Zur Jugendgeschichte des Johannes von der Ostsee
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DREIZEHNTER BRIEF

Alt-Fahrwasser bei Danzig 1785,
in den Zwölfen

Lieber Vetter!

Ich bin soeben einer dritten und sehr großen Lebensgefahr entronnen. Den zweiten Weihnachtsfeiertag hatte ich mir nämlich schon frühe vorgenommen, mit meinem jüngern Bruder nach der Legan Schlittschuh zu laufen, und dieser Plan wurde, wie der Nachmittag kam, auch wirklich ausgeführt.
Noch unter der Vesper liefen wir aus, und nah um drei Uhr waren wir schon durch die grüne Brücke durch, aus den spanischen Reitern hinaus und hinter dem Blockhause; die Gatter standen offen, und das Eis war, wie man sagte, sicher; denn es gingen schon starke Schlitten und Frachtfuhren auf Elbing und Thorn zu; auch machten sich viele Leute ein Vergnügen auf Schlittschuhen. Wie wir uns eine ganze Weile am Blockhaus aufgehalten, sah ich auf einmal hinter mich, wo mein jüngerer Bruder geblieben sei; denn da ich mit vollem Winde weniger lief, als segelte, so befürchtete ich, er möchte mir nicht nachkommen. Auch erblickte ich ihn in der Tat schon in einiger Entfernung. Ich wollte nun stehenbleiben und warten, bis er mich einholte; aber der Wind trieb mich so heftig, daß ich kaum Zeit genug hatte, ihm noch rückwärts mit meiner Hand einen Wink zu geben. Dies wäre mir indes bald teuer zu stehn gekommen; denn wie ich mich nun wieder mit dem Kopfe umwandte, sah ich, dicht zu meinen Füßen, eine Öffnung, aus welcher das Wasser ganz schwarz und klar hervorsprudelte. Und ich erschrak und wollte hinten mit den Schlittschuhen einsetzen und mich halten; aber ich konnte nicht. Und so Fuhr ich denn, mit aller Gewalt, in den offnen Schlund der Weichsel hinunter. Dabei verspürte ich ein solches Brausen in den Ohren, nicht anders, als wenn alle Kanonen von den Danziger Wällen vor denselben losgelassen würden. Und ich strebte mit Händen und Füßen, um womöglich wieder an die Wohne, wie sie es nennen, heraufzukommen; aber vergeblich, Und nach und nach verlor ich auch die Besinnung. Sollte es indes der Herr Vetter wohl glauben? Wie ich merkte, daß es mit mir zu Ende ging, und nachdem ich zuvor meine arme Seele Gott befohlen, stellte sich eine lebhafte Neugierde bei mir ein: was wohl aus derselben nach ihrem leiblichen Abscheiden werden möchte. Denn dieses war mein erster Gedanke unter dem Wasser. “So sollst du auf eine so klägliche Weise dein Leben einbüßen!” Mein zweiter: “Ach, meine armen Eltern, meine liebe Mutter, und mein herzlichster Vater, daß ich euch beiden in eurem Alter diese Betrübnis nicht ersparen kann!” Mein dritter: “Wenn nur Bruder Karl nicht auch auf dem Eise verunglückt!” Mein vierter: “Herr Jesu, dir leb ich, dir sterb ich, dein bin ich jetzt und in Ewigkeit! –” Wie ich amen sagen wollte, fühlte ich plötzlich eine Hand, die mich aus der Tiefe hervorzog. Und dies war mein jüngster Bruder Karl, der, als er das Unglück sah, das mich betraf, eilig herbeilief. Und obwohl die Fischer, die hier herumwohnen und die auf sein Geschrei aus ihren Hütten hervor und an das Ufer eilten, ihn laut genug warnten und winkten, weil es ein gefährlicher Fleck sei, daß er ja sich nicht zu nah hinwagen möchte – es ist nämlich eben da, wo sommerszeiten und wenn der Fischzug im Gange ist, oft ganze Schiffsladungen kleiner Fische von Polizei wegen in den Fluß geworfen werden, so daß von dem Öl, das sich daraus entwickelt, das Wasser eine so tranichte Beschaffenheit erhält, daß es im Winter nie zufriert –, so hat er sich dadurch doch nicht abhalten lassen, sondern ist bloß der Eingebung seines brüderlichen Herzens gefolgt und mir zu Hülfe geeilt. Und wie der Fluß mich wieder heraufbrachte – denn zum Glück war ich vom Blockhaus aufwärts, die Legane vorbei, gegen den Strom und das Fahrwasser gelaufen –, so ergriff er meine Hand und drückte sie so heftig, daß ich die blauen Male davon wohl noch viele Monden an meinem Leibe werde mit mir herumtragen müssen. Und wie ich ihm zu schwer wurde – denn meine Kleider hatten Wasser gezogen, und überdem bin ich ja viel größer und älter als er – und wie ich ihn zu mir nieder auf das Eis zog, so achtete er die Gefahr des Untergehens nicht, die ihn bedrohte, und obwohl er seinen Tod vor Augen sah, so ließ er meine Hand darum doch nicht los. Und als bei dem allmählichen Sickern des Eises und dem Zerbrechen der Tafeln die Stücken davon, die schärfer wie Glas waren, ihm Gesicht und Arm zerschnitten – ja als er schon mit dem halben Leib im Wasser lag und das Blut ihm warm aus den Kleidern drang, da schrie er laut und weinte heftig; aber seine heiße Bruderliebe hat mich darum doch nicht losgelassen. Endlich – und wie die Fischer mit dem ungestümen Zuruf: “Verwegner Blitzjunge, du siehst, daß du ihn nicht retten kannst! Laß ihn treiben, laß ihn treiben, auf Gottes Gnade!” von allen Seiten auf ihn eindrangen, so schrie er zwar noch lauter und betete und weinte noch heftiger zu Gott; aber er ist dennoch nicht von meiner Seite gewichen und hat Not und Tod recht brüderlich geteilt – bis zuletzt Haken und Stangen in Menge und von allen Seiten geschäftig herbeikamen und man uns beide, mich an den Händen, ihn aber an den Füßen, herausbrachte. Und wie man uns so allmählich ans Ufer zog, geschah es, daß, weil er auf dem Gesicht lag und mich so fest an der Hand hielt, sein Blut überall, wo unser Weg hinging, das Eis färbte. Und wie ich wieder am Ufer stand, ging alles mit mir um, und ich konnte mich kaum aufrecht halten; wußte auch lange nicht, ob ich im Himmel oder auf Erden, unter dem Eis oder auf dem Eis oder im Hause meines Vaters an der Lestadia war. Sie brachten mich aber in eine der Fischerhütten hinein, die nach der Münde zu, am Ausgang der Weichsel gelegen sind. Aber mein Bruder Karl, als ich, bei wiederkehrender Besinnung, ihn fragte, warum er so blutete, gab mir keine Antwort, sondern fiel mir weinend um den Hals, herzte und küßte mich und war nur froh, daß ich wieder lebte. Und so hat er’s denn die ganze ausgeschlagene Nacht getrieben und vor Unruhe kein Auge zugetan, sondern ist immerfort an mein Bett gelaufen und hat die Vorhänge hinweggezogen, um zu sehn, ob ich noch lebendig und nicht unten im Wasser bei den Fischen geblieben sei. Und sooft er dann, mit beständigem Hinhalten des Ohrs, sich überzeugt hatte, daß ich wirklich noch atmete, legte er sich wieder fröhlich in sein Bett und sagte zu meinen Eltern, die daneben in der Kammer schliefen: “Ja, er lebt noch!” Und wie ich mich wieder gänzlich erholt hatte, kamen alle unsere Gefreundete und Bekannte zu meinen Eltern und wünschten ihnen Glück zur Rettung ihres Sohnes. Und wir saßen zusammen und lobten und preisten Gott einmütiglich, daß er mich nicht einem elenden Tod zum Raube dahingegeben, sondern so wunder barlich durch die Hand meines guten. Bruders aus der Weichsel errettet hatte. Meine Muhme aber, Frau Anna Martens, die, welch an der Heiligen-Geist-Straße wohnt und mit Tuchen und englische Waren handelt (wie sie denn ein Mitglied der BrudergemeindenHerrnhuter Brüdergemeinen: eine 1722 entstandene pietistische Religionsgemeinschaft; bis heute existieren zahlreicheBrüder-Unitäten in allen Teilen der Welt. und auch sonst eine sehr gottesfürchtige Frau ist), legte mir die Hand aufs Haupt, segnete mich und sagte: “Johannes, Gott ist aber mal mit dir gewesen. Er wird dich nicht verlassen, noch versäumen, so du ihn nicht verlässest; denn ich weiß und bin dessen gewiß in meinem Geiste, daß dich der Herr zu seinem Dienst erkoren hat!”

VIERZEHNTER BRIEF
(Aus späterer Zeit)

Halle, Steinstraße, 1788, 1. Mai

O Vetter, liebster Vetter, wie oft habe ich gewünscht, noch ein Kind zu sein, wie damals, als die Hintertür in meiner Eltern Hause offenstand und ich hinaussprang in das Feld und auf die Schiffswerfte, die die Sonne bestrahlte, und mit andern Kindern Ball und Reifen spielte! Glückliche Zeiten, als rings die weißen Segel der Ostsee, in alle Weltgegenden einladend, vor mir lagen und jede jugendliche Hoffnung, mit einem flatternden Lüftchen, einnahmen! Wie oft habe ich, über den blauen Fluß gebogen, der in stolzer Abendruhe dahinzog, stundenlang zugehorcht, wenn alles ringsum, bis auf das Echo in den Speichern, still war und nur hier und da eine polnische Rohrpfeife Töne von sich gab oder über die Gewässer daher, die ihr mit sanftern Geplätscher antworteten, eine litauische Schalmei rief!
Alles dies ist nun vorbei. Diese ungekünstelten Empfindungen lassen sich mit nichts mehr zurückkaufen.

Weimar 1805. Aus meinem Tagebuch
Schon als ein Knabe von zwölf bis dreizehn Jahren, wenn ich zu Grau-München in den Kirchstühlen saß und den Namen Kleist vor mir auf. den Ränken eingezeichnet fand und es dann zu mir sagte, daß sein Fuß einst diese nämliche Stätte betrat, daß seine Hand einst auf dem nämlichen Platz ruhte, wo ich jetzt die meinige hinlegte, wie hat mir schon damals das Herz geklopft, wie das Leben mit seinen schalen Umgebungen mich angeekelt! Zuweilen bin ich dann hinausgelaufen, auf die Berge, in die Wälder und an die Ufer des Meeres, um das verschwiegene Leid meines Herzens an dem Busen der Natur auszuweinen und ihr für meine immer offenen Wunden 'einen Balsam abzufordern.

Jene ewig denkwürdigen Verse Kleists:Ewald Christian von Kleist (1715 - 1759): preußischer Major, Dichter empfindsamer Naturidyllen, starb an einer in der Schlacht bei Kunsdorf erlittenen Verwundung; besuchte ebenfalls das Gymnasium in Danzig.

Ja Welt,Annähernd wörtliches Zitat aus Ewald von Kleists Gedicht “Sehnsucht nach Ruhe” (1744), 20. Strophe. du bist des wahren Lebens Grab.
Oft reizet mich ein heißer Trieb zur Tugend,
Vor Wehmut rollt ein Bach die Wang herab;
Das Beispiel siegt, und du, o Feur der Jugend,
Du trocknest bald die edlen Tränen ein: –
Ein wahrer Mensch muß Fern von Menschen sein.

Wie oft habe ich sie mir von dem Echo der Ostsee wiederholen lassen! Und wenn ich sie nun von Klippe zu Klippe erschallen hörte und die Sehnsucht in mir erwachte, daß es mir doch ein Gott schenken möchte, wie dieser zu wirken und nicht ganz ohne Spur auf der Erde vorüberzugehen, fühlte ich mich milder in dem Gefühl der Wehmut, das mich mit seinem Andenken umgab, und die Nacht kam, und die Sterne waren still, wie eine ewige Hymne, mir zu Haupten aufgezogen. Und als ich nun älter wurde und mein Beruf mir klärer und immer klärer vor den Augen lag, da wünschte ich mir wieder ein Schwert, um es zu führen, wie er, und im Kriege zu fallen, wie er. – Und ich kann es getrost und mutig sagen: der armselige Rechenpfennig des Lebens ist mir immer das wenigste gewesen, und ich hätte ihn getrost Für jede edle Tat, die sich mir auf meinem Wege dargeboten, hingeworfen. Ist es dennoch so, und regiert uns alle kein Traum, sondern eine Bestimmung ewiger Gestirne, die jedem Menschen sein Lebensziel anordnet, so wird auch mich die dunkle Leitung meines Schicksals früh oder spät auf die 'Bahn führen, die mir zukommt! Welch eine Zeit, in die wir gefallen sind! Die Kunst selbst im Widerspruch mit der Natur. Die Politik mit der Freiheit! Eine kleine Gegenwart, die mit einer größern Zukunft schwanger scheint! Was wird, was muß alles dieses für Resultate herbeiführen? Eins davon ist schon gekommen, und dieses heißt:

Abschied der deutschen ReichsstädteSie wurden durch Reichsdeputationshauptschluß (1803) und den Rheinbund (1806) größtenteils mediatisiert.

Als sich zu ihrem Untergang
Einst deutsche Freiheit neigte,
Doch jede Mus im Hochgesang
Noch ihren Priester zeigte.

Als Goethe hinschritt zum Parnaß
Von Frankfurts Traubenhöhen,
Aus Biberach, wo Wieland saß,
Und Klopstock war zu sehen:

Da sprach betrübt die alte Kunst,
Als sich die Künstler setzten:
»Herr Albrecht Dürer, da mit Gunst,
Schau her! Es sind die Letzten!

Gib, Vater Holbein, ihnen Ehr,
Im Tanz der Pieriden!
Nun klirren Waffen und Gewehr;
Mein Reich ist nun verschieden!

Sie wollen nur, was nutzt und frommt
In Zukunft ihren Staaten:
Geliebte Kinderchen, nun kommt,
Fliehn wir vor den Soldaten!

Kommt! Lasset uns auf andern Höhn
Uns Lorbeerkränze winden!
Die sollen scharfes Auges sehn,
Die hier uns wiederfinden!”«

Sag selbst, teuerste Freundin, ist es nicht so, als ob alle deutsche alte Reichsstädte beschlossen hätten, noch kurz vor Torschluß jegliche irgendeinen Abgesandten an den Parnaß zu schicken? So ist nur neulich wieder der ehrliche Meistersänger GrübelJohann Konrad Grübel (1736 – 1809), Nürnberger Mundartdichter, Klempnermeister. Seine “Gedichte”, 2 Bände, Nürnberg 1798/1800 wurden 1805 von Goethe in der “Jenaischen Allgemeinen Literaturzeitung” positiv rezensiert, zuvor (1798) in der “Allgemeinen Zeitung” aus Nürnberg eingetroffen – und mehrere. Und so habe ich mich denn auch in Gottes Namen auf den Weg gemacht und fast als ein Knabe das Haus meiner Eltern verlassen, und die dunkle Heimat, und die Werkstatt meiner Jugend, und stehe nun hier, in der Fremde, ohne weitere Freunde und Bekannte, als die mein Talent mir verschafft, mitten in einer ehrwürdigen und großen Versammlung und weiß ja selbst nicht, wie ich dahin gekommen bin; begehre auch dessen, was ich getan habe oder noch tun werde weder Lob noch Bewunderung; des Tadels aber ist mir ohnedies genug zuteil geworden – denn sofern einiges Verdienst dabei ist oder ein Makel, so ist beides ja nicht mir beizumessen, sondern lediglich meinem Schicksal, das mich wunderbar geführt von meiner Jugend an und in einer harten Schule erzogen hat, so daß ich wohl mit größerem Rechte als mancher von sich sagen kann: Ein Gott hat mich getrieben, und ich habe es nicht lassen können!


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