Bruno Ertler
Venus, die Feindin
Bruno Ertler

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Mit dem nächsten Morgen war die Zeit gekommen, die er seinen ersten Frühling nannte.

Aus die zweifelgeplagte, düstere, drängende Nacht waren helle, lebensvolle Tage gefolgt, so daß er gar nicht begreifen konnte, was er eigentlich hätte fürchten sollen, wovor er gebangt hatte. Er lächelte oft still und glücklich vor sich hin, wenn er an der Seite Jelisawetas ging, und fand es immer selbstverständlicher und ganz natürlich, daß sie ihn liebte, wie er sie.

Waren sie denn nicht ganz gleichen Sinnes in allem und jedem, fanden sie nicht dasselbe schön und häßlich, liebte nicht er, was ihr gefiel, haßte nicht sie, was er verwarf?

Wie reich waren die Tage dieses Frühlings!

Weit draußen auf den stillen Inseln, in den Ebenen am Strande des Meeres wanderten sie umher, hielten einander an der Hand und sprachen oft lange Zeit kein Wort. Ging die Sonne unter, so mußte sich Jelisaweta vor den roten Abendhimmel stellen und er schaute so lange schweigend vor Glück nach ihrem dunklen, hohen Schattenriß, bis das Glühen dahinter verlosch. Ein Danken und Beten war in seiner Brust, alles, was er früher kaum beachtet hatte, wurde nun bedeutungsvoll und sinnreich, jeder Zufall wuchs zum Symbol und wo sie mitsammen gingen, erstand ihm eine Heimat aus fremder Erde. Er sprach zu ihr von seiner Kindheit, von den Wundern im Lande des heiligen Berges, von seiner Mutter, von seiner Heimat –.

»Ich habe keine Heimat –« sagte Lisaweta mit dem schmeichelnden Singen in der Stimme, das er liebte, wie alles an ihr.

»Keine Heimat?« fragte Peter erstaunt, und es kam ihm ganz unmöglich vor, daß jemand keine Heimat haben konnte.

Lisaweta Isaéwna fuhr im gleichen Tone fort:

»Die Stadt liegt da drüben irgendwo im Osten. Ich weiß nicht, wie sie aussieht. Als ich ganz klein war, da verbrannten sie das Haus und ermordeten wohl meine Eltern – –«

»Wer, um Gottes willen?«

»Kosaken.«

»Warum?«

»Das wußten sie selbst wohl kaum. Es war ihnen kommandiert worden.«

Peter Iwanowitsch küßte seine schöne Geliebte.

»Du Liebe, du Arme –«, sagte er.

»Warum arm?« erwiderte Jelisaweta. »Ich war ein kleines Kind, als es geschah. Nur an das Feuer kann ich mich noch erinnern; an die Eltern nicht mehr.«

Dann neigte sie sich ganz nahe zu ihm, und ihre Stimme zitterte ein wenig, als sie sagte:

»Von diesem Feuer aber ist ein Funken in mir geblieben: der glimmende Haß gegen die, welche es angesteckt haben. Verstehst du mich?«

Peter Iwanowitsch erschrak. Auch in seiner Erinnerung war Feuer das erste Bild, aber es war das Flammen und Glühen der Berge, wenn die Sonne sank, es war der zuckende Brand des offenen Himmels, aus dem die Liebe strömte, das Licht, welches Gott selber war. –

»Und dieser Funken muß zur fressenden Flamme werden –«, hörte er dicht neben sich Jelisaweta Isaéwna sagen, »daran denke ich immer und dachte auch damals auf der Troitzki-Brücke daran, als die Sonne so blutig rot in die Newa ging. Weißt du noch?«

Da war es ihm gewesen, als entreiße ihm jemand sein liebstes Bild. Er empfand einen Stich, spitz und schmerzvoll, zugleich aber sagte er sich, daß er dieser Beraubten alles, alles wiedergeben müsse, was ihr an Heimat und Liebe entgangen war. Hatte er nicht königlich reich empfangen von all dem?

Auch darin sah er nun Sinn und Absicht seines Geschickes. Freudig teilt er ihr diese Gedanken mit, aber sie schüttelte leise den Kopf und hatte nun wieder die sanfte, singende Stimme, als sie sagte: »Ich will gar nicht haben, was ich nie kannte. Ich habe dafür kein Verstehen; das ist wohl damals mitverbrannt –.« Sie deutete nach der Stadt und fuhr fort:

»Wenn das alles da drüben plötzlich in Rauch und Feuer unterginge, glaubst du, ich empfände Schmerz oder Lust daran? Es würde mich nur verwandt berühren, ja, das ist das einzige, dem ich verwandt bin. Und das Verwandte suchen wir mit der Notwendigkeit von Naturgesetzen, nicht wahr? Mit »gut« und »schlecht« hat das nichts zu tun. Es ist eine Rache der Natur, für die wir nicht können. Unklug ist, wer sie herausfordert –.«

Peter Iwanowitsch schüttelte traurig den Kopf.

»Verstehst du das nicht?« fragte Lisaweta. »Ich habe es dir vielleicht nicht recht klar gemacht. Du mußt nun doch einmal mitkommen, wir sind schon zu lange allein umhergegangen. Sie fragen mich schon nach dir –.«

*

Bald kannte er sie alle.

Ganz draußen am endlosen Sabalkanski-Prospekt, wo die Schienenstränge der Eisenbahn in die öde, trostlose Ebene verrinnen, trafen sie einander in einem elenden Vorstadthaus, dessen rohe Ziegelwand an der einen Seite darauf zu warten schien, daß sich ein gleiches Elendsquartier daran anklebe. Zahllose Kinder schrien und balgten auf den unratübersäten Baugründen der Umgebung und im Straßenkot. Im Erdgeschoß des Hauses befand sich eine Schnapsschenke mit stets halbgeschlossenen Fensterläden; ein schmutziges, unfrisiertes Frauenzimmer hantierte dort und bediente beim Klang eines Musikautomaten die zerlumpten, versoffenen Gäste, von denen man keinem nachweisen konnte, wovon er lebte, woher er kam und wohin er ging.

Alles sah verkommen, armselig und verrufen aus, und irgendeine Gefahr schien unausgesetzt über Haus und Menschen zu schweben.

Durch die Branntweinschenke gelangte man in ein abgeschlossenes Zimmer, das durch das Vorhandensein zweier unreiner Betten den Charakter eines Wohnraumes vortäuschen sollte. Im übrigen befanden sich nur ein paar hölzerne Bänke und Tische darin. –

Als Peter Iwanowitsch an einem trüben Nachmittag zum ersten Mal dieses Lokal betrat, dessen Fenster nach der grauen Ebene gingen, wo endlose Lastenzüge fern in den müden Regen hineinkrochen, da bäumte sich alles in ihm gegen diese Umwelt, so daß er angewidert und beklommen am liebsten davongelaufen wäre. Da aber stand plötzlich Iwan Michailowitsch neben ihm. Seine strahlende Schönheit konnte sogar diesen Winkel heller und freundlicher erscheinen lassen, und als Iwan kräftig und warm Peters Hand schüttelte und den Staunenden mit freier Herzlichkeit willkommen hieß, da fühlte sich dieser sogleich wieder im Banne des kraftvoll gewandten Weltmannes, wie damals, als er ihn zum ersten Mal auf dem abendlichen Newski-Prospekt gesehen hatte.

»Schön ist es hier ja nicht,« lachte Iwan Michailowitsch, »das ist aber nicht unsere Schuld. Von Rechts wegen sollten Leute wie wir auf seidenen Thronen sitzen. Na, wäre vielleicht zu weichlich, was?« wandte er sich an Jelisaweta Isaéwna. »Solche elende Winkel brauchen wir, damit wir nicht aus dem Glühen kommen – –.«

Peter Iwanowitsch empfand deutlich die Oberflächlichkeit dieser Worte; dennoch fühlte er sich unwiderstehlich zu dem eleganten Sprecher hingezogen, der ihm aus einer anderen, großen, leichten und schönen Welt zu kommen schien.

»Sie sind Georgier?« sagte Iwan, »das sieht man ihnen an. Sie haben die ruhigen, verwunderten Augen, wie ein gefangener Bergvogel. Nicht wahr, Lisaweta, sieht er nicht gerade so aus? Ich wette, Sie waren noch nie im Westen.«

Peter verneinte. Außer Sankt Petersburg kenne er keine größere Stadt.

»Nun ja,« sagte Iwan Michailowitsch leichthin, indem er sich halb auf den Tisch setzte, »es ist ja ganz hübsch, unser liebes Piter, aber die Welt fängt doch erst drüben an und Menschen gibt es erst jenseits verschiedener Flüsse. Da sollten Sie einmal hinüber.« Und nun erzählte er in seiner leichten, unterhaltenden Sprechweise von Paris, von Südfrankreich, der Riviera und der Schweiz, wo er überall an den Universitäten, in eleganten Kurorten und Seebädern zu Hause schien und für seine Jugend schon recht viel erlebt haben mochte. So wenig Bedeutung und Wert dies alles verriet, so war es doch schwer, sich dem Zauber des schönen, liebenswürdigen Menschen zu entziehen, und Peter Iwanowitsch wünschte nichts sehnlicher, als der Freund des heiteren Befreiten zu werden.

Nach und nach waren andere junge Leute gekommen, einzeln und still, und keiner von ihnen schien darüber verwundert, hier mit Peter Iwanowitsch Karugin bekannt zu werden. Es war nicht leicht zu erraten, welchen Ständen sie angehörten, und da er kaum ihre Namen erfuhr, konnte Peter erst nach mehreren Zusammenkünften herausbekommen, ob er einen Studenten, einen verkleideten Beamten oder einen Arbeiter vor sich hatte. Auch aus ihren Reden und Treiben war schwer eine klare Richtung herauszufinden. Er entdeckte oft plötzlich mit heller Freude irgend einen verwandten Zug, einen seiner eigenen Gedanken in ihren Äußerungen und mußte dann zu seinem Schmerz daraufkommen, daß es sich um angelernte Phrasen handelte, keineswegs aber um Erfahrungen oder Überzeugungen, die sich etwa aus innerem Kampf und Erleben notwendig ergeben hätten. Auch waren diese Menschen immer aufgeregt, verwirrt und zu Ausbreitungen geneigt, wozu der überreichliche Genuß starker alkoholischer Getränke sehr viel beitrug, und je länger sie beisammensaßen, desto lauter und heftiger forderte jeder das Wort, desto häufiger sprang bald da, bald dort ein Redner auf und begann voll Zorn und Hitze von Freiheit, Menschenrecht, Kultur und Fortschritt zu schreien, bis seine Ausführungen im wüsten Beifallsgebrüll und allgemeinen Verfluchen des Bestehenden gleichfalls untergingen.

Peter Iwanowitsch blickte oft suchend von einem zum andern, aber er sah nur halbtrunken flackernde Augen, rote Flecken auf blassen Wangen und aufgeregte Gesten, und wurde aus keinem klar.

Da war ein Student, Néhémie Ssemenowitsch Levontin, ein Sohn des zum Leiden auserwählten Volkes, wie er stets sentimental und zudringlich versicherte. Bei einem Pogrom im Judenviertel von Odessa war er knapp mit dem Leben davongekommen und hatte – auf solche Weise aus der Heimat gestoßen – seither ein unstetes Leben geführt. Von Ägypten bis Frankreich kannte er jeden Schlupfwinkel anarchistischer und nihilistischer Gesellschaften – die Pyramiden, den Louvre, den Nil oder den Mont Blanc hatte er nie angesehen, obwohl er oft in ihrer nächsten Nähe gewesen war. Denker, Dichter und Künstler aller Zeiten und Völker waren ihm gleichmäßig völlig fremd, aber die Brandreden südfranzösischer Sozialistenführer trug er stets in grellroten Broschüren in allen Taschen bei sich und hatte besonders zündende Stellen darin mit Blaustift unterstrichen und auswendig gelernt. Er war geschworener Tyrannenmörder und Verfassungsstürzer. Niemand nahm ihn eigentlich ernst.

Da war auch der widerliche Kerl mit den roten Bartstoppeln und den verquollenen Augen, dem alle Laster und Krankheiten aus dem Gesicht abzulesen waren. Welches Geschäft er trieb, wußte niemand; er nannte sich einen Mann des Volkes, hielt stets die wildesten Reden über die Menschenrechte, betrank sich im Namen der Freiheit, riß im Namen des Vaterlandes die zerraufte Schankdirne an sich und lieh sich von jedem 50 Kopeken aus –, im Namen der Gleichheit und Brüderlichkeit.

Oft stahl sich Peter Iwanowitsch aus der Versammlung der Staatsretter hinaus in die Branntweinschenke. Dann folgte ihm meistens Iwan Michailowitsch, und beide setzten sich an einen Tisch.

»Nun sind sie wieder im politischen Hochschlaf,« sagte Iwan gewöhnlich, indem er lächelnd nach der Tür zurückdeutete, »ein wenig unruhig träumen sie, aber wenn sie wach werden, kann man doch einmal etwas aus ihnen machen.«

Dann redete er von tausend gleichgültigen Dingen (denn dieses Lokal war für jedermann offen), während Peter meist schwieg und mit suchenden Blicken die Leute beobachtete, die da aus- und eingingen.

Zwei Männer fielen ihm stets auf; sie waren fast immer da, hatten beide die gleiche Art zu stehen, zu gehen und zu sitzen, waren fast ganz gleich gekleidet, sahen verwildert aus und zogen da in den verrufenen Kaschemmen umher, wo sie Schnaps tranken, den Zaren verfluchten und alles Bestehende verneinten. Dabei gaben sie stets aufeinander acht, beobachteten einer den andern heimlich voll Mißtrauen beim Trinken, beim Aufstehen, beim Zahlen, denn bei allen diesen Anlässen konnte man an einer ganz unscheinbaren Geste bemerken, wen man vor sich hatte. Es gab so geheime Zeichen für Gleichgesinnte: wie man das Glas hob und ansetzte, wie schnell man trank, nach welcher Seite man aufstand, ob man beim Bezahlen das Geld auf den Tisch legte oder in der Hand behielt, – – und sie taten alles gleich.

Da war nun die Frage: Wer war der Nihilist, wer der geheime Polizeiagent? Oder waren beide eines von beiden?

Sie stellten einander die gefährlichsten Fallen, drehten ihre Reden in halsbrecherischer Weise, hatten stets schärfere Augen und vertrugen anscheinend beide gleichviel Alkohol, denn keiner verlor sich jemals, wie viel und scharf sie auch tranken. Und am Ende war jeder in des andern Gewalt.

Ja, es war keine leichte Sache.

Das politische Leben in diesem Lande war so verworren, verwaschen und verdorben, seine Formen so schwierig und überspitzt, daß sie sich schließlich selber um ihre Wirkung brachten. Alles schwankte, der Boden war beständig zum Halsbrechen schlüpfrig, und wenn einer im Staatsgefängnis verschwand, so war es vielleicht ein Nihilist, vielleicht aber auch ein Agent der geheimen Polizei, den ein Kollege verraten hatte, ehe er selbst zu den Nihilisten überging, die ihn dann erst noch umbrachten.

Ja, es war schwer. –

Niemand vermochte zu entscheiden, ob Nihilisten oder Polizisten das windigere Gesindel im Lande waren. Sicher blieb nur, daß beide allenthalben lächerlich wurden. –

*

Immer seltener traf es sich, daß Peter Iwanowitsch mit Lisaweta Isaéwna allein war; und kam es schon einmal dazu, so gingen sie meist schweigend nebeneinander her. Das war ja auch im Frühling oft so gewesen, als sie allein weitumher wanderten und aneinander glücklich waren. Aber Peter Iwanowitsch fühlte recht wohl den Unterschied: Damals konnten sie nicht sprechen, weil kein Wort so groß und heilig war, wie ihr Erleben – jetzt aber, in den schwülen Sommertagen, wollten sie einander manches nicht sagen, was schwer in ihnen lag. Er wenigstens war sich dessen bewußt – ob auch sie es war?

Je länger er schwieg, desto quälender empfand er es, und zuweilen kam es vor, daß er das ruhevolle Gleichmaß der Freundin aufreizend an seinen Nerven zehren spürte und voll Bitterkeit und Spott über ganz unbedeutende Dinge sprechen konnte. Wenn Lisaweta dann ruhig lächelnd ihm seine schlechte Laune vorhielt, so machte sie damit seine Stimmung nicht besser. Ja, er glaubte sich durchschaut und in ihrer betonten Überlegenheit ein grausames Spiel mit seinem Zustand erblicken zu müssen, dem sie wohl mit voller Absicht in keiner Weise entgegenkam.

Stolz und scheu, wie er im Innersten seines Wesens war, wähnte er sich betrogen und verraten und brachte es nicht über sich, mit einem Wort daran zu rühren, so daß sich nach und nach eine finstere Wolke über die schöne Heiterkeit seiner Seele legte. –

In einsamen Stunden sagte er sich, daß er ihr Unrecht tat, daß sie in ihrer klaren Ruhe den Stürmen seines allzu empfindsamen, aufgewühlten Herzens völlig arglos gegenüberstand, seinen Unwillen nicht verdient hatte und seiner Liebe bedürftig war. Dann war er zerknirscht vor Reue und Schmerz, verfluchte seine eigensüchtige Engherzigkeit und richtete ihr reines Bild von neuem auf in seinem Heiligtum.

Aber ein Schatten blieb darüber, und Peter Iwanowitsch litt daran.

Er begrüßte es jetzt fast wie eine Erlösung, wenn sich Iwan Michailowitsch zu ihnen gesellte, was immer häufiger eintrat, bis es schließlich zur Regel wurde.

Der schöne, gewandte Freund ließ keine Schwermut aufkommen. Er schlug eine kleine Meerfahrt vor, die sie zu den Inseln hinausbrachte, oder man entfloh der Sommerhitze im schattigen Pavillon eines der eleganten Cafés an den Promenaden am Kai der Newa. –

Und Peter Iwanowitsch entdeckte zu seiner Verwunderung, daß er dem befreiten Menschen gegenüber selbst freie und leichte Worte fand für alles, was ihm allein und neben Lisaweta so schwer erschien.

Lachend, mit einem Sarkasmus, den er an sich noch nie wahrgenommen hatte, konnte er über die Eindrücke reden, die er an der »Schnapsquelle der Freiheit« – wie er das Lokal am Sabalkanski-Prospekt nannte – empfangen hatte. Er geißelte die lächerlich-sentimentale Komödie der Heimatlosigkeit, welche diese arbeitscheuen Aufgeregten in der Maske der Enterbten einander vorspielten, deckte ihre jämmerliche Hohlheit auf und entwarf ein witziges Bild des Zukunftstaates, wie ihn etwa Néhémie Levontin, der Sohn des zum Leiden auserwählten Volkes, gründen und mit Hilfe seiner Genossen verwalten würde.

Iwan Michailowitsch hörte nachsichtig lächelnd zu, Jelisaweta Isaéwna schaute meist völlig teilnahmslos auf das Wasser hinaus und rauchte eine Zigarette nach der andern. Manchmal lachte Iwan hell auf, und einmal rief er:

»Du bist ein drolliger Bursch, mein Petruscha! Dich muß man lieb haben bei all deiner Sonderbarkeit. Du hast ja ganz recht: Ich möchte auch keinen von denen da draußen allein loslassen, – Gott bewahre! – aber als Masse brauchen wir sie, verstehst du? Wir, – das sind die ganz wenigen, die die Freiheit nicht dumm macht, die stets wach bleiben und im rechten Augenblick ein wenig nachhelfen müssen, wenn Gottes Mühlen gar zu langsam mahlen.«

Peter Iwanowitsch wurde nachdenklich.

»Ich habe mir den Weg dahin anders gedacht«, sagte er langsam.

Jelisaweta warf mit ruhiger Bewegung eine halbverbrannte Zigarette ins Wasser. Etwas wie Verachtung lag in dieser von niemand wahrgenommenen Geste.

»Ja, ja, das wissen wir«, sagte Iwan Michailowitsch. »Wir kennen deine Missionstätigkeit da hinten in der Altstadt; und wer so wirkt, ist unser Mann. Aber sei überzeugt, mein lieber Petruscha: die Leute glauben und beten lehren ist nur die eine Hälfte; sie wissen und wollen machen, ist die andere – und die wichtigere.«

»Ja – und die Liebe –«? fragte Peter, der, wie immer im entscheidenden Augenblick, das Denken aufgab und sich ganz auf sein Gefühl verließ.

»Jetzt hat er wieder Augen, wie ein gefangener Bergvogel«, lachte Iwan Michailowitsch, und, indem er eine Zigarette aus dem goldenen Etui nahm, sagte er leichthin:

»Liebe ist der Luxus des Lebens.«

Das war eine von den westeuropäischen, leichtsinnig verführerischen Wendungen, mit denen der liebenswürdige Zyniker das schwerblütige Kind der georgischen Berge in gleicher Weise abstieß und an sich zog.

*

Gegen Ende des Sommers, als es schon recht kalte Regentage gab, bemerkte Peter Iwanowitsch, der nun seine ganze Zeit in Iwans, Lisawetas und einiger anderer Gesellschaft verbrachte, an den Freunden eine Unruhe und Spannung, die selbst der weltgewandte Iwan Michailowitsch nicht immer verbergen konnte.

Häufig trafen jetzt Fremde ein, die nach einer vertraulichen Besprechung mit Iwan Michailowitsch meist schon am nächsten Tage wieder verschwunden waren. Da Iwan schwieg, fragte Peter nicht, und weil der Freund jetzt häufig durch die geheimnisvollen Gäste in Anspruch genommen und auch sonst mit Gedanken und Plänen beschäftigt schien, so ergab es sich, daß Peter wieder mehr und mehr mit Jelisaweta Isaéwna allein war. Sie schien von besonderen Vorgängen nichts zu merken und zeigte sich auf eine vermutende Frage Peters völlig von seiner Wahrnehmung überrascht, der sie indessen jede Wahrscheinlichkeit absprach.

»Was sollte im Werk sein?« fragte sie. »Es ist doch alles wie gewöhnlich. Jeden Herbst tauchen an der Hochschule und in der Stadt neue Leute auf und Iwan Michailowitsch ist nun einmal allerwelts Freund und Vertrauensmann. Keiner mietet ein Quartier oder kauft einen Rock ohne seinen Rat.«

Durchaus nicht überzeugt von dieser Erklärung, vermied Peter Iwanowitsch dennoch im weiteren diesen Gegenstand. Einmal konnte er überhaupt eine gewisse Scheu vor der Art und den Umtrieben der Gesellschaft vom Sabalkanski-Prospekt nie ganz überwinden, und dann zog ihn gegenwärtig noch ein Umstand immer weiter davon ab: In seine Beziehungen zu Lisaweta war nämlich gerade in diesen Wochen eine merkwürdige Wärme und Innigkeit gekommen, wie er sie noch nie gefühlt hatte und deren Entstehen er, weil er keine andere Erklärung fand, auf den natürlichen Rhythmus von Höhe und Tiefe zurückführte, den er an allen Erscheinungen des Seelenlebens wahrzunehmen glaubte.

Hatte er nun in den Sommermonaten eine gewisse Entfremdung schmerzlich empfunden, so war er jetzt ganz glücklich, zwischen sich und der geliebten Freundin wieder die selige Vertraulichkeit der fernen Frühlingstage aufkommen zu sehen. – Ja, noch mehr. War er damals der Werbende, der stets Gebende gewesen, reich beschenkt und kindlich dankbar ob ihrer bloßen Gegenwart, so konnte es selbst die größte Bescheidenheit dem Glücklichen nun nicht länger verhehlen, daß die so kühle, unnahbare Geliebte jetzt in Wort und Blick, ja auch in Kleidung und Bewegung gleichsam nach ihm tastete, ihn mit schmeichelnden Schleiern umzog und sich ihm zum ersten Mal als Weib fühlbar machte.

Eine Sucht nach ihrer Nähe überkam ihn, so heiß und urgewaltig, daß er das Schwinden jener heiligen Weihe, die ihm diese Liebe hoch über alles Irdische hinzutragen schien, zunächst gar nicht empfand.

Jede Berührung, jeder Händedruck ließ sein Blut wild und gebieterisch aufwallen und sein ganzer Tag war nun ein ungeduldiges Harren auf den Augenblick einer Umarmung, auf die glühenden Wonnen eines Kusses, die ihm indes meist erst in später Nachtstunde flüchtig zuteil wurden, wenn es unauffällig anging, daß er Lisaweta allein aus der Gesellschaft bis an das Tor ihres Hauses begleitete. –

Ging er dann durch die leeren, finsteren Gassen seiner einsamen Wohnung zu, so waren es keineswegs freundliche Geister, die um ihn waren. Aus dem sehr natürlichen Unwillen, nicht mit der Geliebten vereint zu sein, erwuchs ihm der Zweifel an der Übereinstimmung ihrer Gefühle. Hätte Jelisaweta ihm nicht irgendwie entgegenkommen müssen? Ihn marterte die Erkenntnis, daß sie ihn mit vollem Bewußtsein dorthin führte, wo sie ihn haben wollte, ihn aber keinen Schritt weiterkommen ließ. Gegenwärtig war es offenbar ihre Absicht, ihn heiß und sinnlich zu sehen, – und sie erreichte es.

Voll Zorn nannte er sich selbst einen ungeschickten Tölpel, dem es im rechten Augenblick an Mut und Kraft gebrach. Es war lächerlich, sich von einem Weibe an der Nase führen zu lassen! Zitternd zu warten auf ihren Wink, und wenn er ausblieb, demütig ihre Hand zu küssen und nach Hause zu schleichen – anstatt keck zuzugreifen, die spröde Schöne einfach zu nehmen – –! Wie hätte das Iwan Michailowitsch gemacht! Mit welcher überlegenen Leichtigkeit! –

Plötzlich überkam ihn Reue und Scham wegen der niedrigen Gewöhnlichkeit seiner Gedanken. So weit war er also? – Wie jeder beliebige gedankenlose Genießer betrachtete er jetzt den qualvoll ersehnten Einklang des Ich mit dem Du, den er stets als seines Lebens letzte Erfüllung entbehrend heilig gehalten hatte.

Er verfluchte sein Leben, das ihn an diesen Punkt geführt hatte, verwarf seinen Verkehr mit den wurzellosen Menschen, unter die er da geraten war und deren Gift er bereits an seinem Herzen fressen spürte, und verfluchte vor allem die weichliche, menschenüberfüllte Großstadt mit ihren Lastern und Lüften, mit ihren Verkehrtheiten und Schwächen.

Leise erst, wie ein fernes Läuten, klang ein Wort in seiner Seele wieder: »– – – In den engen Gassen ihrer Städte spüren sie nichts von Gottes Hauch; aber der Feind geht durch ihre Mitte. Geh nicht ins tiefe Land!«

Stärker schwoll es an und wurde ein Brausen, wie der Sturm im Bergwald, wie der Wassersturz am Felsenhang, wie der Donner der ewigen Höhen.

Und wieder kniete er hoch oben an seinem Fenster, den hämmernden Kopf in die Hände gepreßt, und schluchzte und dankte aus zuckendem Herzen dem ewigen Vater, der ihn gerufen hatte mit der Stimme der Heimat, als ihre heilige Weihe ihn verlassen wollte. –

*

Die ewigen Berge und ihre Reinheit!

Das Licht der glitzernden Zacken und Spitzen und ihr leidenschaftliches Glühen im Sonnensinken!

Quelle und Wald und Einsamkeit, Lieder im stillen Dorf, Liebe im kleinen Haus, Gottesnähe überall! –

Mit dem jubelnden Glück des Erlösten in der Brust trat er vor die ersehnte Gefundene.

»Du mußt mit mir in die Berge, Lisaweta! In meine Heimat mußt du mit mir. Oh, komm, komm mit mir! Fort von allen hier, fort aus dieser Stadt, die uns nicht lieb hat. Du mußt meine Berge sehen, und du wirst sagen: Schön sind sie, schön ist dein Land! Hier wollen wir bleiben. – Und das werden wir. Oh, du weißt ja nicht, meine Göttin, wieviel Glück auf uns wartet! Das Haus am Hange des Elbrus soll deine Heimat werden, die Heimat, die du nie gekannt hast. Und Kraft und Schönheit, Reinheit und Ruhe wird dir werden aus der gesegneten Erde. O komm, komm mit mir in die Heimat –!«

Jelisaweta Isaéwna zwang sich, ruhiger zu scheinen, als sie war.

Durch die Spiegelscheibe des Cafés schaute sie hinaus auf den verregneten Newski-Prospekt, wo sich die Leute mit nassen Schirmen und Mänteln durcheinander drängten. Nach einer Weile legte sie ihre schöne, schmale Hand wie beschwichtigend auf Peters Arm und sagte weich und mit verhaltener Trauer:

»Wir können doch jetzt nicht in die Berge gehen; der Winter steht vor der Tür.« Und als Peter sich zu einem Einwand anschickte, fuhr sie fort: »Dann habe ich auch noch in diesem Jahr eine Prüfung zu machen – –.«

Peter Iwanowitsch empfand schmerzlich die nüchterne Unerbittlichkeit dieser Gründe. Zugleich aber rief alles in ihm nach der einzigen Erlösung, und es war etwas von rettungsuchender Angst in seiner Stimme, als er sagte:

»Aber im Frühling, – – im Frühling, – da kommst du mit –.«

»Ja, im Frühling – –«, sagte Lisaweta gedehnt, indem sie leise Peters Arm streichelte und durchs Fenster ins Leere sah. –

Er wußte nicht, wie es kam, aber etwas Fremdes, Furchtbares legte sich schwer auf sein Gemüt, – und diesmal empfand er auch keine Erleichterung, als Iwan Michailowitsch an den Tisch kam und durch sichtlich erzwungene Heiterkeit und lautes Schimpfen über das andauernd schlechte Wetter in Rußland – wie es Peter vorkam – seine Unruhe zu verbergen bemüht war.

Alsbald vertiefte sich Iwan in das Studium der Tagesblätter, in denen um jene Zeit sehr viel von den Erlässen und Anordnungen des neuen Polizeiministers geschrieben wurde, die allenthalben Aufsehen, in gewissen Kreisen jedoch helle Wut und maßlose Erbitterung auslösten. Selbst Peter Iwanowitsch mußte davon wissen, obgleich er sich nie um Vorgänge irgendwelcher Politik kümmerte, da er der Überzeugung war, daß es sich da stets nur um Gewalt oder unehrliche Ränke handelte.

Mehr Anregung bot ihm die Unterhaltung mit dem Maler Iwan Warinski, der mittlerweile in Begleitung des Arztes Leon Martynow an ihrem Tisch Platz genommen hatte.

Warinski, dessen preisgekröntes Bild des taufenden Johannes eben den Gesprächsstoff aller künstlerisch mitlebenden Kreise der Hauptstadt bildete, bewarb sich sehr um die Gewogenheit Jelisaweta Isaéwnas. Er würde nach ihr ein Bild des Frühlings malen, erklärte er, den März etwa oder die Osterzeit – noch vor dem Erwachen der Natur. Dazu sei sie ein ideales Modell; er könne sich, seit er sie gesehen, den Vorfrühling gar nicht mehr anders verkörpert denken.

Jelisaweta lächelte. Sie habe nichts gegen seine Auffassung, wenngleich sie ihr selbst noch nicht in den Sinn gekommen sei. Peter Iwanowitsch, dem es schmeichelte, die schöne, stille Freundin in solcher Weise erhoben zu sehen, gab sich alle Mühe, für seinen Teil das Zustandekommen des Bildes zu fördern. –

Plötzlich warf Iwan Michailowitsch voll zornigem Unwillen die Zeitung hin. Im selben Augenblick aber suchte er seine unbeherrschte Bewegung wieder auszugleichen, indem er sich an den ihm gegenübersitzenden Dr. Leon Martynow wandte und ihn scheinbar ganz gleichgültig nach dem Zeitpunkt seiner Abreise fragte.

Dr. Martynow befand sich nur vorübergehend in der Heimat. Seine medizinische Praxis trieb er in Lausanne, wohin er schon in den nächsten Tagen wieder abzureisen gedachte. Anscheinend hatte auch er, wie alle, mit Iwan Michailowitsch Wichtiges zu besprechen, denn die beiden begaben sich mit der Begründung, Kunstgespräche durch banales Zeug nicht stören zu wollen, an einen ganz abseits gelegenen kleinen Tisch in einer Fensternische, wo sie eifrig weiterverhandelten. – – –

*

Als Peter Iwanowitsch beim Fortgehen Lisaweta in den Regenmantel half, bemerkte er erst, daß sie ein neues Kleid trug, welches ihre Gestalt überaus vorteilhaft zur Geltung brachte und sie geradezu verführerisch erscheinen ließ. Die Blicke, die von allen Tischen auf sie zuschossen, das leise berauschte Gehaben des Modemalers Warinski, die strahlende Eleganz dieser im Dufte schwerer Zigaretten und exotischer Wohlgerüche schwelgenden und buhlenden Gesellschaft, das unterdrückte, sinnliche Lachen der Frauen, vermengt mit dem schmeichelnden Rhythmus einer entfernten Musik, – die ganze bezwingende Macht von Reichtum, Leichtsinn und Sinnlichkeit dieser gefährlichen Stadt kreiste in wilden Wirbeln in seinem Blut. Er drückte sich dicht an Lisaweta, so daß er jede Bewegung ihres Körpers durch die Kleider hindurch an seiner Seite fühlte, er preßte ihren Arm in den seinen und verwünschte den beständig schwatzenden Maler Warinski, der nicht von ihrer Seite ging und auch richtig den heißersehnten Abschiedskuß verhinderte.

Müde, verbraucht und zerschlagen, fand sich Peter Iwanowitsch am Ende wieder in seiner Kammer, und selbst der zögernde, späte Schlaf jagte einen Wirbel von Bildern durch sein zuckendes Gehirn, – – Berge im ewigen Schnee, – – rotglühende Wolken im Sonnenuntergang, – und plötzlich vom Brande einer Stadt, – – Lisaweta – ruhig lächelnd – zurückgelehnt, – die Augen geschlossen, – – ein Bild des ahnenden, herben Vorfrühlings – –, mit einem Male sank das Kleid von ihr, das ihre Formen schmeichelnd umfloß, und Iwan Warinski malte gierig all die ungeahnte Schönheit auf eine riesige Leinwand, wobei die Herren und Damen im Café zusahen und einander auf die Einzelheiten an Lisawetas Gestalt aufmerksam machten – –. Da warf Iwan Michailowitsch mit einem zornigen Fluch die Leinwand um, – – alles verschwand, – – und Peter sah Iwan in aufgeregter Hast neben dem sonderbar schweigsamen Dr. Léon Martynow einen langen, dunklen Gang unter einer Festung entlang laufen, die sie in die Luft sprengen wollten. Plötzlich trat ihnen der Metalldreher Sergej Fedorowitsch Panin entgegen und hob beschwörend die Arme, – – aber schon war es zu spät, – alles zerbarst in Rauch und Feuer, – – und als Peter Iwanowitsch zitternd und schweißbedeckt aus dem Traum in die Höhe fuhr, da war es ihm, als höre er ein leises, wimmerndes Kinderweinen durch die schwere, schwarze Nacht herauf.

*


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