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4. Martha.

Nach Tisch ging Vater Wernau zur Stadt. Er hatte Stunden zu geben und im Orchester zu spielen.

Bald nahm auch Max seine Mütze und rannte fort. Er mußte sich Luft machen, jemand sprechen. Das ging am besten und einzig bei Karl Holm.

Auch Paula litt es nicht daheim.

Spielen üben war heute unmöglich. Sie wußte überhaupt noch nicht, ob sie je wieder ein Klavier anrühren würde. Aber sie mußte hinaus! Sie lief zu Steinbachs, vielleicht wußten die einen Rat.

So blieb Martha allein zu Haus, und allein saß sie auch jetzt bei der Mutter im Zimmer, Dörthe war mit den Kleinen an die Luft gegangen.

Schon als Martha eintrat, hatte die Mutter müde mit den Lidern geblinzelt. Tiefe Stille herrschte ringsum, wohltuend spielte die Luft aus dem geöffneten Fenster des Nebenzimmers herein um die Schläfen der Kranken.

Bald war sie eingeschlafen.

Martha griff nach einem Buch aus dem Regal an der Wand. Es war Goethes Hermann und Dorothea. Sie hatten in der Schule darin zu lesen angefangen. Sie wollte gern wissen, wie es weiter ging. –

So setzte sie sich an das Fenster nebenan, legte das Buch auf den Sims, stützte den Kopf in die Hand und las und las. – Ihre Züge heiterten sich auf, die schmerzlichen Gedanken schienen für den Augenblick vergessen.

Da plötzlich flog eine glühende Röte über des jungen Mädchens Wangen, um ebenso schnell wieder einer jähen Blässe zu weichen. Halblaut mit bebender Stimme las sie es noch einmal, was sie eben so tief, fast erschreckend erregt:

»Dienen lerne beizeiten das Weib nach ihrer Bestimmung;
Denn durch Dienen allein gelangt sie endlich zum Herrschen,
Zu der verdienten Gewalt, die doch ihr im Hause gehöret.
Dienet die Schwester dem Bruder doch froh, sie dienet den Eltern,
Und ihr Leben ist immer ein ewiges Gehen und Kommen,
Oder ein Heben und Tragen, Bereiten und Schaffen für andre.
Wohl ihr, wenn sie daran sich gewöhnt, daß kein Weg ihr zu sauer
Wird, und die Stunden des Nachts ihr sind wie die Stunden des Tages,
Daß ihr niemals die Arbeit zu klein und die Nadel zu fein dünkt,
Daß sie sich ganz vergißt und leben mag nur in andern!«

* * *

Wie von einer wunderbaren Macht gebannt, hielt hier das junge Mädchen inne: »Daß sie sich ganz vergißt und leben mag nur in andern –«

Die Hand, die auf dem Buch ruhte, sank in den Schoß. Regungslos saß Martha da. Um so lebendiger begannen sich die Gedanken zu regen in dem feinen Köpfchen:

Sollte das die Liebe sein, die große Liebe, von der die Mutter gesagt, daß sie in ihrem Wesen lebte, so jung sie auch noch war – die Liebe, welche auch der große Dichter als die Bestimmung der Frau erkannt? –

Hatte sie darum den Blick der Mutter nicht vergessen können, hatte es sie immer wieder mit unwiderstehlicher Gewalt und Sorge zu ihr getrieben, sogar von der geliebten Geige fort? Tief sinnend neigte sich das blonde Köpfchen auf die Brust; die Hände falteten sich im Schoß – –

»O mein Gott!« seufzte sie endlich leise. »Ich habe aber doch auch ein Künstlerherz!«

Und eine grenzenlose Angst flog sie plötzlich an. Heiß und kalt lief es über sie hin; jäh wieder wechselten die Farben auf den jungen Wangen. Verwirrt, hilfeflehend für die widerstreitendsten Empfindungen, die ihr Herz durchtobten, schaute sie um, schaute sie auf zu dem Himmel, auf dessen azurblauem Grund die rotgoldenen Wolken dahinzogen, leuchtend, duftig und leicht wie die Träume von dem Glück.

»Martha, Martha!« – Die Kleinen hatten die Schwester gesehen und stürmten durch den Garten.

Dörthe hatte Mühe, Schritt zu halten. Sie wollten das Fenster erklettern. Dörthe half; auch Martha breitete die Arme aus.

Eins, zwei, drei – mit kühnem Sprung und Schwung, von Schwester Marthas Arm gehalten, war Hänschen glücklich drinnen gelandet.

Eins – zwei – drei – auch Lieselotte war dem Brüderchen gefolgt.

Und nun gab es eine Freude ohnegleichen. Was die Kinderhände an Gras, Blumen und Blättern draußen gesammelt hatten, streuten sie der Schwester in den Schoß.

Da eine leise Bewegung, – die Mutter war erwacht.

Und mit unwiderstehlicher Gewalt, als sei hier die Lösung für all die widerstreitenden Empfindungen, der Frieden für den Kampf gefunden, eilte Martha zu ihr hin, sank an ihrem Lager in die Knie, schlang die Arme um ihre Schultern:

»Mütterchen, Mütterchen, würde wohl Vater, wenn er niemand für dich anzustellen brauchte, eine von uns nach Berlin auf das Konservatorium schicken können?«

»Vielleicht, es wäre nicht unmöglich!«

»Und glaubst du,« fuhr Martha eifrig fort, »glaubst du, daß Max besser bei mir aufgehoben wäre – als bei einer Fremden, – daß ich überhaupt ein Haus besorgen könnte?«

»Martha!« Ein Freudenstrahl brach aus den Augen der Mutter und verklärte das blasse, schmal gewordene, jetzt so verhärmte Gesicht. »Martha, wenn du –« Schnell aber brach sie ab:

»Nein, das sollst, das kannst du nicht,« sagte sie ruhig und fest.

Martha aber hatte die verklärten Augen gesehen. Es war ihr klar und gewiß geworden, was die Mutter bewegte, wenn sie ihr so ernst und fragend, so bittend und bang in die Augen geschaut, klar auch, warum der Blick mit ihr gegangen war und sie nicht verlassen hatte.

»Dann, Mütterchen,« sagte sie entschlossen, »kannst du ruhig fortgehen und gesund werden.« – Und indem sie ihre kleine Hand in die der Mutter legte, fuhr sie fort: »Ich werde alles lassen und für euch nur leben!«

Ehe die Mutter etwas entgegnen konnte, meldete sich Klein-Anni.

»Und jetzt trete ich mein Amt an.« Das klang schon fast heiter.

Martha beugte sich über die Wiege, nahm das Kind aus den Kissen auf ihren Schoß und reichte ihm die Flasche.

Spät erst am Abend kam Paula nach Hause, später noch Max.

Paula hatte keinen anderen Rat bei Steinbachs gefunden. Aber es war Besuch dagewesen, man hatte sich anregend unterhalten. Sie war wieder zu sich selbst gekommen und wollte sich fügen. Aber bleich saß sie da mit brennenden Augen. Sie meinte, sie würde nie wieder so recht von Herzen glücklich werden. Doch von der Musik konnte sie nicht lassen; sie mußte jetzt um so fleißiger sein.

So wäre sie denn auch am liebsten gleich noch mit einem Allegro con brio ans Üben gegangen. Diesmal aber hielt sie die Rücksicht auf den Bruder davon zurück.

Er war eben heimgekehrt. Sie hatten die Tür gehen hören. Nun trat er bei den Schwestern ein.

Es schien, er hatte das Bedürfnis, nochmals jemand zu sehen, der zu ihm gehörte.

Eine furchtbare Veränderung war über den Knaben gekommen. Wirr hing ihm das lange Haar um den Kopf. Seine Augen glühten und waren gerötet wie vom Weinen oder gar vom Wein. Bald lohten sie auf in düsterem Glanze, bald blickten sie scheu zu Boden. Auch die Züge waren verstört und totenbleich. Bald lehnte er stumm, wie zerbrochen, in der Sofaecke, bald sprang er auf und ging wie ein gefangener Löwe wütend in dem Raume umher.

Endlich konnte es Paula nicht mehr aushalten.

»Aber, Max,« rief sie, »denkst du, es würde besser von dem Herumtrampeln?«

Sie hatte es nicht böse gemeint. Bei seinem Zustand aber wirkten diese Worte wie ein Feuerfunken in ein Pulverfaß.

»Besser!« schrie er wütend auf, »besser wird es nur für euch; für mich – da muß man sich anders zu helfen wissen.«

Und draußen war er und schlug die Tür zu mit einem gellenden Knall.

Es war tief in der Nacht. Doch immer noch lag Martha mit wachen Augen da.

Zum erstenmal in ihrem Leben hatte sie nicht einschlafen können, obschon sie recht müde war. Zum erstenmal aber auch waren ihr Sorge und Kummer nahegetreten, hatte ihr Schicksal eine so einschneidende Veränderung erfahren, hatte sie ihm, aus eigenem, freiem Entschluß ein ander Ziel gesteckt.

Wohl war sie dabei zu einem stillseligen Frieden gekommen, aber es hatte Kämpfe und Opfer gekostet. Jetzt in der stillen Nacht machte sich der Schmerz um alles, was sie verloren und aufgegeben hatte, geltend und nahm ihr die Ruhe. –

Immer wieder zogen an ihrem innern Ohr lockend, bestrickend Melodien über Melodien vorüber. Manch ein Andante oder Adagio ließ nicht nach, bis es im Geiste durchgespielt ward. Wie drohend fast schienen die Noten ihre runden, schwarzen Köpfe zu schütteln; ja, sie vermeinte wohl gar, das Bild mit den schwebenden Engeln über ihres Vaters Pult, vor dem sie so gern gespielt, schaue sie an mit erzürntem Blick.

Die arme Martha kam sich vor nicht unähnlich einem Soldaten, der seine Fahne verlassen hat! –

Und doch, es mußte so sein! Nein, sie hatte nicht anders handeln können! – –

Hatte doch auch Vater gesagt, daß die Liebe, die große Gottesliebe, das Schönste für den Menschen bleibt, auch dem Künstlerherzen seine beste Kraft leiht. – Da konnte es doch kein Unrecht, nichts Geringeres sein, wenn sie nun ihr ganzes Leben in den Dienst der Liebe stellen wollte, einer Liebe, wie sie der große Dichter als die Bestimmung des Weibes gepriesen und auch die Mutter als zu dem Frauenherzen gehörig! –

Sie wollte auch fest bleiben, alles andere überwinden. Nur einmal noch spielen! stieg es sehnsuchtsvoll in ihrem Innern auf, einmal noch spielen jetzt in der stillen Nacht, leise, leise, ungehört, ungesehen, mit der alten Begeisterung, einmal noch spielen, Abschied nehmen von ihrer Geige, ihrer Musik, einmal noch, – dann nie wieder. Und die Sehnsucht wuchs. Marthas Köpfchen brannte, das Herz klopfte zum Ersticken. –

Zuletzt hielt sie es nicht mehr aus. Leise stand sie auf und ging in das Musikzimmer hinüber.

Es war Mondschein draußen, ein paar Strahlen fielen durch das Fenster, milde Dämmerung herrschte in dem Raum.

Bald war die Geige erreicht. Leise, ganz leise strich der Bogen über die Saiten, sie klangen kaum vernehmbar und doch so süß, so süß, so herrlich schön! –

Da sank die Hand schon mit dem Bogen, Schmerz und Kummer hatten die junge Spielerin überwältigt. Sie sank in die Knie, schlang ihre Arme um das Instrument, das sie, ein Kind noch, ihr Lieblingsspielzeug genannt, neigte ihren Kopf darüberhin und weinte bitterlich.

Unhörbar öffnete sich die Tür, unhörbar auf leisen Sohlen schlich jemand herein, jetzt um den Flügel herum, – jetzt in dem dämmernden Licht sah der Kommende die auf dem Boden kauernde weiße Gestalt. Er prallte zurück, ein Stuhl fiel um.

Martha hob den Kopf. An dem lose herabwallenden Goldhaar erkannte Max die Schwester. Auch sie hatte den Bruder erkannt, auf dessen Gesicht eben das volle Mondlicht fiel.

Eine Weile sahen sie sich beide an; Martha stumm vor Staunen, Max stumm und verstört vor Schrecken.

»Was tust du denn hier?« fragte er endlich.

In ihr Leid versunken, bemerkte Martha nicht, wie seine Stimme zitterte, sein Ton ärgerlich und erregt klang.

»Ich nehme Abschied von meiner Geige,« sagte sie einfach und schlicht.

Nur ein dumpf gurgelnder Laut rang sich über Max' Lippen. Die Kehle schien wie zugeschnürt. O, daß er doch fortlaufen könnte auf der Stelle, so weit ihn seine Füße trugen! –

Aber es mußte ihn doch wohl etwas in dem Ton und dem Tun der Schwester getroffen haben bis in das Herz.

Besorgt trat er plötzlich zu ihr hin: »Und du liebst es doch so sehr, das kleine braune Ding!«

Martha schluchzte von neuem und schlang die Hände um der Geige Hals.

»Aber dann, warum –«

Sie fühlte, wie sich Max' Trotz von neuem regen wollte. Schnell griff sie nach seiner Hand, zog den Bruder zu sich heran, nahe, ganz nahe, und erzählte ihm leise flüsternd, daß sie alles – alles lassen, bei ihnen bleiben, für sie sorgen wolle.

Starr und staunend, einen seltsamen Ausdruck in den Zügen, blickte jetzt der Knabe auf die Schwester.

Ihre Haltung hatte sich währenddem wieder gehoben. Groß, als wäre sie in den wenigen Minuten gewachsen, stand sie vor ihm da. Sie strich das Haar aus der Stirn, wischte die Tränen aus den Augen, und fest klang es:

»Es muß sein! Nur so wird Mutter Ruhe haben, um gesund werden zu können. – Brauchen wir keine Fremde hier, dann kann Paula nach Berlin gehen. Und du – ach, Max, ich tue es ja auch für dich. Mutter ist so bange, du – du – du könntest verloren gehen –«

Ein Schrei! – Klirrend fiel etwas zur Erde, ein Bund Schlüssel, welches des Bruders Hand bisher auf dem Rücken gehalten hatte.

Dann stürzte er neben dem jungen Mädchen nieder, barg das Gesicht in die Hände und schluchzte zum Erbarmen.

»Martha, Martha, wie bist du so gut, und ich – wie bin ich schlecht! Darum sollst du allein es auch wissen, was mich hierhergetrieben, wovor du mich bewahrt!«

Und nun erzählte er stockend, mit Scham und Reue kämpfend, in hastender Eile, als wolle er sich selbst bei seinem Geständnis halten, sich selbst erlösen von dem Furchtbaren, das ihn drückte, wie er am Nachmittag zu Karl Holm gerannt, wie ihn Karl Holm stets getröstet, Teilnahme und Verständnis für ihn gehabt und ihn auch heute in Freundschaft aufgenommen habe. – Und weiter, wie Karl Holm mit ihm gejammert in seinem Leid und gesagt, daß man ungerecht gegen ihn sei hier im Hause, – daß er sich das nicht gefallen zu lassen brauche. –

Dann hatte Karl Holm eine Flasche Wein aus dem Schränkchen an der Wand geholt und mit zwei schön geschliffenen Gläsern auf den Tisch gestellt. Max sollte erst mal einen tüchtigen Schluck trinken, um sich zu erholen.

Und Max hatte getan, wie jener gebeten, und seine Lebensgeister hatten sich etwas gehoben.

Dann hatte Karl Holm von Italien gesprochen, vor allem von Rom.

Er war nicht müde geworden, dessen Herrlichkeit zu preisen: den immerblauen Himmel, die immergrünen Pinien und immerblühenden Veilchen seiner Gärten und Villen, die braune, blumendurchsetzte Campagna, die Denkmale und Ruinen, die Kunstschätze seiner großen Vergangenheit, den Luxus und Glanz der modernen Zeit. – Wunderdinge aber wußte er zu berichten von dem Leben der Künstler dort, ihren großen Festen, und wie man lustig sein könne jeden Tag in den Vignen und Osterien, den Weingärten und kleinen Weinwirtschaften.

Stumm und staunend hatte Max zugehört und darüber alles andere vergessen.

Karl Holm wollte auch wieder nach Italien.

Die Erklärung kam sehr unerwartet und warf Max aus seinem Rausch des Entzückens um so schmerzlicher wieder in den alten Jammer, die Einsamkeit zurück.

Ohne Karl hielt er es gar nicht aus.

Dann solle er doch mitgehen, schlug der einfach vor; durchbrennen, wenn es nicht anders ging.

Und ob Max, darüber entsetzt, es abgelehnt als ganz unmöglich, Karl Holm brachte es doch fertig, ihn dafür zu gewinnen, ja zu ganz anderem noch.

Karl Holm gehörte nämlich zu denen, die sich Künstler nennen, aber unter dem Künstlerleben einzig ein Leben in unbeschränkter Freiheit und ununterbrochenen Freuden verstehen.

Er hatte auch hier am Ort lieber lustig gelebt, statt gearbeitet, und Schulden gemacht. Es war Zeit, daß er sich entfernte, nur fehlte ihm das nötige Geld. Und so war ihm denn der Gedanke gekommen, Max wäre wohl in seiner jetzigen Stimmung geneigt, ihm das zu verschaffen.

Und so schürte er an dem Trotz, dem Zorn und Jammer, darin sich das Herz des armen, betörten Jungen ohnehin schon gegen den Vater aufbäumte. Er erzählte, wie mancher schon den Eltern durchgebrannt sei, wenn sie ihn nicht hatten gewähren lassen, und ein großer Mann geworden wäre; versicherte, daß, was dem Vater gehöre, doch auch dem Sohn zu eigen sei, daß sein Vater eine Unmenge Geld habe, und daß es nur sein gutes Recht wäre, sich selbst zu helfen, zu verschaffen mit eigener Hand, was ihm der, nur zu Unrecht, nicht gewähren wolle.

Und wenn es ihn zu sehr bedrücke, hatte er dann noch hinzugefügt, dann könne er ja sehr bald dem Vater alles wieder schicken. Denn dort unten, in Italien, würden sie mit ihrem Talent gleich Geld verdienen wie Heu.

Ob das gleich eine Lüge war, wie alles andere, was Karl Holm zu behaupten liebte, ob er auch wußte, daß er den ihm blind vertrauenden Knaben ins Unglück stürzte: er ließ nicht davon ab, bis er ihn betört, verwirrt, überredet und bis hierher gebracht hatte.

Entsetzt rückte Martha jetzt von dem Bruder fort.

Er nickte verständnisvoll und schlug die Hände vor das Gesicht. Wie Schuppen war es von seinen Augen gefallen; klar und deutlich erkannte, empfand er seine Schuld.

»Und nun bin ich doch ganz schlecht geworden und verloren –«

Martha sah seine Reue. Sie dachte an alles, was die Mutter gesagt und wie sie recht gehabt hatte mit ihrer Sorge, und weiter, wie sie auch jetzt nur Milde und Güte haben würde für ihren armen, verführten Jungen.

»Noch bist du es nicht, Max,« entgegnete sie sanft und milde, »und darfst es auch nicht werden.« Wieder trat sie zu ihm hin und legte die Hand auf seine Schulter:

»Du hast es ja schwer gehabt, Max. Ich weiß es nur zu sehr. Vater aber meinte es doch nur gut mit dir und hat dich lieb. Versprich mir, daß du ihm glauben und vertrauen, dich fügen willst und gehorchen, aushalten, ertragen die paar Jahre. Und alles das andere bleibt unter uns.«

Wie befreit von einer drückenden Last und furchtbaren Qual, sprang er auf:

»Alles will ich tragen und tun, Martha!« rief er begeistert. »Ich müßte mich ja schämen vor mir selbst und vor dir, brächte ich es nicht fertig, ein paar Jahre mich zusammenzunehmen, auszuhalten, während du alles aufgegeben hast für uns. Und einen Schurken sollst du mich nennen, wenn ich es je vergesse, wie du über deiner Geige geweint hast.« –

Am anderen Morgen sprachen Vater Wernau und Martha eine ganze Weile allein miteinander.

Tief gerührt nahm er ihren Vorschlag entgegen. Anfangs konnte er sich nicht darein finden. Es ward ihm schwer, ihre Bitte zu erfüllen, ob er sie auch den Verhältnissen entsprechend nicht nur billigte, sondern als die beste Lösung empfand. So willigte er denn zuletzt doch ein.

Dann wurde Paula der Beschluß verkündet.

Ein Freudenstrahl flog über das brünette Gesichtchen und färbte die bleich gewordenen Wangen wieder rot. Sie dachte aber doch anständig genug, um das Opfer der Schwester zurückzuweisen.

»Wenn es denn nur einer möglich werden sollte,« erklärte das junge Mädchen, »Künstlerin zu werden, dann wollten sie darum losen.«

Ihre Stimme zitterte jedoch bei den Worten, und ihr junges Herz klopfte zum Ersticken bang.

Martha wollte von alledem nichts wissen.

»Paula, Paula,« sagte sie zuletzt mit einem Versuch zum Scherz, um das Hin und Her der Reden darüber zu kürzen, »es ist besser, ich verzichte; auch für das Hauswesen ist es richtiger. Du weißt doch, haushalten ist gerade deine Sache nicht.«

»O du!« fuhr Paula auf, neigte aber trotzdem bedenklich den hübschen Krauskopf zur Seite in der Erinnerung, daß sie in der Tat niemals gerade weder Lust noch Talent zu häuslichen Leistungen verspürt und die Mutter immer damit getröstet hatte, wenn das einmal nötig sein sollte, müßte es schon gehen. Daß es gehen würde, meinte sie auch jetzt; denn sie wollte. Und wo ein Wille ist, ist auch ein Weg.

Martha aber hielt ihr Lächeln fest und meinte: »Besser nicht!«

»Nun denn Schluß!« – Paula gab sich drein, vielleicht nicht allzuschwer. »Es muß auch Pianistinnen geben,« sagte sie, wieder ganz wie sonst die immer fröhliche Paula. »Und nun muß ich arbeiten für zwei!«

Vater Wernau nickte lächelnd dem Töchterchen zu. Seine Hand aber strich über die goldschimmernden Flechten Marthas. Im stillen gedachte er dabei einer Erfahrung, die er schon manchmal im Leben gemacht hatte: daß oft ein Leid, das Gott dem Menschen schickt, zu seinem Segen dient, – oder auch: was ihm so schwer, oft furchtbar schwer zu tragen wird, gerade den Grund legt für ein neues, schönes Glück.

Nach ein paar Tagen schon, nachdem zuvor Mutter Wernau in das Sanatorium in Wilhelmshöhe übergesiedelt war, schlug die Stunde, da Paula abfahren sollte.

Da ward es denn offenbar, wie doch auch sie an der Heimat, dem Elternhause hing.

Immer wieder durchstreifte das junge Mädchen den Garten, um Abschied zu nehmen von jeder Stelle, an der sie gespielt mit fröhlichem Kindersinn. Immer wieder lief sie von einem Zimmer in das andere, sagte jedem Eckchen Lebewohl, das sie im trauten Kreise der Ihren gesehen. Immer wieder auch wurden die Kleinen geküßt, schlang sie die Arme um Marthas Nacken.

»Paula, liebe Paula!« wehrte die endlich, halb im Ernst, halb im Scherz. »Man sollte meinen, du gingest in die Verbannung.«

»Ja, ja,« lachte dann Paula. »Bin ja auch ein kleines Schaf, heule wie ein Schloßhund und fahre doch meinem Glück entgegen!« Im selben Augenblick schluchzte sie trotzdem schon wieder an der Schwester Brust.

»Ja, wenn du mitgingest! – Ach, ich habe es ja immer gewußt, daß du nur ein Haustierchen werden würdest.«

Es hatte ein Scherz sein sollen, aber der Scherz war ungeschickt. Martha zuckte schmerzlich zusammen.

»Hausmütterchen!« rief Max mit Stentorstimme dazwischen. »Hausmütterchen willst du sagen. Unserem Hausmütterchen ein Hurra!«

»Hurra!« echote hier der kleine Hans.

Dankbar nickte Paula dem Bruder zu. Klein-Hänschen kriegte schnell noch einen Kuß, Schwester Martha einen warmen Händedruck. Dann litt sie liebenswürdig gnädig, daß Max seinen Arm in den ihren hing und sie begleitete.


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