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Sechstes Kapitel

In der kleinen Zelle Maurers im Untersuchungsgefängnis befand sich ein schmales eisernes Bett, ein Tisch und ein Stuhl. Auf dem Tisch lag eine Bibel, in welcher er viel las. Das Fenster war hoch an der Wand, aber wenn er auf den Stuhl trat, so konnte er ins Freie sehen.

Es war Spätherbst. Der schieferblaue Himmel lastete von oben. Die Luft aber war noch klar und durchsichtig, wenn nicht gerade strömender Regen niedergoß. Entblätterte Pappeln säumten die Landstraße ein, welche sich in gerader Linie über Hügel und Senkungen hinzog bis zu dem dunkeln Gebirge in der Ferne, man sah die verschiedenen Radspuren im Straßenkot, die Felder zu beiden Seiten waren mit Wintersaat bestellt, sie waren schwarz von der Feuchtigkeit, in den trennenden Furchen blitzte zuweilen stehendes Wasser auf, und hier und da war ein leichter grüner Schein zu sehen, die jungen Keime des Korns. »Es muß bald Schnee kommen,« dachte Maurer, »sonst wintert die Saat aus.« Zuweilen einmal fuhr ein Wagen auf der Landstraße, ein Fleischer, der unter einem Netz Schweine brachte, die er auf dem Dorfe gekauft; ein Bauer, der Stroh in die Stadt fuhr, vielleicht für den Arzt, welcher Pferde hielt, die bis oben mit Schmutz bespritzte alte Kutsche des Arztes mit den beiden alten Pferden davor, die jeder in der Umgegend kannte; auch einzelne Leute gingen: Landfrauen mit Kiepen auf dem Rücken, Männer mit dem Stock und der kurzen Pfeife, zwei Mausefallenhändler, ein junger und ein alter, wahrscheinlich Vater und Sohn, ein Herr aus der Stadt, der dem Schmutz auszuweichen suchte, oft die Straße kreuzte und ratlos vor einer Pfütze stand, die er mit dem Spazierstock untersuchte.

Drückender und drückender fühlte Maurer die Gefangenschaft. Drei Schritte konnte er gehen von der Tür zum Fenster, vom Fenster zur Tür, aber er konnte nicht ausschreiten, die Brust konnte sich nicht weiten, es fehlte die frische, feuchte Kälte, das Brennen der Luft auf den Händen, der Wind, die Sonne, hier war eine eisige Kälte, welche nicht erfreute, sondern matt machte, die Glieder absterben ließ.

Und eine sonderbare Weichmütigkeit kam über ihn. Da war eine Fliege in der Zelle; sie flog zuweilen durch den Raum, klappte gegen das Fenster, kroch auf dem Glas oder saß auf der Fensterbank, sich mit den Vorderfüßen den Kopf putzend. Wenn er seinen Eßtopf durch die Türklappe durchgereicht bekam, sich auf den Stuhl setzte, ihn zwischen den Knien hielt und löffelte, so kam sie auf den Tisch; er ließ einen Tropfen der Suppe auf den Tisch fallen; sie flog fort, dann später aber bemerkte er, wie sie am Rande des Tropfens stand und gierig mit dem Rüssel saugte.

»Du Fliege,« dachte er und wurde so gerührt über das Lebendige, daß ihm die Tränen kamen. »Ich will dir nichts tun, du sollst keine Angst haben,« sagte er laut. Sie hatte sich satt gesaugt, rückte von dem Tropfen zurück, putzte sich mit den Vorderfüßen den Kopf, mit den Hinterfüßen die Flügel, stand dann eine Weile lang unbeweglich, als ob sie über etwas nachdenke, plötzlich flog sie. Sie war nicht mehr zu sehen, wahrscheinlich saß sie irgendwo auf der grauen Wand. »Wo bist du?« rief er, »willst du mich denn allein lassen?« Er erschrak, daß er so sprach, und fragte sich: »Bin ich denn wahnsinnig?« Es fiel ihm ein, daß er die Fliege töten müsse, damit er nicht wahnsinnig werde; da kamen ihm wieder die Tränen. »Nun habe ich doch nicht mehr geweint, seit ich Kind war, weshalb weine ich denn jetzt über die Fliege?« dachte er.

Und da war es ihm, als ob seine Sinne sich änderten, Gehör, Gesicht und Gefühl, als ob er plötzlich ganz stark ein ungeheures Leben um sich spürte, wie von Wesen, die wir mit Sinnen eigentlich nicht wahrnehmen können, und die er nun doch wahrnahm, die in ihn eindringen wollten; es war, als ob er selber sich weitete, seine Grenzen verlor, in die Luft aufging, alles umfaßte, dieses eiserne Bett mit dem blaugewürfelten Bezug, den groben Tisch, den hölzernen Stuhl, den Schmutzeimer in der Ecke; und ein wunderbares Glück war dieses Aufgehen, trotzdem es schmerzhaft war, denn er war ja nun nicht mehr selbst, er war der Raum und alles in dem Raum, nun stürzten die Tränen über sein borkiges Gesicht, er faltete die Hände, »das ist die Verklärung,« murmelte er.

Die Schlüssel rasselten an der Tür, der Verteidiger trat ein. Plötzlich stand Maurer stramm wie ein Soldat. »Lassen Sie nur,« sagte der Verteidiger; er hatte einen Pelz an, legte seine Aktenmappe auf den Tisch; es fröstelte ihn und er fuhr fort: »Verdammt kalt haben Sie es hier. Hängt hier kein Thermometer?« Maurer verneinte. »Sie müssen sich beschweren, das geht doch nicht, Sie können sich ja hier den Tod holen in Ihrem dünnen Leinenanzug.« Maurer sagte nichts. Der Verteidiger setzte sich, knipste die Aktenmappe auf, nahm den Akt heraus und fragte: »Haben Sie mir etwas Besonderes zu sagen?« »Nein, ich habe alles gesagt,« erwiderte Maurer. »Sie wissen doch, der Verteidiger ist zum Schweigen verpflichtet über etwaige Geständnisse des Angeklagten; vor mir brauchen Sie sich nicht zu genieren.« Er lehnte sich hintenüber, ließ einen Arm über die Lehne hängen, mit der anderen Hand spielte er an der goldenen Uhrkette; er sah Maurer an. Maurer schüttelte den Kopf. »Na, ein Vergnügen ist mir die Verteidigung natürlich nicht,« sagte der Anwalt geärgert und blätterte in seinem Akt. Maurer faltete die Hände. »Also Sie wollen auch mir gegenüber nicht mit der Sprache heraus,« fuhr er fort. »Schließlich ist es ja einerlei, ich kann Ihnen als Verteidiger auch weiter nichts raten, als daß Sie Ihre Position beibehalten. Wenn Sie sich nicht in Widersprüche verwickeln lassen, so ist sie gar nicht schlecht.« Maurer fühlte einen heftigen Haß gegen den Mann, er dachte: »So ein Jude!« »Also es ist nichts aus Ihnen herauszukriegen,« schloß der Verteidiger, indem er sein Aktenstück wieder in die Mappe schob; »die Sache ist ja schließlich ziemlich einfach; na, Sie können überzeugt sein, daß ich meine Schuldigkeit tue.« Gegen seinen Willen nickte Maurer, der Anwalt sah ihn aufmerksam an. »Vor allen Dingen rate ich Ihnen eins! Reden Sie so wenig wie möglich, lieber zuwenig gesagt als zuviel! Alles andere lassen Sie mich machen. Leben Sie wohl.« Er erhob sich, öffnete die Klappe an der Tür und rief den Schließer; dieser kam und ließ ihn heraus. Der Schließer sagte zu Maurer: »Du hast Glück, der hat schon manchen losgekriegt.« Maurer sah ihn verständnislos an, der Schließer fuhr ärgerlich fort: »Die Herrschaft bezahlt ihn doch für dich.« »Herr Kurt?« schrie Maurer. »Wer denn sonst!« antwortete ihm der Schließer und schlug die Tür zu.

Maurer rang die Hände: So gut sind die Menschen, so gut. Das ist der Sohn des Mannes, auf den er geschossen hat! So gut sind die Menschen! Und wieder wurde es ihm, daß seine Grenzen schwanden, daß sein Ich verloren war und daß er in einer unendlichen Wonne das All war, das ihn umgab – und da wachte er plötzlich auf aus der Verzückung, die Fliege summte durch das Zimmer zu dem sonnendurchleuchteten Fenster. »Wie schön ist alles, wie gut ist alles,« murmelte er.

Nun kam die Gerichtssitzung.

Maurer wurde in den Saal geführt zu einer Bank; der Schließer setzte sich neben ihn, vor ihm war eine bretterne Schranke, an der lehnte der Verteidiger mit dem Rücken; er hatte den Kneifer auf der Nase, hielt das Aktenstück in den Händen und las. Da war auch ein Briefumschlag in das Aktenstück eingeheftet. Hinter einem schwarzbehängten Tisch saßen die Richter in schwarzen Gewändern; in der Mitte des Tisches stand ein Kruzifix. Dann war da der Staatsanwalt. Gegenüber saßen die Geschworenen. Im Grunde des Saales murmelten Menschen, Zuhörer.

Er mußte aufstehen, der Vorsitzende fragte, er antwortete.

Aber gerade gegenüber dem Angeklagten war ein großes Fenster, durch welches man auf ein Dach sah. Da waren alte, dunkle Ziegel; ein einziger Ziegel war neu, wohl im Frühjahr eingesetzt. Dieser neue Ziegel zog immer wieder den Blick an. Maurer zählte die Reihen der Ziegel herunter; wenn er sich zur Seite gebeugt hätte, so hätte er auch eine Reihe quer zählen können, und wenn er dann die beiden Zahlen multipliziert hätte, so hätte er gewußt, wieviel Ziegel auf dem Dach waren, den neuen einbegriffen. Da setzte sich ein Sperling auf den Dachfirst und schülpte; man hörte den Laut bis hier in den Saal, trotzdem der Staatsanwalt sprach:

– Ja, wie denn? Der Staatsanwalt sprach: »... tiefgesunkener Mensch, der schon einmal hier erschienen ist für ein Verbrechen, das uns erschaudern macht ...«

Ach ja, er sprach wohl davon, wie er das Kind damals ...

Ja, wie denn? Er hatte das Kind an den Beinen aus dem Bett gerissen und gegen die Wand geschlagen. Es hatte nicht geschrien. Der Schlag klang, wie wenn man ein nasses Tuch gegen die Wand klatscht. Seine Frau hatte den Mund weit aufgerissen, hatte nicht geschrien, hatte ihn nur entsetzt angestarrt. Und er, sein Entsetzen hatte er überbrüllt, er hatte geschrien: »Wo sind die anderen Bankerte, sie sollen alle hinüber.«

Das Herz stand ihm still, es war, als ob die Seele sich von außen zurückzog nach innen, als er daran dachte, daß es gewesen war, als ob man ein nasses Tuch gegen die Wand klatschte. Wie denn? Sein eigenes Kind hatte er gemordet? Das hatte er ja noch gar nicht gewußt bis nun; der Staatsanwalt sagte: »neugeborene Kind«, der Sperling schülpte, dann war da der neue Ziegel. Nein, das war zu schwer alles – wenn er doch nur hätte schreien dürfen! Aber das durfte er ja nicht, er war ja vor Gericht, da saßen die Herren, er mußte sich manierlich betragen. Und seine Frau war gut gewesen, sie war eine fleißige, saubere Frau und aus einer anständigen Familie.

Was sprach denn der Staatsanwalt? »... unglaubhaftes Vorgeben. Meine Herrn, derartige Widersprüche sind durchaus nicht selten bei Verbrechern. Der Mann kommt, ohne daß man Verdacht auf ihn hat, und gibt sich selber an, aber er behauptet, er habe nur einen Schuß abgegeben und dann das Gewehr fortgeworfen ...«

Ja, der Staatsanwalt glaubte nicht; der Verteidiger glaubte ja auch nicht; weshalb glaubten denn die Menschen nicht? War das denn überhaupt für die anderen Menschen wichtig? Es war ihnen ja gleichgültig; nur ihm war es wichtig, nur ihm; aber weshalb?

»... Zwei Möglichkeiten. Entweder Maurer lügt bewußt, oder aber er hat, was nicht selten vorkommt, in seiner Aufregung den zweiten Schuß vergessen und glaubt, die Wahrheit zu sagen ...«

Wie? Den zweiten Schuß vergessen? Hatte nicht Herr Steinbeißer den zweiten Schuß abgegeben? Das hatte er doch immer gedacht? Sollte das wirklich möglich sein, daß er den zweiten Schuß vergessen hätte?

»... Vorgebliche Begegnung mit dem Bruder des Ermordeten. Meine Herren, Sie haben von dem tragischen Tod Herrn Steinbeißers gehört, dem Tod im Beruf ... Soldat auf seinem Posten ... für Kaiser und Reich ...«

Ja, das war ja nun richtig, nun konnte Herr Steinbeißer hier nicht mehr auftreten als Zeuge, nun war er allein und niemand glaubte ihm. Er sah sich um, aller Augen waren auf den redenden, schreienden, donnernden, handbewegenden, sich windenden Staatsanwalt gerichtet. Nur der Verteidiger vor ihm blätterte in seinen Akten, machte Kniffe und Striche. Was war denn das alles? Was wollten denn die Menschen von ihm? Er erhob sich zerstreut, um zu gehen, der Schließer zog ihn an der Jacke wieder auf den Sitz.

Vielleicht hatte er ja auch den zweiten Schuß abgegeben, es war ja möglich. Aber war denn das nicht gleichgültig? Er wunderte sich jetzt, daß er zum Landrat gegangen war. Das war doch zwecklos gewesen. Waren denn das Gewissensbisse gewesen, diese Gedanken in den Jahren? Nein, das alles war doch so gleichgültig, als ob ein anderer die Tat getan hätte. Er wußte ja auch nicht, weshalb er eigentlich geschossen hatte; und dann war es doch so lange Zeit her.

»... Anklage auf vorbedachten Mord. Ich würde, meine Herren, falls Sie zu einem verneinenden Resultat kommen sollten, weil Ihnen der zweite Schuß nicht genügend bewiesen zu sein scheint, Anklage auf schwere Körperverletzung ...«

Da flog wirklich eine Fliege durch den Saal, ein dicker Brummer, merkwürdig, daß niemand auf die Fliege achtete!

»... Körperverletzung ist verjährt.«

Der Staatsanwalt setzte sich und ordnete seine Papiere. Ein Räuspern, Rücken der Stühle, leises Flüstern begann. Der Vorsitzende gebot Stille; Maurer hing mit seinen Blicken am Gesicht des Vorsitzenden; da wurde er aufgerufen, ob er etwas zu bemerken habe. Er stand auf, schwieg eine Weile, dann sagte er stotternd:

»Ja, wenn die Herren nicht glauben wollen ...« Mehr sagte er nicht, er setzte sich schnell wieder. Der Vorsitzende winkte dem Verteidiger. Der Verteidiger erhob sich und begann seine Rede.

»Meine Herren, sehen Sie sich den Angeklagten an, sehen Sie sich ihn genau an, Sie haben ein unglückliches Opfer herrschaftlicher Frivolität und Genußsucht vor sich, einen Mann, dessen Ehre mit Füßen getreten wurde, dessen bescheidenes Glück zerstört wurde durch einen ausschweifenden Herrn. Noch immer sind die mittelalterlichen Instinkte nicht erloschen, das Recht der ersten Nacht fordert noch immer seine schuldlosen Opfer – und in das finsterste Mittelalter in der Tat glauben wir uns zurückversetzt, wenn wir die Handlung des Angeklagten, seine Motive, ihn selber, seine ganze Umgebung betrachten. Da ist das Mädchen aus dem Volk, ehrlich, fleißig, tugendhaft, ihrem Verlobten in treuer Liebe zugetan, aber der Herr wirft das Schnupftuch, es gibt kein Widerstreben. Da ist der junge Mann, der in schwerer Arbeit auf dem Felde in der Hitze des Sommers und in der eisigen Kälte des Winters die paar Groschen zu verdienen sucht, um sich ein Heim zu gründen, in das er seine Verlobte zu führen gedenkt ...«

Der Verteidiger sprach bald leise, bald laut, zuweilen langsam und zuweilen schnell; er machte viele Bewegungen mit den Händen, schmatzte mit den dicken Lippen, rückte den Kneifer zurecht, wendete sich zu Maurer um und wies auf ihn.

»... Meine Herren! Der Angeklagte hat sich selbst angezeigt. Niemand hatte einen Verdacht. In mehr als neunzehn Jahren war so viel Wasser den Kohlberg hinuntergelaufen, so viel Gras auf dem Grabhügel des stillen Friedhofs von Miltenberg gewachsen, daß nur selten noch in dem Gedächtnis der Menschen die Figur des damaligen Gutsherrn auftauchte, des auf so rätselhafte, so unheimliche Weise ermordeten Gutsherrn. Still, von niemandem beachtet, von keinem beargwöhnt, lebte der Angeklagte inmitten der unermeßlichen schweigenden Wälder seiner Heimat. Was kann ihn bewogen haben zu seinem Geständnis?«

Der Verteidiger machte eine Pause und blickte ringsum; er wendete sich und sah Maurer ins Gesicht. Dann nahm er wieder seine alte Stellung ein, schlug mit der rechten Hand flach auf seinen Tisch und rief donnernd den Geschworenen zu: »das Gewissen!«

Maurer schneuzte sich und wischte sich die Tränen aus den Augen. Der Verteidiger hatte recht, das Gewissen war es gewesen, das ihn getrieben hatte. Aber nun mußte ihm doch irgendwie geholfen werden! Er sah sich um; da saßen die Richter, scheinbar in Gedanken versunken, mit untergeschlagenen Armen; die Geschworenen folgten mit den Augen den Bewegungen des Verteidigers; der Staatsanwalt hatte den Kopf in die Hand gestützt und kritzelte zerstreut auf einem Blatt Papier – ach, spürte denn kein Mensch etwas, daß man ihm helfen mußte! Ein furchtbares Mitleid mit sich selbst überkam ihn, aufschluchzend legte er seine Stirn auf die Bretterschranke, hielt sich die Hände vor das Gesicht. Wenn ein Huhn krank ist, so laufen die anderen Hühner zusammen und hacken auf das kranke los; aber die Menschen, wenn einer unglücklich ist, so tun sie, als sehen sie nichts, sprechen Überflüssiges und wenden sich dann von ihm ab. Da gab er sich Mühe wie er konnte und stellte sich Christus vor, wie er am Kreuze hing.

Der Verteidiger redete:

»... Nehmen wir einmal an, der Angeklagte habe, wie der Herr Staatsanwalt behauptet, wirklich auch den zweiten Schuß abgegeben. Meine Herren! Wissen Sie, weshalb er schoß? Denken Sie sich in seine Lage, wer von Ihnen würde anders handeln?«

Die Geschworenen wurden unruhig; sie waren meistens einfache Bürger; der Verteidiger spürte sofort, daß er einen Fehler begangen hatte, und machte ihn gleich wieder gut:

»Meine Herren, auf der Anklagebank sitzt ein Verbrecher, ein ungebildeter Mann, ich werde ihn nie mit einem Gebildeten vergleichen, mit einem Mann, der mit Abscheu alles von sich weist ...«

Maurer kannte die Geschworenen. Da war ein Kaufmann, der den Krieg gegen Frankreich mitgemacht hatte; es hieß, daß er in einem Landhaus Geld gefunden und mitgenommen. Da saß ein Bauer, dessen erste Frau merkwürdig schnell gestorben war. Da ein Rentner, von dem es hieß, daß er auf Wucherzinsen lieh... noch zwei oder drei solche Leute waren unter den Geschworenen; »die haben sich nur nicht erwischen lassen,« dachte Maurer, »die sind schlimmer wie ich. Aber wer Geld hat, der kann tun, was er will, beim Armen kommt alles an die große Glocke.«

»... Aber vergessen Sie nicht, meine Herren, der Angeklagte ist der einzige Zeuge der Tat, und er hat nur den ersten Schuß bezeugt. Sie fragen: von wem soll denn dann der zweite herrühren? Meine Herren, nur Gott ist allwissend, nur Gott kann in die Herzen der Menschen sehen ...«

»Er denkt: vielleicht hat Herr Steinbeißer den zweiten Schuß abgegeben,« dachte Maurer.

»... Beinahe zwei Jahrzehnte sind verflossen seit der Tat; wir können den Einzelheiten nicht mehr nachkommen. Aber wenn Sie Ihr Urteil fällen, so vergessen Sie nicht, sich zu sagen: Vielleicht ist noch ein anderer Mann im Walde gewesen, der gleichfalls ein Interesse am Mord hatte, ein Wilderer, ein Beleidigter, vielleicht auch einer, der auf Börse und Uhr des Toten rechnete...«

»Er glaubt mir auch nicht, er lügt nur, daß er mir glaubt,« dachte Maurer.

Der Verteidiger setzte sich, der Vorsitzende fragte Maurer, der schüttelte den Kopf; der Vorsitzende sprach zu den Geschworenen; die Geschworenen erhoben sich und gingen in ihr Zimmer. Dann war Geräusch, Sprechen, Kommen und Gehen. »Ich habe doch nicht den Herrn gemordet,« dachte Maurer.

Der Schließer führte ihn hinaus und trat mit ihm in ein leeres Zimmer. Dort warteten beide eine lange Zeit; dann wurden sie gerufen, sie gingen wieder in den Sitzungssaal, alles schien wie vorher, aber eine große Aufregung unter den Zuhörern war zu spüren. Maurer blieb stehen, der Schließer stand neben ihm.

Der Sprecher der Geschworenen erhob sich, die Richter erhoben sich, es wurde gesprochen, Maurer verstand, daß der Sprecher sagte: »einstimmig verneint«. Plötzlich war ein großes Geschrei bei den Zuhörern, Taschentücher winkten, der Vorsitzende schrie gegen die Zuhörer, Maurer erschrak und fragte den Schließer: »Ist denn Revolution?« »Sie haben dich freigesprochen,« antwortete der Schließer. »Was soll ich denn nun machen?« fragte ihn Maurer. Der Verteidiger kam und reichte ihm die Hand, er mußte ihm die Hand drücken. »Das ist gut abgelaufen,« sagte der Verteidiger. Maurer wollte ihm sagen: »Es ist doch die Wahrheit,« aber der Vorsitzende sprach noch etwas, dann öffnete der Schließer die Tür und schob ihn hinaus. »Du kannst doch nicht im Gefängnisanzuge gehen,« sagte er ihm und ging mit ihm über Gänge und Treppen, um ihm seine eigenen Kleidungsstücke wiederzugeben, die man ihm abgenommen, als er ins Gefängnis kam.

»Damals war noch das Laub an den Bäumen,« dachte er, als er sich wieder angekleidet hatte. Dann führte ihn der Schließer zurück, die Treppe hinunter, er ging über den Hof und trat aus dem Tor.

Er erschrak und prallte zurück. Da stand ein Korbwagen vor dem Tor, seine Frau saß auf dem Bock und hielt die Zügel. »Steig auf,« sagte sie zu ihm, »ich kann das Pferd nicht loslassen.« »Darf ich denn?« fragte er furchtsam. Ihr rollten die Tränen über das Gesicht; Menschen kamen aus dem Tor, er kletterte über Nabe und Radkranz zu ihr auf den Bock, sie hatte das Spritzleder zurückgeschlagen; er knöpfte es fest, das Pferd zog an; sie fuhren um das Gefängnisgebäude herum, kamen auf die Landstraße und fuhren zwischen den entblätterten Pappeln. »Ich habe die Straße übersehen können aus meinem Fenster,« sagte er. Ein starker Sturmwind hatte sich aufgemacht; die Pappeln wurden gebogen, Blätter wirbelten in der Luft, der Sturm riß an ihren Kleidern, klappte das Spritzleder um, trieb Schwanz und Mähne des Gauls zur Seite; Maurer hatte die Zügel genommen, die Mütze hatte er über die Ohren gezogen, damit sie festsaß; seine Frau hielt ihre Haube mit der Hand; der Sturm pfiff und heulte, der Kot spritzte, man konnte nicht sprechen. Seine Brust weitete sich im Sturm; es wurde ihm freier im Kopf und er dachte: »Ich hätte es nicht mehr länger ausgehalten im Gefängnis, ich bin zu sehr an die Luft gewöhnt.« Neben ihm saß die Frau, mit geröteten Wangen, die Haube haltend, unbeirrt nach vorwärts schauend. »Weshalb sieht sie denn nicht einmal nach mir zur Seite?« dachte er. Das magere Pferd schien Mühe zu haben, sich gegen den Sturm zu halten, er wollte die Peitsche ihm leise auf dem Rücken tänzeln lassen, aber selbst die dünne Peitschenschnur wurde vom Sturm abgetrieben. Bis auf die Haut ging die frische Kälte, wohlig streckte er sich. »Der Sturm wirft uns noch die Karre über den Haufen,« dachte er, »das Schindluder muss ordentlich anziehen,« und er gab dem Pferde einen leichten Schmitz; das Pferd spitzte die Ohren und setzte sich in Trab. »Wenn sich der Sturm legt, dann gibt es Schnee,« dachte er.

Nun versank er auf lange Zeit in gedankenloses Träumen; die Pappeln liefen vorbei, die Pferdehufe trappten und klatschten auf den Weg; es ging bergab, und der Wagen lief schnell, bergauf, und das Pferd ging im Schritt; die Berge waren nah, die Straße stieg nun beständig, das Pferd ging langsamer; der Wald umfing sie, das Heulen des Windes in den Bäumen umgab sie, abgebrochene dürre Äste lagen auf der Landstraße und knackten unter den Rädern; Geruch verwesenden Laubes, faulender Pilze, feuchten Waldbodens flog ihnen ins Gesicht.

»Wohin soll ich denn fahren?« fiel ihm plötzlich ein; vor Schreck blieb ihm das Herz stehen, es wurde ihm klar, baß er eine Weile alles vergessen. Er hielt das Pferd an, fragte seine Frau, die sich den Kopf mit dem Tuch verwickelt hatte: »Wohin?« »Zur Bergschenke,« sagte sie. Wie? Zur Bergschenke? Das Pferdchen zottelte mühselig vor ihm, die Hüftknochen hoben sich abwechselnd, es hängte den Kopf, die Ohren hingen traurig vornüber. »Ja, dann steige ich an der Ecke ab,« sagte er, »und gebe dir die Zügel wieder.«

»Willst du denn nicht mit zu uns kommen?« fragte sie.

Er hielt das Pferd wieder an; es scharrte mit dem einen Vorderfuß, neigte den Kopf ganz nach vorn. Nach einer langen Weile sagte er:

»Das kannst du doch nicht, das bin ich doch nicht wert.«

»Ich habe mich an dir versündigt,« antwortete sie und sah zur Seite.

Er fuhr wieder weiter. Nach einer langen Zeit hielt er von neuem an und sprach:

»Es ist ja wahr, die erste Schuld hast du gehabt, aber nachher bin ich es gewesen, ich bin ein schlechter Mensch gewesen.« »So ein kleines Kind hat man doch auch schon lieb, wenn es erst einmal geboren ist,« erwiderte sie, indem sie sich die Tränen trocknete.

Er peitschte auf das Pferd, daß es hochsprang und loszog. Sie machte ihre Hand aus der Umhüllung frei und zupfte ihn am Ärmel, er verspürte es nicht; sie zupfte stärker, da sah er sie an, ließ das Pferd wieder halten; in dem Heulen des Sturmes sagte sie leise: »Ich hatte es ja nicht so gemeint.« Er konnte ihre Worte nicht verstehen, aber er verspürte, was sie gesagt hatte; er wickelte die Leinen um seine linke Hand, faßte mit der rechten Hand ihren Arm und fragte, laut den Sturm überschreiend:

»Kannst du mir denn vergeben?«

Sie faltete die Hände und sagte: »Und vergib uns unsere Schuld, wie wir vergeben unseren Schuldigern.« Er erriet, was sie gesagt hatte, nahm mit der freien Rechten seine Mütze ab, faltete seine Hände gleichfalls, so gut es ging, und sagte gleichfalls: »Und vergib uns unsere Schuld, wie wir vergeben unseren Schuldigern.«

Die Leinen hatten sich gelockert, das Pferd zog von selber an und ging in gleichmäßigem Schritt weiter, seinem Stall zu.

Er schrie der Frau in die Ohren und fragte nach den Kindern. Sie nickte, daß es ihnen gut gehe.

Nun bogen sie um die Ecke, nach kurzer Zeit stand der Wagen auf der Hinterseite der Bergschenke, vor dem Stall. Margarete hatte sie erwartet, die Hand über die Augen gelegt. Der Vater kletterte vom Bock, steif durch die Kälte, sie ging auf ihn zu und küßte ihn. Martha stand da, trat vor und küßte ihn; die beiden Jüngsten kamen gelaufen und küßten ihn. Er stand stumm da. Ihm gegenüber stand seine Frau und sah vor sich nieder. Er ging auf sie zu, ergriff ihre niederhängende Hand; sie ließ ihm die Hand, er drückte sie.

Margarete hatte das Pferd ausgehängt; es ging klirrend zu seiner Stalltür und stolperte über die Schwelle. Maurer ergriff die Gabel und schob den Wagen in den Schuppen, legte dann die Gabel hoch. Die Frau holte noch Pakete, die sie unter dem Sitz liegen hatte; Margarete machte sich mit dem Pferd im Stall zu schaffen; er ging zu ihr und sagte: »Laß, das ist meine Arbeit«, da war er allein mit ihr im Stall, es überwältigte ihn, er zog sie an sich und küßte sie vielmals auf Stirn und Scheitel. Sie sagte: »Du sollst es nun auch gut haben.« Er sprach nur: »Es ist meine Arbeit,« schob sie aus dem Stall, nahm dem Pferd das Geschirr ab und hängte es an, warf ihm einen Arm voll Heu vor, sah in der Haferkiste nach, fand etwas nicht in Ordnung und brummte »Weiberwirtschaft«.

Dann holte ihn Martha. In der Stube war der Tisch mit einer weißen Serviette gedeckt, Kaffee stand da, Tassen, und ein Teller Mit Kuchen, den die Frau vom Bäcker in der Stadt mitgebracht. Der Vater sollte sich ins Sofa setzen, er war verlegen, die Mädchen lachten, er setzte sich, sie schoben die Mutter, daß sie sich neben ihn setzen mußte.

Fragend sah Maurer sich um bei allen, zuletzt sagte Margarete: »Herr Kurt hat mir etwas erzählt, was nicht alle Leute zu wissen brauchen. Er hat uns auch gesagt, wie Frauen sein müssen.«

Auf den Sturm folgte ein starker Schneefall. Bei völliger Windstille fielen die großen Flocken, es schien wunderbar, daß sie so lautlos fielen. Auf den schwarzen Ackerstreifen schmolzen sie zuerst, dann aber sogen sie nur Wasser auf, zuletzt blieb eine gleichmäßige weiße Schicht liegen, auf der Landstraße vermischte sich der Schnee durch die Spuren der Räder, Pferde und Fußgänger mit dem Schmutz, nur an wenigen kleinen Stellen hielt sich der reine Schnee. Immer weiter fielen die großen Flocken aus dem Unsichtbaren von oben, sie blieben auf den schwarzen Ästen und Zweigen der Buchen liegen, auf den abgestorbenen Blättern der Eichen, den breiten, nadelbesetzten Zweigen der Fichten. Ein merkwürdiges Schweigen war in der ganzen schleierverhängten Landschaft.

Kurt ging allein im Walde, weit oberhalb der Bergschenke und des Förderschachtes, das Schnurren der Räder drang zu ihm in die Höhe. Die breiten Kufen eines Holzschlittens hatten einen schmalen doppelten Weg gebahnt; auf ihm hielt er sich. Nur das Schnurren der Räder von tief unten herauf war zu hören. Es hatte aufgehört zu schneien, die Sonne schien blitzend vom blauen Himmel auf den lockeren Schnee, die Oberfläche schmelzend und eine leichte Eiskruste bildend. Zuweilen glitt ein Schneeklumpen von einem kahlen Zweig herab und fiel still in die harrende Schneedecke, die dünne Eiskruste durchschlagend. War denn alles Leben tot? Der leise Ton der unsichtbaren Meisen im Walde war zu hören, welche in den Zweigen herumkletterten; vor Kurt flatterte plötzlich eine Goldammer auf, flog ein paar Schritte vor, setzte sich auf einen Zweig, sah neugierig nach ihm hin, flog wieder vor, wie er näherkam, und begleitete ihn lange Zeit so durch die tiefe Stille.

Kurt verspürte das Jubeln des Körpers, welches der erste Schneefall hervorruft, die klare Luft, die tiefe Stille; die Bäume beugten sich unter ihrer Last.

Da, bei einer Biegung des Weges, stand Martha vor ihm. Sie hatte ein Tuch um den Kopf gebunden, krause braune Haare kamen unter dem Tuch zum Vorschein, das Gesicht glühte durch den Winter, die braunen Augen leuchteten, die weißen Zähne blitzten in dem lachenden Mund. Kurt streckte ihr die Hand entgegen zum Gruß, sie barg ihre beiden Hände neckend hinter sich; er ergriff ihre Arme, sie schüttelte sich kräftig, auf der glatten Spur der Schlittenkufe glitt er aus, er griff um sich, aber er fiel in den lockeren Schnee; lachend stäubte sie mit beiden Armen Schnee auf den Liegenden, warf ihn wieder zurück, wie er sich ungeschickt erheben wollte; da glitt sie selber aus auf der Schlittenspur und fiel in den hohen stäubenden Schnee; nun schüttelte er auf sie Schnee, sie hielt die Hände vor das Gesicht, ihre Wangen glühten durch den Schnee, plötzlich besann sie sich, richtete sich auf die Knie; er bückte sich gerade, sie gab ihm wieder einen Stoß, und wie er lag, wusch sie ihm das Gesicht mit dem kalten Schnee, daß auch seine Wangen glühten. Durch den ganzen Wald schallte ihr Lachen und Rufen, Echo weckend an den grauen Säulen der Buchen und zum blitzenden Himmel aufsteigend. Plötzlich sah sie, wie er neben ihr kniete, er umarmte sie, seine glühende, nasse Wange war an ihrer Wange, er küßte sie, sie vergaß alles, umarmte ihn, ihr war, als müsse sie versinken in Lust, als sei kein Boden unter ihr, sie küßte ihn wieder. Sie erhoben sich, gingen nebeneinander im tiefen Schnee, einer den Arm um den andern geschlungen, der Schnee drang in die Schuhe und wurde fest, drang durch die Strümpfe und taute auf, ihre Kleider wurden steif von getautem und gefrorenem Schnee, sie gingen zusammen weiter nach oben, stolpernd und fallend, lachend; sie blieben stehen, sahen sich in die Augen, sagten: liebe Martha, lieber Kurt; dann lachten sie, gingen weiter, sie wußten nicht, wohin. Martha sang, Kurt fiel ein, und sie sangen zusammen.

Der Weg war seit alten Zeiten hohl durch die Holzwagen, welche hier fuhren, durch das Wasser, das in den Radspuren talwärts rinnend Erde und kleine Steine fortspülte; nun kamen sie über eine felsige Stelle, wo nur die Schlittenspuren allein den Weg bezeichneten, weil er hier nicht in den Boden eingeschnitten war. Hier standen Fichten, welche nach der Seite des Weges hin ihre Zweige bis unten behalten hatten, die nun schwer bedeckt mit Schnee waren und einer über dem anderen hingen, so daß von beiden Seiten eine Wand schien; an einer Stelle war eine Lücke, wahrscheinlich hatte hier der Schnee einmal eine Fichte gebrochen; durch diese Lücke gingen sie in den Wald, der durch die Wand abgeschlossen war; bis hoch hinauf hatten die Fichten sich gereinigt, nun standen da die alten hohen Stämme, glatt und rotbraun, unter der Decke oben von zusammengewachsenen Wipfeln, die mit Schnee bedeckt waren; am Boden lag der Schnee hier flacher, sie konnten nun ohne Mühe gehen.

Sie gingen im Tanzschritt und lachten, sie blieben stehen, sahen sich in die Augen und küßten sich. »Du Lieber,« sagte sie, er sagte: »Du Gute.« Dann lachten sie darüber, daß sie so sprachen. »Nun muß ich vernünftig sein,« sagte sie, dann bog sie sich zusammen und lachte; er küßte sie und sagte: »Das ist Vernunft, wenn man sich küßt!« Sie blieb stehen, warf ihre Arme um seinen Hals und rief: »Wie ist denn das, wie ist denn das, ich bin ja gar nicht mehr ich, ich bin ja nur noch, was du willst. Aber ich fürchte mich nicht, daß das so ist, das ist ja die Seligkeit.«

Sie kamen an eine Dickung, junge Fichtenbäumchen, eng aneinandergeschlossen, bis unten grün, standen beieinander, auf ihnen lag in breiter Lage der Schnee, noch konnte man den nadelbedeckten Boden unten durch die dichten Zweige sehen. Plötzlich war ein Klappen, ein Rauschen, ein Reh war aufgesprungen und eilte flüchtig durch den Hochwald, gerade vor ihnen war es aufgesprungen, sie standen vor dem Lager, fühlten es noch warm, unter den dichten, schneebedeckten Zweigen auf den glatten Nadeln. Nun war alles wieder ruhig und unbewegt. Sie gingen weiter, an der Dickung entlang, in ein Tal hinab, da floß unten ein kleiner Bach, zwischen runden Steinen, die mit einer Schneehaube bedeckt waren, unter Schneebrücken, aus der Dickung hervor, eine dünne, abgebrochene Eisscheibe, durchsichtig und mit kristallinischen Linien, war am Ufer, klirrte, als Kurt sie berührte. Martha lachte über die dünne klirrende Eisscheibe. Nun gingen sie an dem eilenden, glatten Bach entlang, dem dunkelklaren Wasser zwischen den runden Schneekuppen. Der Grund des Tales war bruchig, Erlen standen da, welche die Rispen ihrer Blütenknospen an den durchsichtigen dünnen Zweigen hängen hatten. Unter dem klarblauen Himmel schwebten einige zerfaserte weiße kleine Wolken. Martha schrie leise auf, sie war durch den gefrorenen Boden getreten, Kurt lachte, nahm sie in die Arme und trug sie, sie ließ sich ruhig und still tragen, hatte die Arme um seinen Hals gelegt, ihre braunen Augen sahen ins Leere in gedankenlosem Glück. Er trug sie ein paar Schritte aufwärts, bis sie wieder den festen Waldboden unter sich hatten, die glatten Fichtenstämme um sich. Da setzte er sie auf die Erde. »Ach, wenn du mich doch immer so tragen könntest,« sagte sie, ich bin so sicher, wenn du mich trägst.« Sie saß auf einem Baumstumpf, um den Moos gewachsen war, jenes zierliche Moos, welches einen Fichtenwald im kleinen zu bilden scheint und alte Baumstümpfe bekleidet wie der Fichtenwald den Berg. Er saß zu ihren Füßen, hielt ihre Hände, die rot und warm waren von der Kälte, fest von der Arbeit und hart; er legte die Hände an seine Wangen, sie beugte ihr Gesicht zu seinem Gesicht nieder.

Eine gedankenlose und willenlose Wohligkeit strömte durch sie von den Füßen bis zum Kopfe, eine süße Sehnsucht, Vergessen, Glück; sie lag in seinen Armen, er lag in ihren Armen; leise glitt das Wässerchen zwischen den Steinen, die Stimme einer Meise war zu hören, still standen die hohen Bäume über ihnen; sie weinte an seiner Brust. »Du weinst?« fragte er erschrocken. »Ich bin so selig, so selig,« schluchzte sie, »du Guter, du Lieber,« sagte sie, und ihre tränennasse Wange preßte sich an sein Gesicht. »Wir sind doch nicht schlecht, wir sind doch nicht schlecht?« fragte sie, »ich will ja auch meinen Vater lieb haben, er hat es doch schwer gehabt im Leben, und ich will nie mehr ungehorsam gegen meine Mutter sein, sie hat doch viel erdulden müssen, und ich will immer gut gegen meine Schwestern sein, und ich will gut zu unserm Pferd sein,« sagte sie. Er sah sie glücklich an, dann lachte er. Sie wurde verlegen und sprach: »Das verstehst du nicht, du denkst immer, ich bin noch ein Kind«; und indem sie sich ganz an ihn drängte und errötete und nach unten sah, fuhr sie fort: »Ich bin doch jetzt eine Frau.«

Sie gingen weiter, den Berg hinauf, durch den lockern Schnee auf die glatten Nadeln tretend. Sie sahen beide vor sich nieder, auf den Weg achtend und in glücklicher Vergessenheit. Da erhob sie plötzlich den Blick, sie standen vor einem halb eingesunkenen, moosbedeckten steinernen Kreuz. Es war das Kreuz an der Stelle, wo Kurts Vater ermordet war, wo Marthas Vater auf ihn geschossen hatte.

Martha erschrak vor dem plötzlich veränderten Ausdruck in Kurts Gesicht, die Tränen wollten ihr kommen, aber sie bezwang sich, sprach ihm kniend zu.

»Quäle dich doch nicht, sieh, ich bin doch glücklich, ich bin doch froh durch dich. Denke nicht an deinen Vater, du bist doch ein anderer Mensch; und wenn ich alles könnte ungeschehen machen, so wollte ich es nicht, und wenn ich auf der Stelle sterben müßte für dich, so sagte ich ja. Lache doch, Lieber, lache doch. Ich bin ja nicht kindisch, ich weiß doch, daß ich dich nicht behalten kann, und wenn du mir jetzt sagst: Geh, so gehe ich. Aber glaubst du, daß ich darum traurig bin? Nein, ich bin stolz, daß du mich liebst. Und wir werden doch auch keinen Menschen betrügen; sieh, das ist doch die Schuld deines Vaters und meiner Mutter gewesen, daß sie meinen Vater betrogen haben. Das ist unrecht, das darf man nicht. Ich weiß ja auch, daß die Menschen sagen, daß ich unrecht getan habe, weil ich mich dir gegeben, aber mein Gewissen sagt, ich habe recht getan.«

»Sagt dein Gewissen das?« rief er aus, dann sprach er: »Ach, du kannst nicht lügen, du bist klar wie ein reiner Bach, wenn du das sagst, so ist es die Wahrheit. Dein Gewissen sagt dir das.« Er legte sein Gesicht der Sitzenden in den Schoß, die Tränen rollten ihm aus den Augen, wie zwei Bäche flossen die Tränen, nicht tropfend, unaufhaltsam, wie aus der Tiefe des Herzens. »Mein Herz weint vor Glück,« rief er, »ich habe mich immer bezwingen müssen, du hast mich frei gemacht, nun bin ich frei; laß mich weinen vor Glück, daß ich frei bin.«

Zaghaft strich sie mit ihrer Hand über sein Haupt. »Ich bin ja so ruhig«, sagte sie. »Es ist gut, daß du frei bist«, und wie sie das sagte, verstand sie, was er meinte mit dem Freisein, denn sie waren beide in einem jener Augenblicke, wo uns alles offenbar ist.

Dann weinte er lange, sie schwieg lange. Endlich sagte sie: »Nun schließen sich langsam die Pforten des Himmels, aber wenigstens stehen wir noch vor den Pforten. Deshalb kann ich jetzt noch sagen, was mir später vielleicht unmöglich ist. Wenn die Menschen Unrecht nennen, was wir getan, so ist das ja richtig von ihnen. Wenn mir etwas auferlegt wird, so will ich es deshalb tragen, weil sie von sich aus richtig handeln, und will nicht murren; du darfst mich auch später in deinem Herzen vergessen, das ist nun so, aber mit dem Kopf wirst du mich nicht vergessen, nicht wahr, weil du ein guter Mensch bist.«

Da hörten sie plötzlich über sich, in den Lüften, einen Laut wie den Ton einer schönen Orgel; eine kurze Weile war es still, dann war es wie ein Akkord, auf einer Orgel gegriffen, der langsam anschwoll, sich auf der Höhe hielt und dann wieder abschwoll.

Sie sprangen auf und lauschten dem Ton, durch welchen alles plötzlich ein Märchen schien. Es war eine Weile still in den Lüften, dann klang es wieder, wie die ersten Töne eines Chorals. Kurt eilte nach der Richtung des Klanges, zog Martha mit sich; sie eilten, gleitend, fallend, sich aufraffend auf dem glatten Boden zwischen den rotbraunen Fichtenstämmen.

Ein verlassener Tagbau lag dort aus den Zeiten des Eisensteinbergbaues. Die Wasser, welche nicht mehr von den Menschen abgeführt wurden, hatten sich in der Grube gesammelt, und so hatte sich ein fast kreisrunder kleiner See gebildet, ähnlich in seiner Form den Seen, welche sich in alten Vulkanen entwickeln. Von allen Seiten umstanden ihn hundertjährige Fichten, bis unten mit lebenden Ästen, die sich bogen unter der Last der zierlichen, nadelbesetzten Zweige und Zweig lein, die mit lockerem Schnee bedeckt waren, zwischen denen von höheren Ästen graugrüne Bärte von Flechten herabhingen; sie spiegelten sich in dem runden See, das klare Wasser gab ihr Ebenbild wieder: die hängenden Äste mit den nadelbesetzten, hängenden Zweigen, den Schnee, die Flechten; und in der Mitte spiegelte sich der klare Himmel.

Vor diesem See standen die beiden.

Da schwamm ein wilder Schwan, weiß, mit geblähten Flügeln, gerade gestrecktem Hals, mit grimmigem Ausdruck des Gesichtes, wie ein scharf blickender alter Jäger; vor ihm rauschte ungestüm das Wasser, hinter ihm zog eine glänzende Furche; die Spiegelbilder der Bäume verschwanden, wo er schwamm, wurden undeutlich weithin und erzitterten in den leise verflachenden Wellen. Plötzlich schrie er auf, aus seiner Kehle strömten die harmonischen, vollen Töne, die anschwollen und versanken, sich bildeten zu einem choralmäßigen Vogellied.

War eine Schar Schwäne über den Wald geflogen, hatte dieser müde die Freunde verlassen, um nun hier allein auf dem kleinen, dunkel spiegelnden See zu sterben? Er war allein, kein Wesen seiner Art war in der Nähe, er ruderte auf dem einsamen See und stieß seine Töne aus, die wie eine Klage waren und wie ein Jubel. Zitternd schmiegte sich Martha an Kurt; das stolze grimmige Tier schien sie nicht zu sehen, es fühlte den Tod und nichts war in ihm wie das Gefühl des Todes.

Plötzlich schoß der Schwan in den Grund. Die Wellen schlugen plätschernd ans Ufer, verebbten sich; undeutlich erst, zitternd, dann deutlich, klarer und endlich ruhig spiegelten sich die dunkeln Fichten und der runde Kreis Heller Himmel im Wasser.

»Er hat sich auf dem Grund festgebissen, damit die Menschen seinen. Leichnam nicht finden,« sagte Kurt leise.


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