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3. Krisen.

Es war der letzte Tag im Sommer gewesen, den sich das kleine Mädchen für seine Ankunft erwählt hatte. Das Wetter schlug um; der Herbst schien bereits kommen zu wollen.

Der Wind rüttelte an den Zweigen der Bäume. Und wenn er auch manch einen rotwangigen Apfel, eine süße Birne oder Pflaume herunterwarf, es kamen damit doch bereits auch eine bedenkliche Menge Blätter zu Fall. Der Regen schlug gegen die Fenster, weichte die Wege auf in Garten und Wald. Es war vorüber mit den Gängen und dem Spiel im Freien.

Um so vergnügter und beweglicher ward man in dem kleinen Häuschen an der Wilhelmshöher Allee.

Das Kleine gedieh zusehends. Seine Taufe, in welcher es den Namen Anni empfing, wurde mit viel Liebe, Torte, Schlagsahne und Wein gefeiert. Dazu stellte sich Tante Lenchen wieder ein. Sie war verreist gewesen, um ihren neuen Hausstand auf einem kleinen Weingut in dem Nahetal einzurichten, und ließ jetzt noch einmal all ihrer wundervollen Liebe für die Schwesterkinder und ihrem köstlichen Humor freien Lauf.

So ward es eine schlichte, aber herzlich heitere, wundervoll innige Familienfeier, wie jede Feier im Wernauschen Hause.

Dann mußte der Lebenslauf Tante Lenchens in Angriff genommen werden.

Es wurde gereimt und gereimt; die Mädchen sprachen fast nur noch in Knüttelreimen. Wie oft, daß Paula gleich mit dem frühen Morgen begann:

»Rasselt schon der Wecker sieben!
Wo ist nur die Nacht geblieben?
Pflegt' so gerne noch der Ruh
Schlöß die Augen wieder zu.«

Worauf dann Martha flink einsetzte:

»Paula, Paula, nimm's nicht krumm,
Immer schlafen macht ja dumm.
Stürze dich ins Wasser schnell,
Wasser macht die Augen hell.«

Dann lachten sie beide, liefen in das Badezimmer nebenan, plätscherten und sprudelten eine Weile und schlüpften schleunigst in die Kleider.

Ebenso wurde flink und fleißig gezeichnet und gemalt und gestrichen, wie das jetzt Max in bester Laune nannte. Ernst Steinbach, Fritz' Bruder, der bereits die Akademie besuchte, lieh dabei seinen helfenden Rat und seine helfende Hand.

So wurden die Bilder in ihrer Art eine Glanzleistung für einen Knaben, und die Vorführung von Tante Lenchens Lebenslauf erregte stürmischen Beifall.

Max fühlte sich, trotz dem Brautpaar, als Held des Tages.

Selbstverständlich, daß das, was er hier geliefert hatte, noch eine ungelenke Hand verriet; aber es zeigte doch auch ein großes Talent, denn trotz der skizzenhaften Behandlung erfreuten sich die Bilder des Brautpaares einer verblüffenden Ähnlichkeit und hatten ihm neben der allgemeinen Bewunderung, die er nur in der Ordnung fand, auch ein beifälliges Lächeln des Vaters gebracht. Es schien, daß der sich doch endlich überzeugen ließ, daß etwas in seinem Jungen steckte, wenigstens hatte er ihm einstweilen den schwarzen Samtrock auf Weihnachten versprochen, was Max schon als außergewöhnlich angenehm erschien.

Leider währte die Freude nicht lange.

Nach einigen Tagen wurde das Herbstexamen in Untersekunda abgehalten und Max kam mit einem bitter schlechten Zeugnis nach Hause. Natürlich trugen die Bilder, welche die letzten Wochen ausschließlich sein Denken beschäftigt hatten, daran schuld.

Der Samtrock wurde sofort wieder gestrichen, der Privatunterricht im Zeichnen aber auch. Er solle endlich einmal all die Nebensachen lassen, schalt der Vater sehr ernst; er solle lernen, tüchtig lernen, um die Scharte in seiner Ehre wieder auszuwetzen, denn so was dürfe nicht noch einmal vorkommen.

Und der Ärmste war so zerknirscht über diese Schmach, daß er gar keine Einwendungen machte, sondern lieber einfach Besserung gelobte, sogar Paula gegenüber nur sich auf einen zornigen Blick beschränkte, als die jetzt sehr von oben herunter auf ihn herabsah und etwas von einem faulen Jungen murmelte, für den zu bitten einem gar wenig Ehre brächte.

Er war auch überzeugt, daß er alle die guten Vorsätze halten würde, namentlich nach einer Unterredung mit Martha, bei welcher man in solch kritischen Fällen immer besser fortkam, trotzdem er das ›Büffeln‹, dem er unvermeidlich entgegenging, für riesig ungemütlich erklärte.

Ungemütlich wurde es überhaupt jetzt in dem kleinen Häuschen an der Wilhelmshöher Allee, und traurig dazu.

Die Mutter, deren Gesundheit länger schon unter dem schweren Haushalt gelitten, begann, da ihr mit Klein-Anni noch eine Vermehrung von Arbeit und Sorgen gekommen, ernstlich zu kränkeln.

Der Arzt stellte eine Überanstrengung der Kräfte fest und verordnete große Ruhe und Schonung.

So lag sie denn meist auf dem Sofa, und zwar nicht so sehr, um dem Arzt zu gehorchen, als weil in der Tat ihre Kräfte zu nichts anderem reichten, als höchstens auf Klein-Anni zu achten, die zumeist noch in ihrem Bettchen lag.

Tante Lenchen war nicht mehr in Kassel, konnte daher nicht, wie sie es sonst getan, die Schwester im Hause unterstützen.

Auch die Großmutter war nicht mehr zu haben, sie war mit in das Nahetal gezogen. Sie hätte aber auch nicht viel helfen können, war sie doch selbst stark der Pflege bedürftig.

Die Zwillinge hatten überreich mit Musik und Lernen zu tun, zumal jetzt auch der Konfirmandenunterricht dazukam, so daß ihnen keine Zeit blieb selbst für die kleinste häusliche Leistung, die man etwa von Mädchen ihres Alters hätte erwarten können. So blieb die ganze Hausführung mit Kochen, Putzen, Waschen, Flicken, ja auch die Erziehung und Pflege der jüngeren Kinder Dörthe überlassen.

Dörthe aber, obwohl sie ein treues, gutes Geschöpf und eine vorzügliche Arbeitskraft war, auch bei Mutter Wernau eine gute Schule durchgemacht hatte, konnte doch dem allem allein nicht genügen.

Bunt und wirr ging es daher jetzt in dem sonst so geordneten Hauswesen her; Zanken und Schelten, eine keifende Verteidigung des überbürdeten Mädchens klangen da, wo man früher nur dankbar heitere oder bittende Stimmen gehört hatte.

Die Mahlzeiten wurden unregelmäßig eingehalten, die Speisen waren vielfach schlecht bereitet. Es konnte geschehen, daß es an dem Notwendigsten fehlte. Aber auch um alles andere erschien es übel bestellt. Die Zimmer waren schlecht gelüftet und gereinigt; die Öfen standen kalt; die Lampen waren abends in steter Suche und meistens nicht in wünschenswerter Ordnung. Ja, es kam auch vor, daß Kleider und Schuhe ungebürstet, wie sie am Abend ausgezogen worden waren, am Morgen wieder angezogen werden mußten, damit man nur noch zeitig zur Schule kam.

Vater Wernau hatte im Winter viel Stunden zu geben, auch war er fast täglich im Orchester beschäftigt und kam abends erst spät nach Hause, mittags meist unregelmäßig.

Das bißchen freie Zeit, die ihm blieb, widmete er dem Unterricht der Zwillinge oder seiner kranken Frau.

Da gab es dann gewöhnlich so viel zu besprechen, daß er zu keiner genauen Umschau kam. Er bemerkte deshalb auch nicht so viel von den veränderten Verhältnissen, und wenn er etwas davon bemerkte, – je nun, dann hoffte er, es würde mit der besseren Gesundheit seiner Frau auch wieder besser werden.

Die Zwillinge litten gleichfalls nicht allzuviel darunter. Ungestört, erst recht ungestört jetzt, lebten sie in ihrem Reich, dem Musikzimmer oben, und spielten sich, wenn es ihnen außerdem einmal schlecht ging, immer wieder heiter und manchmal auch satt.

Max aber war schon schlimmer daran. Unten bei der Mutter, – die nur notdürftig von dem Sofa aus Klein-Anni verpflegte, Hänschen und Lieselotte beaufsichtigte, insofern die es nicht vorzogen, bei Dörthe in der Küche zu weilen, die mittlerweile ihr Lieblingsaufenthalt geworden war, – war es nicht angebracht für einen Gymnasiasten, zu arbeiten.

In des Vaters Zimmer, wo gewöhnlich sonst die Mutter am Abend, wenn sie die Kleinen zu Bett gebracht, mit den ›Großen‹ gesessen und deren Schularbeiten beaufsichtigt hatte, war es jetzt kalt, dunkel und leer. Niemand war da, der sich die Mühe genommen hätte, den durchaus für seinen Lernstoff nicht brennenden jungen Menschen aufzumuntern oder in besserem Wollen zu festigen.

Er fand es daher bald viel annehmbarer, anstatt sich Feuer und Licht zu verschaffen, über das ›ungemütliche Loch‹ zu brummen und hinüber zu Fritz Steinbach zu wandern, ›zum Lernen‹, wie er erklärte.

Die Bücher nahm er allerdings auch mit.

Steinbachs führten ein gastfreies Haus. Es kam viel Besuch, darunter auch junge Leute, angehende Künstler und Mitschüler von Ernst.

Wenn nun Max und Fritz bei einem alten Griechen saßen, um ihn in das ›geliebte Deutsch‹ zu übersetzen, oder über einer mathematischen Aufgabe sannen, die ihnen nach ihrer Ausdrucksweise ›eklig‹ lag, und der jungen Leute Stimmen erklangen nebenan, dann blickten sie unwillkürlich auf, horchten hin, blickten sich an und wieder auf die Bücher, einmal, zweimal und wohl auch noch einmal. Schließlich aber klappten sie die Bücher zu und mischten sich unter den fröhlichen Kreis.

»Das Lernen läßt sich in der Nacht noch machen,« erklärte Fritz, der gewöhnlich hier voranging.

Max stimmte ihm nur zu gern bei.

Da war es nun gar herrlich, so unter den jungen Leuten zu sitzen, die ihm alle freundlich entgegenkamen, seine Neigung und sein Streben schätzten, und zu denen er in der harmlosen Unerfahrenheit seiner jungen Jahre als den Künstlern von Gottes Gnaden emporsah, für welche sie sich selbst, dank der eigenen jungen Unerfahrenheit noch, nur zu gern einschätzten.

Außerdem wurde aber hier doch auch über manches gesprochen, was wirklich interessant und wissenswert war; freilich wurde auch manch eine Äußerung, manch eine Lebensanschauung laut, die gerade nicht für die Ohren eines fünfzehnjährigen Knaben geeignet erschien, weil ein solcher noch nicht fähig sein konnte, Irrtum und Wahrheit voneinander zu unterscheiden.

Einer der lautesten dabei war Karl Holm, und der älteste auch.

Er trug einen schwarzen Samtrock, mit großem, weißem, glattem Kragen, und wurde nie müde, von der Künstlerherrlichkeit zu erzählen und zu behaupten, daß sich ein Künstler in nichts beschränken zu lassen brauche, ja gar nicht dürfe; daß er nur seiner innersten Neigung nach zu leben habe. –

So war es denn wohl kein Wunder, daß Max gerade in ihm ein Ideal erblickte, dem es nachzustreben galt, und sich mit all der Begeisterung seiner lebhaften Naturanlage dem jungen Menschen anschloß.

Doch auch Karl Holm schien sich zu dem Knaben hingezogen zu fühlen; sei es, daß er ihm wirklich gefiel, oder auch, daß ihm dessen unbedingte Bewunderung, die er durchaus nicht immer bei den anderen fand, wohltat.

Wenn dann Max an einem solchen Abend nach Hause kam, in das ›ungemütliche Loch‹, dann hatte er erst recht jede Lust zum Weiterlernen verloren. Er war auch wohl zu müde dafür und griff trotz allen Versprechens höchstens nach Stift und Papier, um nur einem Gedanken, wenigstens in einer kleinen Skizze, Ausdruck zu leihen.

Mutter Wernau merkte bald, daß es nicht zum besten um ihren Jungen stand.

»Arbeitet ihr denn wirklich drüben?« fragte sie mehr denn einmal, wenn sie ihn gegen Abend fortgehen hörte.

»Ja doch, ja doch, – schon, natürlich –« klang dann seine Antwort, nicht allzu fröhlich und sicher, denn zu einem fertigen Lügner hatte es der wohl etwas leichtsinnige, eigenwillige, ungestüme, im Grunde aber doch ehrliche und gutmütige Knabe noch nicht gebracht, ob er auch nicht mehr weit davon und von manchem anderen Übel entfernt war.

Und auch das blieb dem feinempfindenden, liebevoll sorgenden Mutterherzen nicht verborgen. Sie merkte nur zu sehr, wie wieder Groll und Zorn, Ungehorsam und Auflehnung gegen den Vater und dessen Gebote in ihrem Jungen lebendig wurden, – merkte nur zu sehr, daß er unter schädigenden Einfluß geraten war.

Sie bat ihn, beschwor ihn, zu Hause zu bleiben; sie erinnerte ihn an seine guten Vorsätze, versuchte ihn zu überzeugen, daß er ja nur allein durch strenge Pflichterfüllung sein Lieblingsziel erreichen würde.

Max versprach alles, hatte er doch die Mutter lieb. Ein paar Abende aber, und allein in dem ungemütlichen Loch, womöglich mit einer blakenden Lampe – da riß er aus, dahin, wo es warm war und hell, wo es lustig herging und er von dem hörte, woran sein Herz einmal am meisten hing, – wo man ihn mit Jubel empfing, und wo Karl Holm erklärte, er sei nur in seinem guten Recht.

Mutter Wernau trauerte um ihren Jungen, trauerte, daß ihre Worte nicht ausreichten, ihn an seine Pflicht und das Haus zu fesseln. Ob sie auch nie vergaß, ihn daran zu erinnern – dem Vater mochte sie nicht noch mit Sorgen und Klagen über den Sohn kommen, hatte er doch gerade im Augenblick Sorgen genug, – und auch sein strengster Befehl allein würde hier nicht helfen.

Nur wenn sie sich selbst wieder um ihren Jungen bekümmern, für ihn sorgen könnte, dann würde es anders mit ihm werden! Ach, daß es doch endlich mit ihrer Gesundheit besser werden möchte! Denn was mußte damit überhaupt nicht alles wieder anders werden im Haus!

Die arme Mutter sah nur zu viel, das fehlte: es entging ihr kein Riß, kein loser Knopf an den Kleidern des kleinen Hans, kein schlecht gekämmtes Zöpfchen an Lieselottes blondem Köpfchen, kein ungewaschenes Händchen des Nesthäkchens Anni. Wie oft versuchte sie hier einzugreifen, aber den schmerzenden Händen entfielen stets nur zu bald Nadel und Zwirn, die Füße trugen sie nicht. – Wohl blickte sie freundlich drein, wenn über ihr Flügel und Geige klangen, die Kleinen unten, sich bei den Händen fassend, sich im Tanzen versuchten. Wohl freute sie sich an dem Fleiß, den Fortschritten der Zwillinge, und doch, in ihrem Innern regte sich immer lebendiger der Wunsch, daß doch nur eines der Mädchen wenigstens heranwachsen möchte als Stütze des Hauses.

Aber die Künstlerin war des Vaters Lieblingswunsch und der Kinder Glück! Kein Laut verriet, was das Herz der Mutter bewegte. Nur immer matter klang ihre Stimme, immer ernster, banger schaute sie drein.

Martha allein sah diesen Blick.

Und er ging mit ihr, er ließ sie bald nicht mehr los. War sie in der Schule, stand er plötzlich vor ihrer jungen Seele, selbst bei dem Zusammenspiel mit der Schwester, über, unter, zwischen den Noten hindurch schaute der Mutter Auge sie an. Immer tiefer durch die Töne hindurch fühlte sie das Leid, das aus ihm sprach.

Mitten im Spiel brach sie jetzt zuweilen ab und lief hinunter.

»Mütterchen, kann ich etwas für dich tun?« drang es sich unwillkürlich über des Mädchens Lippen.

Und jedesmal auch fand sich etwas; jedesmal aber auch hellte sich das Mutterauge auf, und jedesmal fühlte sich Martha so innig beglückt, jedesmal konnte sie der Schwester heiter antworten:

»Doch, doch, Paula; ich hole es schon nach,« wenn diese ihr entgegenrief:

»Du brennst immer durch, du kommst nicht mehr mit.«

Dann, als ob sie es wüßten, daß sie viel nachzuholen hatten, flink und flinker arbeiteten die kleinen Hände an der Geige.

Mehr und mehr aber brach Martha mit der Zeit im Spielen ab, um nach der Mutter zu sehen. Mehr und mehr auch wurde das notwendig, mehr und mehr bedurfte die Mutter der Pflege, einer helfenden Hand.

»Du lässest mich im Stich,« schalt Paula, »du gibst doch noch nur ein Haustierchen,« drohte sie halb im Scherz, halb im Ernst. Ihr erster und letzter Gedanke blieb ein für allemal die Musik.

»Nein, nein, Paula, sicher nicht, laß mich nur erst auf dem Konservatorium sein,« gab Martha zurück, trotz allem immer noch glücklich, wenn sie es auch schmerzlich empfand, wie ihr die Schwester entschieden vorauskam.

Sogar der Vater bemerkte dies schließlich und tadelte darum.

»Ja so,« meinte er dann, der Verhältnisse gedenkend, wenn ihm Paula ärgerlich berichtete, wie es Martha trieb, – »ja so«. Und wenn er sie dann auch seine gute, liebe Martha nannte: im stillen hätte er es doch lieber anders gesehen.

So blieb denn zuletzt die Gesundung der Mutter die Hoffnung, der Wunsch jedes einzelnen der Familie, der alle anderen einschloß.

Ostern fiel früh in diesem Jahr, und auch der Frühling setzte zeitig ein. Die Konfirmation der Zwillinge fiel direkt mit dem Frühling zusammen.

Der Himmel blaute, die Sonne schien, die Bäume und Sträucher trieben dicke braune Knospen. Die Gänseblümchen guckten mit ihren bunten Gesichtchen heraus unter den jungen Grasspitzen der Gärten, die Schneeglöckchen standen in Büscheln auf den Rabatten, und die Veilchen stahlen sich unter dem grünen Laub hervor in die Welt und erfüllten die Lust mit süßem Duft.

Tante Lenchen kam zu Besuch auf vierzehn Tage. Sie mußte doch dabei sein bei dem bedeutungsvollen Schritt, den die Zwillinge in das Leben taten! Sie meinte aber auch, daß ihre helfende Hand eine Wohltat werden müsse bei all den Vorbereitungen hier.

Und wohltuend empfanden sie alle das Walten und Schalten der guten, klugen, der Mustertante Lenchen. Sogar Mutter Wernau fühlte sich wohler und wohler, sie meinte, sie wäre beinahe wieder gesund.

Wie der Frühling um das kleine Häuschen an der Wilhelmshöher Allee, so zog frisches Hoffen und frischer Mut ein in die Herzen der Bewohner.

So gestaltete sich denn auch die Einsegnung der Zwillinge, ungestört wieder von jeder Sorge und häuslichem Leid, zu einer ernsten, schönen Feier, einem stillen, aber herzinnigen, echt Wernauschen Familienfest.

Dann aber kam ein Rückschlag.

Dienstag nach Ostern reiste Tante Lenchen ab. Am Nachmittag fühlte sich die Mutter schon recht müde, des Abends bereits recht unwohl, in der Nacht wurde sie krank, ernstlich krank.

Der Arzt machte diesmal ein sehr bedenkliches Gesicht. Er stellte eine Nervenlähmung fest. Genesung war jetzt fast ausgeschlossen, wenn sie aber möglich sein sollte, konnte dies nur geschehen bei äußerst sorgfältiger Ruhe und Pflege.

Er schlug deshalb eine sofortige Kur in einem der Sanatorien in Wilhelmshöhe vor.

Das war nun eine böse Geschichte. Zu dem Kummer um die kranke Frau gesellte sich jetzt für den Vater auch die wirtschaftliche Sorge.

Eine solche Kur war mit großen Kosten verknüpft. Er mußte jemand suchen, die Stelle der Mutter im Hause zu vertreten. Dörthe allein war dem nicht gewachsen, – und so, das war auch ihm immer mehr bemerklich geworden, ging es nicht weiter.

Seine Mädchen waren daran, auf das Konservatorium zu ziehen, im nächsten Monat sollten sie nach Berlin. Ob auch die Eltern dafür bereits seit langem schon an einem Sümmchen gespart, die Kasse reichte doch nicht, um all die mittlerweile notwendig gewordenen Ausgaben zu bestreiten.

Sorgend ging Vater Wernau umher. Er sann und sann, rechnete und rechnete. Doch die Ausgaben schienen nur zu wachsen, das Geld aber mehrte sich nicht. Schließlich blieb kein anderer Rat: die Zwillinge mußten zu Hause bleiben.

Es war eine schwere Stunde für Vater Wernau, als er hinaufging, dies Ergebnis seinen beiden Mädchen zu verkünden. Er hatte auch nicht das Herz, sie dabei anzusehen, er blickte durch das Fenster in den Garten bei den traurigen Worten. –

Martha wurde bleich, so bleich wie eine getünchte Wand, Tränen traten in ihre Augen. Sie fühlte, was den Vater selbst die Vernichtung seines Lieblingswunsches kostete. Sie sagte kein Wort und versuchte im Ordnen der Noten fortzufahren, mit dem sie gerade beschäftigt gewesen war. Einige Lieblingsnoten aus früherer Zeit sollten mitgehen nach Berlin.

Paula jedoch brach in lauten Jammer aus. Die Kasseler Schulbücher, die sie gerade auf Nimmerwiedersehen hatte einpacken wollen, flogen zur Erde.

»Nein, nein,« rief sie außer sich, »das kann nicht sein! Es ist unmöglich, Vater! Du hast es uns ja selbst immer gesagt und versprochen, du mußt dein Wort halten.«

Jammernd und flehend hing sie sich an seinen Arm.

»Es geht aber nicht, Paula,« wehrte er, selbst mit den Tränen kämpfend. »Später, später vielleicht,« beruhigte er das aufgeregte Mädchen.

»Später – wann?« fragte sie schnell.

Vater Wernau neigte sein Haupt. Das Schicksal hatte schon oft seine Pläne durchkreuzt; er wollte jetzt lieber kein Versprechen geben, von dem er nicht bestimmt wußte, daß es auch zu halten sei.

»Ihr werdet euch hier weiter ausbilden einstweilen,« tröstete er, »ich werde euch zu dem besten Lehrer schicken.«

»Ach, das ist doch nur ein halbes Werk,« unterbrach Paula schlagfertig und schnell, und fast böse wandte sie sich ab.

Und Vater Wernau konnte ihr nicht widersprechen, auch das hatten seine Mädchen von ihm selbst gehört.

Gab es doch zurzeit noch kein Konversatorium in Kassel. Ebenso hatte er es ihnen in der Tat auch des öfteren gesagt, daß in Berlin viel leichter die Gelegenheit gegeben sei, um sich später noch bei einer berühmten Größe auszubilden, vor allem aber die Verbindungen anzuknüpfen für das Fortkommen in der Welt.

Es war aber nicht zu ändern. Es mußte den Verhältnissen Rechnung getragen werden. –

So blieb dem Vater nichts anderes übrig, als zurückzukommen auf seinen ersten Trost. »Auf ein paar Jahre kommt es ja nicht an,« fügte er hinzu.

Paula aber hatte alles, was sie hier von dem Vater Einleuchtendes gehört, nur zu gut behalten. »Doch, doch,« unterbrach sie abermals schnell. »Erinnere dich nur, Vater, wie oft hast du gesagt, wer etwas werden will, müsse zeitig beginnen. – ›Mit achtzehn Jahren müßt ihr fertig sein, wollt ihr Karriere machen!‹ – Und, Vater, ich muß eine große Künstlerin werden, ich habe doch das Zeug dazu.«

Abermals hing sie sich flehend an seinen Arm.

Tiefer noch neigte er sein Haupt, tat ihm doch selbst das Herz so weh! –

»Paula!« sagte er dann liebevoll und bestimmt, faßte die Hand des jungen Mädchens und strich ihr liebkosend über das Haar. »Und doch mußt du dich fügen! Ich sehe keine andere Möglichkeit, die Mutter gesund zu machen und unser Haus zu versorgen. – Sieh Martha an, wie sie es in Ergebung trägt.«

»Ja Martha!« – Fast ein wenig verächtlich warf Paula den Krauskopf zurück. »Martha ist eben ein Haustierchen; aber ich –.« Ein neuer Tränenstrom erstickte ihre Stimme.

Wieder war Martha zusammengezuckt bei dem Wort. Doch über dem Kummer der Schwester sich selbst vergessend, schlang sie den Arm um diese: »Mach Vater das Herz nicht noch schwerer,« bat sie leise. »Fühlst du denn nicht, wie er mit uns leidet? – Paula, liebe Paula!«

»Ja, ja.« – Aber unbeirrt schluchzte Paula weiter.

Vater Wernau war hinausgegangen. Er dachte wohl, seine Mädchen kämen, sich selbst überlassen, am ersten zur Ruhe. Endlich schienen denn auch Paulas Tränen nachzulassen. Sie sah zu Martha auf:

»Haustierchen du, ja, du kannst es wohl,« begann sie mit einem Versuch, sich zu beherrschen, »aber ich –« da kamen wieder die Tränen. »Ich ertrag's nicht, wenn ich hierbleiben soll!« schluchzte sie auf. »Ich hatte es mir so schön gedacht. O – ihr hättet alle mit teilhaben sollen an meinem Glück!«

Und vor den weitgeöffneten Augen des leidenschaftlich erregten Mädchens tauchten sie noch einmal auf, lockend und glänzend, die herrlichen Bilder des Künstlerlebens, wie sie es geträumt, des Künstlerlebens mit frohem Schaffen, Beifall, Ruhm und Erfolg – um in dem Dunkel der aufs neue wieder quellenden Tränen zu erlöschen.

»So wird nichts aus mir!«

Traurig sank ihr Haupt auf die Brust.

»Paula, Paula! – Paula, sei gut!« tröstete Martha und streichelte die Hand der Schwester.

»Ja, ja, ich will,« nickte diese, »ich muß es tragen und will mir Mühe geben.

»Doch ich sterbe, wenn ich hierbleiben soll,« fuhr sie wieder empor.

Da stürmte Max in das Zimmer herein.

Auch er schien erregt, die langen Haare hingen ihm wirr um den Kopf, die Augen waren rot. Erstaunt hielt er ein bei dem Anblick der Schwestern.

»Das gibt ja ein nettes Trio!« rief er.

Dann, indem ihn eine Ahnung von dem, was sich hier ereignet haben mochte, überkam und ein hämischer Zug von Schadenfreude in seine von Zorn und Schmerz entstellten Züge trat, rief er aus:

»Geschieht euch ganz recht! Schmeckt nun auch mal, was weh tut, ihr verzogenen Dinger!«

»Du miserabler Junge, du!« – Paula sprang auf: »Das sag ich dem Vater!«

»Max, schäm dich!« rief Martha.

Sehr bald aber, da sie es sich mit ihrem feinen Empfinden nicht anders erklären konnte, als daß den Bruder selbst etwas recht Schlimmes betroffen haben mußte, um so roh und häßlich aufzufahren, begann sie herzlich, sorglich:

»Max, dir ist wohl etwas recht Schlimmes passiert?«

Die Teilnahme, der Ton trafen den Knaben im tiefsten Innern. Auch in seine Augen trat ein feuchter Schimmer. Es zuckte in seinen Zügen, er kämpfte mit sich selbst. Zorn, Groll und Empörung schienen einem besseren Empfinden zu weichen. Scheu, zerknirscht sah er vor sich nieder, endlich, halblaut nur, rang sich's über seine Lippen:

»Ich bin – sitzen – geblieben –«

»O weh!« Martha sank vor Schrecken auf einen Stuhl.

»Das ist aber auch –« Paula war empört. »Da wird Vater schön böse sein!«

Immer noch zerknirscht, neigte Max den Kopf.

»Was wird denn nun?« begann Paula und rückte näher.

»Nun! – Das ist das Schlimmste!« – Da das entehrende Bekenntnis einmal vorüber war, dachte Max zuerst wieder an dessen Folgen:

»Nun muß ich nachholen. Alles Zeichnen ist mir verboten. Keinen Stift, keinen Karton will Vater im Hause sehen, nicht eher, als bis ich die Prima durchlaufen und eine gute Abgangsprüfung gemacht, – und dann nur vielleicht –« hier überwältigte der Kummer den letzten Rest von Knabenstolz und Knabentrotz. Max sank auf einen Stuhl, legte die Arme auf den Tisch, barg das Gesicht in den Händen und schluchzte wie ein Kind.

»O Max, Max!«

Paula schlang die Arme um seinen Nacken. Unter dem gleichen Leid stehend wie er, vergaß sie, wie er roh gewesen und daß es doch seine Schuld war, warum er litt.

Still saß Martha da – das Köpfchen wie sinnend geneigt. Dann trat auch sie an den Bruder heran. »Sei gut und brav, Max,« begann sie leise. »Dann holst du es nach und kannst doch noch glücklich werden!«

»Nachholen!« – Max war an seiner empfindlichsten Stelle getroffen. Nachholen! – Es wallte wieder auf: »Die langen Jahre Griechisch und Latein, Mathematik schwitzen, auf der Schulbank festgekettet sein, wenn es einen mit unwiderstehlicher Gewalt hinausdrängt in die Welt, alles zu schauen, was lebt und ist, und es wiederzugeben, zu gestalten im schönen Bild! – Halt' ich gar nicht aus! Doch das verstehst du nicht, du bist nur ein Mädchen.«

»O du, das möchte ich mir denn doch verbitten!« Paula rückte beleidigt von dem Bruder fort.

Der aber rückte schleunigst nach: »Ach, mit dir ist das etwas anderes!« meinte er. »Mit dir kann man reden!«

Und Paula, die sich ebenso leicht erzürnte, wie sie wieder gut war, hielt ihm stand.

Martha kam sich sehr überflüssig vor. Sie empfand den beiden gegenüber fast ein Gefühl der Beschämung, ob ihr auch eine innere Stimme sagte, daß sie im Recht war.

Es trieb sie, nach der Mutter zu sehen.

Wie gewöhnlich zu dieser Stunde, lag Frau Wernau auf dem großen Sofa unten in dem Wohnzimmer. Die Wiege stand neben ihr, Klein-Anni hatte sich zum Schlafen bequemt.

Hans und Lieselotte trabten im Zimmer herum. Entschieden griff der Lärm die Mutter an.

»Wollt ihr nicht mal etwas anderes spielen?« Martha trat zu den Kindern.

»O ja, mit der Gisela –« Lieselotte sah freudig zu der Schwester auf.

»Bitte, gib mir die Gisela! Mutter konnte sie mir nicht geben.« Scheu blickte die Kleine nach der Mutter hin.

Schnell holte Martha die Lieblingspuppe herbei, brachte auch gleich den Garderobekoffer mit.

»Hier, Liese,« sie reichte dem Schwesterchen Puppe und Koffer. »Zieh Gisela mal ein anderes Kleidchen an, vielleicht das blaue!«

»Ja, das blaue.« – Zärtlich drückte Lieselotte ihre Gisela an die Brust und begann in den Kleidern zu kramen.

»Und Hänschen wird bauen, ja?«

Martha stellte den Baukasten auf den großen Tisch, rückte einen Stuhl davor und Hänschen auf demselben zurecht. Dann schüttelte sie die Steine des Kästchens aus: »Wie wär's mit der Kirche hier?« – Sie wies dem Knaben den Plan. »Und wenn du sie recht schön baust, dann kriegst du auch eine Nuß.«

»Hast du denn eine?« fragte Hänschen vorsichtig.

Martha lächelte: »Noch von Weihnachten eine.«

Und vertrauensvoll begann Hänschen mit seinem Bau.

»Und nun hübsch Ruhe halten, Mutter kann den Lärm nicht vertragen.« Und wieder lächelte Martha, ob auch dabei ihre Lippen beben mochten.

Lieselotte und Hänschen nickten vergnügt, und so ruhig, wie Kinder nur können, gingen sie mit ihrem Spielzeug um.

Ein warmer Händedruck der Mutter lohnte Martha ihren Liebesdienst.

Auf einem Schemel neben dem Sofa ließ sich jetzt das junge Mädchen nieder. Eine Weile blieben beide stumm.

»Es ist ein bißchen viel Leid auf einmal gekommen,« begann Frau Wernau endlich.

Martha nickte.

»Wie trägt es Paula?«

Martha konnte auch eine sogenannte Notlüge nicht fertigbringen, sie blickte zu Boden.

»Armes Kind! – Und Max?«

»O, der hätte sich eben auch dranhalten und lernen sollen!« –

»Sollen! – Ja! Aber wer von uns tut immer, was er soll? Und er hat es schwer, der arme Junge. Hätte ich mich doch um ihn kümmern können! – – O Martha, es drückt mir das Herz ab, daß ich euch so lange schon nicht sein kann, was ich sein möchte. – Wie aber wird es werden, wenn eine Fremde hier schalten und walten wird! Ihr alle werdet die Mutter entbehren, und Max am meisten!«

»Vater hat ja recht; – aber er ist so streng und Max so ungestüm, so leidenschaftlich, so reizbar und empfindlich! Und doch, er ist auch wieder so leicht zu lenken, wenn man ihm Verständnis entgegenbringt. Vater hat keine Zeit, sich so eingehend mit ihm zu beschäftigen, er versteht ihn wohl auch nicht recht. Max aber gerade bedarf eines Haltes, der liebenden Sorge, wenn er nicht verloren gehen soll!«

»Martha, Martha, wie kann ich denn fortgehen und gesunden, wenn ich weiß, daß mein Kind verloren geht!«

Hier brach Frau Wernau in Tränen aus. Noch nie hatte sie sich so rückhaltlos ausgesprochen. Das Leid hatte sie eben überwältigt.

Martha sank neben der Mutter in die Knie und schlang ihre Arme um deren Gestalt.

»O Mütterchen, was gäbe ich darum, könnte ich dir und uns allen helfen! Nichts sollte mir zu schwer sein.«

Und wieder sah die Mutter dem Töchterchen mit dem eigentümlich langen und ernsten Blick tief in die Augen:

»Glaub es wohl,« flüsterte sie leise. »Jung wie du noch bist, in deiner Brust lebt doch schon das Herz, die ganze große Liebe der echten Frau.«

Liebkosend strich ihre Hand dem Kinde über das Haar, das in goldschimmernden Flechten das feine Köpfchen umwand.

Da trat der Vater ein. Es war Essenszeit.


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