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I. Einheit und Vielheit

Ordnung und Freiheit

Die Natur, wie sie uns als Dasein umgibt, zeigt ein bloßes Nebeneinander der Elemente, keinen inneren Zusammenhang, in lauter gegenseitigen Beziehungen verläuft hier das Leben. Wo immer dagegen geistiges Leben sich regt, da entsteht das Verlangen nach einer Überwindung jenes Nebeneinander und nach Herstellung eines inneren Zusammenhanges, ja nach einem Ganzen des Lebens; alle einzelnen Hauptrichtungen der geistigen Arbeit enthalten ein Hinausstreben über einen Gegensatz und fordern irgendwelche Einigung. So will das Streben nach Wahrheit die Spaltung von Mensch und Sache, von Subjekt und Objekt, von Denken und Sein überwinden; so handelt es sich beim Guten engeren Sinnes um eine Befreiung vom kleinen Ich, um ein Durchbrechen der anfänglichen Enge und den Gewinn einer inneren Gemeinschaft; so will auch das Schöne einen Gegensatz überbrücken, indem es Sinnliches und Unsinnliches zu vollem Ausgleich zu bringen sucht. Zugleich erzeugt das Streben eine Gemeinschaft der Teilnehmer und verbindet sie zu einem zusammenhängenden Ganzen. Es ist nicht eine Sache des einzelnen Menschen, sondern des ganzen Geschlechts, es sucht nicht bloß einzelne Wahrheiten, sondern ein Reich der Wahrheit, das die Individuen umspannt und erhöht, ja das unabhängig von den Menschen bei sich selber gelten will. Ähnlich steht es mit dem Guten und Schönen; mag dabei noch so viel Streit und Zersplitterung walten, selbst der Streit wäre nicht zu verstehen, ohne den Glauben an eine gemeinsame Wahrheit und ohne die bewegende Kraft dieser Wahrheit.

Aber wie das Einheitsstreben einen unbestreitbaren Grundtrieb alles Geisteslebens bildet, so enthält es zugleich ein schweres Problem, an dem die Weltgeschichte rastlos arbeitet. Denn es handelt sich darum, wie die Einigung dem Menschen erreichbar ist, und welche Gestalt das Ganze annehmen muß, um die Mannigfaltigkeit in sich aufzunehmen und die Gegensätze zu überwinden. Verschiedene Versuche erscheinen dabei, und viel Bewegung erschließt sich dem Blicke dessen, der die Jahrtausende geistig durchwandert. Wir beginnen unserem Plane gemäß vom griechischen Leben. – Die Philosophie der Griechen hat den Hauptzug zur Einheit, sie neigt dazu, diesem Zuge alles unterzuordnen und einzufügen, was das Leben an Mannigfaltigkeit bietet. Einen einzigen Grundstoff suchen gleich ihre ersten Denker, die Ionier, einen zusammenhängenden Weltbau, einen Kosmos, lehren die Pythagoreer, selbst die Ausschließlichkeit eines einheitlichen Seins wird früh von den Eleaten vertreten und alle Vielheit zu einem bloßen Scheine herabgesetzt. Aber das griechische Leben hängt zu sehr an der bunten Fülle der Wirklichkeit, um diese gänzlich preisgeben zu können; so stellt sich die Aufgabe dahin, ein festes Verhältnis von Einheit und Vielheit zu gewinnen und unter Herrschaft jener die Mannigfaltigkeit zusammenzuschließen. Indem Plato eine Gedankenwelt, die Ideenlehre, über alle Zerstreuung menschlicher Lage und Meinung hinaushebt, werden ihm die Gedankengrößen zu lebensvollen Gestalten; diese Gestalten verbinden sich zu einem Ganzen des Alls, das bewegend und erhöhend in das menschliche Dasein hineinwirkt und ihm eine tiefere Grundlage gibt. Auf dem Grunde wissenschaftlicher Arbeit entsteht hier eine künstlerische Lebensordnung, die auch von der Vielheit nicht das mindeste aufgibt, die aber einem jeden innerhalb des Ganzen seine besondere Stelle und seine besondere Aufgabe zuweist. Sein besonderes Werk kann es aber nicht verrichten, ohne Grenzen anzuerkennen und den rohen Naturtrieb zu überwinden, vom Ganzen her geht ihm eine Veredelung, ja eine Vergeistigung zu. So wird der ganze Umkreis des Lebens durchgebildet, in sich abgestuft, zum Ebenmaß und zur Harmonie gestaltet, es erfolgt hier mit Hilfe der Philosophie eine Unterwerfung aller bloßen Natur unter die Macht des Geistes.

 

Eine derartige Bewegung ergreift alle Richtungen des Strebens und gibt ihnen eine eigentümliche Art. Das Denken ist hier nicht ein kritisches Sichten und Zerlegen, ein Vordringen zu kleinsten Elementen, sondern es ist ein Zusammenschauen der Mannigfaltigkeit, ein Herausheben des Grundgefüges des Alls aus dem Chaos der ersten Erscheinung. Seine Hauptbewegung geht hier vom Ganzen zum Einzelnen, das Erkennen hat hier vornehmlich jedes einzelne Sein und Geschehen an seinen rechten Platz zu bringen und es aus seiner Leistung für das Ganze zu verstehen. Auch das Seelenleben des Menschen hat ein Gesamtwerk zu verrichten, das die einzelnen Teile und Stufen umspannt. Wie aber jede einzelne Seele eine derartige Aufgabe in sich selbst trägt, so gilt es, auch im menschlichen Zusammensein der Vereinzelung der Individuen mit ihrer Willkür und Selbstsucht entgegenzuwirken; der Gedanke eines auf Wissen gegründeten Staatsgefüges steigt und will sich durchsetzen, eine wesentliche Erhöhung wird davon erwartet, daß jenem Ganzen die Richtung auf geistige Güter gegeben, und daß durch die Abstufung der Stände die Arbeit gegliedert wird. Auch die härtesten Konsequenzen, wie der sonderbare Kommunismus der höheren Stände, werden nicht gescheut, wenn es nötig scheint, um die Selbstsucht in der Wurzel zu brechen. Aber alle Hingebung an das Ganze besagt keine völlige Aufopferung der Individuen, denn in der Einfügung befriedigen sie auch ihre eigene Natur und finden sie im Glück des Ganzen zugleich das eigene Glück.

Aristoteles steht in engem Zusammenhang mit dieser Lebensgestaltung, jedoch hat er auch bedeutende Weiterbildungen vollzogen. Der Zug zum Ganzen wirkt hier in voller Kraft, aber das künstlerische Vermögen mit seinem anschaulichen Bilden wird schwächer, dafür gewinnt das ordnende und gliedernde Denken den weitesten Raum, und es ist namentlich der Gedanke der allumfassenden Lebensentfaltung, der Versetzung des Daseins in volle Betätigung, der dem Denken Richtlinien gibt. Die Arbeit entwickelt hier vornehmlich einen systematischen Charakter, sie unterwirft die Welt im großen und kleinen der Idee eines gegliederten Ganzen, einer organischen Lebensweisheit. Mit besonderer Kraft und Klarheit bricht hier der Gedanke durch, daß ein organisches Lebewesen eine Fülle von Organen und Funktionen umfaßt und sie mit Hilfe der Zweckidee verständlich macht; dieser Gedanke des Organismus wird schließlich auf das ganze All übertragen, auch dieses bildet eine geschlossene Einheit, die nirgends ins Unbestimmte verläuft und nichts »Episodenhaftes« duldet. Mehr noch als bei Plato reicht hier die Grundüberzeugung in alle einzelnen Gebiete hinein. Das Denken wird zu einer logischen Durchgliederung der ganzen Wirklichkeit, es ist bereit, alle Eigentümlichkeit anzuerkennen, aber es läßt das Einzelne nie aus dem Zusammenhange herausfallen; einfache Grundgedanken beherrschen alle Gebiete, und auch bei scheinbarem Auseinandergehen hält das Band der Analogie sie zusammen. Auch das Seelenleben soll alles Vermögen entfalten, eine Gesamttätigkeit jedoch alles besondere Wirken umspannen und es nach ihren Zielen messen. Eine besondere Kraft und Anschaulichkeit erlangt der Gedanke des Ganzen bei der Staatsidee; wie jedes Glied nur im Zusammenhang mit dem Gesamtorganismus leben und wirken kann, so scheint erst die Gemeinschaft den Menschen zum vollen Menschen zu machen. So kann es heißen, der Staat sei früher als der Mensch. Zugleich wird innerhalb des Staates eine möglichst genaue Verzweigung verlangt, sowie die Gesinnung jedes Einzelnen zur Mitarbeit aufgerufen.

Die gemeinsame Arbeit beider Denker hat dem Leben einen festen Zusammenhang vorgehalten und das Einheitsverlangen des Lebens in hervorragender Weise befriedigt. Die Einigung erfolgt durch ein enges Bündnis von klarem Denken und künstlerischem Schaffen. Die Hauptleistung ist hier die kräftigste Durchbildung des ganzen Umfangs des Daseins, es bleibt hier nichts draußen liegen, sondern vom Größten bis zum Kleinsten wird alles ergriffen, gestaltet, belebt. Der Mensch erweist hier das Vermögen, den Gedanken eines überlegenen Ganzen zu bilden, darin eine reiche Mannigfaltigkeit gegenwärtig zu halten, von hier aus den ganzen Umkreis der Wirklichkeit in einen inneren Zusammenhang zu bringen. Diese Art des Einheitsstrebens hat sich durch den Gesamtverlauf der Geschichte gehalten, sie ist oft mit verjüngter Kraft zu neuer Wirkung gelangt und scheint unentbehrlich für die geistige Aneignung der Breite und Fülle des Daseins. Aber als führende Lebenssynthese hatte diese Leistung Voraussetzungen, die immer mehr Widerstand fanden. Nicht nur bedarf es einer hervorragenden geistigen Kraft, um eine solche Synthese zu vollziehen, auch in der Sache setzt sie ein Zusammenstreben der Dinge, eine innere Harmonie der Wirklichkeit voraus, die durch die weitere Bewegung des Lebens immer unsicherer wurde. Zunächst behielt jene Lebenssynthese ihre führende Stellung nicht. Indem Philosophie und Einzelwissenschaften weiter auseinandertreten und jene sich vorwiegend zur Lebensweisheit gestaltet, fällt die Beherrschung des ganzen Umkreises der Wirklichkeit durch einfache Grundgedanken. Noch weniger fügen die Individuen sich der von jenen Denkern empfohlenen Bindung. Bei zunehmender Lockerung der alten Lebenszusammenhänge wird zum Hauptanliegen, dem Individuum eine Festigkeit bei sich selbst, eine Unabhängigkeit gegen alle Umgebung zu sichern; die Philosophie tut das namentlich, indem sie den Menschen mit dem Gedanken des Weltalls beschäftigt und ihm eine alles durchdringende Allvernunft mit ihrer Gesetzlichkeit gegenwärtig hält. Das volle Selbständigwerden des Individuums findet namentlich in der stoischen Lehre einen klassischen Ausdruck, hier entspringt der Begriff der weltüberlegenen Persönlichkeit, und das Teilhaben am Weltgedanken läßt das Menschsein als einen hohen Wertbegriff erscheinen. Zugleich ergibt sich ein unsichtbarer Zusammenhang aller Menschen, es entwickelt sich das Bewußtsein einer inneren Verwandtschaft, einer Zusammengehörigkeit alles Menschenwesens.

Ein solches Ergreifen und Gegenwärtighalten des Weltgedankens aus eigner Kraft verlangt heldenhafte und selbstwüchsige Individuen. Solche aber gibt es zu allen Zeiten wenig, und es konnte jene Lösung um so weniger befriedigen, je mehr gegen den Ausgang des Altertums das Gefühl der Unsicherheit, der Schwäche, der Hilfsbedürftigkeit um sich griff. Die Verwicklungen des Lebens scheinen schließlich zu groß, als daß der Mensch aus eignem Vermögen ihnen gewachsen werden könnte. Daraus entspringt immer mehr Verlangen nach Religion und schließlich eine Wendung zur Religion. Das Einheitsstreben aber erhält damit statt eines künstlerischen einen religiösen Charakter. Die Einheit wird nun nicht sowohl im Zusammenschluß der Mannigfaltigkeit zu einem gegliederten Werke, als durch die Wendung zu einem aller Vielheit überlegenen und sie begründenden Sein gesucht, und wenn den Griechen auch nie wie den Indern die Vielheit zu einem bloßen Scheine herabsank, sie daher auch nie einem ausschließenden Monotheismus huldigten, so wird ihnen mehr und mehr am Lebensbestande nur das bedeutend, was die Einheit des Alls zum Ausdruck bringt. Das Leben erhält damit einen gewaltigen Antrieb und Aufschwung, aber die Durchbildung geht verloren, welche das ältere Schaffen bot.

Eine philosophische Gestaltung hat der neuen Art namentlich Plotin gegeben. Die Philosophie vollzieht hier eine eingreifende Wendung namentlich in der Richtung, daß sonst die Religion dem Glück des Menschen zu dienen hatte, jetzt aber der Schwerpunkt sich in das All verlegt und der Mensch nur von diesem her ein Leben und Wesen zu empfangen hat. Hier trägt und durchflutet ein einziges Leben den ganzen Umkreis der Wirklichkeit und macht sie zu seiner Entfaltung, an ihm hängt alle Mannigfaltigkeit und zu ihm strebt alles zurück. Viele Bilder versuchen zu zeigen, wie das eine den ganzen Reichtum der Welt hervorbringen kann, ohne irgendwie sich selbst zu verlassen und über sich hinauszustreben. Es ist wie das Licht, das weithin strahlt, ohne seine Leuchtkraft irgendwie zu mindern, wie der Urquell, aus dem alles stammt, und der selbst unerschöpflich fortrinnt, wie die Wurzel eines Baumes, der sich zur Welt entfaltet, aber nicht in solche Entfaltung aufgeht. In diesen Zusammenhängen ist der Kern des geistigen Lebens und zugleich der Philosophie nichts anderes als ein Suchen und Ergreifen der Einheit, alle verschiedenen Gebiete sind nur Wege zur Einheit. Da aber die letzte Einheit jenseits aller besonderen Formen und auch jenseits aller Begriffe liegt, so kann das Denken auch bei höchster Anspannung seiner Kraft der Forderung nicht genügen, nur ein unmittelbares Erfassen kann uns jene Einheit zu eigen geben; das Denken schlägt um in ein gestaltloses Gefühl, eine unaussprechliche Stimmung, welche gar nichts anderes als Einheit will. So hat es sich mit jener Wendung als reines Denken zerstört, aber aus der gewaltigen Erschütterung ist ein Selbständigwerden des Innenlebens hervorgegangen und ein neuer Lebenstypus seelischer Bewegung, mit sich selbst befaßter Innerlichkeit entsprungen.

In der näheren Durchführung erhält das Leben hier eine zwiefache Gestalt: eine hierarchische und eine mystische. Hier wie dort ist das Streben durchweg auf die Einheit gerichtet, aber die hierarchische Ordnung ergreift sie durch verschiedene Stufen hindurch, die mystische dagegen will sich ihrer unmittelbar bemächtigen. Jene läßt die Mannigfaltigkeit stehen, aber sie bringt sie in eine feste Ordnung und versteht sie als eine fortlaufende Kette des Lebens. Von der Ureinheit geht hier das Geistesleben als die erste Stufe aus, daran reihen sich als weitere Stufen Seele und Natur. Jedes Gebiet empfängt an seiner Stelle das Leben von dem nächsthöheren Sein und führt es von sich aus dem niederen zu. Ein solcher Zusammenhang gibt auch dem einen Wert, was für sich unvollkommen scheinen mag; nur eine Verkennung dieses Zusammenhanges kann Böses in der Wirklichkeit zu entdecken meinen, da es in Wahrheit nur ein Mindergutes bedeutet. Mit solchem Gedanken der Abstufung und der absteigenden Mitteilung des Lebens von oben her nach unten hin ist ein Prinzip der Anordnung gewonnen, das auf christlichem Boden zu großer Wirkung gelangen sollte. – Die Mystik dagegen setzt den Einzelnen in ein unmittelbares Verhältnis zum unendlichen Leben, sie möchte ihn so ganz darin aufgehen lassen, daß dieses Leben zu seinem eignen wird; indem er alles ablegt, was ihn absondert und unterscheidet, indem ihn nichts mehr fesselt, was unter den Menschen Glück heißt, fühlt er sich von aller Enge und Dürftigkeit des bloßen Punktes befreit, und glaubt er im Erlöschen selbst ein unvergleichlich höheres Leben und eine echte Seligkeit zu gewinnen. Hier zuerst erscheint im westlichen Leben mit voller Klarheit die Macht, die der Gedanke einer gänzlichen Preisgebung des Ich und eines Aufgehens in ein unendliches Leben auf die Seele zu üben vermag; daß der Mensch allem Bloßmenschlichen völlig entsagen und den ganzen Reichtum der Wirklichkeit aufgeben kann, ohne damit ins Leere zu fallen, das vornehmlich scheint ihn einer Weltüberlegenheit zu versichern und den letzten Tiefen des Alls zu verbinden. So dünkte er sich nirgends größer als in solcher völligen Preisgebung aller Sonderart. Diese Bewegung hat wie ihre Größe so auch ihre Gefahr darin, das Leben auf einen einzigen Punkt zu stellen; wohl ist aus solcher Konzentration der Gedanke einer reinen Innenwelt aufgestiegen, und es hat hier die Anerkennung der unmittelbaren Gegenwart unendlichen Lebens der Seele eine allzeit offene Zuflucht eröffnet, aber zugleich zwingt die Abstreifung aller Besonderheit das Leben, auf allen näheren Inhalt und auf alle Durchbildung der Wirklichkeit zu verzichten. Aber trotz solchen Mangels bleibt jene Denkweise ein unentbehrliches Stück aller Entwicklung selbständiger Innerlichkeit; so zieht sie sich nicht nur durch das Mittelalter hindurch, sie bricht auch auf dem Boden der Neuzeit in neuen Formen hervor und erweist ihre fortquellende Kraft auch in der Gegenwart. Auf eine unmittelbare Gegenwart des unendlichen Lebens in der Seele läßt sich nicht wohl verzichten, ohne daß das Leben an seelischer Tiefe und voller Ursprünglichkeit verliert.

Zwei Entwicklungen des Lebens traten uns gegenüber, eine künstlerische und religiöse, jene will die Welt in ein gegliedertes Gefüge bringen, diese alle Mannigfaltigkeit auf eine allesbegründende Einheit führen; das ergibt verschiedene Gestaltungen, Aufgaben, Grundgefühle. Aber es verbleibt ein gemeinsamer Boden: beide Lebensordnungen setzen eine fertige und geschlossene Welt voraus, beide finden die Hauptaufgabe darin, dieser Welt durch das Denken verbunden zu werden; beide wollen die Welt nicht sowohl umgestalten als anschauen, sich ihrer Herrlichkeit erfreuen; beiden steht das Denken vor dem Handeln; es kann uns mit seinem Betrachten aus dem Ganzen mit allem versöhnen, was der erste Anblick der Wirklichkeit an Mißständen und Leiden bietet. Hier schöpft unsere Seele allen Gehalt aus dem All; das All selbst aber erscheint als ein bei sich selbst vollendetes Ganzes, es ist weniger eine Tatwelt als eine ewige Ordnung und ein überlegenes Schicksal.

 

Das christliche Leben stellt sich eigentümlich zum Problem der Einheit und Vielheit: einerseits folgt es dem Altertum, andererseits erzeugt es neue Anblicke und Aufgaben. Schon daß das Christentum seinem unterscheidenden Charakter nach eine Religion von ethischer Art ist, treibt nach verschiedener Richtung: die Moral verlangt ein Handeln und damit eine Selbsttätigkeit wie Selbständigkeit des Individuums, die Religion dagegen gewinnt nur volle Kraft, wo der Mensch seiner Schwäche bewußt ist und bei höheren Mächten Hilfe sucht. Der ethische Zug überwiegt zunächst in der Fassung der Gottesidee, die gegen die griechische Welt aufs wesentlichste verändert wird. Denn in dieser bleibt das Göttliche, auch bei der späteren Erhebung über alles sinnliche Dasein, mit dem Ganzen der Welt eng verbunden und verwachsen, es löst sich nicht als eine selbständige Kraft von ihr ab und tritt ihr nicht frei gegenüber; so erscheint auch sein Wirken weniger als ein freies Handeln denn als ein Naturprozeß, der nur ins Geistige gehoben ist, es wird als ein Ausfließen, Ausstrahlen, Hervorgehen, jedenfalls als ein Geschehen aus Notwendigkeit vorgestellt. Das Christentum dagegen sieht in Gott eine selbständige, der Welt überlegene, rein bei sich selbst befindliche Geistigkeit, sein Wirken wird als ein freies Handeln, seine Mitteilung als die Eröffnung einer seelischen Gemeinschaft gedacht. Der Wandlung im Begriff des göttlichen Wesens entspricht ein neues Verhältnis des Menschen zu ihm. Der Grieche sucht auf der Höhe philosophischer Arbeit sich der Gottheit durch möglichste Steigerung der Erkenntnis zu nähern und dabei ganz mit ihr zusammenzufließen, das Leben kehrt hier nicht wieder an den Ausgangspunkt zurück, um Neues und Höheres aus ihm zu machen. Dies aber geschieht auf christlichem Boden, indem das Verhältnis zur Gottheit auch im Einzelnen eine neue Tiefe des Lebens eröffnet und ihn auch in seiner Besonderheit zum Gegenstand göttlicher Liebe und Fürsorge macht. Das Einzelwesen, das von Natur und Gesellschaft so gleichgültig behandelt zu werden pflegt, gewinnt aus solcher Beziehung einen unendlichen Wert und darf sich als einen völligen Selbstzweck betrachten, zugleich aber findet es in sich selbst eine Aufgabe, die allem Wirken ins Weite und Ganze vorangeht. Das aber gilt für alle Menschen unterschiedlos, es bemißt und begrenzt sich nicht nach dem Grade der Leistung, sondern es hängt am Ganzen der Seele und seiner Richtung, an dem Aufgebot tätiger Gesinnung. So ein weiter Abstand von der griechischen Denkweise, welche die Verbindung mit der überlegenen Einheit zur Sache des Erkennens nicht machen konnte, ohne große Unterschiede anzutreffen und nur wenige zur vollen Aneignung Gottes zu berufen. Auch das wirkt zur Steigerung des Individuums, jedes einzelnen Individuums, daß in der ethisch gerichteten christlichen Gedankenwelt das griechische Ideal der Gerechtigkeit dem der Liebe weicht. Wenn dort die Leistungen über die Stellung im Ganzen entscheiden, so konnte das Geringe und Schwache keine volle Schätzung erhalten; dagegen gewinnt es einen Wert, wenn sich in jedem Menschen eine Aufgabe reiner Innerlichkeit eröffnet, und wenn unendliche Liebe alles, auch das Geringste, im gleichen Grade umfaßt.

Wird mit dem allen die Bedeutung des Individuums und seiner Entscheidung erheblich gesteigert, so wird zugleich ein fester Zusammenhang mit dem Ganzen nicht aufgegeben, vielmehr wirkt vieles zu seiner Verstärkung. Gerade weil das Christentum das Verhältnis zur Gottheit nicht in einzelne Beziehungen und Leistungen setzt, sondern in ihm eine Umwandlung der ganzen Seele sucht, kann der Einzelne die entscheidende Wendung nicht von sich aus erzwingen, sondern ein neues Leben muß ihm aus überlegener Macht und Gnade entgegenkommen, ein Reich Gottes muß sich ihm eröffnen und die Bereitwilligkeit darin einzutreten in ihm erwecken. Welttaten müssen vorangehen, damit an der einzelnen Stelle eine Umwälzung stattfinden könne, oder, wie Hegel es in seiner Sprache ausdrückt: »daß der Gegensatz an sich aufgehoben ist, macht die Bedingung, Voraussetzung aus, die Möglichkeit, daß das Subjekt auch für ihn sich aufhebe«.

So enthielt das Christentum, wie es jede geistige Bewegung großen Stils auf dem Boden der Menschheit zu tun pflegt, harte Widersprüche, die irgendwelche Ausgleichung finden mußten; die Art der Ausgleichung aber ward vornehmlich durch die Art der Zeit bestimmt, in welcher das Christentum eine geschichtliche Festlegung erhielt. Es war das eine Zeit starker Herabsetzung des Lebensmutes und Lebenstriebes, eines Unsicherwerdens der Menschheit über sich selbst, einer Auflösung geistiger Zusammenhänge. Die alte Zeit ging zu Ende, und eine neue war noch nicht erschienen. So trat vor alles übrige Streben das Verlangen nach einem festen Halt, man wollte seiner Rettung zweifellos versichert und von aller eignen Verantwortung möglichst entlastet sein, man wollte es um so mehr, als eine durch trübe Erlebnisse eingeschüchterte Denkweise den Gedanken des ewigen Lebens vornehmlich als eine Angst vor ewigen Strafen empfand. Das drängte zu williger Unterwerfung unter eine überlegene Autorität, sowie zu einer möglichst handgreiflichen Art des Glaubens. In solcher Lage war das Christentum der damaligen Menschheit ein fester Halt, aber es erfuhr zugleich eine Vergröberung, eine Wendung ins Sichtbare und ins Sinnliche. So kam es, daß die Kirche mit ihrer engen Verflechtung der sichtbaren und der unsichtbaren Ordnung mehr und mehr das Christentum in sich aufnahm, daß sie den Schatz der göttlichen Gnade zu verwalten schien und dem Einzelnen gegenüber zur unantastbaren Autorität ward. Das Mittelalter hat das weitergeführt und dabei dem Gedanken einer von der Religion getragenen Organisation, einer festen und greifbaren Organisation, die Herrschaft über die Gemüter gegeben. Was immer diese Wendung an Verwicklungen und Mißständen mit sich gebracht hat, das darf ihre Größe nicht verkennen lassen. Nirgend anders als hier ist im gesamten Lauf der Geschichte der Versuch gemacht worden, die ganze Menschheit auf Grund gemeinsamer Überzeugungen in einen festen Zusammenhang zu bringen, sie nicht nur durch einen äußeren Zwang, sondern auch innerlich zu verbinden. Zugleich wird die geistige Ordnung tief in das Menschliche hineingezogen und empfängt daraus starke Einflüsse, ihre nähere Gestaltung wird dadurch mitbestimmt, was der Mensch an Bedürfnissen hatte, oder was nötig schien, um ihn in Bewegung zu setzen; im Gesamtergebnis ist hier eine einzigartige Ausgleichung zwischen Geistigem und Bloßmenschlichem geschlossen, wobei jenes grundsätzlich seine Überlegenheit wahrt, in der näheren Ausführung aber weithin vom Menschlichen fortgerissen wird. Diese Ausgleichung herzustellen, hat niemand mehr gewirkt als Augustin, ein Mann, der zugleich ein starkes Verlangen nach einem weltumspannenden Geistesleben und das tiefste Gefühl für die Bedürfnisse und Schwächen des Menschen besaß.

Der Organisationsgedanke hat seine volle Ausbildung erst im Mittelalter erlangt; er hat hier nicht nur das Verhältnis des Individuums zur Gemeinschaft, sondern auch das der einzelnen Lebensgebiete untereinander bestimmt. Indem die religiöse Gemeinschaft als Kirche vorantritt, wird dem Einzelnen ein fester Halt gegeben, ihm die Richtung seines Lebens gewiesen, er zu bestimmten Leistungen mit sanfterem oder stärkerem Zwange genötigt. Damit wird ein gewisser Stand des Lebens erreicht, eine gewisse geistige Regung bewirkt und eine Disziplinierung der Massen vollzogen. Aber zugleich sind die Grenzen dieser Leistungen nicht zu verkennen. Jene Unterordnung und Bindung bringt unvermeidlich ein starkes Sinken der Selbständigkeit mit sich, und mit der Selbständigkeit muß auch die Innerlichkeit Schaden erleiden; es läßt sich nicht der Hauptwert des Menschen an die Verrichtung gewisser Übungen und Leistungen, an die Erfüllung seiner religiösen, das heißt kirchlichen »Verpflichtungen« knüpfen, ohne daß, was im Innern des Menschen vorgeht, zur Nebensache wird und die Gesinnung zurückdrängt. Mehr und mehr wird der Schwerpunkt des Lebens aus der Seele des Einzelnen herausverlegt und er wie ein bloßer Anhang des riesenhaften Kirchensystems behandelt. In konsequenter Entwicklung dessen wird die Kirche nicht nur zum alleinigen Träger der Wahrheit, sondern auch zum moralischen Gewissen der Menschheit, ihre Diener befinden darüber, was jeder als wahr zu erachten und als gut zu erstreben habe, sie glaubt ihn ewiger Seligkeit versichern oder zur Unseligkeit verdammen zu können. Je mehr sich das durchsetzt und einlebt, damit aber die Ursprünglichkeit des Lebens an den einzelnen Stellen versiegt, desto mehr muß der Mensch seine Größe in williger Unterwerfung finden, desto mehr erhält die Frömmigkeit den Charakter einer willigen Devotion, desto weniger Platz ist für eine selbständige Überzeugung und Gesinnung, für aufrechte und selbsttätige Persönlichkeiten. Das Handeln wird bei solcher Unterordnung der Persönlichkeit einen überwiegend passiven Charakter annehmen; so wurde den Modernisten die Hochschätzung der aktiven Tugenden geradezu zum Vorwurf gemacht. Das Organisationsstreben des Mittelalters ergriff auch die Kultur, namentlich die Scholastik hat jenes zu philosophischem Ausdruck gebracht. Die Strenge der älteren Denkweise mit ihrer ausschließlichen Konzentration des Lebens auf die Religion und ihrer Zurückstellung aller Mannigfaltigkeit wird hier gemildert, auch die anderen Lebensgebiete erhalten ein Recht, sie werden in der Weise aufgenommen, wie die griechische Lebensordnung, vornehmlich Aristoteles, sie gestaltet hatte; so sollen sich hier das künstlerische und das religiöse Einheitsstreben in einem umfassenden Ganzen verbinden und ausgleichen. Die Idee der Abstufung scheint das zu gestatten, indem sie die Leitung des Ganzen der Religion zuweist, den übrigen Gebieten aber im Bereich der allgemeinen Vernunft und des weltlichen Lebens eine gewisse Selbständigkeit gewährt. Mit solcher Umspannung aller Interessen wird sicherlich eine große und bleibende Aufgabe gestellt, aber die hier gebotene Lösung ist viel zu äußerlich, um über das Mittelalter hinaus genügen zu können. Nicht nur erlangen bei solcher Unterordnung die anderen Gebiete keine volle Selbständigkeit und zugleich auch keine volle Ursprünglichkeit des Schaffens, es fehlt dem Geistesleben auch eine innere Einheit, da die Religion mit ihrer Erhebung über die Welt und eine weltfreudige Kultur mit ihrer Durchbildung der Welt nach gerade entgegengesetzter Richtung ziehen, so daß nur eine äußerliche Fassung der Aufgabe sie unmittelbar zusammenfügen konnte.

Das Ganze dieser Lösung des Einheitsproblems, dessen Wirkung auf die Menschheit jedoch durch die Mystik als einen Neben- und Unterstrom wohltuend ergänzt und gemildert wird, ist ein großartiges, in seiner Weise einzigartiges Unternehmen, aber es hat eine Voraussetzung, die nicht unbestreitbar ist: es verlangt entweder eine greisenhafte oder eine geistig noch unreife Menschheit, einer mündigen und kraftbewußten kann sie nicht genügen. Zu einer solchen Mündigkeit strebt aber die Menschheit seit dem Beginn der Neuzeit auf; das eben ist es, was eine neue Epoche herbeiführt. Ein wachsendes Kraftgefühl verlangt ein selbständiges und ursprüngliches Leben, es kann das nicht, ohne die Individuen zu freiester Betätigung aufzurufen. Damit wurde die Autorität zu einem lastenden Druck, die mittelalterliche Synthese wurde zu eng für die Fülle des aufstrebenden Lebens. So ward ein Bruch unvermeidlich, und das Leben nahm eine Richtung, die der bis dahin verfolgten direkt widersprach: ging bis dahin die Hauptbewegung von der Vielheit zu einer Einheit, so richtet sie sich nun auf die Vielheit, auf die Ergreifung und Ausbildung aller besonderen Art; Befreiung von aller Bindung, volle Emanzipation, das wird nun zum leitenden Ziel und zur Hauptforderung. Die Meinung war dabei anfänglich keineswegs, alle überkommenen Zusammenhänge abzuschütteln und das Individuum ganz auf das eigene Vermögen zu stellen, vielmehr sollte zunächst das Ganze nur an der einzelnen Stelle unmittelbarer erfaßt, kräftiger belebt, eigentümlicher gestaltet werden; allmählich aber verblaßten jene Zusammenhänge, und das Individuum warf mehr und mehr alle Bindung von sich; so konnte auch ein Zusammenschluß des Lebens nur von ihm aus entstehen und mußte von seiner Freiheit unablässig getragen werden. Was daraus an Verwicklungen erwuchs, das wird uns gleich beschäftigen. Der alten, eingewurzelten und in der Überzeugung der Menschheit geheiligten Denkweise mochte dies Freiheitsstreben als ein bloßer Widerspruch, als ein Abfall und Übermut erscheinen, solche Vorwürfe sind noch heute nicht verstummt. Daß jenes Streben in Wahrheit mehr war, daß es eine geistige Förderung enthielt und vertrat, das erweist die unermeßliche Bereicherung und Weiterbildung des Lebens, die aus ihm hervorging, die unermeßliche Fülle von Tatsächlichkeit, die sich in ihm erschloß. Wäre die kräftigere Entfaltung des Individuums nur Verneinung und Widerspruch, so hätte die Durchsetzung der Individualität nicht so viel Leben und Schaffen erzeugen können, wie sie erzeugt hat. Daß die Wandlung über alle Meinung des bloßen Menschen hinaus in das Grundgewebe des Lebens zurückgreift, das zeigt auch die Veränderung der Innerlichkeit gegenüber dem Mittelalter. An Innerlichkeit gebrach es diesem keineswegs. Aber es war ein Innenleben mehr weicher und passiver Art, der Mensch fühlte sich von der Welt abgelöst im stillen Weben und Schweben des Gemüts; die Neuzeit dagegen entwickelt eine Innerlichkeit tätiger Art, die unermeßliche Kraft erzeugen, die Welt unterwerfen und sie den eigenen Forderungen anpassen will, die an erster Stelle ein klares und scharfes Denken fordert. Was immer das an Problemen enthalten mag, es kann nicht die Wahrheit verdunkeln, die in jener Bewegung emporstieg, die Wahrheit nämlich, daß das Leben an erster Stelle eine volle Ursprünglichkeit und Selbständigkeit verlangt; zu solcher aber gehört notwendig auch die Anerkennung der Besonderheit jeder einzelnen Stelle, der Individualität. Wo solche Bewegungen aufsteigen und vordringen, da muß das Leben sich wesentlich anders gestalten.

Für das gute Recht der neuen Bewegung spricht auch dieses, daß die großen Kulturvölker eine eigentümliche Art in sie eingesetzt und diese durch ihren Verlauf schärfer ausgeprägt haben; nichts unterscheidet sie mehr als die besondere Richtung, in der sie die Befreiung der Menschheit suchen und fordern. In der Kunst und in der Gesamtstimmung des Lebens stehen dabei die Italiener, die ersten modernen Menschen, voran; die Franzosen setzen das fort und führen es weiter in die Verzweigung des Daseins hinein, ihre leitenden Geister geben dem Individuum eine trotzige Selbständigkeit und befreien es von dem Wust und dem Schutt der Vergangenheit; die Engländer bauen in praktischem Zuge das politische und auch das wirtschaftliche Leben vom Individuum auf; die Deutschen verfechten die Freiheitsbewegung auf religiösem Gebiet und senken sie am tiefsten in das Innere der Seele ein, auf der Höhe ihrer klassischen Literatur entwickeln sie schließlich die Idee der weltumspannenden, in sich selbst gegründeten, eigenen Gesetzen folgenden Persönlichkeit, eine Idee, an die alles anknüpfen muß, was den Gegensatz von Einheit und Vielheit, von Ordnung und Freiheit überwinden möchte.

Auch darin zeigt das neue Leben seine Überlegenheit gegen alles individuelle Belieben, sowie seine geistige Produktivität, daß es alle Verhältnisse und Gebiete eigentümlich gestaltet und dabei das Bild der Welt wie das Dasein des Menschen verändert. War die alte Wissenschaft vornehmlich ein Zusammenschauen der Vielheit in ein großes Gesamtgefüge, so will die neue den anfänglichen Gesamteindruck zerlegen, zu kleinsten Elementen und kleinsten Kräften vordringen, ihre Gesetze ermitteln und an ihrer Hand den Befund der Welt wieder aufbauen. Solche Auflösung in einzelne Fäden ergibt nicht nur eine klarere Durchleuchtung der Wirklichkeit, sie gewährt dem Menschen auch eine unvergleichlich größere Macht über die Dinge; ohne das Auseinanderlegen der neueren Forschung wäre nun und nimmer die moderne Technik entstanden. Damit wird das Bild der Welt über alle Grenzen hinaus zerlegt, die überkommene Stetigkeit weicht einer gründlichen Scheidung, überall erscheinen Abstände und Gegensätze. Im besondern ist es Leibniz, der diesen Zug der modernen Forschung aufnimmt und ihn über alle Erfahrung hinaus ins Metaphysische hebt, jener aber damit hohe Aufgaben stellt; der unbegrenzten Kleinheit der Dinge entspricht ihre durchgängige Verschiedenheit; nirgends wiederholt sich die Natur, nirgends erzeugt sie gleiche Fälle. Wie aber die moderne Wissenschaft das Bild der Wirklichkeit verfeinert und die bewegende Kraft in die Elemente verlegt, so zeigt auch ihr eigner Aufbau eine durchgehende Differenzierung. Das scholastische System, das die aristotelische Metaphysik den ganzen Umkreis beherrschen ließ, wird zersprengt, die einzelnen Wissenschaften nehmen ihre Aufgabe selbständig auf und liefern eigentümliche Durchblicke der Welt, sie schmiegen sich zugleich immer enger den Dingen an und wollen ihren Tatbestand restlos erschöpfen. Nicht nur die einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen, auch die ganzen Lebensgebiete treten weiter auseinander und entwinden sich zugleich der Herrschaft der Religion und der Kirche. Recht und Moral, Kunst und Wissenschaft werden selbständige Lebenskreise, die den Menschen mit eigentümlichen Wahrheiten umfangen und ihm eigentümliche Aufgaben stellen. Das macht das Leben unvergleichlich weiter, bewegter und reicher, aber es nimmt ihm unwiederbringlich die alte Ruhe und Geschlossenheit.

Wie auch das menschliche Zusammensein eine völlig andere Gestalt gewinnt, indem zum vornehmlichsten Träger der Arbeit das Individuum wird, wie dadurch das politische und das wirtschaftliche Leben in neue Bahnen getrieben wird, wie die Individualisierung des Daseins sich bis in den geselligen Verkehr und in die Sitten des Alltags hineinerstreckt, das ist viel zu oft geschildert, um uns weiter beschäftigen zu müssen. Durchgängig gibt hier der Arbeit das ihren Hauptreiz und ihre Hauptanziehungskraft, daß sie die individuelle Art verkörpert und siegreich durchsetzt.

Mit dem allen erfolgt eine völlige Wendung von dem überlieferten Ordnungssystem zu einem System der Freiheit, auch der alte Begriff der Vernunft erhält nunmehr einen neuen Sinn. Aristoteles hatte den Unterschied des Menschen vom Tiere darin gesetzt, daß dieses an einzelne Eindrücke und einzelne Anregungen gebunden bleibe, der Mensch aber kraft seines Denkens allgemeine Größen bilden und sein Handeln dadurch bestimmen lassen könne; die neuere Denkweise dagegen betrachtet als den Hauptvorzug der höheren Stufe den Gewinn einer Selbständigkeit des Denkens und die Fähigkeit eigner Entscheidung, während die Natur streng gebunden ist. Die Vernunft, die uns über die bloße Natur hinaushebt, empfängt ihre Richtung nicht von außen her, sie vermag selbst ihren Weg zu wählen. Damit wird die Freiheit zum unterscheidenden Kennzeichen des Menschen, er ist »der erste Freigelassene der Schöpfung« (Herder). Wohl gehen die Fassungen der Freiheit weit auseinander, und es vermischt sich dabei oft eine höhere und eine niedere Art, die Freiheit eines Locke ist eine andere als die eines Kant. Aber es erscheint die Freiheit überall, wo sie den leitenden Wertbegriff bildet, als der Erweis einer überlegenen Vernunft, die dem Menschen innewohnt. Auch braucht sie keineswegs die Forderung an das Handeln zu mindern, sie kann sie steigern, wenn im Innern der Seele eine unsichtbare Welt mit aufrüttelnder und zwingender Kraft gegenwärtig ist. So hat die Reformation die Wucht der moralischen Aufgabe gewaltig verstärkt, indem sie das Hauptproblem der Religion unmittelbar auf die Seele des Einzelnen legte und sie selbst zur Umwandlung aufrief. So hat Kant durch seine Vertiefung der Pflichtidee das ganze Leben unter eine innere Bindung gestellt und es dadurch nicht leichter, sondern schwerer, zugleich aber selbständiger gemacht. Die von diesen Männern vertretene Freiheit hatte nicht das mindeste zu tun mit Willkür und Zuchtlosigkeit.

Das Ganze dieser Bewegung hat auch der Philosophie eine neue Gestalt und neue Ziele gegeben. Von dieser Welt der Freiheit gilt es, sich eine Bahn durch den Zweifel zu bahnen und eine kritische Denkweise auszubilden; eine solche ist nicht erst durch Kant erzeugt, sondern sie durchdringt die ganze neuere Philosophie. Es ist Descartes, in dem dieser gemeinsame Charakter zuerst mit voller Klarheit erscheint. Ein stärkeres Wahrheitsverlangen läßt ihn den vorgefundenen Stand des Wissens als durchaus unzulänglich, läßt diesen im besondern als unerträglich verworren empfinden. Das erzeugt zunächst einen radikalen Zweifel, aber inmitten seiner bleibt das Streben unverwandt auf den Gewinn eines festen, eines archimedischen Punktes gerichtet, es findet ihn schließlich im denkenden Subjekt, im bewußten Ich. Damit verändert sich die Hauptrichtung der Arbeit. Bisher ging sie von der Welt zum Menschen, vom Makrokosmos zum Mikrokosmos; erst nachdem eine Wahrheit in der großen Welt ergriffen war, ward sie der kleinen zugeführt. Nun tritt der Mikrokosmos voran, die Bewegung geht vom Menschen zur Welt, aus einem Datum wird diese zu einem Problem, sie findet ihre Wahrheit nur, indem sie durch wissenschaftliche Analyse zunächst auseinandergenommen, dann aber nach den Gesetzen unseres Denkens wiederaufgebaut wird. Als wahr läßt sich nunmehr nur anerkennen, was unserem Denken als klar und deutlich dargetan ist.

Dabei scheiden sich deutlich niedere und höhere Stufen. Die greifbarste Fassung zeigt die englische Denkweise, welche die menschliche Erfahrung als den Träger des Lebens behandelt und das Subjekt nicht sowohl als denkendes und von innen her gestaltendes, sondern als ein empfindendes und an die Umgebung gebundenes Wesen versteht. Diese Wendung läßt die englischen Denker die Psychologie alle Erkenntnis begründen; den Aufbau des Einzellebens zu verfolgen und die in ihm waltenden Gesetze und Richtungen zu ermitteln, das wird zum Kern aller Erkenntnisarbeit, das entscheidet über den Inhalt wie den Umfang alles Wissens. Was immer das menschliche Dasein an geistiger Leistung, an Moral und Recht, an Religion und Kunst enthält, das wird hier von der Seele des Einzelnen her entwickelt und damit eigentümlich gestaltet. Was sonst als ein Weltgeschehen galt, zum Beispiel die kausale Verkettung der Vorgänge, das wird nun zu einem Erlebnis und Erzeugnis des bloßen Menschen und verwandelt damit seinen Sinn. Damit fällt alle Metaphysik als ein unzugängliches Reich. Wo demgegenüber ein selbständiges Leben und eine von innen her bauende Philosophie entsteht, da bildet den Träger nicht der bloße Mensch, sondern eine Lebensentwicklung, eine selbständige Kraftentfaltung. Hierher gehört Descartes' Begründung der Wahrheit auf die »eingeborenen Ideen«. Gleichzeitig entwirft Leibniz ein großartiges Weltbild, worin das Einzelwesen als Monade, als »metaphysischer Punkt«, eine Unendlichkeit des Lebens gewinnt und dies Leben lediglich aus sich selber ohne alle Beziehung und Bindung nach außen führt; indem es damit sich selbst zu einer Welt gestaltet, verwandelt sich die Wirklichkeit in eine Welt von Welten. Zugleich gestattet die volle Anerkennung der Individualität, jeder dieser Einzelwelten eine einzigartige Bedeutung zuzuerkennen. Auch Kant setzt solche Bewegung des modernen Lebens fort, seine ganze Philosophie vollzieht eine Verlegung des Schwerpunktes vom Objekt ins Subjekt; die theoretische Vernunft befreit den Menschen vom Druck einer fremden Welt, indem sie das Subjekt nach ihm innewohnenden Gesetzen sich seine Welt gestalten läßt, »der Verstand schöpft nicht seine Gesetze aus der Natur, sondern er schreibt sie dieser vor«; so tritt die Erkenntnislehre vor die Metaphysik und zerstört sie in dem alten Sinne, wonach sie ein jenseitiges Sein glaubte erfassen zu können; das Denken wird aus einem Welterkennen ein Sichselbsterkennen, das aus eigenem Vermögen eine Welt aufbaut. Die praktische Vernunft befreit das handelnde Wesen von aller äußeren Bindung und läßt es sich selbst seine Gesetze geben, damit aber an den letzten Tiefen der Wirklichkeit teilnehmen. Die Persönlichkeit wird hier zum Träger einer höheren Welt; nirgends ist klarer als hier, daß die Freiheit wohl alte Bindungen zerstört, dafür aber neue einführt, daß sie ein wesenhafteres und ursprünglicheres Leben freilegt. – So zeigt die neue Philosophie eine große Mannigfaltigkeit der Leistungen, die im nächsten Befunde einander oft widersprechen. Aber wir brauchen alles nur mit der älteren Art zu vergleichen, um zu gewahren, daß die Verschiedenheit eine gemeinsame Grundlage hat, und daß sie nicht ein wirres Auseinandergehen, sondern ein Kampf um die Ausführung einer gemeinsamen Grundrichtung ist. So ist hier der enge Zusammenhang der Gestaltung der Philosophie mit einer Gesamtbewegung des Lebens in voller Klarheit ersichtlich.

Wer einer solchen Bewegung mit ihrer gründlichen Umwandlung der Wirklichkeit glaubt allen Wahrheitsgehalt versagen und sie zu einem Gewebe bloßmenschlichen Eigendünkels herabsetzen zu können, der muß recht niedrig von den Kräften denken, welche die Weltgeschichte bewegen. Aber einer weltgeschichtlichen Bewegung einen Wahrheitsgehalt zuerkennen, das heißt noch nicht, sie allen Gefahren und Irrungen überlegen halten; auch hier mögen aus dem Verhältnis des Menschen zum schaffenden Leben schwere Verwicklungen erwachsen, denn was auf der Höhe des Lebens ein unbestreitbares Recht hat, das mag der bloße Mensch in seinen Vorstellungskreis ziehen und es seinen Zwecken unterwerfen; er mag für sich wie er leibt und lebt in Anspruch nehmen, was ihm nur als einem Geisteswesen zukommt, er mag glauben, aus eigenem Vermögen leisten zu können, was ihm nur weitere Zusammenhänge gestatten; das muß viel Irrung und Hemmung erzeugen. So mögen auch beim modernen Leben die Zweifel schließlich sich so verstärken, daß sie seine Grundlagen erschüttern und neue Wendungen fordern.

Wie das moderne Lebenssystem in vollem Gegensatz zum mittelalterlichen entstanden ist, so widerstreitet es ihm auch in der Schätzung des Menschen und im durchgehenden Lebensgefühle. Jenes System setzt, wie wir sahen, die geistige Unmündigkeit des Menschen voraus, dies dagegen erklärt ihn für vollauf mündig. Dort erscheint der Mensch als von geringer geistiger Regung und als nur durch Hilfen und Stützen zu einer gewissen Teilnahme am Geistesleben gebracht, die moderne Art setzt dagegen geistig kräftige und auf hohe Ziele gerichtete Menschen voraus, sonst könnte sie nun und nimmer die Individuen zu tragenden Pfeilern des geistigen Lebens machen. Nun aber entsteht die Frage, ob die Erfahrung dieses Bild bestätigt, ob nicht die Wirklichkeit des Lebens weit dahinter zurückbleibt, und ob nicht damit all die Verwicklungen eintreten, die eben angedeutet wurden. Solche Verwicklungen mögen so lange schlummern, als die alten Zusammenhänge des Lebens, die Welt der Religionen oder die einer universalen Vernunft im Sinne der Aufklärung, noch mit frischer Kraft gegenwärtig sind und den Individuen eine gemeinsame Richtung weisen; je mehr sie aber verblassen, und je mehr der Mensch allein auf sich selbst gestellt wird, desto mehr droht ein Sinken und schließlich eine völlige Auflösung.

Am greifbarsten ist das Problem bei der Frage, wie auf dem neuen Boden ein Zusammenhang des Lebens entstehen soll. Je mehr alle Beherrschung der Mannigfaltigkeit durch ein überlegenes Ganzes aufgegeben wird, desto mehr muß jenes aus dem eigenen Vermögen der einzelnen Elemente geschehen, durch freie Assoziation; die Erfahrung zeigt aber, daß die Verbindung sich nicht so leicht macht, daß sie wohl die einzelnen Elemente verketten, nicht aber sie zu einem Ganzen der Gesinnung und des Schaffens zusammenführen kann. Das zeigt sich in aller Verzweigung des geistigen Lebens, zunächst bei der Wissenschaft selbst. Wir sahen, wie die Auflösung des mittelalterlichen Gefüges ihre einzelnen Zweige selbständig machte, sie zu eignen Ausgangspunkten der Forschung erhob und den Tatbestand des Alls in unvergleichlich größerer Fülle und Feinheit erschloß. Zunächst erhielt sich dabei von früheren religiösen und philosophischen Zusammenhängen her noch eine Gegenwirkung zur Einheit, nach ihrem Sinken aber folgten die einzelnen Wissenschaften nur ihren eigenen Zielen, die bald besondere Wege verfolgten. Es entwickelt sich daraus ein Spezialismus, der gar nichts anderes sieht, als was in der Richtung seines eigenen Zieles liegt, und der bei aller Fülle der Kenntnisse zu keiner inneren Durchdringung des Stoffes gelangt. Zugleich geraten die Bewegungen leicht unter den Einfluß besonderer Gebiete und damit in einen schroffen Gegensatz zueinander. So entwickeln oft Natur- und Geisteswissenschaften grundverschiedene Methoden und Schätzungen, und auch innerhalb eines jeden der großen Gebiete gehen oft die Bewegungen weit auseinander. Gefährlicher noch ist die Spaltung im Leben, die gegenseitige Verfeindung ganzer Lebensgebiete. Religion und Kultur als Gegner zu betrachten, haben wir uns schon so sehr gewöhnt, daß wir kaum noch empfinden, wie unnormal dieses gespannte Verhältnis ist, und wie fern es anderen Zeiten lag. Ferner besteht heute zwischen den Überzeugungen von der Welt und denen von den Zielen des Lebens im Durchschnitt der Kultur ein vielfach versteckter, in Wahrheit sehr schroffer Gegensatz. Dort die Anerkennung einer ausschließlich mechanischen Kausalität, hier die Verfechtung moralischer Werte und der Freiheitsidee; dieselben Individuen und Parteien, welche in der Weltanschauung jede Verneinung mit Jubel begrüßen und den Menschen so niedrig wie möglich einschätzen, feiern auf politischem und sozialem Gebiet die Größe und Würde des Menschen, als hinge beides gar nicht zusammen. So leben wir heute nicht nur nebeneinander in getrennten Welten, deren weites Auseinandergehen nur die Sprache verdeckt, sondern ein und derselbe Mensch lebt in verschiedenen Welten. Wie kann eine solche geistige Anarchie gemeinsame Ideale erzeugen und die Gemüter beherrschen?

Nicht minder schwere Fragen stellt das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft. Indem die Freiheitsbewegung der Neuzeit das Leben vornehmlich auf die Individuen stellte, setzte sie bei ihnen volle Tüchtigkeit und den besten Willen voraus, auch vertraute sie darauf, daß die freie Assoziation der Individuen, sowie die gegenseitige Berührung und Verflechtung der einzelnen Kreise im gesellschaftlichen Zusammensein eine genügende Verbindung der Menschheit hervorbringen werde. Sicherlich ist hier vieles erreicht, was frühere Zeiten nicht hatten, aber es hat die Befreiung der Kräfte auch ungeheure Gegensätze und Leidenschaften erzeugt, dem Parteiwesen eine unheimliche Macht gegeben, sie hat oft zur schrankenlosen Entfesselung von wilder Selbstsucht gewirkt und alle Mittel in ihren Dienst gestellt, die eine hochentwickelte Kultur zur Verfügung gibt.

Das aber führt auf den entscheidenden Punkt, wie der Mensch sich in seinem eignen Wesen auf dem neuen Boden darstellt. Wo immer die Höhe der modernen Arbeit Größen wie Persönlichkeit und Individualität zur vollen Anerkennung brachte, da geschah es unter Festhaltung und Verstärkung von unsichtbaren Zusammenhängen, bei Behauptung einer Innenwelt. Denn nur das rechtfertigt die Hochhaltung der Persönlichkeit, daß sich in ihr eine neue Art des Geschehens, ja eine neue Welt eröffnet, und nur das konnte die Ausbildung der Individualität zum Hauptziel des Strebens machen, daß das Menschenwesen große Aufgaben, wohl auch Widersprüche enthält, deren Überwindung allererst die Höhe der eignen Natur erreichen läßt; daß der Mensch zum Ganzen der Wirklichkeit ein Verhältnis zu suchen, sich mit ihm auseinanderzusetzen, sich ihm gegenüber zu behaupten hatte, das war es, was seinem Leben eine Größe und eine innere Selbständigkeit gab. Dem Hauptstrom der Menschheit sind nun jene inneren Zusammenhänge mehr und mehr verschwunden, und zugleich ist der Mensch ein bloßes Stück einer gegebenen und innerlich geschlossenen Welt geworden, die ihn von allen Seiten umklammert und einengt. Für einen Begriff der Persönlichkeit gibt es dort kaum einen Platz, und man sieht nicht, wie die Individualität als bloße Naturbegabung einen hohen Wert zu behaupten vermöchte. Erhalten die Begriffe sich dennoch, fordern und finden sie die alte Schätzung, so ist ein Aufwuchern nichtiger Phrasen und eine innere Unwahrhaftigkeit des Lebens nicht zu verhüten. Immer mehr droht unser Leben eine feste Grundlage zu verlieren und schließlich in leerer Luft zu schweben. Nicht einmal bei sich selbst vermag bei solcher Wendung die menschliche Seele eine Einheit zu bleiben, vielmehr muß sie sich in ein Neben- und Durcheinander einzelner Vorgänge verwandeln; diese aber werden beim Fehlen aller Umbildung aus einer überlegenen Einheit immer mehr eine sinnlich gebundene Art annehmen, der Mensch wird schließlich ein bloßes Bündel sinnlicher Erregungen, Empfindungen, Antriebe. Zugleich aber wird das überlegene Recht der Persönlichkeit und die Würde und Größe der Menschheit verkündet und ausposaunt!

So zeigt die Erfahrung das bloße Freiheitsstreben nicht imstande, dem Leben einen geistigen Charakter zu wahren; die Auflösung aller inneren Zusammenhänge hat zur Zerstreuung und Verflachung geführt. Dazu hat der Verlauf der Bewegung im menschlichen Dasein weit größere Verwicklungen und weit härtere Widerstände aufgedeckt, als ihr Beginn annahm; auch das ist klar geworden, daß es sich nicht nur um ein Zurückbleiben der einzelnen Punkte handelt, sondern daß der Gesamtstand der Kultur den Forderungen des schaffenden Lebens nicht nur nicht entspricht, sondern ihnen vielfach widerspricht. Immer peinlicher empfinden wir den weiten Abstand zwischen dem Reichtum und der Größe der Arbeit am Umkreis des Lebens und der völligen Leere im Mittelpunkt; im inneren Bestände des Lebens finden wir ein Überwiegen eines bloßen Menschengetriebes, einen Kampf, ein Sichaufbauschen und Sichemporheben des einen über den anderen, Ehrgeiz und Eitelkeit der Individuen ohne Maß, ein hastiges Jagen und Vorwärtsdrängen, ein fieberhaftes Anspannen aller Kräfte, aber in dem allen keinen Wesensgehalt und keine innere Erhöhung, daher auch keinen Sinn und Wert des Lebens, schließlich einen einzigen großen Schein, ein Sinken der Kultur zur Kulturkomödie. Wer das Ganze überdenkt und den Abstand zwischen der unsäglichen Arbeit und dem Ertrage für den Kern des Lebens erwägt, der kann leicht einer völligen Verneinung und Verzweiflung verfallen.

Aber, hören wir einwenden, ist das Streben nach mehr Zusammenhang nicht schon lange im Gange, ist nicht das ganze 19. Jahrhundert voll dieses Strebens? Gewiß ist es das, aber wir würden uns heute nicht in solcher Unruhe und Unsicherheit befinden, wenn die versuchten Zusammenfügungen ausgereicht hätten. Die Philosophie selbst unternahm in der deutschen Spekulation mit kühnem Zuge, die ganze Wirklichkeit als die Entfaltung eines allumfassenden geistigen Prozesses zu verstehen, namentlich Hegel machte alle Philosophie zum Suchen der Einheit und gab zugleich dem ganzen Dasein eine gleichartige Gestaltung. Aber so gewaltige Wirkungen dies Unternehmen ausgeübt hat und noch immer ausübt, zum Standort gemeinsamer Arbeit ist es nicht geworden, nicht nur weil inzwischen die bekannte Wendung des Lebens zur sichtbaren Welt erfolgte, sondern auch weil der Mensch dabei zu sehr als ein bloß intellektuelles Wesen behandelt und dem Leben kein genügender Inhalt gegeben wurde. Auf breiterer Grundlage übte eine Gegenwirkung gegen die drohende Zerstreuung die geschichtlich-gesellschaftliche Denkweise, die das 19. Jahrhundert energisch durchgeführt hat. Sie verficht die Verkettung des Einzelnen mit dem Nacheinander und dem Nebeneinander, sie zeigt, wie im Stand der Gegenwart die lange Arbeit der Geschlechter fortwirkt, wie ferner das Zusammensein der Menschen einen geistigen Lebensraum, ein »Milieu« herstellt, das mit überlegener Macht jeden Einzelnen umfängt und bildet. Aber wenn er hier als bloßes Glied eines weitverzweigten Gewebes erscheint, so entsteht die Frage, ob er zu diesem Gewebe ein inneres Verhältnis gewinnt und es als ein Ganzes in seine Gesinnung nimmt, oder ob er nur einer blinden Tatsache folgt. Ersterenfalls entsteht die Frage, wie die Geschichte und die Gesellschaft einen inneren Zusammenhang erlangen sollen, ohne eine selbständige Innenwelt vorauszusetzen. Müßten wir uns aber mit der bloßen Tatsache der Abhängigkeit begnügen, so ist nicht zu ersehen, weshalb der Mensch diese oft recht drückende Abhängigkeit als ein hohes Gut begrüßen, sie in seine Gesinnung aufnehmen und sein eignes Wohl dem bloßen Nebeneinander und Nacheinander aufopfern sollte. So bleibt die Sache in Unklarheit, und nur das ständige Durcheinanderlaufen beider Fassungen, wie es zum Beispiel beim Führer des Positivismus, bei Comte, sich findet, kann einigermaßen verdecken, daß auf diesem Wege das Ziel nicht erreichbar ist.

Zunächst hat namentlich die Arbeit die moderne Menschheit zusammengehalten, die Arbeit im modernen Sinne. Dieser ist gegenüber anderen Zeiten eigentümlich eine weite Ablösung vom Stande des Einzelnen und ein Selbständigwerden großer Zusammenhänge, welche eigne Gesetze und Triebkräfte entwickeln, damit aber die Leistungen der Individuen verbinden und verketten. Alles Gelingen des Strebens des Einzelnen hängt hier daran, daß er in diese Zusammenhänge eintritt und an der besonderen, ihm zugewiesenen Stelle wirkt. Es erscheint darin eine gewaltige Macht, den Eigensinn der Individuen zu brechen und dem Handeln eine gemeinsame Richtung zu geben. Aber ein derartiger Zusammenschluß der Arbeit verbindet die Menschen nur an der Leistung, nicht im Innersten der Seele; wo immer Gesinnung und Überzeugung in Frage kommen, da kann alle Verkettung und Verflechtung der Arbeit ein weites Auseinandergehen, eine starke Selbstsucht, eine innere Vereinsamung des Einzelnen nicht verhindern; ja die ausschließliche Herrschaft der Arbeit kann schließlich das Leben mit einer furchtbaren Mechanisierung bedrohen. Das Verlangen nach mehr Seele und mehr Liebe im menschlichen Dasein bleibt hier unbefriedigt.

Am meisten wirkte für den Zusammenhang der Menschen in der Gegenwart und über die Gegenwart hinaus der Staat; er tat es zunächst durch die Erweckung einer regeren Teilnahme der Einzelnen am politischen Leben, er tat es weiter durch die enge Verbindung der Ideen der Nation und des Staates, er tut es am meisten durch die Entwicklung der sozialen Idee, die durchgängig das Streben zur Gesellschaft verstärkt, dann aber durch die Ausbildung eines geschlossenen Systems des Sozialismus gewaltig gewirkt hat. Mehr als in allen anderen Lebensordnungen hat hier der Gedanke des organisierten Ganzen eine überlegene Macht gewonnen. Mit dieser Bewegung verbindet sich oft die Hoffnung, ja der feste Glaube, daß sich auf diesem Wege auch eine innere Verbindung der Menschheit bilden werde, manche idealgesinnte Sozialisten erwarten von einer wachsenden Sozialisierung eine volle Befriedigung des Strebens nach Einheit und Liebe. Aber sie werden sich überzeugen müssen, daß bei diesen Aufgaben das entscheidende Werk ein Bauen von innen verlangt, und daß die Grundtriebe des Menschen wohl eine äußere Gestalt annehmen mögen, nicht aber eine Umwandlung des inneren Bestandes vollziehen werden. So greift durchgängig auf modernem Boden die Bewegung nach irgendwelchem Zusammenhange nicht genügend in das Innere zurück, es bleibt hier eine große Lücke.

Solche Lage läßt wohl verstehen, wie die ältere Art, im besonderen das mittelalterliche Kirchensystem, sich wieder kräftiger regen, wie es die Verwicklung des modernen Lebens zur Empfehlung der eignen Wahrheit benutzen und manche schwankende Gemüter für sich gewinnen kann. Daß es inmitten fortschreitender Auflösung einen festen Zusammenhang bietet und einen gewissen Halt gewährt, das gibt ihm in der Tat eine nicht geringe Macht. Aber was die Menschen zeitweilig zu gewinnen vermag, das wird damit noch nicht zu einer schaffenden Macht, auch eine Wiederaufnahme könnte dem Alten die alte Überzeugungskraft nicht wiedergeben. Denn diese beruhte zum größten Teile darauf, daß was dort an überlegenem Leben geboten wurde, ganz und gar der Höhe der weltgeschichtlichen Bewegung entsprach; inzwischen sind Wandlungen eingreifendster Art erfolgt; wohl mag man künstlich versuchen, sie zurückzuschrauben oder umzudeuten, aber nun und nimmer können diese Versuche die Unmittelbarkeit und die innere Notwendigkeit erlangen, die der mittelalterlichen Leistung zu ihrer eignen Zeit innewohnten, und die sie zu einer großen weltgeschichtlichen Leistung erhoben.

 

Der Überblick über die geschichtliche Bewegung des Lebens zeigte folgendes Ergebnis. Zwei Hauptströmungen traten uns entgegen: Die ältere Art stellte den Gedanken des Ganzen mit seiner Einheit voran, die künstlerische wie die religiöse Ordnung waren bei aller sonstigen Verschiedenheit darin einig, die Welt als fertig und geschlossen zu betrachten und zu behandeln, so wurde die Anschauung und die Aneignung des Kosmos zum höchsten Ziele des Strebens. Die künstlerische Denkweise gab den einzelnen Elementen innerhalb des Ganzen, aber nur innerhalb seiner, einen eigentümlichen Wert, die religiöse neigte dahin, alle Mannigfaltigkeit der Einheit unbedingt unterzuordnen, ja sie ganz und gar in sie verschwinden zu lassen. In der christlichen Lebensordnung durchkreuzten sich entgegengesetzte Bewegungen, in der Gestaltung der Verhältnisse behielt der Ordnungsgedanke die Oberhand. Das moderne Leben folgte dagegen der Hauptrichtung zur Mannigfaltigkeit, Selbständigkeit und Freiheit; es ergab sich daraus ein völlig neues Lebenssystem und eine neue Denkweise, die sich in alle Verzweigungen hineingrub. Es entsprang daraus ein unermeßlicher Gewinn an Kraft und Reichtum des Lebens, aber es ergaben sich zugleich große Verwicklungen. Die einzelnen Lebenspunkte drohten sich allem Zusammenhang zu entwinden, sich damit aber einerseits regellos zu zerstreuen, andererseits feindlich zusammenzustoßen. Gegen derartige Gefahren wurden verschiedene Hilfen aufgeboten, es wurden sowohl durchgehende Gesetze des Geschehens ermittelt, als ein festerer Halt in der menschlichen Gemeinschaft gesucht, und es wurde dabei manches Wertvolle gefunden, manche Förderung und Anregung gewonnen. Aber das Einheitsstreben blieb den widerstreitenden Bewegungen nicht gewachsen, es fehlt dem Leben der Gegenwart eine allumfassende Einheit, welche die verschiedenen Bewegungen umfaßt und miteinander ausgleicht, es fehlt uns eine derartige Einheit, welche den einzelnen Punkten oder Zusammenhängen überlegen ist, aber zugleich jenen eine volle Unmittelbarkeit und Ursprünglichkeit zu gewähren vermag. So befindet sich das Leben jetzt unter dem Gegensatz einer Einheit, welche die Freiheit erdrückt, und einer Vielheit, welche alle Zusammenhänge auflöst. Dieser Widerspruch ist nur zu lösen durch eine wesentliche Vertiefung der Wirklichkeit; diese Vertiefung ist nur erreichbar von der Überzeugung aus, daß das All eine Welt von Welten bildet, deren jede das Gesamtleben teilt, dabei aber eine selbständige und eine eigentümliche Art besitzt. Wir bedürfen nicht nur einzelner freier Punkte, sondern auch eines Reiches der Freiheit; die Freiheit ist dann nicht eine bloßformale, sondern eine inhaltlich erfüllte Größe, ein Reich des Beisichselbstseins und des Sichselbstschaffens. Sind wir nicht von innen her in der Unendlichkeit des Ganzen letzthin begründet, so muß uns aller Zusammenhalt des Lebens von draußen zugeführt werden, er wird dann unvermeidlich alle Selbständigkeit unterdrücken; das aber wird einen Rückschlag zur Befreiung der einzelnen Elemente, ein Verlangen nach Auflösung jenes Zusammenhanges früher oder später erzeugen. Die Menschheit würde demnach zwischen einer bloßen Unterwerfung unter die Autorität und einer geistigen Anarchie der einzelnen Elemente unrettbar hin und her geworfen und durch ihren Kampf zerrieben werden, bestünde kein überlegenes Leben aus dem Ganzen, von dem aus sich dem Widerspruch entgegenarbeiten läßt.

 

Der Durchschnittsstand der Menschheit wird schwerlich je über ein Hin- und Herwogen zwischen jenen Gegensätzen hinauskommen; je nachdem einmal das Gefühl der Schwäche und Vereinsamung, dann wieder das der Kraft und der Selbständigkeit überwiegt, wird er sich bald mehr nach dieser, bald nach jener Richtung neigen. Um so mehr aber ist es eine unerläßliche Aufgabe der geistigen Arbeit, ein dem Gegensatz überlegenes Leben zu entwickeln und damit einen festen Standort des Strebens zu gewinnen. Es wird das nicht wohl geschehen können, ohne daß auch ein Zusammenstreben der Menschheit für diesen Zweck gesucht wird. Die mittelalterliche Kirche wurde dafür zu eng, nicht nur weil sie die unsinnliche Welt viel zu fest mit einer sichtbaren Ordnung zusammenflocht, sondern auch weil sie für das schaffende Leben lediglich die Religion einsetzte und damit dem Leben einen einseitig religiösen Charakter gab, das Geistige zu sehr in ein Geistliches verwandelte. Aber nachdem der Grundgedanke einer Verbindung der Kräfte unter der Idee eines selbständigen Lebens auf geschichtlichem Boden einmal Macht gewonnen hat, wird er nicht wieder verschwinden können, er wird die Menschheit erregen und bewegen, bis er zu irgendwelcher Erneuerung gelangt ist. Nur dann wird die Aufgabe angreifbar sein, einen Kern echten Lebens von dem trüben Gemenge des Durchschnitts abzuheben und von ihm aus zur Befestigung und Erhöhung des Lebens zu wirken. Die Voraussetzung bleibt dabei immer, daß ein Ganzes des Lebens im Grunde unseres Wesens wirkt; nur wenn es dieses tut, können Hauptrichtungen des Strebens aus ihm entwickelt, können Wesenswahrheiten herausgearbeitet werden, kann eine innere Gemeinschaft des Wesens angebahnt werden, kann der Widerspruch überwunden werden, dem sonst das Leben erliegt. Dabei darf das überlegene Leben nicht eine bloße Form bilden, es darf nicht ein bloßer Hintergrund sein, auf dem die Vorgänge sich abspielen, sondern das Leben muß ein wesenbildendes sein; die Wirklichkeit ist keine bloße Zusammensetzung blasser Umrisse, sondern ein Tatbestand, eine Tatsächlichkeit, die alle Mannigfaltigkeit umfaßt und auch alle durchgehenden Größen eigentümlich gestaltet. So bedürfen wir eines universalen Positivismus, der reiner Positivismus ist, weil er letzthin aller Ableitung widersteht, der zugleich ein universaler Positivismus ist, weil schließlich eine Gesamttat alle Fülle des Lebens umfassen und durchleuchten muß; zugleich aber ist er ein metaphysischer Positivismus, weil nur eine völlige Umkehrung des gegebenen Daseins jene Wendung zu vollbringen vermag. Eine derartige Tat des Ganzen ist die unerläßliche Voraussetzung der Überwindung des Gegensatzes von Einheit und Vielheit, nur von hier aus kann sich uns eine Welt der Inhalte entfalten und ein charakteristisches Geistesleben erstreben. Dieses charakteristische Leben aber kann sich für uns nur an der Hand der Geschichte und aus ihren Erfahrungen eröffnen.


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