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Ein heißer Abend


John Ballinger versuchte krampfhaft, einen Entschluß zu fassen. Er saß im Vestibül des Townclub, verbrauchte ein Päckchen Zigaretten nach dem anderen und überlegte. Es war eine heiße Augustnacht, und der große Raum war völlig verödet. Die Seidenschirme der Tischlampen auf den langen Eichentafeln schwammen in der Sanftheit des eigenen Lichtkreises. In steifer Korrektheit standen die roten Ledersessel auf ihren vorgeschriebenen Plätzen; an der Wand hingen unbenutzt und ungestört die letzten Ausgaben der Abendzeitungen. Statt frischer Luft kam nur heißer Asphaltdunst und schwaches Lautgebrodel durch die weitaufgerissenen Fenster herein. Von unten, wo zwei Stockwerke tiefer die 46. Straße lag.

Ballinger, groß, schlank, ja fast hager, unterbrach seinen Zigarettenkonsum nur durch gelegentliches Abreiben seines Gesichtes mit einem fast schon feuchten Seidentuch. Dann kam wieder die nächste Zigarette, dann starrte er wieder verloren auf die im Dunkel sich dehnende Wand. Immer nasser wurde das Taschentuch, immer kleiner der Zigarettenvorrat. Und immer noch hatte sich John Ballinger zu keinem Entschluß durchgerungen.

Dabei war es ihm ganz und gar nicht ungewohnt, schnelle und endgültige Entscheidungen zu treffen. Im Gegenteil, jahrelang – um die Zeit, als er seine Laufbahn als Graphologe begonnen hatte – war die Fähigkeit zu einer sicheren und verantwortlichen Entscheidung Hauptfaktor seines Berufes gewesen. Er hatte als Expert für Banknotenfälschungen im Dienste der Nationalbank und bei besonders wichtigen Gelegenheiten sogar der New-Yorker Geheimpolizei gestanden. Seit mehr als einem Jahrzehnt allerdings war er Kunstexpert. Internationalen Ruf hatte er sich in diesem Fach erworben. Von Chikago bis Florenz gab es kaum ein Museum, eine Gemäldegalerie, in der seine Meinung nicht als Gesetz galt. Der Mann mit dem glatten, energischen Gesicht, den ausgeprägten Zügen war dreimal von der französischen Regierung, zweimal von der italienischen für hervorragende Gutachten über alte Meister ausgezeichnet worden. Er war es, der ein halbes Dutzend unaufgefundener Salainos entdeckt hatte. Er war der erste Kenner altfranzösischer und kolonialer Kabinettarbeit in Amerika, der Autor von drei Büchern – »Raffaels Madonna«, »Mobiliarkunst unter Ludwig XVI.« und »Koloniales Kunstgewerbe und seine Meister« –, die alle drei Aufsehen erregt hatten. John Ballinger war bestimmt nicht der Mann, dem Entschlußkraft fehlte. Aber immerhin, jetzt stand er vor einem Problem.

In seiner Brusttasche steckten zwei Briefe. Der eine war eine Einladung von Freunden, eine Woche an der kalifornischen Küste mit ihnen zu verleben, fern von der quälenden, glühenden Stadt; der andere war eine Mitteilung über eine Auktion alter Möbel, die in Baltimore stattfinden sollte. Der erste lockte mit Visionen von kühlen, schaumspritzenden Ozeanwogen, von einlullenden Nächten und grünen, frischen Hügeln. Er war nahezu unwiderstehlich.

Aber das war der zweite auch, wenn er auch verschiedene noch heißere Tage und Nächte bedeutete, als sie New York zur Zeit zu bieten hatte. Als Kenner war er genau unterrichtet; die Sammlung, die versteigert werden sollte, umschloß auch einen Satz prächtiger Louis-Seize-Fauteuils von Riesner, die für ihn ein großes Geschäft bedeuten konnten. Jedesmal, wenn er daran dachte, wollte er aufspringen und zum Bahnhof eilen. Aber bei der kleinsten Bewegung schon rieselte ihm ein Strom von Schweiß über Nacken und Stirn, und jedesmal mußte er dann sehnsüchtig wieder an den Brief Nummer eins denken. Eine nicht abreißende Kette. Zuerst die Küste. Dann Baltimore. Dann wieder die Küste ...

Als er schließlich Schritte auf sich zukommen hörte, atmete er erleichtert auf. Wenigstens eine Unterbrechung. Er grinste, als der Neuankömmling hochrot und völlig außer Atem neben seinem Stuhl stand.

»'n Abend«, gähnte er. Eine Sekunde lang starrte er in das erhitzte Gesicht über sich. »Wieder kaufen gewesen, was, Avery?«

Avery Sanders versank im gegenüberliegenden Sessel. Er war ein mittelgroßer Mann, untersetzt, mit vorzeitig grauem Haar und grauen Augen. Von Beruf war er Rechtsanwalt mit einer ziemlich großen Zivilpraxis. Eine Beschäftigung, die er als ein notwendiges Übel und Ausfüllung einer Zeit ansah, die man weit besser in Auktionssälen verbringen kann. Seine Freunde kannten ihn als einen Menschen, der imstande war, alles zu kaufen, solange er die Sicherheit hatte, daß es nicht neu war. Einige Vertraute wußten außerdem, daß er der Bruder von Beverley Bancroft war, der berühmten Schauspielerin, die augenblicklich mit ihrem neuesten Stück »Tambourine« den einzigen Lichtpunkt eines in Gluthitze verdorrenden Stadtsommers darstellte.

Ballingers Begrüßung schien zunächst wie ein kalter Schauer auf Sanders zu wirken. Augenscheinlich war er in der Gehobenheit eines Menschen gekommen, der sich als Träger einer hochinteressanten Neuigkeit fühlt. So nebensächlich empfangen, so leicht um seinen Trumpf gebracht zu werden, war, milde ausgedrückt, verstimmend. Aber diesem überlegen-lässigen, phlegmatisch sicheren Ballinger konnte man nicht lange zürnen. Sanders schlechte Laune verschwand ebenso schnell, wie sie gekommen war.

»Ja«, quetschte er heraus. »Und was ich gekauft habe! Bauklötzer wirst du staunen.«

Ballinger sog genußvoll an seiner Zigarette.

»Eine Vitrine, nehme ich an?«

Sanders nickte eifrig: »Richtig! Woher weißt du?«

»Das ist doch klar.« Ballinger schien fast verwundert über diese Frage. »Was für einen anderen Grund hättest du sonst haben sollen, um diese Stunde hierherzukommen. Mit Enthusiasmus auf dem Gesicht und Staub auf den Ellbogen.«

Sanders gab sich nicht die Mühe, seine Verwirrung zu verbergen.

»Staub auf meinen Ellbogen?« Er sah erst an sich herunter, dann skeptisch auf Ballinger. »Sag mal, was hat denn das mit der Tatsache zu tun, daß es eine Vitrine ist?«

»Ne ganze Menge.«

»Aber – nein, das verstehe ich nicht.« Sanders zog eine Zigarre heraus und biß nervös die Spitze ab. »Warum hätte es nicht ebensogut ein Tisch sein können oder ein Gemälde? Warum?«

Ballinger zuckte träge die Schultern.

»Eben darum.«

Er drückte seine Zigarette aus und wählte eine neue.

»Für einen Rechtsanwalt, Avery«, meinte er dann, »sind deine Fragen zuweilen erstaunlich kindlich. Selbstverständlich kann es nur eine Vitrine sein, und zwar aus verschiedenen guten Gründen. Und es ist nicht nur eine Vitrine, sondern sogar eine Philadelphia-Vitrine, und zwar eine, von der du mit einigem Recht anzunehmen glaubst, daß sie aus der Werkstatt von Savery oder etwa James ist. Denn was könnte dich sonst veranlassen, der du normalerweise ein peinlich korrekter Mensch bist, so aufgeregt zu sein, daß du in den Klub kommst, ohne dich vorher abzubürsten.«

Mit breitbehaglichem Lächeln beobachtete er Sanders Anstrengungen, seine Ärmel zu säubern.

»Und wenn es ein Tisch gewesen wäre«, meditierte er weiter, »wärest du nicht halb so aufgeregt darüber gewesen. Du hättest es gar nicht sein können. Du hast ja ohnehin schon mehr Tische, als du jemals gebrauchen kannst. Das gleiche gilt für jedes andere Stück, das du erwähnen könntest. Mit Ausnahme jenes einen, dem du seit Jahren nachjagst. Und das ist eine Philadelphia-Vitrine. Und da augenscheinlich dein Enthusiasmus heute seinen Höhepunkt erreicht hat, mußte es ein besonders schönes Stück sein. Und infolgedessen entweder von Savery oder James.«

Sanders blies eine Rauchwolke gegen die Decke.

»Du hast recht«, mußte er zugeben, »aber ich glaube, ein bißchen glückliches Schätzungsvermögen ist auch dabeigewesen. Du weißt, ich interessiere mich ebenso für Bilder wie für Kabinettarbeit. Es hätte also auch ein Gemälde sein können.«

Ballinger schüttelte den Kopf.

»Nein, in einer Gemäldegalerie machst du dir schwerlich den Ellbogen staubig ...« Er brach ab und hantierte ächzend mit seinem Seidentuch. »Na schön, aber jetzt erzähl' mir von deiner Vitrine.«

Sanders wurde sofort lebendig. »Also es ist wirklich ein Savery-Stück. Ich bin fast ganz sicher. Eine herrliche Arbeit. Ich hab' sie heute abend bei dem alten Scheller gefunden, und zwar unter ein paar Stücken, die er in Harrisburg aufgegabelt hatte. Hab' ein kleines Vermögen dafür bezahlt, aber sie ist's ja auch wert. Also ich sage dir, solch eine Schnitzarbeit habe ich noch nie gesehen, höchstens mit Ausnahme von ein paar Stücken aus der Palmer- und Canfield-Sammlung. Herrlich proportioniert und mit Klauenfüßen, die aussehen, als ob sie leben. Und alles in prima Zustand.« Er sprang auf. »Komm mit, und sieh sie dir an. Ich hab' sie direkt in meine Wohnung schicken lassen. Sie muß jetzt schon da sein. Meinen Wagen habe ich unten stehen.«

Ballinger überlegte einen Augenblick. Noch einmal tauchte das Problem Baltimore oder Küste in ihm auf. Dann entschied er sich, beides unter den Tisch fallen zu lassen. Beides verlangte einen gewissen Energieaufwand, und dazu war der Abend zu heiß. Dagegen eine kühle Fahrt in Sanders Wagen ...

Er stand auf und reckte sich.

»Also von mir aus ...«

Als sie aus dem Lift traten, schüttelte er leicht den Kopf.

»Ich hoffe inständig für dich, Avery, daß es wirklich ein Savery-Stück ist. Dann wäre deine Sammlung so ziemlich abgerundet, und du könntest dich der wirklichen Kabinettarbeit zuwenden.«

Sanders sah ihn erstaunt an.

»Und das soll heißen?«

»Die Franzosen, selbstverständlich. Sie waren die einzigen, wirklichen Künstler der Möbeltischlerei. Kerle wie Nicolas Petit, Frères und Riesner. Sie sind einfach nicht zu übertreffen.«

»Gut«, meinte Sanders, als sie die Stufen hinunterschritten. »Darauf kann ich dir eine leichte Antwort geben. Ich habe meiner Schwester versprochen, daß ich heute abend nach dem Theater mal mit zu ihr herankomme. Es ist jetzt gerade die richtige Zeit. Ihr ganzes Haus ist nämlich vollgestopft von altfranzösischen Möbeln.«

Der Schofför riß die Tür von Sanders Stadtwagen auf, aber Ballinger trat zurück.

»Um Gottes willen«, protestierte er. »Ich bin ja ganz und gar nicht in einem Zustand, eine Dame besuchen zu können. Ich muß mich waschen, umziehen und dann ...«

Sanders faßte ihn bei den Schultern und drehte ihn so, daß das Licht der Straßenlaternen voll auf Ballingers Gesicht fiel. Er musterte ihn einen Augenblick eingehend und griente dann.

»Seit drei Jahren kenne ich dich jetzt, alter Knabe«, knurrte er, »und du kannst dich drauf verlassen, noch nie hab' ich dein Gesicht in einem sauberen Zustand gesehen.« Er stieß ihn zum Wagen. »Los. Wir bleiben bloß ein paar Minuten, und ich werde ihr außerdem sagen, daß sie mit dem Verlieben noch ein wenig warten soll. So lange, bis sie deine Reckengestalt im Abendanzug gesehen hat.«

Ballinger versuchte noch schwach zu widerstreben, als der Wagen schon fuhr. Aber Sanders hörte gar nicht mehr hin.

»Ich möchte Beverley wirklich gerne heute noch sehen«, erklärte er, als sie die Fünfte Avenue hinunterglitten. »Sie hat in letzter Zeit irgendeinen Kummer, und ich möchte herausfinden, was das ist. Irgend etwas quält sie, und es ist bestimmt etwas Ernstes, denn Beverley gehört bestimmt nicht zu den Frauen, die sich von jeder Kleinigkeit umwerfen lassen. Heute nachmittag war ich auf einen Sprung bei ihr, und da sah sie geradezu unglücklich aus.« Er sah Ballinger an. »Vielleicht ist es gerade gut, daß du mitkommst. Du hast ja beinahe eine hellseherische Ader. Vielleicht brauche ich sie dann nicht einmal direkt zu fragen. Brauche bloß mit der Hand zu winken und zu sagen, ›Sis, das ist mein Freund John Ballinger, der Kunstsachverständige‹, und du schaust ihr dann in die Augen und sagst mir, was los ist.«

Der andere in der Wagenecke gähnte.

»Das liegt vielleicht gar nicht so weit von meiner Linie ab«, sagte er leise. »Denn Frauen sind – Kunstwerke.«

* * *


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