Bruno Ertler
Venus, die Feindin
Bruno Ertler

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Im Morgengrauen fuhr der Eilzug über die Grenze. Zollbeamte in fremder Uniform betraten das Abteil, fanden alles in Ordnung, grüßten und gingen wieder.

Das grüne Licht der Wagenlampe verblaßte, die Gedanken zögerten im müden Hirn des Einsamen. Noch dachte er an die wilde Fahrt zur Bahn –, an seine Frage – –; auch Iwan Michailowitsch hatte ihm nichts weiter sagen können, als daß »alles gut ausgegangen« sei.

»Lache doch –!« hatte er gesagt.

Peter Iwanowitsch lehnte sich zurück und schaute wieder in die matte Lampe. Er fürchtete das Absterben des grünen Lichtes, in dessen ruhigem Schimmer er noch einmal dieses Jahr durchlebt hatte, seltsam klar und schmerzlich erkennend, daß eines Toren Herz der verläßlichste Faktor ist in der klugen Rechnung der Weltkinder.

Er fühlte ein Sterben in sich und empfand den grünen, zuckenden Funken als den letzten Schimmer einer Welt, die hinter ihm lag, wie das weite Land mit Berg und Stadt und Meer, in der es Lust und Schmerz gab und Hoffen, Wollen und Leben. Das alles verglühte wie das Licht hinter dem graugrünen, verschossenen Schirm, und wirklich blieb nur die leere Gegenwart im öden, harten Morgenlicht, die sinnlose Hast einer Maschine, die ihn da fliehend in ein fremdes, unerwünschtes Land hineinriß.

Erniedrigt und verraten von ihnen, die er geliebt hatte, ausgestoßen von denen, die einst an ihn glaubten, verhöhnt wohl und verlacht von jenen, für die er sich in die Schanze schlug –, das war er nun. Er sagte es sich immer wieder vor, mit immer härteren Worten, und verneinte in selbstfeindlicher Verbissenheit sich und den andern jede Entschuldigung. Ein Werkzeug war er, zu einem bestimmten Dienst geschliffen und gebraucht und nun abgenützt und weggeworfen. Sonst nichts. Und er war eitel genug gewesen, sich als Mensch unter Menschen zu wähnen! Er grub den giftigen Stachel in seine Brust, drehte ihn um in der brennenden Wunde und stöhnte vor Schmerz, bis ihm der Schlaf mit linder Hand über die heiße Stirn streifte. –

*

Der Zug hielt, und Peter Iwanowitsch erwachte mit jähem Schreck. Er sprang auf, erblickte in Dunst und Rauch Schornsteine und Dächer einer großen Stadt und fuhr sogleich vom Fenster zurück. Nun erst besann er sich, war ärgerlich über seine Angst und fühlte sofort wieder die bleischwere Last, die ihm der Schlaf kaum ein wenig hatte tragen helfen. Zugleich wurde es ihm bewußt, daß die Bewegung des hinrasenden Zuges ihm doch irgendwie wohlgetan hatte, wie eine Marter, an die man sich schließlich gewöhnt hat. Diesen Bahnzug empfand er dunkel als das einzige mitfühlende Wesen, das noch irgendwie mit ihm zusammenhing.

Aber nun stand die Maschine still –, so lange schon – –, wie lange noch? Wo? Was war das für ein Land? Welche Stadt war das? Er neigte sich zum Fenster. Eine graue, lange Bahnhofhalle, Plakate, Zeitungsstand, Büfett, schrille Glocken, ratternde Karren und hin und her laufende Menschen. Verwundert und fremd sah er in das Getriebe. Er hatte das Gefühl, daß keiner dieser Menschen wußte, wohin er wollte oder gehörte; sie liefen einander in den Weg, stießen sich und schimpften hintereinander her, lachten sogleich wieder und waren immer irgendwie überrascht oder empört.

Sein Blick fiel auf einen Mann mit blauer Jacke und roter Kappe. Er stand regungslos mitten im Getriebe, hatte die Knie ein wenig gebogen, und obgleich er sich nicht bewegte, war etwas leise Wiegendes in seiner Art zu stehen. Ein Bahndiener, ein Gepäckträger mochte es wohl sein, ein Mann aus dem Volke, ein Kind dieser Stadt. Er sah gut und dick aus, trank wohl gern und rauchte mit sichtlichem Behagen aus einer kurzen Hängepfeife mit weißem Steingutkopf. Den Frauen und Mädchen, die an ihm vorbeieilten, blinzelte er nach, und als ein junges Weib, das ein kleines Mädchen an der Hand führte, ihn um irgendeine Auskunft fragte, ließ er erst seine Äuglein über Brust und Hüften der Frau gleiten und zuckte dann mit den Achseln. Als die Frau mit aufgeregten Gesten die Frage wiederholte, suchte er beschwichtigend ihren runden Arm zu tätscheln, worauf sie zornig weiterlief. Der Mann sah ihren Bewegungen nach, und als ein Kollege vorbeikam, rief er ihn an, deutete mit der Pfeifenspitze nach der forteilenden Frau, kniff ein Auge ein und sagte ein paar Worte, worüber beide verständnisvoll lachten.

Voll Ärger und Ekel an dieser Szene lehnte sich Peter Iwanowitsch in seinen Sitz zurück. Als der Zug endlich weiterfuhr, empfand er es als eine Erlösung. Mit einemmal haßte er diese fremde Stadt.

*

An einer Station im österreichischen Alpenland mußte der Zug gewechselt werden. Peter Iwanowitsch saß zuerst im Bahnrestaurant und sah in das heiter bewegte Treiben, das da vor ihm hin und herwogte. Die sonnigen Ostertage hatten große Mengen von Bergfahrern in die Freiheit gerufen. Froh und laut war das Gehaben dieser Menschen, die in einem farbigen Gemisch von Sportanzug und Volkstracht helläugig und luftgebeizt nicht anders aussahen, als hätte sie nie in ihrem Leben eine schwere Stunde gequält.

Den einsamen Fremden zog es immer mächtiger in diesen Strom befreit aufatmender Lebenskraft. Er schlenderte in der Umgebung des Bahnhofes umher, kam immer weiter in den freundlichen Ort, wo ihm fremde Menschen zunickten und ihn grüßten. Verwundert und scheu ging er durch diese Welt, die ihm überdies noch dadurch halb unwirklich vorkam, weil er hier keines Menschen Sprache verstand.

Und dennoch: Das alles rief nach ihm mit einer seltsam vertrauten, lange entwöhnten Stimme.

Er schlug einen Seitenweg ein und fand sich plötzlich am Rande des Ortes, wo nur noch einige braune Holzhäuser mit hellroten Blumen in den weißgerahmten Fenstern an einem glasgrünen Bach standen, der von den Bergen her auf eine Brettersäge zusprang, voll Kraft und Jugend wie alles hier. Matten und Wiesen standen im ersten hellen Grün des Frühlings, die dunklen Nadelwälder am Fuße der Berge schienen noch dem Winter nachzuträumen, der sich erst langsam von ihnen zurückzog und über Wände und Schründen hinaufstieg in die ewige Heimat seiner blitzenden Zacken und Gletscher.

Und über all der Wundergröße strahlte tiefblauer Himmel.

Peter Iwanowitsch Karugin, der aussehen konnte wie ein gefangener Bergvogel, saß auf einem Baumstamm, wie sie da in mächtigen Stößen vor der Brettersäge lagen. Er hatte die Hände gefaltet und sah in das Glitzern und Leuchten der weißen Berge hinauf.

*

Es ging bergan.

Der Zug stampfte und die Maschine keuchte, zuweilen warfen nahe Felswände das Hämmern und Rollen mit harten Schlägen zurück und trieben den Lärm zehnfach in die Höhe. Bäche stürzten mit weißem Gischt zu Tal, die Flüsse rollten braun und schwer und erprobten – da und dort übers Ufer schlagend – ihre überschüssige Kraft. Ein Gären und Brauen war überall, und Peter Iwanowitsch fühlte die hinreißende Macht dieser gesegneten Erde. Seine Seele war in ungeheurer Bewegung. Eine wilde Sucht nach Leben und Wollen rang mit den finsteren Todesmächten, die ihn bisher besessen hatten. In unregelmäßigen Stößen jagte sein Blut, er spürte ein Würgen und Drängen und rang nach Lust. In gewaltigen Strömen floß neues Werden in seine Brust.

War es dieses Land mit seiner unendlichen Fülle von Kraft und Schönheit, waren es die befreiten Menschen, die heiter und stark sich ihr Ziel verdienten, war es die Sonne, die Auferstehung –?

Fern und vergangen waren die düsteren Tage, hier winkte neues Licht. Ging seine Sehnsucht nicht stets nach den Bergen? Hatte er nicht im Frühling hinaus in die Höhe wollen – –? Hatte nicht auch sie – –?

Nun war es ihm plötzlich klar, daß er nie an sich allein gedacht, daß dieses Drängen und Hoffen in seiner Brust nicht ihm allein gegolten hatte. Längst schon hatte er ihr verziehen – –, ja, was hatte er zu verzeihen? Hatte Lisaweta nicht mit ihm gelitten, nicht unter den Ketten gestöhnt, wie er? Was war da zu verzeihen? Bedauern mußte man die verirrte Enterbte, der die Heimat grausam aus dem Herzen gerissen ward, beklagen und beschenken mit jener großen Liebe, die ohne Eigensucht nur Verstehen und Wohltun ist.

Nicht umsonst war sein Weg durch die grausame Nacht der Verzweiflung gegangen. Es war Sinn und Wert in allem. Nun fühlte er sich reif und stärker denn je, denn er wußte:

Keinem ist die Höhe vergönnt, der sich nicht aus der Tiefe rang. –

*

Von Zürich sandte er eine Depesche an Iwan Michailowitsch: »Lisaweta soll nachkommen.«

Welche Torheit, daß sie nicht gleich mitgefahren war! Daran hatte weder er noch sie gedacht, und doch wäre es das Einfachste gewesen. Er lächelte. Woran hatte er überhaupt gedacht? War das Denken jemals seine Sache gewesen?

Vielleicht war es besser so. Wie wenig konnte man schließlich erdenken, wie viel erleben! Vielleicht war es besser – –.

So versöhnt und ruhig gingen seine Gedanken, während er weiter fuhr. Er fühlte sich wie ein Genesender, wie ein Geretteter. Hin und wieder wunderte er sich selbst über die Stille in seiner Brust. Zum Teil nahm er sie als die ermüdende Rückwirkung der überstandenen Stürme, zum Teil aber glaubte er eine Erklärung dafür zu finden, indem er feststellte, daß er eigentlich nichts und niemand verlassen habe, der seinem Herzen unentbehrlich wäre.

Lisaweta – die Einzige – würde ja bald nachkommen; sonst aber vermißte er nichts. Die Stadt an der Newa war ihm immer fremder geworden, seine Gemeinde in der Altstadt hatte er ohnehin längst verloren, und mit Ausnahme des angenehmen aber nicht unersetzlichen Iwan Michailowitsch waren ihm die »Brüder« teils lächerlich, teils verächtlich. Er brauchte nur an den Maler Warinski zu denken – – –.

So stand es immer klarer vor ihm, daß es einzig Lisaweta war, um die er alles gelitten, daß nur aus der Gemeinsamkeit mit der lang Ersehnten, endlich Gefundenen ihnen beiden die Erlösung werden, alle Erfüllung sprießen konnte, die das Leben jenen vorbehält, die es am härtesten prüft.

*

Als in Bern einige Herren und Damen einstiegen und ein auf dem Bahnsteig begonnenes Gespräch unbekümmert und lebhaft in dem dichtbesetzten Abteil fortführten, wandten sich ihnen alle Köpfe zu.

Peter Iwanowitsch, der das Französische noch nie lebendig gehört hatte, gab sich Mühe, Tonfall und Temperament dieser Sprache aufzunehmen und mit dem einst aus Büchern Erlernten zu vereinen.

Das Verstehen kam schnell, und er freute sich daran.

Er konnte entnehmen, daß man irgend ein Ereignis besprach, das die einen verteidigten, die andern verdammten.

»Sie haben recht!« rief ein Herr mittleren Alters, der seinen goldenen Kneifer von der Nase nahm und damit, seine Worte unterbrechend, taktierte, »was sollten sie sonst wohl tun? Es bleibt einfach kein anderer Weg.«

Ein würdiger Greis mit kohlschwarzen Augen unter buschigen, weißen Brauen sagte, ohne sein Gegenüber anzusehen, langsam und fest:

»Gewalt setzt ihren Täter ins Unrecht –, und wenn er vorher zehnmal Recht hatte. Dient er aber einer großen, reinen Sache, wie es hier der Fall ist, so beschmutzt er sie durch seine Tat. Und das ist schädlich. Geistestaten werden nicht durch Morde gefördert.«

Peter Iwanowitsch fühlte sein Blut nach dem Herzen krampfen; er horchte gespannt hinüber. – Der alte Herr mit den stechenden Augen und der klaren Stirn schwieg und sah zum Fenster hinaus. Eine Dame sagte:

»Sie haben recht, mein Herr.«

Einige stimmten zu, es gab auch Widerspruch, die Stimmen schwirrten unverständlich durcheinander; der nervöse Mann fuchtelte mit dem goldenen Kneifer herum und gewann schließlich Oberwasser.

»Sie vergessen, teurer Meister,« wandte er sich an den Alten, »daß die Verhältnisse in Frankreich andere sind als in Rußland. Dort steigt und fällt man eben jäher und schneller. Das ist alles noch jung und gärend. Eine Bombe in Petersburg ist kaum soviel, wie eine Ohrfeige in Paris!«

Alles lachte. Der Herr setzte seinen Kneifer auf.

»Es sind eben Asiaten –«, rief ein junger Mann.

»Ach, wie interessant!«, sagte eine magere, hektisch aussehende Dame von unbestimmtem Alter.

Der alte Meister mit der ruhigen, sicheren Art zu reden, wartete eine Weile und sprach dann wieder, ohne jemand anzusehen:

»Und selbst wenn es den Minister getroffen hätte –, was wäre mit seinem Tod für das Land erreicht?«

Es hatte – – also – nicht getroffen – –.

»Tot oder nicht!« rief der Herr, indem er den Kneifer im Zickzack von der Nase riß, »einen Denkzettel haben sie; sie werden nun einen andern hinstellen!«

»Glauben Sie –?« sagte mit leisem Spott der Alte, »vielleicht einen Schlimmeren.«

»Einen Besseren!«

»Glauben Sie – –?«

Peter Iwanowitsch rührte sich nicht. Vielleicht wäre es ihm auch nur schwer möglich gewesen. Wie in weiter Ferne hörte er noch die Stimmen in der fremden Sprache, die er mit qualvoller Mühe auffing.

»Vom Attentäter meldet die Zeitung nichts?«

»Eine Verschwörung – –.«

»Und wer es tat – –.«

»Wird gehängt.«

»Abscheulich!«

»Schade, wenn es ein Guter war –.«

»Wer dafür fällt – das ist ganz einerlei«, sagte mit Nachdruck der Herr mit dem Kneifer. –

Eine kleine Pause entstand.

»Hat man ihn – –?« fragte jemand.

»Er ist tot –« sagte der Alte.

»Von der eigenen Bombe?«

»Ja. So heißt es wenigstens.«

»Wie gräßlich!« sagte die hektische Dame.

*

Wer dafür fällt – – das ist ganz einerlei.

Er ist tot. – – –

Wer mochte das sein? – – –

*

Als der Zug in Lausanne einfuhr, zitterte Peter Iwanowitsch am ganzen Körper. Niemand hatte sich um ihn gekümmert; auch jetzt, da die Gesellschaft ausstieg, sah keiner nach ihm. Er war sicher. Keiner von denen hätte ihm selbst ein Geständnis geglaubt.

Und dennoch hielt er sich nur mit Mühe auf den Beinen; bei jedem Schritt schnappten die Knie ein.

An einem Zeitungsstand kaufte er ein französisches Blatt. Auf der ersten Seite stand der telegraphische Bericht über das Attentat in Petersburg. Der Minister war heil – –, nur der Wagen leicht beschädigt – –, mehrere Tote –, viele Verletzte. Unter den Toten auch ein Polizeisoldat – –. Armer blonder Bauernjunge, dachte Peter.

Die Bombe war zu kurz geflogen – –, eine Gruppe von Zusehern buchstäblich in Stücke zerrissen – –, eine Frau –, mehrere Männer –, wie es scheint, unter ihnen auch der Attentäter –.

Eine Reihe von Depeschen brachte Einzelheiten – Vermutungen.

Zweifel tauchten auf, ob der Täter wirklich unter den Toten sei.

Schließlich wußte eine Nachricht Klarheit: Ein Offizier der begleitenden Kosaken hatte gesehen, wie sich eine Frau nach vorn drängte, einen Zuseher zur Seite stieß und den Arm hob. Im selben Augenblick fiel die Bombe, die sie selbst zerriß.

So war es. Diese Frau war die Täterin – –.

Peter faßte nach einer Stütze. Die Bahnhalle, – der Zeitungsstand, – – die Menschen, – – alles drehte sich in violettem Licht –. Er zwang sich weiterzulesen, wankte und wurde aufgefangen, indem er zugleich seinen Namen nennen hörte. –

*

Als er erwachte, befand er sich in einem hellen Krankenzimmer. Dr. Leon Martynow und einige Fremde waren um ihn bemüht. Kurze, halblaute Fragen nach seinem Befinden und Bedürfnissen waren alles, was gesprochen wurde. Eine Pflegeschwester brachte das Essen. –

So lag er mehrere Tage – und es wurden Wochen daraus.

Dr. Martynow kam fast jede Stunde, sah Peter mit ernst-freundlichen, seltsam vergehenden Augen an und sprach wenig.

Die Welt war ausgeschaltet.

Nur die stillen, um sein Wohl besorgten Menschen gingen schonend in dem glatten, weißen Zimmer ab und zu. –

*

Einmal, nachdem er ihn lange wortlos, gleichsam prüfend angesehen hatte, zog Dr. Martynow ein Blatt Papier aus der Tasche seines weißen Mantels.

»Ein Telegramm von Iwan Michailowitsch. Er antwortet dir. Du hast nach Lisaweta Isaéwna verlangt –,« sagte er ruhig, indem er Peters Hand nahm, »sie ist für die Sache gefallen –.«

Peter sah vor sich hin.

»Ich weiß es«, sagte er still, und das bittere Wort, das jener Franzose gesprochen hatte, kam ihm in den Sinn:

»Wer dafür fällt – das ist ganz einerlei.«

Und ein anderes:

»In uns allen war einmal nichts als Liebe –.«

Das hatte Lisaweta gesagt . . . .

*

Als es schon stark gegen den Sommer ging, kam über den Leidenden im Sanatorium des Doktor Martynow eine zehrende Unruhe. Wenngleich der sorgende Blick des Arztes immer auf ihm ruhte, so genoß er doch volle Freiheit, und Doktor Martynow war ehrlich und schonend bemüht, ihn dem Leben zurückzugeben.

Der kleine Garten des Hauses bot eine weite Sicht über den See nach den Bergen an seinen Ufern. Dorthin gingen die Blicke und Gedanken des stillen Mannes, bis er eines Tages aus dem Hause verschwunden war. Da er all sein Geld und einige für die Reise notwendigen Kleidungsstücke mitgenommen hatte, vermutete ihn Dr. Martynow auf der Fahrt in die Heimat und richtete an Iwan Michailowitsch eine entsprechende Nachricht.

Den Flüchtling – wenn er überhaupt so zu nennen sei – aufzuhalten oder zurückzubringen, liege kein Grund vor.

»Dieser Arme,« schrieb Dr. Martynow, »mag es wohl selbst am besten fühlen, welchen Weg er gehen muß. Eines aber will ich dir bekennen: Ich habe mich tief geschämt, als ich sah, was er für uns litt. Weiß Gott, ob wir diesen Mann opfern durften! Er war nicht von unserer Art, er war uns zu innerst fremd, und ich stehe nicht an es zu sagen: Er war mehr als wir. – Hatten wir also ein Recht auf ihn?«

*

Als Iwan Michailowitsch diese Worte las, zuckte er mit den Achseln und sagte:

»Ja, es ist schwer, allen recht zu tun –.«

Der Maler Warinski, dem er den Brief hinhielt, lächelte verächtlich; »Martynow wird sentimental –«, sagte er und blätterte eifrig in den Zeitungen weiter, die spaltenlange, begeisterte Artikel über seinen »Vorfrühling« brachten, der gegenwärtig noch in der Ausstellung hing, aber schon für hunderttausend Rubel an einen reichen Amerikaner verkauft war. Alles sprach nur noch von diesem Bild und seinem Schöpfer.

*

Der Dampfer glitt lautlos über den See gegen die Berge hin, auf deren vereisten Spitzen die letzten Sonnenstrahlen funkelten. Das schweigende Schloß von Chillon träumte im feinen Schleier, der über dem Wasser lag; von Montreux und Teritet herüber schimmerten die Terrassen und Fenster der Hotelpaläste; leise Musik kam von dort, wo das Leben in üppigster Verfeinerung fern von Leidenschaft und Schmerz und Glück nur das Genießen kennt.

Peter Iwanowitsch hörte nicht das Sirenenlied und sah nicht die Irrlichter. Er stand zurückgelehnt an der Bordwand und schaute ins Leuchten der Berge hinauf.

Eines lebte in ihm: – – Und ist es dir nicht bestimmt, einig und glücklich zu wandeln Hand in Hand, so darfst du nicht klagend verweilen. Du mußt deine Straße allein zu Ende gehen – wie sie auch sei, wohin sie auch führen mag. –

*

Im ersten Morgenlicht verließ er den kleinen Gasthof in dem uralten Städtchen zwischen Berg und See und stieg bergan. Durch Weingärten führte sein Weg, an einsamen Höfen vorbei, über Hügel hinaus immer weiter zur Höhe. Bald war der Wald um ihn, tief und dunkel, mit hohen, ernsten Fichten, die einander in die Äste griffen, so daß nur selten ein Sonnenstrahl den braunen, dicken Nadelteppich erreichte. Flechten und Bärte hingen an den dürren Ästen, der Wald schwieg und träumte, alles darin war Schatten und Stille; mit verwundert blickenden Augen huschte ein Reh über den feuchten, weichen Grund durch die dämmernde Ruhe.

Der einsame Wanderer blieb zuweilen stehen und horchte in das Schweigen. Auch in ihm war die große Stille. Nicht der Friede, nicht die heitere Rast; es war die schwere, fragende Ruhe des Totenfeldes nach einem harten Kampf, der keine Entscheidung gebracht und den Krieg nicht beendet hat. –

Aus solchem Schweigen wachsen riesengroß die drohenden Geister kommender Tage. Sie drückten den Ausgestoßenen nieder, er preßte die Hände vor die Augen.

»Herr, du bist wunderbar, so viel Schmerz senden zu können –!«

In dieser Stunde aber war er nicht das Kind, wie einst in fernen Tagen, das vertrauend zu seinem Vater spricht. Voll Anklage trotzte er nun gegen seinen Gott:

»Feindseliger! Mächtiger! Ich bitte dich um nichts!«

Zuweilen aber zuckte es wie Wetterleuchten in ihm, fremd und zerstörend: Der Haß. Und es schwoll und wuchs zu verderbender, feindlicher Wucht und riß ihn in alle Tiefen. Den Rohen, Herzenterbten, Liebeleeren, Lust- und Leidverstoßenen galt die fressende, düstere Glut in ihm, den Feigen und Schwachen. Und er litt qualvoll darum, denn er hatte sie geliebt. Er hatte ihnen das Brot von seinen Lippen gereicht und Steine dafür empfangen, mit stolzen, kühlen Sinnen, ängstlich, es könnte zu viel sein – –.

Er wußte nicht, daß es Scham um vergeudete Liebe war, die ihn alle hassen ließ, um der einen willen – –.

Der Wald schwieg wie ein Geheimnis, wie eine wissende Gottheit, die uns nicht kennt, wenn wir irren, und unnahbar auf die Stunde wartet, in der wir zu ihr finden. Ein Raunen war in den hohen Wipfeln. Einer von den Dämonen der Unermeßlichkeit war nahe. Er legte die Hand schwer auf den Scheitel des Einsamen, er griff nach seinem Herzen und preßte es zusammen, er nahm alles Licht aus seiner Seele und schürte stumm und höhnisch den zehrenden Brand darin. –

Tief im Gehölz schrie ein Vogel –, wild und verlangend. So ruft das Leben nach Liebe! Fliehend hastete der Vertriebene durch den Wald, den gellenden Schrei der Lust wie einen Dolchstich im Herzen. –

*

Hoch in den Matten, wo die Felsen beginnen, liegt ein Dorf mit grauseidenglänzenden Holzdächern, wie ein Häuflein in die Sonne geduckter Hühner.

Peter Iwanowitsch saß am Wegrand und schaute auf das Dorf hinüber. Noch lag die Sonne auf den Höhen. Dickköpfige, kurzflügelige Schmetterlinge schossen im Zickzack über Stein und Busch, einer hinter dem andern, und wenn sich einer auf eine Blume setzte, umgaukelte ihn der zweite. Wunderliche Käfer begegneten einander im Sand, streckten die Fühler aus, begrüßten sich, flogen auf eine breite, weiße Dolde und feierten dort Hochzeit. Zwei Ameisen beriechen sich, erkennen den Feind, und es folgt ein Kampf auf Leben und Tod. Wenige Menschen arbeiteten auf den Feldern im Heu, ein dicker, hochbeladener Wagen wankte dorfwärts, über die gemähten Wiesen galoppierte ein braunes Füllen in anmutigen Rhythmen. Eine Peitsche knallt, ein Bursch nimmt eine Dirne um die Hüften, daß sie lachend aufkreischt. –

Liebe – – – – Liebe –?

*

Als Peter Iwanowitsch gegen Abend in das kleine Alpendorf kam, fand er es in merkwürdiger Aufregung. Eine dichte Gruppe von Menschen stand um irgend etwas gedrängt auf dem Dorfplatz. Ein rothaariges Weib kauerte weinend auf einer Haustreppe, umgeben von eifrigen Nachbarinnen, die es anscheinend zu trösten suchten.

Verwünschungen wurden laut, Zurechtweisungen standen dagegen auf.

Es sei nicht ihre Schuld –!

Doch! Wessen sonst?

Dafür könne niemand; wer so etwas tue, sei ein Narr!

»Das eben ist es! Ihretwegen wurde er verrückt.«

»Sie ist ein braves Weib! Kann sie für ihre Schönheit?«

»Was ist geschehen?« fragten einige, die neu hinzukamen.

»Germain ist tot.«

»Der Schreiner?«

»Ja. Er sprang von der Tour d'Ai ins Gestein.«

»Ah – –!«

»Noch lebt er!« rief es aus der dichten Gruppe der Männer.

Das rothaarige Weib sprang auf; Peter Iwanowitsch suchte durch die Menge zu kommen.

»Ich bin Arzt,« sagte er, »vielleicht ist noch zu helfen.«

Da machten sie Platz. Die Frau blieb ihm dicht auf den Fersen, um so heranzukommen. Als sie unter die Männer trat, wurde sie mit Schimpfwörtern und Flüchen empfangen.

»Pfui! Schäme dich! Einen rechtschaffenen Kerl in den Tod treiben!«

Einige hoben die Fäuste und gingen auf sie los. Peter Iwanowitsch wandte sich und trat schützend vor die rote Frau.

»Laßt sie –«, sagte er ruhig, indem er den Erregten fest entgegensah. Sie blieben stehen.

»Wer ist das?« fragten einige.

»Ein Fremder – –, ein Arzt –.«

Alles blickte gespannt auf ihn.

»Herr, retten Sie ihn! –«, flehte weinend das rothaarige Weib.

In der Mitte der Gruppe lag Germain, der Schreiner, auf Reisig gebettet.

»Warum habt ihr ihn nicht nach Hause gebracht?« fragte Peter.

»Er wohnt zwei Stunden talwärts. Wir haben um eine Bahre geschickt.«

Das Gewand des Schreiners war blutig und zerfetzt. Es schien kaum noch Leben in dem Körper, an dessen Gliedern mehrere Brüche sichtbar waren. Über dem rechten Auge war die Stirn eingeschlagen. Blut verklebte die Haare und sickerte aus Mund und Nase. Peter verlangte nach Wasser und Leinwand, stützte den Kopf des Sterbenden und reinigte die schwere Wunde. Einmal noch öffnete Germain das unverletzte Auge, machte vergebliche Anstrengungen zu sprechen, und indem ein schwaches, seltsames Lächeln das schmerzverzerrte Gesicht verklärte, verschied er an der Brust des Fremden, der ihm allein von allen in dieser Stunde wie ein Bruder nahe stand.

Das rothaarige Weib fiel schluchzend über den zerschmetterten Körper, die Männer nahmen schweigend die Hüte ab.

*

Still wie er gekommen, ging Peter Iwanowitsch aus dem Dorf der sinkenden Sonne entgegen. Das Sterben des zu Tode Gehetzten war ihm wie ein qualvoll klares Bild jener zerstörenden Macht erschienen, die er im Vogelschrei, im Spiel der Schmetterlinge und Käfer, im Kampf der Ameisen und im Kreischen der Bauerndirne heimlich und vielgestaltig am Werke sah, jener Lüge vom Glück der trüben Leidenschaften, die jeden zerschmettert, wenn er sie ganz erkennt.

Du mußt mehr sein – oder untergehen. –

Als er einen alten Mann fragte, wo der Weg nach der Tour d'Ai gehe, sah ihn der mit scheuen Blicken an und antwortete nicht.

Da er sich nicht verstanden glaubte, wiederholte Peter die Frage.

Der Greis murmelte etwas, machte mit der Hand ein Kreuz gegen die Berge hin und ging schnell weiter, als habe er einen bösen Geist gesehen.

Peter lächelte und stieg bergan. Die Bäume hörten auf, niederes Krummholz wucherte über den steinigen, kargen Boden, eine Herde glatter Kühe zog talwärts.

Die Sonne war unten; tief im Tale lag der Abendschleier. Alles verschwand und verlosch, nur die Glocken der Herde klangen noch hie und da aus der Ferne herauf. Bald schwiegen auch sie. –

Oben in Stein und Moos begegnete dem fremden Mann ein Mädchen, halb ein Kind noch, das eine blecherne Milchkanne von sonderbar flacher Form an zwei Riemen auf den Schultern trug. Ein leeres, offenes Körbchen hing ihr an einem Arm.

Freundlich grüßte sie Peter und gab ihm auf seine Frage die Richtung an. Anmutig und lebhaft erzählte sie von der Heuernte, von den Milchkühen und den Beeren und Schwämmen, die sie fand.

»Wohin gehst du?« fragte Peter.

»Nach Veyges.«

»Das ist das Dorf da unten?«

»Ja.«

»Weißt du nicht, was heute dort geschehen ist?«

»Was sollte es sein?«

»Germain, der Schreiner ist tot.«

»Ich kenne ihn nicht.«

»Nicht? – Er wohnte doch im Tal.«

»Ich war noch nie im Tal«, sagte das Mädchen.

Peter schwieg. Süß und weh mahnte etwas in seiner Brust.

»Ich war noch nie im Tal – –.«

Wie das klang . . . . . .

Das Mädchen sah ihn fragend an. Da hielt er ihr die Blumen hin, die er unterwegs in Gedanken gepflückt hatte. –

»Da – – nimm – – –.«

Sie wurde ein wenig rot und nahm das Sträußchen mit zögernder Hand.

»Danke – – Herr –.«

Er wandte sich rasch und ging weiter.

An der Wegbiegung sah er noch einmal zurück. Das Mädchen stand noch an derselben Stelle, hatte die Blumen vor die Brust gesteckt und schaute ihm nach. Jetzt hob sie die Hand und winkte; hell klang ihre Kinderstimme:

»Dort geht der Weg zur Höhe. Sie können ihn gar nicht verfehlen –!«

Es zuckte in seinem Herzen.

»Geh nicht ins Tal!« hätte er rufen mögen –, aber er wußte, sie würde ihm nicht folgen. –

*

Durch die helle Sommernacht stieg er aufwärts in das weiße Schweigen von Stein und Schnee, wo es keine Liebe mehr gibt. Die kühle Klarheit dieser reinen Welt teilte sich seiner Seele mit, wie der Geist eines treuen, lange verlorenen Freundes, der nun plötzlich wieder an unserer Seite ist und ernstvertraute Worte wiederfindet. Peter ging langsam und voll Andacht. Zuweilen blieb er stehen und holte tief Atem; es war, als betete sein ganzes Wesen.

Hoch in den Schrunden lag ein kleiner See, in dessen schwarzem Spiegel die Sterne flimmerten. Peter legte sich auf das Ufergeröll und schlürfte tief gebeugt in langen, durstigen Zügen das kalte Schneewasser. Dann kletterte er den hohen Felsenturm hinan, angestrengt und mühevoll; er mußte oft die Hände zu Hilfe nehmen und prüfte vorsichtig Griff und Tritt, wie er es vor Jahren in den Bergen seiner Heimat gelernt hatte. In dieser geschlossenen Arbeit von Nerv und Muskel, in dem vollen Anspannen von Fähigkeit und Wollen lag eine erlösende Kraft, die ihn für den Augenblick alles vergessen ließ und etwas von dem frohen Wagemut des bergvertrauten Knaben wieder in ihm erwachen machte. Er kämpfte zäh und voll angreifender Lust jede Sekunde um sein Leben, empfand den Stein als dämonischen Feind, als den Gott, mit dem er rang, bis daß er ihn segnen würde. Die Freude am Überwinden trieb sein Blut in raschen, heißen Wellen durch den Körper, mit der eigentümlichen Lust an der gewonnenen Höhe horchte er auf das Poltern und Schlagen der Steine, die unter seinen Tritten ins Rollen kamen und tief unten zerspellten.

Mit fliegenden Pulsen, bebend von neugefundener Kraft, erreichte er die kleine Platte auf der Höhe des Steines. Und da lag die Welt wie ein unerhörtes Wunder um ihn gebreitet, daß alles in ihm nur Schauen und Staunen war. Nah und fern in endlosen Ketten leuchteten die Zacken und Gletscher durch die klare Nacht. Das wunderbare, blaue Licht schien ruhig und rein aus ihnen selbst zu strömen.

Gott war nahe. Sein Wunderatem ging durch diese Stunde, sein Blick ruhte still auf den Höhen.

Peter sank in die Knie, sein Herz tat sich weit auf, er fiel auf sein Angesicht und weinte.

Schneidend und kalt wehte die Morgenluft über die Höhen. Weit hinter den letzten Kämmen wurde der Himmel rot.

Die Sonne kam. Alles klang wie eine Harfe, überall erwachten Farben. Weit, weitumher war ein Strahlen und Flimmern, ein jubelndes Leuchten auf den weißen, zackigen Bergen. Ein endloses Wolkenmeer lag wie eine weiche Decke über die Tiefen gebreitet und verhüllte alles Begehren, Irren und Verderben. –

Der Geläuterte aber, der hoch in Glanz und Strahlen stand, wußte in dieser Stunde, daß es für ihn einen Weg hinab nicht mehr gab, und das Sterben war ihm nicht Abschied, sondern Heimkehr ins Licht. –


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