancroft zu ermorden, nicht wahr?«

Da schrie die Frau gellend auf.

»Nein! Nein, um Gottes willen nein!«

»Inspektor.«

Ballingers ruhige tiefe Stimme, unerwartet aus unerwarteter Richtung kommend, wirkte wie Öl auf hochschlagende Wogen. Luff und Ruth Raynor wandten den Kopf.

»Wenn Sie unbedingt die Wahrheit wissen müssen und Fräulein Raynor sie Ihnen nicht sagen will«, fuhr Ballinger fort, »dann bin ich vielleicht dazu in der Lage.« Er verstand Ruth Raynors flackernden Blick. »Es wird niemand anders erfahren als nur der Inspektor«, sagte er leiser. »Sie brauchen keine Furcht zu haben.«

Er wandte sich an Luff.

»Die Sache ist nämlich ganz einfach so. Fräulein Raynor glaubte Redstone nicht, als er ihr sagte, er ginge noch in den Klub. Sie ließ also das Taxi ganz einfach um den Block herumfahren, lohnte den Schofför dann ab und ging zur Villa, wo sie durch das Fenster in den Garderobenraum spähte. Sonst verhält es sich so, wie Fräulein Raynor bereits erzählt hat. Als sie sah, daß kein Licht mehr im Hause war, ging sie wieder fort.«

Er sah zu der Frau hinüber.

»War es so?«

Die Schauspielerin hatte die Augen gesenkt und nickte nur schweigend.

Luff schwankte zwischen einem Zustand der Wut und der Hochachtung. Zum zweitenmal innerhalb der vergangenen vierundzwanzig Stunden hatte er sich dem endlichen Siege ganz nahe gesehen, und wieder hatte sich alles in Dunst aufgelöst. In seiner aufrichtigen Natur gewann aber die Bewunderung für Ballingers scharfen Kombinationssinn bald die Oberhand. Trotzdem fragte er Ballinger:

»Wer hat Ihnen das gesagt?«

»Niemand«, lachte Ballinger. »Das ist ja auch wohl kaum nötig. Eine andere plausible Erklärung gibt es ja gar nicht. Nachdem wir festgestellt hatten, daß die Erklärung Fräulein Raynors nicht auf Wahrheit beruhen konnte, blieben noch drei Gründe übrig. Zunächst hätte sie zurückgehen können, um Beverley Bancroft zu morden. Zweitens konnte es im Bereich der Möglichkeit liegen, daß sie einen Mörder gedungen hatte und daß sie zurückkehrte, um sich über die vollzogene Tat zu unterrichten. Und die dritte Möglichkeit ist die, daß sie Redstone bei Beverley Bancroft vermutete und daß sie zurückging, um nachzuspionieren ...

Untersuchen wir erst einmal die Möglichkeit Nummer eins. Sie schaltet schon beim ersten Blick aus. Diesen Stich hat keine Frau geführt. Das war uns ja eigentlich schon von vornherein aus den verschiedensten Gründen ersichtlich ...«

Er bot Ruth Raynor eine Zigarette an. Mit zitternden Fingern, immer noch erschreckt und verwirrt, griff sie in das Etui.

»Und die zweite Möglichkeit«, nahm Ballinger den Faden wieder auf, »wäre ein gedungener Mörder. Wir wissen aber genau, daß sich Beverley Bancroft noch in dem letzten Augenblick vor dem tödlichen Stich in absoluter Sicherheit und Unbefangenheit vor der Kommode befunden hat. Das wäre aber nie der Fall gewesen, wenn ein gedungener Angreifer, ein Fremder, in das Zimmer getreten wäre ...

Es bleibt also nur noch die dritte Version. Fräulein Raynor ist zurückgegangen, um zu spionieren.«

Er sog tief den Rauch seiner Zigarette in die Lungen.

»Miß Raynor und Redstone sind viele Jahre lang«, er stockte unwillkürlich, »recht intime Freunde gewesen. Bis vor einigen Monaten Redstones Interesse an Beverley Bancroft kam ... Nun, ich brauche mich wohl kaum auf Details einzulassen. Sicher ist jedenfalls, daß Fräulein Raynor in der letzten Zeit ein merkliches Kühlerwerden Redstones empfand, ohne volle Klarheit über sein Verhältnis zu Beverley Bancroft zu haben. Lebten die beiden zusammen? Hatte Beverley vollkommen mit ihrem Gatten gebrochen? Wie intim standen die beiden miteinander? Alle diese Fragen quälten sie, und als Redstone sich in der Mordnacht mit der unmöglichen Geschichte von der Klubverabredung von ihr verabschiedete, war sie ziemlich sicher, daß er zu Beverley Bancroft zurückging ...

Nun, sie entdeckte nichts und begann sich jetzt verständlicherweise doppelt ihres Tuns zu schämen. Als sie dann auch am nächsten Morgen noch von dem Mord hören mußte, hämmerte sich ihr die Überzeugung ein, daß niemand von ihrer nächtlichen Anwesenheit vor dem Hause erfahren dürfte. Schließlich erfand sie dann, in die Enge getrieben, die recht ungeschickte Notlüge von den Handschuhen.«

Luff malte, in tiefes Nachdenken versunken, mit einem Kopierstift auf seiner Schreibunterlage herum. Schließlich sah er auf.

»Das ist alles, Fräulein Raynor. Sie können gehen.«

Als die Tür sich hinter ihr schloß, fuhr er sich wütend durchs Haar und sprang auf.

»Ich komme nicht weiter, ich komme nicht weiter!« Er raste im Raum hin und her und gab einem im Wege stehenden Stuhl einen Fußtritt. »Immer wieder neue Wege, und immer wieder enden sie im Sumpf.« Er stampfte mit dem Fuß auf.

»Aber ich lasse nicht locker. Da ist noch dieser Bursche, der Armando, mit seiner Messerstecherei. Ich werd' mir den Jungen noch mal herkommen lassen.«

Ballinger legte ihm die Hand auf die Schulter.

»Bevor Sie das tun, kommen Sie lieber noch einmal mit zur Mordvilla. Ich habe Ihnen etwas zu zeigen, was Sie vielleicht interessieren könnte.«

Luff, der gerade zum Klingelknopf greifen wollte, hielt inne.

»Aha«, meinte er in bitterem Spott, »jetzt zieht Ballinger in den Krieg. Als nächstes werden Sie mir wohl erzählen wollen, wer der Mörder ist?«

Ballinger lächelte.

»Ich habe es Ihnen doch versprochen, abgesehen von der Wette von hundert gegen tausend. Und bis zum Abend habe ich bekanntlich immer noch Zeit.«

* * *


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