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Das Verhör beginnt


Erste goldene Morgenhelle hing schon über den Dächern, als des Inspektors Wagen vor dem großen Klinkergebäude hielt, in dem die Zentrale der Kriminalpolizei lag. Im Empfangsraum des zweiten Stockes beeilte sich ein verschlafener Schutzmann hinter seinem Schreibtisch hervorzukommen, als die Männer passierten.

»Es werden bald ein paar Leute kommen«, rief Luff über seine Schulter zurück, als er die Tür zu seinem Büro aufstieß. »Sagen Sie mir dann Bescheid.«

Er sank in den Drehstuhl vor seinem Schreibtisch und zündete sich eine Zigarre an.

»Setzen Sie sich dahin«, er zeigte auf den Stuhl an der gegenüberliegenden Seite seines Schreibtisches, »und machen Sie es sich bequem.«

Nachdenklich musterte er Ballinger. »Sehr verändert haben Sie sich nicht. Na, viele Haare zu verlieren hatten Sie ohnehin nicht. Und ausgedörrt sind Sie immer noch, genau so wie früher.« Er strich sich über das Kinn. »Wie lange ist es denn her, daß wir das letztemal zusammen gearbeitet haben?«

Ballinger dachte nach.

»So an die acht Jahre.« Er nickte. »Ja, sogar genau. Es war der Fall Remsem. Sie erinnern sich, der Gerichtsvollzieher, der mit den 250 000 abging.«

Inspektor Luff erinnerte sich.

»Ein gewiegter Kerl«, sagte er. »Aber er wollte es zu gut machen.« Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und schlug die Beine übereinander. »Sie waren auch ein verdammt gewitzter und heller Kerl damals, Ballinger.« Er schüttelte den Kopf. »Herrgott, wie haben Sie sich geändert!«

Ballinger sah ihn verdutzt an.

»Warum?«

Luff schnaufte.

»Warum? Na, das ist doch klar, wegen dieser ganz und gar irrsinnigen Wette, die Sie mit mir gemacht haben. Hier ist ein reichlich verzwickter Mordfall, und da kommen Sie daher und sagen so nebenbei, daß Sie ihn aufklären werden, wenn ich es nicht kann. Schön, wenn es sich um eine Fälschung, 'ne Bilderangelegenheit oder irgendein Stück altes Möbel handeln würde, dann könnte ich ja noch einigen Sinn dahinter entdecken. Aber hier geht es um einen Mord, Herr. Was wissen Sie denn überhaupt von Mördern?«

»Nichts«, sagte Ballinger gelassen. Er zündete sich eine Zigarette an und placierte voll eingehender Sorgfalt seine Füße auf den Schreibtischrand. »Aber mir kommt es so vor, als ob ich eine ganze Menge über diese Dinge wissen werde. Vorausgesetzt, daß Sie mir in den nächsten Tagen etwas freie Hand lassen. Ich bin sogar überzeugt davon, daß ich dann manches kenne, von dem Sie in all Ihrem Glorienschein als Leiter der Mordinspektion keinen blassen Schimmer haben.«

»Sie haben eine Spur gefunden?«

Ballinger schüttelte nachdrücklich den Kopf.

»Nein.«

»Na, dann sehe ich in Ihren Behauptungen keinen Sinn.«

Ballinger dehnte sich behaglich. »Ich hab' eine Idee, nichts weiter. Oft genug habe ich mir überlegt, ob man die Methoden, die unsereiner bei den Gutachten über alte Meister anwendet, nicht auf die Lösung von Mordfällen übertragen könne. Ob es dann nicht weniger ungeklärte Fälle gäbe? Und vorhin, im Haus der Beverley Bancroft, habe ich mich entschieden, das mal zu versuchen. Wenn Sie aber denken, daß ich Ihnen im Wege bin ...«

Luff unterbrach ihn mit einer ärgerlichen Kopfbewegung.

»Davon kann ja gar keine Rede sein. Das hab' ich natürlich auch nicht gemeint. Aber was haben Sie denn für einen wunderbaren Trick für Ihre Prüfungsmethoden bei Bildern und Möbeln, daß Sie meinen, er könnte in der Kriminalistik so unerhörte Wunder wirken?«

Ballinger spielte mit einem Löscher.

»Da ist gar kein Trick dabei«, lächelte er fein, »es ist sogar eine ganz und gar einfache Methode. Allerdings, wenn Sie ihre Gesetze und Grundzüge nicht kennen, kann sie Ihnen auch gräßlich kompliziert erscheinen.«

Er stellte den Löscher wieder hin.

»Wie interessant die Einzelheiten auch sein mögen, ich glaube, ich muß es Ihnen erst mal in den gröbsten Umrissen erklären. Also kurz, die Methode basiert auf der Voraussetzung, daß alle Künstler verschiedene Arten der Technik haben, daß sie alle in ihren Methoden der Farbauftragung differieren, der Manier, Dinge wie Haare, Nüstern, Fingernägel zu malen; daß sie sich alle in ihren anatomischen Auffassungen unterscheiden, in ihrer Farbgebung, in ihrer Behandlung von Licht und Schatten ...

Nehmen wir zum Beispiel einmal die Malweise von Rubens und diejenige van Dycks, seines Schülers. Rubens brachte es fertig, in seinen Porträts ein seltsam leuchtendes Rot zu gebrauchen, das in den Schatten zu einem tiefen Schwarz wurde. Van Dyck andererseits hat diesen Effekt niemals erreicht. So wandte er eine andere Methode an. Er malte die hellen Stellen in Gelb oder Weiß und die dunkleren Partien in Rot oder Dunkelbraun. Die vorherrschende Farbe in seinen Werken ist also Braun. Bei Rubens ist es das Rot. Rubens hatte außerdem einen gewissen Trick, Schatten auf Fleisch in Grün zu setzen und zugleich die Anatomie des Körpers durch das korrekte Placieren dieser grünen oder blaugrünen Schatten herauszuarbeiten. Das ist ein leicht festzustellendes Kennzeichen seiner Bilder, weil noch nicht einmal seine Kopisten diese Schatten richtig setzen können ...

Sehen Sie, van Dyck konnte unmöglich ein Bild genau so malen, wie es Rubens tat. Und Rubens wiederum hätte niemals malen können wie van Dyck. So sehr es jeder auch versucht hätte. Und so hat jeder seine Eigenarten, die auch der beste Kopist nicht wiederholen kann. Für einen geschulten Experten ist es also nicht sehr schwierig festzustellen, von wem dieser beiden ein Bild ist ...

Das Gleiche gilt von jeder anderen Art von Kunst oder Kunstgewerbe. Aus Hunderten von Details kann man einen sicheren Schluß auf den Schöpfer des Werkes ziehen. Jedes Stück Kunst zeigt das Charakteristikum und die Persönlichkeit des Meisters, der es geschaffen hat, und das bringt mich auf meine Theorie zurück. Denn es ist doch klar, daß das gleiche für Mörder gilt. Der Mord ist eine der wenigen Arten echter und ernster Kunst, die noch nicht von kommerziellen Einschlägen oder absoluter Klischeehaftigkeit verfälscht sind. Mit Ausnahme natürlich von den Verhältnissen in Chikago. Mord, reiner Mord, ist der Ausdruck irgendeiner unverfälschten Empfindung; meistens eines Männerhasses, Und hinein legt er seine ganze Persönlichkeit, in die Ausführung Herz und Seele.«

Inspektor Luff sog hilflos an seiner Zigarre.

»Das sind mir alles böhmische Dörfer, aber ...«

Ein Klopfen unterbrach ihn. Der diensthabende Schutzmann trat ein.

»Farland hat eben jemand gebracht«, meldete er. »Soll er hereinkommen?«

Luff nickte.

Gleich darauf trat der Detektiv mit Herrn von Oefele herein.

Oefele sah blinzelnd aus rotgeränderten Augen und sank in den Sessel, auf den Luff stumm zeigte.

»Das ist ja schrecklich!« ächzte er mit vor Erregung rotgeflecktem Gesicht. »Unfaßbar! Ich kann mir gar nicht vorstellen, wer es getan haben könnte. Bei Gott, ich ...«

»Um welche Zeit«, unterbrach ihn Luff grob, »haben Sie heute morgen das Bancroft-Haus verlassen?«

Oefele deckte eine Hand über die Augen und dachte angestrengt nach.

»Ich glaube, so gegen zwei Uhr. Ja, genau um zwei Uhr.«

»Sind Sie allein fortgegangen?«

»Nein, ich ging mit Porcell zusammen. Wir waren übrigens die letzten.«

Luff notierte sich etwas auf seinem Merkblock.

»Geben Sie mir einmal, so genau Sie können, die Zeit an, zu der alle übrigen gegangen sind?«

Der Pianist lehnte sich in seinem Stuhl zurück und starrte zur Decke.

»Lassen Sie mal sehen«, murmelte er, »lassen Sie mal sehen.« Er lächelte wie um Entschuldigung bittend und etwas verlegen. »Ich habe nämlich gestern reichlich tief ins Glas geguckt, Kommissar. Es ist also etwas schwierig für mich, an Einzelheiten zurückzudenken, aber«, er richtete sich lebhaft auf, »jetzt fällt es mir wieder ein. Also zuerst gingen die Nielan und Armando. Das war ungefähr zehn Minuten, bevor wir verschwanden. Und gleich nach ihnen verabschiedeten sich Redstone und Ruth Raynor.«

»Und nachdem Sie fort waren, blieb niemand bei Frau Bancroft zurück?«

»Kein Mensch, Herr Kommissar. Außer den Mädchen natürlich.«

»Übrigens«, fiel es Luff ein, »wie lange kannten Sie die Tote?«

Oefele brauchte nicht lange zu überlegen.

»Oh, viele Jahre schon. Das heißt, wirklich intim befreundet sind wir indessen nie gewesen.«

Inspektor Luff fingerte am Deckblatt seiner Zigarre.

»Sie sagten, daß Porcell und Sie zusammen fortgegangen sind. Erinnern Sie sich, wer von Ihnen zuerst zur Tür hinausschritt?«

Oefele überlegte: »Ich.«

»Und es war Porcell, der die Tür zumachte?«

»Ich nehme an, daß er es tat«, eine leise Nuance von Spott lag in seiner Stimme, »jedenfalls wären es keine guten Manieren, wenn er sie offen gelassen hätte.«

»Frau Bancroft hat Sie also nicht bis zur Tür begleitet?«

»Nein.«

»Hat Porcell sie bei der Verabschiedung geküßt?«

»Das entzieht sich meiner Kenntnis«, erwiderte Oefele ernsthaft. »Ich war in der Garderobe beschäftigt, meinen Hut vom Haken zu nehmen, während er sich verabschiedete.«

Er kramte nach seinem Zigarettenetui und machte vergebliche Anstrengungen, sich in dem hochlehnigen Stuhl bequem zurechtzusetzen.

»Wirklich, Herr Kommissar, wenn ich gewußt hätte, was an dem Abend noch passieren sollte, hätte ich mehr aufgepaßt. Sie machen nämlich ein Gesicht, als ob ich ein Primaner wäre und eine schlechte Schularbeit abgeliefert hätte.«

Luff beachtete den Stich nicht.

»Was machten Sie, nachdem Sie das Haus verlassen hatten?«

»Wir gingen bis zur 130sten Straße, und dann nahm ich mir ein Taxi. Während wir auf den Wagen warteten, fiel es Porcell plötzlich ein, daß er seinen Stock vergessen hatte. Na, und da ging er zurück, um ihn zu holen.«

Wenn Inspektor Luff plötzlich mit einer Hochspannungsleitung in Berührung gekommen wäre, so hätte das den gleichen Effekt auf ihn gehabt wie diese letzten Worte. Er schoß mit dem Oberkörper über den Schreibtisch.

»Was, Porcell ging zurück? Ging zu Beverley Bancroft zurück?«

Oefele war nicht aus der Ruhe zu bringen.

»Natürlich! Ich habe mich doch klar genug ausgedrückt.«

Luff starrte ihn fassungslos an. Er bekam einen roten Kopf.

»Zum Teufel, warum haben Sie das nicht gleich gesagt?« brüllte er.

Oefele sah ihn kurz an. Ruhig steckte er sich eine Zigarette in Brand und löschte sorgfaltig das Streichholz.

»Ich will Ihnen einmal etwas sagen, verehrter Sherlock Holmes. Ich bin kein Taschendieb, und es empfiehlt sich deshalb, eine etwas andere Sprache mit mir zu führen. Übrigens habe ich Ihnen das aus dem einfachen Grunde nicht früher gesagt, weil Sie mich gar nicht dazu kommen ließen.«

Unter seinem festen Blick zerschmolz Luffs Anwandlung. Er spielte verlegen an seiner Zigarre und meinte dann:

»Na schön, lassen wir das. Aber haben Sie dann noch etwas von Porcell gesehen?«

»Nein«, sagte Oefele kurz. »Es kam dann gleich ein Taxi, und ich fuhr nach Hause.« Er erhob sich mühsam. »Ist das alles?«

Luff nickte. Als sich Oefele kurz verbeugte und hinausging, drückte er auf einen Knopf.

»Ist dieser ... dieser Porcell schon da?« fragte er den eintretenden Schutzmann.

»Clavin hat ihn eben gebracht.«

»Er soll hereinkommen.«

Porcell, von Clavin geleitet, bot einen bedauernswerten Anblick. Ballinger, der ihm einen schnellen Blick zuwarf, erschien er seltsam gealtert. Er hatte tiefe Schatten unter den Augen und harte, scharf eingegrabene Linien um den Mund.

Luff begann ohne weitere Formalitäten zu fragen: »Was können Sie uns über diesen Fall sagen, Herr Porcell?«

Porcell fiel in einen Stuhl und sah mit flackernden Augen zu ihm herüber. »Es tut mir leid«, sagte er stockend, »es tut mir leid, daß ich Ihnen nicht viel sagen kann. Ich kann nicht ... verstehen Sie das bitte.«

»Wer hat es Ihrer Ansicht nach getan?«

Porcell sah auf die polierte Schreibtischplatte.

»Woher soll ich das wissen?«

»Sie waren der letzte, der heute morgen das Haus verlassen hat.«

»Ja. Oefele und ich gingen zusammen.«

»Aber Sie sind später zurückgekehrt.«

Porcells Blick wanderte langsam von der Tischplatte zu dem Inspektor. Seine Lippen verzogen sich.

»Wollen Sie damit ausdrücken, Inspektor, daß ich es getan haben könnte?«

Luff schob seine Zigarre in den anderen Mundwinkel.

»Ich stelle Ihnen nur Fragen«, sagte er schneidend. »Vielleicht haben Sie die Güte und beantworten sie mir.«

Ballinger sah, wie Porcells Augen einen kalten Glanz annahmen.

»Also warum sind Sie zurückgegangen?«

»Ich hatte meinen Spazierstock vergessen.«

»Wie lange hielten Sie sich noch auf?«

»Vielleicht noch fünf oder zehn Minuten. Beverley war schon nach oben gegangen und machte mir auf, als ich läutete. Wir sprachen dann noch etwas in der Garderobe, und dann ging ich.«

»Worüber haben Sie gesprochen?«

Porcell zögerte und sah zum Fenster hinaus. »Du lieber Gott«, antwortete er schließlich, »über nichts Bedeutendes. Wir plauderten eben. Sie können sicher sein, es hatte nichts mit diesem Fall zu tun.«

Luff murrte: »Das habe ich zu entscheiden.«

Porcell verzog ironisch den Mund:

»Verzeihung, daß ich anderer Meinung bin.«

»Sie wollen es mir also nicht sagen?«

Porcell nickte leicht.

»Wie Sie vermutlich schon wissen, haben Beverley und ich vor einiger Zeit einen kleinen Streit gehabt. Und auf den bezog sich unsere Unterhaltung. Auf Einzelheiten möchte ich nicht eingehen.«

Luff musterte ihn scharf.

»Was taten Sie, als Sie das Haus verließen?«

»Ich fuhr in einem Taxi nach Hause.«

»Hm. Wann sind Sie zu Hause gewesen?«

Porcell schob die Schultern hoch.

»Ich schätze so gegen halb oder dreiviertel zwei.«

»Hat Sie irgend jemand angerufen?«

»Mich angerufen?« Porcell sah ihn erstaunt an. »Wie meinen Sie das?«

»Ich meine, haben Sie keinen Telefonanruf bekommen?«

Porcell schüttelte entschieden den Kopf.

»Nein.«

Luff entdeckte, daß seine Zigarre ausgegangen war. Es dauerte einige Zeit, bis er sie wieder in Brand hatte.

»Übrigens war noch jemand im Hause anwesend, als Sie mit Ihrer Gattin sprachen?«

Porcell nickte.

»Ja, Marie, das Mädchen. Sie kam auch einmal herein und suchte nach Gläsern.«

»Hat sie Sie gesehen?«

»Natürlich!«

Luff stand unvermittelt auf und ging hinaus. Bald darauf war er wieder zurück.

»Sie und Ihre Gattin standen sich seit einiger Zeit nicht besonders gut, nicht wahr, Herr Porcell?« fragte er, als er sich wieder zurechtsetzte.

Porcell stand mit verzerrtem Gesicht auf.

»Genau das habe ich Ihnen vor ein paar Minuten selbst gesagt. Aber das ist wohl eine völlig private Angelegenheit. Beverley ist jetzt tot.« Er mußte sich auf die Tischplatte stützen. »Sie war meine Frau, ich habe sie geliebt. Und mehr möchte ich nicht sagen.«

Inspektor Luff musterte ihn von oben bis unten.

»Na schön«, sagte er dann mit leisem Kopfnicken. »Für heute dürfte das genügen. Aber ich muß Sie ersuchen, in der Stadt zu bleiben, denn unter Umständen brauche ich Sie noch in den nächsten Tagen.«

Als sich die Tür hinter Porcell schloß, gab er Clavin einen leichten Stoß. »Los. Behalten Sie den Mann unter Beobachtung.«

Dann sah er selbstzufrieden zu Ballinger herüber.

»Also den Vogel hätten wir. Passen Sie auf, was ich Ihnen sage. Er ist heute morgen zurückgegangen, hat einen Streit mit seiner Frau bekommen und verlor dann den Kopf.«

Ballinger lächelte ironisch.

»Schnelle Arbeit, Inspektor.« Er sah auf seine Armbanduhr. »Ich gratuliere Ihnen, das Mordgeheimnis um Beverley Bancroft in weniger als vier Stunden gelöst zu haben. Aber in bezug auf die Kopflosigkeit von Porcell möchte ich Ihnen doch widersprechen. Ich zweifle sehr, daß dieser Mann jemals in seinem Leben den Kopf verloren hat. Er ist nämlich einer der besten Pokerspieler in dieser Stadt.«

Luff kramte in einer Schreibtischschublade nach Zigarren.

»Na, diesmal hat er eben den Kopf verloren«, beharrte er.

»Warum haben Sie ihn denn nicht verhaftet?«

»Weil ich«, erklärte Luff umständlich, »noch nicht ganz so weit bin. Der Kerl ist einer der ersten Drahtzieher hier in der Stadt, kennt den Bürgermeister, steht mit dem Polizeipräsidenten auf du und du und kennt fast alle großen Tiere. Der hopst uns wieder aus dem Gefängnis raus, bevor wir Zeit gehabt haben, ihn einzuregistrieren. Und wenn wir ihm ohne genügende Beweismittel den Prozeß machen – na, dann dürfte es mir schlecht gehen ...

Übrigens das Mädchen«, sprang er von diesem unangenehmen Thema ab, »muß mehr wissen, als sie uns bisher gesagt hat. Ich habe sie auch herholen lassen, nebenbei gesagt. Sie hätte mir nämlich sagen müssen, daß sie Porcell mit seiner Frau noch allein gesehen hat, nachdem die anderen fort waren.«

Marie, die gleich darauf bleich und übermüdet eintraf, gab alles andere als aufschlußreiche Informationen. Mit offensichtlicher Zurückhaltung gab sie zu, Porcell und Beverley allein in der Garderobe gesehen zu haben. Aber daß sie etwa gestritten hätten, leugnete sie entschieden. Im Gegenteil, sie schienen sehr freundlich miteinander zu sein.

Ja sicherlich, sie hätte das auch früher angeben können, gab sie zu, aber es erschien ihr nicht wichtig genug, denn sicherlich – ihre großen runden Augen weiteten sich schreckhaft – der Herr Inspektor dachte doch nicht etwa daran, daß der gnädige Herr den Mord begangen haben könne?

»Wenn es jemand von den Leuten heute abend war«, sagte sie energisch, »dann war es dieser Herr Redstone. Nämlich er hat schon einen Streit mit ihr gehabt, bevor die anderen kamen, weil sie zu oft mit dem Maler zusammen sei. Und ich hab' auch gehört, wie sie gesagt hat, er soll sie in Ruhe lassen. Ich glaube, sie wollte ihn schon lange los sein, und er ließ sich das nicht so einfach gefallen.«

»Warum wollte sie ihn denn los sein?«

»Ach Gott«, sie rümpfte das Näschen, »wirklich gern gehabt hat sie ihn ja niemals. Er ist nämlich ein sehr ordinärer Mensch. Sie war bloß seiner Stellung wegen nett zu ihm und weil er ein Theaterstück für sie schreiben lassen sollte. Herr Porcell ist viel, viel netter.«

Ballinger beugte sich interessiert vor.

»Also Herr Porcell«, sagte er betont, »war in – nun sagen wir einmal in finanzieller Hinsicht sehr nett zu Ihnen?«

Sie zupfte an ihrem Rock.

»Gott, er drückte mir manchmal etwas in die Hand, wenn Sie das meinen.«

»Natürlich als Belohnung dafür, daß Sie ihn über alles auf dem laufenden hielten, was im Hause geschah.«

Die Kleine sah ihn furchtsam an.

»Wer hat Ihnen das gesagt?«

Ballinger lehnte sich weit zurück.

»Das ist gleichgültig.«

Luff hakte sofort ein.

»Also Sie waren Herrn Porcells Spionin?«

»Ich ... ich ... nein!« Das Mädchen rang um ihre Fassung. »Ich war keine ... ich war keine Spionin. Es war bloß, weil ich Herrn Porcell mag und weil ich wollte, daß die beiden wieder zusammen kamen. Früher war es viel schöner.«

»Warum hatten die beiden sich denn getrennt«, forschte Luff.

Sie schüttelte den Kopf, daß die Haare flogen.

»Sie waren ja nicht getrennt. Bloß, Madam wollte unabhängig sein, und mehr alleine. Und sie dachte wohl, es wäre besser, wenn es eine Weile so bliebe, und deshalb ist der gnädige Herr ausgezogen. Aber er hat sie trotzdem schrecklich geliebt. Bestimmt mehr, als sie ihn.«

»Wen hat sie denn geliebt?«

»Ach, geliebt hat sie niemand besonders.«

»Haben Sie Herrn Porcell heute morgen fortgehen sehen?«

»Nein. Wie konnte ich auch? Ich war doch in der Küche und hab' die Gläser fortgestellt.«

»Dann wissen Sie also auch nicht, ob er mit ihr hinaufging?«

»O nein, ganz bestimmt hat er das nicht getan!«

Als sie hinausging, fragte Luff sein Gegenüber neugierig: »Woher haben Sie denn den Tip bekommen, daß Porcell sie bestochen hat?«

Ballinger machte ein indifferentes Gesicht. »Oh, das ist doch eine Sache einfacher Überlegung. Hinter der steinernen Maske, die Porcell trägt, verbirgt er Gefühle, wie sie jeder andere auch hat. Es ist doch klar, daß er auf Redstone eifersüchtig war. Verständlich also, daß er sich dort Informationen holte, wo er sie am leichtesten erhalten konnte.«

Luff klingelte dem Diensthabenden.

»Ist noch jemand draußen?« fragte er, als dieser eintrat.

»All die übrigen, Chef.«

»Schön, sie sollen hereinkommen. Einer nach dem anderen natürlich.«

Ruth Raynor, in einem eleganten, pelzbesetzten Kostüm, trat als erste ein. Außer einem leichten, unruhigen Glitzern ihrer Augen war ihr keine besondere Bewegung anzumerken. Sie war sorgfältig geschminkt und gepudert.

Mit einem leichten Spottblick auf des Inspektors qualmende Zigarre zog sie ihre Puderdose hervor und wischte mit dem Quästchen leicht über Nase und Wangen. Dann griff sie zu einer Zigarette. Nach ihrer Aussage hatte sie Beverley Bancrofts Haus zusammen mit Redstone verlassen. Sie war mit ihm gemeinsam ein Stückchen Broadway hinuntergeschlendert, und dann hatte er ein Taxi für sie herbeigerufen. Nein, er hatte sie nicht nach Hause begleitet. Er hätte gesagt, er müsse noch in den Klub. Gegen halb drei sei sie in ihrer Wohnung am Riverside Drive gewesen und wäre sofort zu Bett gegangen.

»In welchen Klub wollte Herr Redstone gehen?«

Sie blies zierliche Ringe in die Luft.

»Ich glaube, er erwähnte den Bühnenklub.«

»Welcher Art«, fragte Luff vorsichtig, »waren Ihre Beziehungen zu Herrn Redstone?«

Sie nahm eine starre Haltung an und sah aus zusammengekniffenen Augen auf Luff.

»Was wollen Sie damit andeuten?«

»Oh«, er suchte vergeblich nach dem richtigen Wort, »ich meine ... ob er ein intimer Freund von Ihnen war? Oder ...«

Sie schüttelte langsam den Kopf.

»Nicht sehr intim.«

»Hat bloß ein paar Stücke für Sie inszeniert, wie?«

Sie nickte.

»Hm, und wie ist es mit Frau Bancroft gewesen – war sie eine intime Freundin von Ihnen?«

»Nicht besonders.« Die elegante Frau drückte gelangweilt die Zigarette aus. »Ich kannte sie natürlich schon längere Zeit. Aber intime Freundin? ... Ich glaube, Sie werden überhaupt keine Frau finden, die eine Freundin von Beverley war. Sie hielt sich mehr an die Männer.«

Luff spielte angelegentlich mit einem Bleistift.

»Kennen Sie jemand, der irgendeinen Groll auf sie gehabt haben könnte?«

»Nein.«

»Und wie steht es mit Porcell oder Redstone?«

»Wirklich, ich kann nichts sagen.«

Als sie ging, nickte Luff verärgert Ballinger zu.

»Verdammt spärliches Resultat, was?«

Ballinger lachte kurz. – »Eins aber ist klar«, meinte er dann langsam. »Sie mag vielleicht nicht wissen, wer es getan hat, aber darüber, daß es geschehen ist, scheint sie heilfroh zu sein.«

»Stimmt«, knurrte Luff. »Nur bin ich noch nicht so sicher, ob sie nicht doch weiß, wer es getan hat. Aber jetzt wollen wir uns mal diesen Burschen, den Redstone, auf die Pfanne legen.«

Aber auch Redstone wußte wenig zu sagen. Wie er erklärte, hatte er Beverley seit Jahren gekannt und sie, so beteuerte er mehrmals, als großartige Schauspielerin bewundert. Er hatte ja auch extra für sie die »Tambourine« erworben. Nein, von ihrem privaten Leben wußte er nichts. Sein Verhältnis zu ihr war nur das eines Arbeitgebers.

»Aber ich glaube, sie hat kürzlich Streit mit ihrem Gatten gehabt«, setzte er dann hinzu. »Es schien aber nicht sehr ernsthaft zu sein, denn sie standen trotzdem noch sehr gut miteinander.«

Nein, auf der Gesellschaft hätte er nichts bemerkt, was irgendeinen Aufschluß geben könnte. Er und Ruth Raynor wären gegangen, als Porcell und Oefele auch schon zum Aufbruch rüsteten.

»Wo haben Sie Fräulein Raynor verlassen?« unterbrach ihn Luff ungeduldig.

»Ich bin ein Stück den Broadway mit ihr hinuntergegangen«, antwortete Redstone bereitwillig, »dann habe ich sie in ein Taxi gesetzt und bin nach Hause gefahren.«

Luff sah ihn durchdringend an.

»Ich denke, Sie sind in Ihren Klub gefahren?«

Redstone verneinte lächelnd:

»Das hab' ich doch bloß so gesagt, Inspektor. Meine Wohnung ist nicht weit von der ihren gelegen, aber ich war nicht danach aufgelegt, sie noch nach Haus mitzunehmen. So hab' ich ihr eben erzählt, daß ich noch 'ne Verabredung im Bühnenklub hätte. Fräulein Raynor ist nämlich ... Naja ...« Er machte eine vieldeutige Handbewegung.

Luff verzichtete auf weitere Fragen und entließ ihn, um Berenson hereinzurufen. Der Maler hatte sich offenbar in aller Eile angezogen. Seine Weste war nicht ganz zugeknöpft und sein Schlips unordentlich gebunden. Er schien völlig von dem benommen zu sein, was er soeben mit spärlichen Worten gehört hatte. Er übersprudelte sich vor Fragen nach Einzelheiten.

Mit erstaunlicher Geduld beantwortete Luff alle seine Fragen, und schließlich war der Maler überzeugt, daß der Schutzmann, der ihn aus dem Bett geholt hatte, mit der Nachricht von der Ermordung Beverleys die Wahrheit gesprochen hatte. Berenson erwies sich mehr als Hindernis, denn als Hilfe. Er hatte eine Unzahl von Fragen zu stellen, während er selbst kaum eine zu beantworten imstande war.

Nach seinen Ausführungen war er am Abend zu Beverley Bancroft gekommen, um sie zu fragen, ob sie ihm am nächsten Nachmittag schon um zwei statt um drei Uhr sitzen könne. Er war schon sehr früh mit Sanders und »dem Herrn dort drüben« fortgegangen.

»Ich kannte die Dame ja erst seit vierzehn Tagen«, sagte er, »seit Direktor Redstone mich beauftragte, ihr Porträt zu malen. Während der ganzen Zeit habe ich sie vielleicht zehnmal gesehen. Sie saß mir täglich ungefähr eine Stunde, und dann waren gewöhnlich immer Herr Redstone oder Herr Porcell dabei. Sie schienen beide ganz Zuhause zu sein. Übrigens eine recht seltsame Situation, so richtig klar bin ich niemals daraus geworden. Ich glaube, Herr Porcell war etwas weniger als ihr Gatte, und Herr Redstone etwas mehr als ihr Direktor.«

Der kleine Spanier Armando hatte noch weniger zu sagen. Er rutschte nervös auf dem Stuhlrand herum und beantwortete Luffs Fragen wie ein Schulbube in der Prüfung.

Er hatte Doris Nielan zu ihrer Wohnung in der 190sten Straße gebracht und war dann direkt nach Hause gegangen. Er wohnte in der 65sten West. Es war ungefähr drei Viertel drei geworden, meinte er, und er war dann gleich zu Bett gegangen.

Irgendeine eigene Meinung äußerte er nicht, sondern beschränkte sich völlig darauf, Luffs Fragen zu beantworten. Hin und wieder streifte er Ballinger mit einem scheuen Blick.

»Genug«, meinte Luff schließlich. »Das wäre alles.«

Armando saß vielleicht noch eine halbe Minute unentschlossen auf seinem Stuhl. Immer wieder sah er schnell und verstohlen zu Ballinger. Dann stand er unvermittelt auf und ging aus dem Zimmer.

»Von dem hören Sie noch«, meinte Ballinger, als er verschwand.

»Wieso?«

»Na, das ist sicher, er wünschte Ihnen noch etwas zu sagen, wollte aber als Quelle dieser besonderen Information nicht gerne bekannt werden. Offensichtlich störte ihn meine Anwesenheit.«

Am gesprächigsten von allen war Doris Nielan. Sie nickte Ballinger kurz zu und richtete ihre grauen Augen dann erwartungsvoll auf den Inspektor.

Was sie getan hätte, nachdem sie von der Gesellschaft fortgegangen sei?

Ihre Antwort war kurz und deutlich: nach Haus und ins Bett gegangen.

Nein, sie hatte nichts auf der Gesellschaft bemerkt, was auf den Mörder deuten könnte. Außerdem glaubte sie nicht, daß das Motiv der Tat erst um diese Zeit entstanden sei.

Luff schlug die Beine übereinander.

»Also erzählen Sie mir mal jetzt, was Sie über Beverley Bancroft wissen«, drängte er.

Sie suchte einen Augenblick nach einem Ausgangspunkt. »Also«, begann sie, tief Atem holend, »sie war eine ausgezeichnete Schauspielerin.«

»Ach nein!« Luff sah zur Decke. »Und was war sie für eine Frau?«

Doris Nielan unterzog ihre Fingernägel einer eingehenden Inspektion.

»Ach Gott, darüber sind die Meinungen sehr verschieden, Herr Detektiv. Ich fand sie schrecklich trotzköpfig, man konnte schwer mit ihr fertig werden. Ich hab' sie nicht besonders gemocht. Überhaupt, bei Frauen hatte sie gar keine Sympathien. Aber bei Männern desto mehr. Ich glaube, sie hielt alle Männer für ihr Eigentum. Wenn sie sich genug angestrengt hat, dann konnte sie ja auch alle kriegen, die sie wollte. Der arme Porcell hat sie schrecklich geliebt, und Redstone auch. Na, sie hat sie ja auch beide um den Finger gewickelt, wie sie wollte. Aber als ob ihr das genügt hätte, nein, sie mußte auch noch versuchen, Vincent zu kriegen.«

»Vincent?«

»Ja, Herr Armando, mein Bräutigam. Ich bin sicher, daß sie sich gar nichts aus ihm machte; sie hat nur mit ihm gespielt. So aus Eitelkeit. Sie war nämlich schrecklich eitel.«

»Warum«, fragte Luff sarkastisch, »sind Sie denn zu ihrer Gesellschaft gegangen, wenn Sie die Frau so wenig mochten?«

»Sie hat doch darauf bestanden, daß ich komme. Ihre Absicht war natürlich bloß, den Vincent in ihre Nähe zu kriegen. Ich wollte gar nicht gehen, aber als ihre Partnerin mußte ich doch schließlich, nicht wahr?«

* * *


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