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1. Ein fröhlicher Sonntag.

Bing bang, bing bang! tönte es weithin über den Königsplatz.

Die Straßenbahn, welche Kassel mit Wilhelmshöhe verbindet, wollte abfahren; der Führer gab das Zeichen.

Und nun strömten sie herbei von allen Seiten, groß und klein, alt und jung, reich und minderbegütert. Es war Sonntag heute; jedermann hatte frei, und jedermann wollte mit.

Denn die Wilhelmshöhe, dies Juwel unter den königlichen Sommerresidenzen, ein Paradies an Natur und kunstgärtnerischer Schönheit, ist der Stolz und die Liebe der Kasseler. Der Besuch der Wilhelmshöhe ist ihnen sozusagen eine freundliche Gewohnheit geworden und steht als erste Nummer auf jedem Erholungs- und Vergnügungsprogramm. Dazu prangen zur Zeit, während in der Stadt der Schnee noch auf den Dächern liegt und die Straßen deckt, droben die Treibhäuser in vollem Flor, entfalten Kamelien und Azaleen ihre bunte Pracht. Was aber für die Jugend noch mehr bedeutet: unter einem leuchtend blauen Winterhimmel, im Sonnenschein, locken glatt und glänzend in silbernem Weiß des von Staub und Rauch unberührten Schnees die Rodelbahnen in dem Park und auf den Höhen des Druseltales in dem Habichtswald zum fröhlichen Sport.

Außerdem hatten heute morgen der berühmte Almare und die nicht weniger berühmte Dorella ein Konzert in Kassel gegeben. Die Besucher, soweit sie sich aus den Anwohnern der Allee und der Wilhelmshöhe zusammensetzten, waren darauf bedacht, so bald als möglich einen Zug zu erwischen: fühlten sie doch an einer untrüglichen Bewegung des Magens, daß es höchste Zeit war, sich an der heimatlichen Familientafel einzustellen.

So waren denn die Wagen der Bahn im Nu gefüllt, und zwar so, daß kein Apfel zur Erde fallen konnte, geschweige denn ein Mensch noch ein Unterkommen finden, und wäre er selbst von Antlitz und Gestalt so zierlich und klein gewesen, wie weiland der berühmte Zwerg Admiral Tom Pouce.

Bing bang, bing bang! –

Leicht und lustig, nur mit einem leisen Surren der Räder, ging es jetzt fort; die Königstraße entlang; vorüber an den eleganten Läden, durch deren hohe, kristallklare Scheiben die allerschönsten Dinge zu sehen sind; vorüber an dem Friedrichsplatz, auf dem einer der bedeutendsten althessischen Landgrafen, Landgraf Friedrich, sein Standbild gefunden hat, vorüber an den hohen Häusern der neuen Zeit, und weiter, hinein in die Wilhelmshöher Allee, deren Seiten schmucke Villen und stattliche Häuser begrenzen, deren kleine Vorgärtchen, ob sie auch ihre Sommerblüten und ihre Sommerlust begraben, doch freundlich und heiter anmuten, wo immer eine Konifere ihre tiefgrünen Zweige über dem lichten Schnee ausbreitet und zum Himmel weist. Und weiter, immer noch weiter ging es, näher, immer näher dem stattlichen Schloß, das, auf der Höhe thronend, überragt von dem Oktogon und seinem Herkules, immer deutlicher erkennbar herunterschaut die ganze lange Allee entlang.

Bunt schwirrten die Stimmen der Fahrenden durcheinander. Die einen redeten von den Kamelien und Azaleen und wollten wissen, daß der Garteninspektor kürzlich eine neue wunderbare Art Orchideen aufgestellt hatte; andere von der Rodelbahn. Im unverfälschten Kasseler Dialekt konnte man es hier vernehmen, wievielmal einer an einem Nachmittag den Berg hinauf- und herunter ›gemacht‹ hatte.

Vor allem aber auch sprach man von dem Konzert.

Still saßen zwei kleine Mädchen da, liebreizende junge Dinger, so daß immer wieder ab und zu ein Blick der Mitfahrenden mit Wohlgefallen auf ihnen ruhte.

Sie schienen im gleichen Alter zu sein, waren gleich gekleidet und auch einander ähnlich an Gestalt und Gesicht. Nur daß bei der einen ihr weißes Pelzmützchen auf kurzgeschnittenem dunklem Kraushaar saß und sie mit blitzenden Augen frisch, sogar etwas unternehmend in die Welt schaute, während die andere, das feine Köpfchen wie unter der Schwere des langherabfallenden Blondhaares geneigt, mehr schüchtern, aber nur um so süßer und liebenswürdiger dreinsah.

Und still, mäuschenstill blieben sie auch, ob auch ihre Mienen verrieten, daß ihnen kein Wort der Unterhaltung, die dem Konzerte galt, entging. Zuweilen sprühte es auf in ihren Augen, die Lippen zuckten, als wollten sie mitreden. Doch man hatte ihnen gesagt, es schicke sich nicht, wenn kleine Mädchen ungefragt den Erwachsenen ins Wort fallen. So zupften sie nur dann und wann an dem weißen Pelzbesatz des weißen Cheviotjäckchens, strichen an den Falten des weißen Cheviotkleidchens hinunter, als wollten sie gleichsam ihre Gefühle beruhigen oder denselben Luft machen.

Auch der ältere Herr neben ihnen blieb still. Es schien, Vater Wernau war schon zufrieden damit, seine Mädchen anzusehen und den Eindruck zu beobachten, den das erste Konzert, zu dem er sie heute mitgenommen, auf dieselben gemacht hatte.

»Wahlershausen!« rief jetzt der Schaffner, und die Wagen hielten.

Flink sprangen die kleinen Mädchen von dem Trittbrett herunter; man merkte, sie waren es gewohnt von der täglichen Heimfahrt aus der Schule. Schnell ging es über den Schnee, der sich hier noch dicht zu seiten der Bahn häufte, in eines der kleinen Häuschen, von denen sich immer noch eine Anzahl als Erinnerungen einer früheren, bescheideneren Zeit neben den eleganten, stattlichen Bauten unserer Tage behaupten. Flink ging es die schmalen Treppen hinauf, wurden Jäckchen und Mützchen beiseitegelegt, heute wohin es gerade kam, und endlich, wie von allen hemmenden Fesseln befreit, lösten sich plappernd die Mäulchen:

»War das nicht einfach entzückend? Wie hat die Dorella gespielt! Und hast du den Strauß gesehen, den ihr –« alles das galt der Pianistin – »der Kapellmeister überreichte: Teerosen, Flieder und Veilchen; ich bitte dich, Martha, jetzt im Winter! Rosen und Flieder, wie entzückend, wenn wir einmal –« Die Sprecherin hielt inne, wahrscheinlich von der Kühnheit der eigenen Gedanken und Wünsche erschreckt. Dann aber warf sie das dunkellockige Köpfchen ein wenig zurück, und die Mienen des hübschen brünetten Gesichtchens drückten deutlich den Wunsch aus, der hinter den noch lächelnd geöffneten Lippen stecken geblieben war.

»Ja, o ja,« nickte Martha, »ich glaube, ich bin noch nie so froh gewesen. Schon oft,« fuhr sie fort, »eigentlich fast immer, wenn ich das Bild über des Vaters Pult betrachtete, habe ich gedacht, was die Engel, welche auf ihm schweben, wohl singen mögen.«

»Nun, ich glaube, Schöneres kann es nichts geben, als seine Geige singt!«

»Und dann, wie prächtig sie aussah in dem dunkelroten Samt, die weißen Perlen um den Hals –« plauderte die Schwester von neuem, »wie die Brillanten blitzten in dem Ohr und der Stern in dem dunklen Haar, wenn sie den Kopf bewegte so im Takt der Chopinschen Musik.«

»Na und wie die ging! – Vater sagt, man muß die Sporen und die Waffen klirren, die seidenen Gewänder rauschen hören durch die leichten Weisen hindurch. Gar oft hat er es mir in der Stunde erzählt, wie der große Chopin mit solch leidenschaftlicher Liebe an seiner Heimat hing und an seiner Nation! – wenn er musizierte oder komponierte, dann standen auch die Ritterlichkeit, der frohe Kampfesmut seiner Söhne, die Schönheit und Anmut seiner Frauen, all der Glanz und die Pracht des alten Polenreiches in der Erinnerung vor seiner Seele.

»Mir zuckten die Finger! Hätte wohl mal dabei sein mögen, wenn er seine Weisen spielte, vielleicht sie noch lieber gleich selbst gespielt. Ja, ich hätte, Martha, ich möchte –« nun setzte sie fest die kleinen Süße auf, »Martha, ich bring es doch noch fertig! – Ach, da hat sie ja schon ihre Geige im Arm!«

Sanft und süß unterbrachen hier die Klänge eines Mozartschen Andante den Redestrom der lebhaften Paula.

Still war Martha zu dem braunen Kästchen gegangen, das an der Wand neben dem Flügel lehnte. Sie hatte ihre Geige herausgenommen und zärtlich an die Wange gelegt, um unbewußt und natürlich in den Tönen nach Ausdruck für all die Empfindungen zu suchen, welche das Spiel des großen Almare in ihrem Herzen erregt hatte.

Wie elektrisiert stürzte jetzt Paula zu dem Flügel, und ungewöhnlich glänzend und fehlerlos für ein Mädchen von dreizehn Jahren klang Chopins Minutenwalzer fast im Minutentempo dazwischen.

»O, das klingt aber bös durcheinander –« Martha brach ein wenig ärgerlich ab mit ihrem Andante.

Dann kramte sie in den Noten auf dem Ständer, bis Beethovens Frühlingssonate gefunden war.

»Sei gut, Paula,« bat sie nun, und die lieben blauen Augen baten, wie um die Worte zu unterstützen, mit, während sie den Klavierpart der Sonate vor die Schwester auf den Notenhalter des Flügels stellte. »Und nun gib den Ton an.«

Vergnüglich nickte der dunkle Krauskopf. Und »A« – klang es kräftig aus den Tasten.

»A–a!« antwortete es aus den Saiten der Geige. Leicht hatte Martha den Bogen darübergleiten lassen.

»Autsch!« – die Schwestern lachten beide, es stimmte schlecht! –

»Dann noch einmal.« Martha klopfte mit dem Bogen an den Flügel. Ihre Hände arbeiteten an den Schrauben der Geige.

Wieder drückte Paula die Taste herunter zu einem kräftigen A, diesmal gab es die Geige im Einklang zurück.

Martha lächelte.

»Nun noch den Dreiklang,« rief Paula fröhlich, und ihre Augen sprühten, »dann los!«

Und auch der Dreiklang fiel zur Zufriedenheit aus.

Sofort zogen denn auch die Melodien des ersten Satzes der F-Dur-Sonate, dieses unsterblichen Meisterwerkes des großen Beethoven, in ihrer ganzen anmutigen Frühlingsherrlichkeit und Heiterkeit durch den Raum.

Die beiden kleinen Spielerinnen waren sich gewachsen, gleich an Kraft, Können, Liebe und Lust.

Einzig hingegeben ihrem Spiel, hörten sie nicht, wie Dörthe den Kopf ins Zimmer steckte und zum Essen rief; auch nicht, wie Bruder Max über dem köstlichen Duft eines Rindsbratens und dem eines süßen Auflaufs von Reis und Äpfeln, welcher mit Dörthe von der Küche heraufgestiegen war, seine jüngst gewonnene Sekundanerwürde vergaß und mit einem Hurra, wie es denn sechsjährigen Hänschen Ehre gemacht hätte, an ihnen vorübersauste, die Tür zuwarf mit einem Knall – der wohl nur seinen Ohren als ein Freudenböller gelten konnte. –

Aber auch den Vater hörten sie nicht, wie er jetzt mit einem leichten Brummen die Treppe heraufkam, um den ausbleibenden Mädchen Ordnung beizubringen: immer fester, sicherer arbeiteten die kleinen Finger drauflos. Immer süßer, inniger sang Marthas Geige bei den sehnsüchtigen, duftigen Weisen, darinnen der Frühling spricht, immer klarer, perlengleicher klangen die Töne unter Paulas Hand in dem köstlichen Allegro voll Munterkeit und Scherz.

So hatten sie noch nie gespielt!

So vergaß denn auch Vater Wernau, daß unten der Braten kalt und die Bratkartoffeln hart wurden, der schöne Braunkohl häßlich abstand; ja, daß er eigentlich doch heraufgekommen war, um seine Zwillinge zur Ordnung zu rufen.

Zuerst hatte er haltgemacht in der Tür, dann war er leise, leise nahegetreten. Dicht stand er jetzt hinter ihnen – auch das merkten sie nicht. Ihm aber ward es klar, was sich da in den jungen Seelen regte und lebendig ward mit Zaubermacht, köstlich wie der Frühlingsjubel und die Frühlingslust in den Melodien hier: die Ahnung von der Herrlichkeit und wunderbaren Macht der Musik – und ihre Begabung dafür.

Mit einem vollen, harmonischen Akkord endete jetzt die Sonate; die Wangen der kleinen Spielerinnen glühten, ihre Augen leuchteten, sie sahen sich an. –

»Wir wollen Künstlerinnen werden!« erklärten sie einstimmig und fielen sich selig in die Arme.

»Du wirst Almare, und ich werde die Dorella!« jauchzte Paula.

»Das nenne ich etwas wollen,« sagte halb im Ernst, halb im Scherz eine Stimme hinter ihnen. »Möchte es so werden,« klang es dann ernst, und in frommer Andacht legte sich wie segnend eine Hand weich auf das braune und das blonde Kinderhaupt.

Es war der Vater.

Und die Kinder blickten in seine freudeverklärten Züge und reichten jubelnd an ihm in die Höhe.

»Jedenfalls sollt ihr etwas Tüchtiges lernen.«

Er hielt sie ein wenig von sich fort, wie um die Wirkung der Worte in den lieben jungen Gesichtern zu lesen.

Es schien, daß er damit zufrieden war, denn ohne noch mit der Antwort zu warten, herzte er glückstrahlend seine Mädchen.

»Alles hat seine Zeit,« drohte er dann, aber nur im Scherz.

»Das Essen wartet bereits eine Weile.«

So gingen sie nach unten. Immer aber noch strahlte die Freude in den Augen des Vaters und in den Augen der kleinen Mädchen, daß die Mutter mit ihrem feinen Frauenverständnis schnell erriet, da oben müsse sich etwas ganz Besonderes zugetragen haben, über dem man einmal ein Mittagessen vergessen könne, und, statt zu schelten, mit freundlichem Lächeln die Nachzügler begrüßte.

Nur Max brummte etwas, das wie »verwünschtes Klimpern und Kratzen« klingen konnte; er schluckte aber alles weitere mit einer prächtig braungebratenen Kartoffel hinunter.

Klimpern und Kratzen war nämlich der Ausdruck, mit dem der Sekundaner seinen Standpunkt gegenüber den musikalischen Leistungen der Schwestern geltend machte, was jedoch glücklicherweise die Freude der Zwillinge ebensowenig beeinträchtigte, wie sie seine Kritik irremachte in ihrem Tun.

Denn schon bald wieder, nachdem das Mittagessen vorüber, erklang in dem Musikzimmer droben die Chopinsche Masurka, welche Paula übte. Und das kleine Mädchen spielte sie mit einem Eifer, einer Lust, daß sie zuletzt selbst meinte, die Sporen klingen und die seidenen Schleppen rauschen zu hören, die ritterlichen Helden und die schönen Frauen zu sehen. Dann übte sie an der Gavotte in D-Moll so gründlich ausdauernd, daß der gestrenge Bach selbst seine Freude daran gehabt haben würde. Denn er hätte es doch sicher für unmöglich gehalten, daß es nicht nur seine Melodien waren, welche den munteren Wildfang derartig fesselten. Er kannte ja diese kleinen Evastöchter nicht, konnte nicht ahnen, daß heute doch auch ab und zu zwischen den mächtigen Gängen seiner prächtigen Zuge auch mal die rote Samtschleppe der Dorella vor dem Geist der kleinen Spielerin mit hindurchlief, sie bei den kleinen Trillern die Brillanten blitzen sah in dem dunklen Haar ihres augenblicklichen Ideals, und bei den Fermaten Flieder und Teerosen winkten zum freundlichen Gruß.

Mit diesen guten Dingen waren einstweilen für Paula Kunst und Künstlerin unauflöslich verbunden.

In dem Zimmer nebenan strich Martha eine Etüde von Kayser herunter, bis sie von selbst ging, wie sie das nannte, und zwar wie geölt! Dann hin und her gehend, wie sie das gern tat beim Spielen, fiedelte sie sich ein Menuett von Vater Haydn so unermüdlich, anmutig und graziös, als sei sie der einzige Spielmann auf einem Hoffest des Kaisers Franz, und die Damen in den steifen Taillen und gebauschten Röcken, den Spitzenkrausen, die Herren mit den Allongeperücken und den Galanteriedegen an der Seite tanzten knicksend und gleitend in anmutig, stolzer Grandezza um sie her.

Ein paar Schneebälle, geschickt gegen die Fenster geworfen, machten diesem Traum ein Ende, unterbrachen ebenso die immer fröhlich dahinlaufenden Windungen der Gavotte.

Die Bekannten und Freunde aus der Nachbarschaft waren unten im Garten und meldeten sich.

Die kleinen Mädchen meinten, solch prächtiger Wintertag mit Rodeln und Schlittenfahrt, mit Schneeballen und lustigen Kameraden sei doch auch nicht übel, und das Stündchen, das ihnen der Vater noch zum Üben erlaubt, war sicherlich längst überschritten.

Klapp, flog der Deckel des Flügels zu; klapp, wurde der Kasten, in dem Martha ihre geliebte Geige sorgfältig wie in einem Bettchen barg, geschlossen. Im Nu waren Jäckchen und Mützchen angetan und ging es hinunter.

Mit ein paar kräftigen Schneebällen empfing hier Fritz Steinbach, Max' bester Freund, die Schwestern.

Das mußte zurückgegeben werden. Leni Koch und Mieze Habicht unterstützten die Freundinnen; Max schlug sich auf Fritzens Seite, und unter fröhlichem Lachen und Jubeln flogen die weißen, weichen Balle hurtig hin und her.

Selbstverständlich nannte Max stolz einen Rodelschlitten sein eigen; auch Fritz Steinbach hatte einen zu Weihnachten bekommen. So zog man denn sehr bald nach der nächsten Anhöhe hinter Wahlershausen. Und unermüdlich immer von neuem ging es hier zu Fuß trab trab die Höhe hinauf und im Hui wieder zu Schlitten hinunter. Allzuschnell nur brach der Abend herein.

Bei Wernaus im Hause war es einfach, aber urgemütlich. Nirgends fühlten sich all die Kinder der Nachbarschaft so wohl wie hier; nirgends auch ließ es sich spielen wie hier in dem großen Zimmer zu ebener Erde, das zugleich Wohn-, Eß- und Kinderzimmer war.

Da gab es keine seidenen Möbel, die geschont werden mußten. Die Jugend durfte sich rühren nach Herzenslust. Da war auch niemand, der einem stillezusein befahl, wenn sie es einmal gar zu arg trieben mit Lärmen und Jubeln, dann hielt sich Mutter Wernau lieber lachend die Ohren zu, und sie verstanden, was das heißen sollte: sie hatten Mutter Wernau lieb und wurden ruhig, ganz ruhig von selbst. Oder Mutter Wernau holte ein Buch herbei und las vor. Und das war viel schöner noch. Dann freuten sie sich erst recht. Mäuschenstill saßen sie da, aus den jungen Augen aber sprach die Freude mit leuchtendem Glanz.

Nur zu gern stellten sich daher die Gefährten der Wernauschen Kinder im Hause ein.

Auch heute kamen denn Fritz Steinbach, Leni Koch und Mieze Habicht, zumal sie auch stets auf einen freundlichen Empfang rechnen konnten, wie selbstverständlich mit herein.

In ihrer bekannten, anmutig fürsorglichen Güte stellte Mutter Wernau dann alsbald ein hübsches Körbchen mit Äpfeln und Nüssen, eine bunte Schale mit Nürnberger Lebkuchen, die letzten Erinnerungen an die Weihnacht, auf den großen Tisch und bat freundlich, zu kosten.

Die Jugend hat stets Appetit, und besonders, wenn es Äpfel und Nüsse und Lebkuchen gibt, heute hatte ihn der Winterwind und Wintersport noch verschärft, die kleine Gesellschaft ließ sich nicht zweimal bitten. Die beiden Sekundaner als angehende junge Herren knackten galant die Nüsse für die kleinen Mädel auf, was sich diese als angehende junge Damen gnädigst gefallen ließen, um ihnen dafür den Äpfel zu schälen. Das aber wurde höflichst abgelehnt. Es krachte doch viel zu hübsch, meinte Max, wenn man so in die pralle, feste Schale hineinbeißen konnte. Und in Fröhlichkeit und ebenso unglaublicher Geschwindigkeit wurden die letzten Erinnerungen der weihnachtlichen Herrlichkeit vertilgt.

Dann legte der Vater das große neue Reisespiel auf den Tisch, er und die Mutter wollten mit von der Partie sein, was mit Jubel begrüßt wurde, zumal Mutter Wernau noch einige hübsche Dinge herzubrachte als Preis für den glücklichen Reisenden, der zuerst ans Ziel kam.

Es waren das freilich nur Kleinigkeiten, sie waren aber nett, nützlich und annehmbar, wie Mieze Habicht mit Kennermiene erläuterte: bunte Bleistifte, hübsche Federhalter, Korrespondenzkarten mit Ansichten oder Bildern, kleine Scherzartikel, vor allem aber Schokolade in jederlei Form: glatte große Schlüssel als notwendig für die werdenden jungen Herren, verrostete Hufeisen, die Glück bringen sollen, kleine Scheren für die Mädchen, alte Nägel, Kleeblätter, Sterne und dergleichen.

Als man so eine ganze Weile vergnüglich gereist war und jedermann ein- oder auch mehreremal das Ziel erreicht und seinen Preis eingeheimst hatte, erklärte Bruder Max, er wolle mit Fritz Steinbach ein Bilderrätsel stellen.

Natürlich hatte niemand etwas dagegen.

»Müßt aber eure Brummschädel etwas anstrengen, wenn ihr dahinterkommen wollt,« erklärte er dann weiter in seinem etwas burschikosen Knabenhumor, stolz in der Überlegenheit seiner Jahre und seines Geschlechtes, den Mädchen. Denn die Sache sei sehr fern!

»Pah –« die ließen sich so leicht nicht einschüchtern, am wenigsten Paula von Bruder Max, mit dem sie eigentlich immer auf Neck- oder auf Kriegsfuß stand.

»Was du fertigbringst, das kann ich auch noch!« Übermütig schüttelte sie das krausgelockte Köpfchen.

»Werden ja sehen!«

Max und Fritz verließen dann das Zimmer und kehrten nach einer, wie es schien, langen Verabredung oder Einigung prustend vor Lachen zurück. Sie stellten sich, die Arme fest ineinandergehängt, dicht nebeneinander auf und blieben so, regungslos, halten.

»Nun raten, raten!« erklang es aus beider Mund.

Ja – da war nun guter Rat – besser richtiges Raten – teuer. Eine bedenkliche Stille herrschte im Raum; die Mädel neigten etwas bedenklich die Köpfe.

»Siamesische Zwillinge,« erklärte Paula endlich. Sie mußte sich doch gegenüber diesem brüderlichen, knabenstolzen Selbstbewußtsein rühren. Und die Tante hatte erst kürzlich noch von dieser menschlichen Ungeheuerlichkeit, die im Panoptikum gezeigt wurde, erzählt.

»Damit ist's nichts, Schwesterlein, etwas höher rauf,« klang die brüderliche Antwort flink und flott zurück.

»Orest und Pylades,« versuchte sich jetzt Leni Koch in der Erinnerung an die Literaturstunde, die ihnen dies Freundespaar mit Goethes Iphigenie nahegebracht.

»Schiller und Goethe,« rief darauf Martha wie elektrisiert, vermeinend, daß Leni hier einen guten Weg eingeschlagen.

Mit der Erinnerung an Iphigenie war ihr auch die Erinnerung an das berühmte Weimarer Standbild gekommen, das die beiden Dichterfürsten nebeneinanderstehend zeigt.

»Tut uns etwas zuviel Ehre an,« – Max lachte spöttisch, – »obwohl wir auch zur Literatur gehören.«

Literatur – die kleinen Mädel senkten die Köpfe. Von Literatur war noch nicht allzuviel darin.

»Dummes Zeug, Pagoden seid ihr,« brach nun Paula aus, etwas ärgerlich, daß sie nicht schon längst mit Glanz abgeschnitten hatte.

»Das ist aber gescheit.« Max wandte sich mit einer etwas spöttischen Verbeugung gegen die Schwester. »Daran erkenne ich unsere Paula. – Aber ich hab's ja gesagt« –

»O du!« Paula machte halb ärgerlich, halb lachend ein kleines Fäustchen nach ihm hin.

»Nun, dann erklärt mal selber, was ihr bedeuten wollt.« Vater Wernau begann zu vermitteln, nachdem noch ein paar nicht richtige und unmögliche Deutungen zutage gefördert waren.

»Wir bringen's eben nicht heraus.«

»Und ist doch so einfach!« Bruder Max lächelte überlegen glücklich, daß ihm die Sache gelungen.

»So sehr einfach!«

Dann mit einer etwas drastischen Bewegung, ähnlich wie ein Menageriedirektor seine Exemplare zeigt, auf seinen Nebenmann weisend, erklärte er mit Humor:

»Mein Freund Fritz ist gewiß ein lieber, guter Kerl – Aber, meine Herrschaften, Sie werden es mir zugeben, eine Rose ist er nicht. Und ich, nun, ich kann wohl mal stachelig sein, aber Sie werden auch dem nicht widerstreiten, ich trage keine Dornen. Also,« indem seine Hand mit komischer Grandezza auf Fritz Steinbach zeigte, dann auf sich: »– da keine Rose, hier ohne Dornen, darum sehr einfach: Keine Rosen ohne Dornen.«

Die Stimmen überschrien sich im heiteren Jubel über den gelungenen Scherz.

Nur Paula, ärgerlich, daß sie Max nun doch nachstehen mußte, behauptete, daß das gar nicht gelten könne, Max habe sie beschwindelt.

Vielleicht wären die beiden noch etwas aneinandergekommen, aber Fritz Steinbach trat dazwischen. Er wollte jetzt ein Rätsel aufgeben, ein hübsches, einfaches, das sie alle gleich raten würden. Und er begann sofort:

»Was klopft, ohn' anzuklopfen,
Was schlägt und schlägt nicht zu,-
Ist immer in Bewegung,
Gönnt sich nicht Rast und Ruh!
Geht weiter, immer weiter,
Bleibt doch am gleichen Ort;
Spricht die beredt'ste Sprache
Und sagt kein einzig Wort.«

Einen Augenblick sinnende Stille – dann zu gleicher Zeit riefen sie alle fröhlich:

»Das Herz, das Herz!«

»Gut gemacht!« Vater Wernau klopfte des Sohnes Freund anerkennend auf die Schulter. »Aber auch das Bilderrätsel war nicht übel und die Lösung beherzigenswert für das Leben!«

Nun war es aber wirklich Zeit zum Gehen. Und in allgemeiner heiterer Freude brach man mit einem fröhlichen: »Auf Wiedersehen für morgen auf dem Eis in Wilhelms-Höhe!« auf und schied voneinander.


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