Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zweites Kapitel

Die Bergschenke, in welcher Maurers Familie lebte, lag im Walde dicht beim Förderschacht. Das Gebäude war alt und stammte noch aus der Zeit des Eisensteinbergbaues. Ein sehr großes schwarzes Schindeldach lag auf niedrigem Mauerwerk mit kleinen Fenstern, vor dem Hause stand eine alte und weitschattende Linde, unter welcher Tische und Bänke für Gäste angebracht waren, hinter dem Hause breitete sich ein weitläufiger Stall aus für ein Pferd, zwei Kühe, einige Schweine, Futtervorräte, Brennholz, und außerdem allerhand Gerät, das auf dem Schacht gebraucht wurde.

Der Hauptraum im Haufe war die Zechenstube, in welcher sich die Bergleute morgens zu einer kurzen Andacht versammelten, ehe sie einfuhren. An dreien der geweißten Wände entlang liefen alte Sitztruhen, an der vierten stand ein erhöhtes Pult für den Vorbeter.

Es war am Morgen nach dem Fest, an demselben Tage, wo Maurer zum Landrat ging, um sein altes Verbrechen anzuzeigen.

Die Bergleute kamen, einer nach dem andern, die schmalen Waldwege herauf, strichen die Schuhe ab, traten in das Haus, öffneten mit kurzem Glückauf die Stube und setzten sich still. Frau Maurer mit ihren Töchtern kam herein und stellte sich an die Tür, der Vorbeter trat hinter das Pult, schlug bei dem Schein des kleinen Talglichtes die Bibel auf und las den Abschnitt, stimmte dann das Lied an, alle erhoben sich, fielen ein und sangen. Dann beteten alle laut das »Unsern Eingang segne Gott«, und gingen langsam und sich nicht drängend zum Förderschacht, denn die, welche hier arbeiteten, fuhren in Tonnen ein.

Frau Maurer öffnete die Fenster, der Himmel rötete sich von der aufgehenden Sonne, und die kalte Morgenluft schlug in das dunkle Zimmer, mit dem Kehrbesen wurde die Stube gefegt, in der Küche stand noch getürmt das Geschirr vom Bergfest, Kannen, Tassen, Teller und Seidel; unter dem großen Kessel wurde Feuer angemacht, damit genügend warmes Wasser zur Hand war, und nun begannen in der engen Küche die fünf Frauen das Spülen, Scheuern und Abreiben; das Gesäuberte und Getrocknete wurde fortgeräumt für das nächste Fest, und gegen zehn Uhr war alles wieder in der gewohnten Ordnung.

Es war das auch notwendig, denn der Metzger wurde erwartet, ein Schwein sollte geschlachtet werden. Margarete, die älteste Tochter, hatte bereits den Kaffee für ihn auf den Herd gestellt; er kam, setzte sich, trank und erzählte vom Fest und von allerhand kleinen Vorfällen, welche die Frauen nicht bemerkt hatten, da sie mit Anrichten und dem Beaufsichtigen der angenommenen Kellner eifrig beschäftigt gewesen. Der Metzger war ein junger unverheirateter Mann, mit offenem, rundem und gesundem Gesicht, in einem sauberen weißen Kittel.

Nun ging der Metzger in den Stall, erwischte das Schwein am Hinterbein und geleitete es hinaus, draußen wurde es mit einem Strick am Hinterbein an einem Haken in der Stallwand festgebunden, durch einen Schlag mit einer Axt auf die Stirn betäubt, dann warf es der Metzger auf die Schlachtbank, stach, das Blut strömte aus in einen großen Topf unten, in welchem Frau Maurer beständig quirlte; das Schwein röchelte und blutete sich leer, indem der Metzger durch Kneten nachhalf; kochendes Wasser wurde über den toten Körper gegossen und die Borsten abgekratzt, die Hinterfüße durchstochen und das Querholz durchgesteckt; dann wurde der Körper am Querholz aufgehängt und geöffnet, das Innere herausgenommen und gereinigt und alles für sich gelegt; dann wurde aufgehackt, das Fett losgelöst und den Frauen in die Küche gegeben, damit es dort in Würfel geschnitten werden sollte, dann wurde weiter zerteilt.

Margarete war allein bei dem Metzger auf dem Hof, die anderen schafften in der Küche. Es ging ihm alles flink von der Hand, wie er in dem weißen und roten Innern des Tieres arbeitete, sie sah ihm eine kurze Weile träumerisch zu, er blickte sich mit einem gutmütig-verwegenen Gesichtsausdruck nach ihr um, indem er den herkömmlichen Witz vorbrachte: »Das Schwein hat nun sein Testament gemacht, jetzt wird die Erbschaft verteilt.« Sie schien nicht auf ihn zu hören.

Nach einer kleinen Weile begann er in anderem Ton: »Fräulein, ich kann jetzt ein Geschäft übernehmen im Ort. Wenn ich erst drin sitze, so soll es schon gehen. Ich baue mir einen Eiskeller. Hier ist ja keiner aus dem Nest herausgekommen, die wissen alle nicht, wie es in der Welt hergeht.«

Sie schwieg. Nach einer Weile fuhr er fort: »Nun fehlt mir nur noch eine Frau, und eine anständige Frau muß das sein, wo die Kunden sicher sind, daß sie nicht die Finger mit wiegt. Denn reell muß es bei mir zugehen. Wer ein Geschäft machen will, der muß reell sein. Geborgt wird auch nicht bei mir. Die Borgkundschaft mag bei den andern bleiben. Hier Geld, hier Ware, heißt es bei mir.«

Damit hängte er die nunmehr auseinandergeschlagenen Hälften ab und legte sie auf den großen, sauber gescheuerten Tisch an seiner Seite, bückte sich zum Eimer und wusch die blutigen Hände und das Messer. Im Bücken fuhr er fort:

»Wüßten Sie vielleicht so eine Frau für mich, Fräulein?«

Er hatte sich aufgerichtet, trocknete die Hände und sah sie sieghaft an. Sie begriff nicht recht, da sie noch tief in Gedanken versunken war, und fragte mechanisch: »So eine Frau ...«

Plötzlich umarmte er sie und wollte sie küssen, erschreckt schob sie ihn mit beiden Händen von sich fort und schrie auf.

»Na, ich bin doch ein ordentlicher Kerl,« rief er verwundert. »Lassen Sie mich, lassen Sie mich los,« sagte sie, indem sie sich von dem Erstaunten freimachte. Er wendete ihr den Rücken, ging zum Tische und zirkelte mit dem Messer auf der Schwarte der einen Hälfte, um den Schinken zu lösen; dabei pfiff er verdrießlich zwischen den Zähnen ein Lied. Plötzlich drehte er sich um, er hörte sie weinen.

»Was ist denn, Fräulein? Ich hab' es doch nicht böse gemeint,« sagte er gutmütig. Wie sie ihm nicht antwortete, fuhr er fort: »Unsereins hat ja zu wenig Gelegenheit, daß man die feinen Manieren lernt. Aber Sie hätten es gut gehabt bei mir.«

»Das weiß ich,« antwortete sie. »Es tut mir ja so leid, daß ich ...« sie stockte.

»Ja, dem Herzen kann man nun eben nicht befehlen,« sagte er betrübt. »Wenn es einmal nicht will, dann will es nicht. Aber Sie hätten es gut gehabt bei mir. Ich verlange ja gar nicht die grobe Arbeit, nur im Laden muß die Frau sein. Das weiß ich ja, daß Sie gern lesen, das hätten Sie ruhig gedurft bei mir, denn mir macht's doch selber Spaß, wenn meine Frau bei mir zufrieden ist.«

Stockend sagte sie: »Ich habe ja schon manche Vorschläge gehabt – aber Sie wissen doch das mit meinem Vater.«

»Ja, das weiß ich wohl,« erwiderte er, »und auch was von Ihrer Mutter erzählt wird. Ich stamme ja nicht aus der Gegend, aber wenn man heiraten will, so erkundigt man sich doch vorher nach allem. Ich habe mir Ihren Vater angesehen und Ihre Mutter, und dann habe ich mir gesagt: was geschehen ist, das ist geschehen, und es wäre ja besser, wenn es nicht wäre, aber Sie sind doch unschuldig an allem.«

»Ich habe es nicht deshalb gesagt,« sprach sie mit fester Stimme. »Meine Mutter hat einen Fehltritt getan und ist schwer genug dafür bestraft, und sonst kann ihr kein Mensch etwas nachsagen, und uns hat sie aufgezogen und hat uns alles geopfert, ich bin ihr Kind, und mir stände es nicht an, ihr Vorwürfe zu machen, und ich glaube, unser Vater im Himmel wird ihr auch vergeben, wenn er bedenkt, wie sie nachher gelebt hat. Und mein Vater ist verwirrt gewesen und seiner Sinne nicht mächtig, das ist mein fester Glaube, der geht jedem Wurm aus dem Weg, damit er ihn nicht zertritt. Ich kann ja nicht stolz sein auf meine Eltern, das weiß ich wohl; aber ich brauche auch nicht – deshalb brauche ich auch nicht – nein zu sagen.«

Der junge Mann schöpfte neue Hoffnung; sie stand vor ihm in gesunder Schönheit, hochgewachsen und breitschultrig mit blitzenden Augen. »Wir gäben doch ein schönes Paar,« sagte er.

Sie schüttelte traurig den Kopf und erwiderte: »Ich habe es mir ja schon überlegt. Ein Mädchen weiß es doch, wenn sie einer gern hat. Und ich hätte ja auch wohl den Mut, wenn das mit meinen Eltern nicht gewesen wäre, aber das ist es, was mich nachdenklich gemacht hat. Wie ist es denn mit meiner Mutter gegangen? Wenn sie meinen Vater so geliebt hätte, wie es eigentlich sein muß, so hätte sie doch den Herrn nicht lieb haben können, und dann wäre das ganze Unglück nicht gekommen. Deshalb meine ich, man muß den Ruf hören, und wenn man den Ruf nicht hört und nicht denkt: nun ist mir alles andere einerlei, dann ist es besser, man sagt nein.« Sie wischte sich mit der Schürze die Augen, reichte ihm die Hand und schloß: »Seien Sie mir nicht böse, ich habe den Mut nicht; ich habe Sie ja gern, aber ich höre den Ruf nicht.«

Er wendete sich ab und ging zu seiner Arbeit. Sich bezwingend sagte er: »Das ist ja alles richtig, und Sie tun ja recht«; damit warf er den gelösten Schinken in das Pökelfaß und machte sich an die andere Hälfte. Dann fuhr er fort: »Ich habe ja den Ruf gehört, aber das ist ja nun wohl mein Unglück.« Er versuchte, sich stark zu machen, und schloß scheinbar gleichgültig: »Es gibt ja noch andere Mädchen.«

Plötzlich warf er alles aus der Hand auf den Tisch, trat zu ihr, griff mit beiden Händen ihre Hände, die Tränen rollten ihm aus den Augen in das frische Gesicht, und er sagte: »Nein, ich bin Ihnen nicht böse, Fräulein, und vielleicht überlegen Sie sich's doch noch.«

Das Mittagessen versammelte die Familie mit dem Metzger in der Küche. Jeder hatte ein Stück Kesselfleisch vor sich, Brot und Salz, und sie aßen alle schweigend. Die Mutter seufzte einige Male und sah Margareten an; diese verspürte, daß sie die mißglückte Werbung des jungen Mannes gemerkt hatte, der nun niedergeschlagen und stumm auf der Eimerbank zur Seite saß. Sie wurde rot und machte aufs Geratewohl eine Bemerkung über das geschlachtete Schwein. Die Mutter wischte sich die Tränen aus den Augen.

Die Haustür klingelte, ein Gast trat ein. Es war ein Handwerksgeselle, der Arbeit suchte, ein Schneider. Er bestellte sich ein Glas Milch und zog ein mitgebrachtes Brot aus der Tasche. Unwillkürlich erweckte die eigentümliche Figur des Mannes die Aufmerksamkeit der anderen: er war lang, hager, mit eckigen Bewegungen, einem langen, bartlosen, blassen und sommersprossigen Gesicht. Frau Maurer sagte ihm, daß der Schneider unten im Dorf einen Gesellen suche. Der Fremde faltete die Hände und schien ein kurzes Gebet zu sprechen, auf die verwunderten Blicke der anderen erklärte er, Gott habe wieder einmal als Vater für sein Kind gesorgt, denn das Zehnpfennigstück, das er hier für das Glas Milch ausgeben müsse, sei sein letztes Geld. Verdrießlich, in dem unklaren Drang, seinem Kummer durch irgendwelche Händel Luft zu machen, erwiderte der Metzger, Gott werde sich wohl nicht um jeden wandernden Schneidergesellen bekümmern, der habe wichtigere Dinge zu tun, da seien die Kaiser, Könige, Minister und Reichstagsabgeordneten, von denen so viel in der Welt abhänge. Seufzend erwiderte der Schneider: »Gott hat Sie gestraft, Bruder, nehmen Sie seine Strafe in Demut an.« Der Metzger brauste auf, um seine Angelegenheiten habe sich keiner zu kümmern; Frau Maurer beschwichtigte, indem sie ruhig sagte, in ihrem Hause dulde sie seinen Streit.

Die Gegner schwiegen, der Metzger hatte seine Mahlzeit beendet und ging mit kurzem Gruß in den Hof hinaus. Die Mutter sagte zu Margareten: »Es wäre mir eine große Sorge weniger gewesen,« Margarete schüttelte den Kopf. Der Schneider sprach: »Sorgen Sie sich nicht zuviel, das Fräulein geht seinen Weg«; und wie ihn die Mutter fragend ansah, erklärte er: »Ich sehe manches im Angesicht der Menschen geschrieben.«

Die beiden jüngern Schwestern kicherten und stießen sich leise mit dem Ellbogen in die Seite. Der Schneider sah sie freundlich an und sprach: »Jugend hat ihre Zeit, lachen Sie und freuen Sie sich, aber vergessen Sie nicht das eine, das not tut.« Vorlaut fragte die Jüngste: »Was tut denn not?« Er sah sie wieder ruhig und lächelnd an, sie blickte zur Seite und zupfte an ihrem Schürzenband. Er antwortete: »Gott schickt jedem Menschen einmal einen Tag, wo er verzweifelt, denn er sieht ein: ich bin böse durch und durch. Da soll er denn denken, daß Gottes Sohn für uns am Kreuz gestorben ist und uns erlöst hat von unserer Schuld; aber wenn Christus nicht gewesen wäre, so wäre er verloren. Sie werden meinen, das ist das gewöhnliche Gerede, das ich hören kann, wenn ich in die Kirche gehe und der Mietling predigt der Gemeinde, der ein großes Gehalt dafür bekommt, daß er Gott verleugnet und macht, daß andere Gott verleugnen. So will ich Ihnen sagen, daß ich das selber erlebt habe an meinem eigenen Leibe, denn aus Zorn wäre ich beinahe ein Mörder geworden an einem Mitgesellen, indem ich ihm heimlich auflauerte und nach ihm stach, und nur durch einen Zufall verletzte ich ihn bloß leicht. Damals war ich auch ein Ungläubiger und Spötter. Aber dann wurde ich gefangen genommen und verurteilt und mußte meine Strafe abbüßen unter andern Verbrechern, und da fand ich, daß ich nicht besser war wie der Schlimmsten einer, und sagte mir: du bist ein Mensch mit gesunden Gliedern und gesundem Verstand, und hast einen Menschen ermorden wollen, und das nicht zufällig, sondern du bist in deinem Herzen ein Mörder; wie ist denn das möglich? Bist du denn dazu erschaffen? Und ich fand: Ja, ich bin dazu erschaffen. Da dachte ich an Jesus Christus, der Gottes Sohn war und unschuldig, und gekreuzigt wurde, und seinen Feinden vergeben hat, und da wurde ich wiedergeboren, und das erste war, daß ich demütig wurde. Und zuerst freilich hielten mich die Beamten für einen Heuchler, und das ist wohl natürlich, denn wie konnten sie mir glauben; aber ich bin wiedergeboren, weil Gott sich meiner angenommen hat, und wenn ich mich ansehe, so weiß ich selber nicht, weshalb, denn vorher war ich stolz, dumm, gedankenlos, rachsüchtig; und wie ein wildes Tier und nicht wie ein Mensch; aber wahrscheinlich hat Jesus Christus im Himmel dem Vater seine Wundmale gezeigt, seine Hände und Füße und Seite, und hat Gott für mich gebeten und hat gesagt: diesen Sünder will ich haben, und da hat Gott bewirkt, daß ich wiedergeboren bin, denn für den sein eingeborener Sohn bittet, dem hilft er. Dann hat der Pastor lange mit mir gesprochen, aber er hat mir auch nicht glauben wollen, und dann ist der Arzt gekommen, und ich habe ihm Rechenexempel lösen müssen, weil er meinte, ich sei geisteskrank. Aber die andern Gefangenen haben wohl zuerst über mich gespottet, aber nachher haben mir viele auch geglaubt; und dann war meine Zeit zu Ende, und ich wurde aus dem Gefängnis entlassen, und nun habe ich an manchen Stellen gearbeitet, denn es treibt mich, daß ich wandern muß und muß zeugen von Gott, und überall haben mir die Leute geglaubt, wenn ich zu ihnen spreche, und viele haben sich auch zu Gott bekehrt.«

Die fünf Frauen hatten dem Schneider aufmerksam zugehört und waren bewegt von seinen Worten. Er aber klappte sein Taschenmesser zusammen, mit welchem er sein Brot gegessen, tupfte mit dem Finger die Brotkrumen auf und aß sie, trank sein Glas aus, suchte in seiner Geldtasche das Zehnpfennigstück, legte es vor die Wirtin und erhob sich zum Gehen.

Wie er in der Tür stand, sagte er noch: »Alle Tage geschehen die Wunder Gottes und rührt Gott an das Herz der Menschen. Wie ich vorhin durch die Stadt kam, da standen die Leute vor dem Gefängnis und erzählten, daß ein Mann gekommen ist, den hat das Gewissen gedrückt, und er hat einen Mord gestanden, den er vor mehr wie neunzehn Jahren begangen. Aus diesem Dorf hier soll der Mann gewesen sein, und den Mord hat er an seinem Herrn begangen.«

Margarete erhob sich kerzengerade, todbleich sagte sie: »Der Vater!« Die Mutter schrie laut auf, die anderen Mädchen waren stumm, dann warfen sie sich jammernd auf die Mutter.

Der Metzger erschien in der Tür, und indem er nicht verstand, was vorgegangen, faßte er den Schneider am Arm und schüttelte ihn. »Laß ihn,« rief Margarete. Er ließ ihn los und sah ihn an, sah dann die anderen an. Der Schneider holte seinen Hut, der ihm vom Kopfe gefallen und unter die Bank gerollt war, und stand verlegen da.

»Mein Vater hat sich selber angezeigt, daß er vor neunzehn Jahren seinen Herrn erschossen hat,« sagte Margarete zu dem Metzger. Dieser stand bestürzt, dann ging er auf sie zu, faßte ihre Hand und sprach: »Was ich gesagt habe, das habe ich gesagt, wenn Sie mich nehmen wollen, so gehe ich gleich zum Standesamt und melde das Aufgebot an.« Da stürzten zuerst auch Margareten die Tränen aus den Augen und sie sagte: »Ich will Ihnen wünschen, daß Sie eine bessere Frau bekommen, wie ich bin.«

Der Schneider trat vor die Mutter, und man verspürte die Bewegung seines Herzens an seiner Stimme, indem er sagte: »Nehmen Sie es nicht für ungut, ich habe nicht gewußt, daß es Ihr Mann ist. Und nun beten Sie zum Herrn Jesus.« Niemand antwortete ihm. Da warf er sein Bündel wieder ab, legte seinen Hut auf den Stuhl, kniete mitten in die Küche nieder und begann selber zu beten: »Herr Jesus, du hast deinem himmlischen Vater beide Wunden gezeigt und hast ihn angefleht um mich, der ich ein Verlorener war, ein Mörder, und Gott hat mich lassen wiedergeboren werden. Nun flehe ich dich an für diese Frauen hier, die gute Leute sind, und auch für diesen Mann, der bei ihnen steht, bitte auch für sie bei deinem himmlischen Vater, denn sie sind es mehr wert, wie ich es damals war. Aber vielleicht ist es so, daß du dich nur der großen Sünder annimmst und die anderen lässest. Oh, so lasse diese hier in große Sünden verfallen und schone sie nicht, daß sie ganz zerknirscht werden, und dann nimm sie auf zu dir und führe sie zu deinem himmlischen Vater.«

Nach diesem Gebet stand er still auf, nahm seine Sachen und ging aus dem Haus.

Eine Weile blieb die Familie stumm beisammen. Dann sahen sich Margarete und Martha, die zweite Tochter, an; Margarete sagte: »Ihr müßt die Arbeit allein fertig machen, ich will mit Martha meinen Vater besuchen.« »Er ist nicht dein Vater,« sprach stumpf die Frau. »Ich weiß es, daß er es nicht ist, aber er hat als Vater an mir gehandelt,« erwiderte Margarete.

»O Gott, du hast mich gestraft für meine Sünde, schone meine Kinder, schone meine Kinder!« schrie die Mutter. Margarete ging zu ihr und küßte sie auf die Stirn. Da sagte sie: »Tut, was ihr für recht haltet, du bist immer gut gewesen.« Die beiden stiegen die Treppe nach oben, ihren Arbeitsanzug abzulegen und sich für den Weg umzuziehen.

»Wie kann mir denn Gott vergeben, wenn ich meinem Mann nicht vergebe? Aber ich kann ihm nicht vergeben,« jammerte die Frau.

Der Metzger sagte: »Wo liegen die Rindsdärme? Sie müssen eingeweicht werden.« Die Frau ging zum Küchenschrank, holte ein Paket vor, schnürte es auf; der Metzger nahm die Därme heraus, zog sie lang, hielt sie prüfend gegen das Licht und verließ die Küche. Die jüngste Tochter wusch das Glas, aus dem der Schneider getrunken, und stellte es an seinen Ort, dann räumte sie die Holzteller und Messer zusammen, wusch und trocknete alles, die beiden andern Frauen wischten den Küchentisch ab und machten sich wieder an ihre Arbeit.

*

Herr Steinbeißer verließ das Haus, ging durch den Park zum Kohlberg hin und stieg in den Wald hinauf. Der Blick verlor sich zwischen den hellgrauen Säulen der alten und hohen Buchen, unter denen die rotbraunen Blätter des vorigen Jahres sich am Boden kräuselten, die Bäume trugen auf starken, emporstrebenden Ästen hoch oben das grüne sonnendurchleuchtete Gewölbe; runde Sonnenflecke spielten am Boden, kein Laut war. Ein Eichhörnchen huschelte langgestreckt über den Weg, sprang an einem Baume hoch und sah neugierig mit schwarzen Perlenaugen um den Stamm herum nach dem stillen Gänger; der hielt die Arme auf dem Rücken und schritt gebückt langsam weiter.

Auf dem Wege vor ihm hatte ein großer Tausendfuß einen starken Regenwurm gepackt; er hielt ihn in der Mitte und saß festgebissen wie ein Raubtier auf dem krampfig sich windenden und weitergleitenden Wurm. Dieser Tausendfuß folgte nur seinem Trieb, er wußte nichts von den Schmerzen des Wurms, und dieser, waren dessen Schmerzen denn bedeutender, wie wenn Gras gemäht wird? Er hat vom Gesichtssinn so viel, daß er Hell und Dunkel unterscheiden kann, ist er mehr als ein belebtes Fleischstück? Ist nicht sein Zweck, daß er die Beute des andern ist? Und wenn ein gedankenloser Mensch die Beute eines Mannes wird, der Willen hat, ist das nicht auch sein Zweck, daß er von diesem getötet wird? Was wir Gewissen nennen, ist ja nur ein Reflex, nicht mehr wert, wie irgendein Trieb; nur unsere Gedanken machen ihn wichtig.

Er ging langsam auf einem Holzabfuhrweg, zu beiden Seiten waren tief eingeschnittene Geleise, in denen klares Wasser bergab schoß, unter überhängendem, zartgefiedertem Moos. Seit dem Frühjahr war hier kein Wagen gefahren; wenn jetzt die Holzfuhren wieder begannen, so wurde das zarte Moos zerquetscht, das klare Wässerchen wurde lehmig, die Hufe der Pferde stampften sich tief ein, und trübes Wasser sammelte sich in den Spuren; nach Tagen noch, wenn längst schon das Knarren der Wagen, das Rufen der Fuhrknechte, das Knallen der Peitschen verstummt war, rann das Wasser lehmig in den zerrissenen Geleisen, es war eine Welt zerstört von zierlichen und anmutigen kleinen Pflanzen und wunderlichen Tierchen. Aber dann wurde das Wasser wieder klar, die zerquetschten Pflänzchen bekamen neue Sprossen, neue Tiere wimmelten wieder, und es war, als sei nichts gewesen. Wenn es einen Gott gäbe und er sähe das Leben der Menschen, und er sähe die Geschlechter sich ablösen in Minuten, die Jahrhunderte und Jahrtausende in Stunden, könnte ihm das denn wichtiger scheinen, wie uns die Radgeleise mit ihren Lebewesen?

Aber wie? Wenn er sein Leben bedachte, so war es Arbeit, Sorge und Entsagung gewesen. Lohnte es sich denn zu leben, wenn das des Lebens Inhalt war und nichts weiter? So lange, seit so langen Jahren hatte er nie an solche Dinge gedacht, er hatte nur Risse und Berechnungen, Lohnlisten und Einnahmebücher durchgesehen; sein Körper hatte mechanisch gelebt, wie der Körper eines Pferdes, das morgens eingespannt wird und abends ausgesielt in den Stall stolpert; und sein Geist, das waren die Überlegungen und Sorgen gewesen um den Betrieb und um die Leute, ein äußerliches Bedenken, wie er den Betrieb ertragreicher machen, die Leute besser stellen konnte; er war nur der Verwalter der Bergleute, deren Arbeit und Lohn er verteilte, und der Fabriken, denen er Braunstein schickte, damit sie Sauerstoff herstellten.

Hatte dieses Leben denn mehr Sinn wie das Leben des Wurms, der gegen Abend aus seinem Loch kommt, ein Blatt sucht, es zu sich hineinzieht und einem Tausendfuß zur Beute fällt als ein lebendiges Stückchen Fleisch?

Zuletzt war auch bei ihm selber wohl alles nur ein Trieb gewesen, ein Trieb etwa, einzurichten, zu leiten und zu herrschen – der Landrat meinte ja, er sei ein Despot – und das war alles, was er in seinen jungen Jahren sich gedacht hatte: Menschen glücklich zu machen, das Gute zu tun, ohne an Gott und ein Fortdauern der Seele zu glauben, das war nur eine gedankliche Umhüllung eines Triebes, der an sich gleich war etwa dem Trieb eines Mörders.

Eines Mörders – er hatte nie sein Gewissen gespürt. Er verachtete seinen Bruder zu sehr, es war vernünftig gewesen, daß dieser gänzlich überflüssige Mensch verschwand. Nun hatte Maurer gestanden; vielleicht verfolgte man die Spuren weiter, vielleicht deckte man jetzt noch, nach langen Jahren, alles auf: er wunderte sich, daß er gar keine Furcht hatte.

Zwei von den zierlichen kleinen Meisen huschten vor ihm im Laub; plötzlich kam in sein Herz eine furchtbare Traurigkeit, ein grausiges Mitleiden mit sich selbst: Wie, so hatte er gelitten in diesen Jahren, daß er noch nicht einmal Furcht empfand, verurteilt zu werden! Er war doch ein Brudermörder. Und hier huschten zwei Meisen vor ihm – selbst jener Wurm hatte sich gewehrt wie er konnte für sein Leben, sein ganz gleichgültiges Leben, und er, ein Mensch, welcher auf der höchsten Höhe stand, hatte nicht Furcht!

Da war es, als ob eine andere Stimme in ihm sprach: »Ich bin tot.«

Plötzlich blieb er stehen. Ein großer fast viereckiger Kalksteinblock lag da, halb vergraben unter den lockeren Blättern, an einigen Stellen bewachsen mit dünnem Schattengras, das an der Oberfläche glänzt. Vor langen, langen Jahren war er mit seinem Bruder und seiner jetzigen Frau hier gewesen, sie waren damals alle drei junge Menschen, noch nicht zwanzig Jahre alt. Alles hatte sich geändert, nur der Steinblock war geblieben. Damals waren die Buchen hier dünn, er erinnerte sich, man hatte wohl kurz zuvor geschlagen, und eine im Schatten allzu hoch gewachsene Buche hatte sich wie im Halbkreis über den Block gebogen, bis zur Erde fast. Es war Mittag gewesen, und die Stelle war blau von Leberblümchen; er hatte eine Blume pflücken wollen für Angelika, aber dann hatte er sich gescheut; Kurt eilte hin, er zertrat die zierlichen Blumen, riß gedankenlos Blüten ab mit der Wurzel und brachte sie zurück; Angelika dankte ihm und steckte das Sträußchen in ihren Gürtel; er sah, wie die Blütenblätter abfielen, sie sah es nicht und auch Kurt nicht; nach langer Zeit erst sagte sie: »Ach, mein schöner Strauß ist ganz entblättert«; er antwortete: »Man muß sie sehr vorsichtig anfassen.« Über diese Bemerkung lachte sie.

Solange war das her, und es war ihm doch, als wäre es gestern gewesen. Er fuhr sich über das Gesicht und spürte die harte Haut, die Runzeln. Er trat näher an den Stein und tastete mit seinem Spazierstock, schob die dürren Blätter weg. Diese Jahre waren nun das Leben gewesen! Gleichgültig, gleichgültig war alles.

Wie, wenn er jetzt plötzlich weinte? Es wäre doch merkwürdig, wenn er plötzlich weinte. »Ich bin ja ein alter Mann,« dachte er; vor einigen Tagen hatte er zufällig im Dorfe gehört, wie ein Fremder nach ihm gefragt hatte; der »alte Herr« hatte er gesagt.

Damals hatten sie von weitem zwischen den Bäumen zwei Weiber erblickt, die Reisig sammelten; als die sie sahen, warfen sie alles Gesammelte fort und flohen. Heute war der Wald still und menschenleer, niemand im Ort war noch so arm, daß er im Walde Reisig sammeln mußte. Hätte er sich damals das so deutlich gemacht, daß das durch ihn selber geschehen würde, so hätte er gewiß gemeint, er müsse sich dann sehr freuen, daß ihm das so geglückt sei; aber nun freute er sich nicht, »gleichgültig, gleichgültig!« murmelte er.

Er ging weiter und dachte, er wolle sich eine Erholung bereiten; aber wie? Reisen? Wohin? Er mochte auch nicht mit Menschen zusammen sein; es fiel ihm plötzlich auf, daß er keinen Menschen hatte, zu dem er irgendwelche Kleinigkeiten sprechen könnte. »Ein trauriges Leben, ein trauriges Leben,« sagte er kopfschüttelnd.

Nun hörte der Buchenwald auf und es begann Fichtenwald. Hier waren die Stämme rot, der Boden war unbelebt, und glatt durch die Fichtennadeln, furchtbar einsam war es in dem Wald.

Gleichmäßig erhoben sich die Bäume, ruhig, unbewegt. Da war es, als ob ein Entzücken plötzlich über ihn komme. »Was treibt mein Herz?« dachte er, »diese Bäume stehen und harren, ruhig, unbewegt,« und ihm war, als ob alles von ihm fortfließe und als ob er sich auflöse und gleich werde mit den Bäumen und eins mit allem, unter dem Himmel, wo jetzt wohl leichte Wolken ziehen; langsam steigt die Feuchtigkeit durch die Wurzeln hoch und verteilt sich in die Zweige und Nadeln, und entflieht aus den Nadeln in die sonnenscheindurchtränkte Luft, und ruhig setzt der Baum einen Jahresring an in jedem Jahre, schiebt seine Spitze höher, treibt neue Nadeln hervor, läßt alte braun werden und abfallen, verwesen und wieder Nahrung werden für seine Wurzeln. Und wenn seine Zeit kommt, so wird er geschlagen, und er sinkt um, er wird zersägt und gespalten, Fingerhut und Johanniskraut wachsen auf der Blöße, junge Bäumchen werden angepflanzt, breiten sich, schließen sich zusammen, wachsen in die Höhe, und langsam in langen Jahren werden sie zu so ruhigen Bäumen wie diese da. Ach, was kann mir denn geschehen, was ersehne ich, was fürchte ich? Ein Baum bin ich unter diesen Bäumen.

Er ging weiter, die Höhe hinauf. Ein Köhlerpfad zweigte sich zur Rechten ab, wie er getreten wird, wenn der Köhler von seiner Bucht aus zu den entfernteren Meilern geht, um sie zu regieren. Wieder tauchte eine Jugenderinnerung in ihm auf, denn als Kind war er gern zu den Köhlern gegangen, hatte mit ihnen in ihrer Bucht gesessen und ihren Erzählungen gelauscht. Da kam er zu einer großen Lichtung, und im Hintergrunde lag eine Bucht. Fichtenstangen waren in einem Kreise schräg in die Erde geschlagen und an den Spitzen durch eine gedrehte Weidenschleife miteinander verbunden, über dieses Gerüst war frische Fichtenrinde gedeckt; vorn blieb eine Öffnung als Tür, vor welcher auf vier Stangen ein großer Borkenstreif angebracht war, um den Schlagregen aus dem Innern der Bucht abzuhalten. Ein lustiger hellblauer Rauch kam oben aus der Spitze, welche nicht ganz zugedeckt war.

Vor der Tür saß auf einem Stufen ein alter Köhler und sprach zu einem Huhn, welches vor ihm stand und ihn ansah. Wie er die Schritte hörte, richtete er sich auf und spähte nach der Richtung, das Huhn ging mit gemessenen Schritten fort, kratzte dann und pickte. Ein struppiger Hund erhob sich, schnupperte nach der Richtung, schwieg aber, nachdem ihm klar geworden, daß der Fremde nichts Übles wollte. Der Köhler ging Herrn Steinbeißer entgegen, er war ein uralter Mann von wohl neunzig Jahren von riesenhafter Figur mit strammer Haltung; er reichte ihm die Hand und rief: »Erweist mir der junge Herr noch einmal die Ehre!« Steinbeißer erkannte ihn; als Kind war er oft bei diesem Manne gewesen, für den war er noch der junge Herr. Er schlug in die Hand des Köhlers, das schwarze Gesicht verzog sich zu einem freundlichen Lächeln, zwei Reihen weißer Zähne zeigten sich; er rieb sich das Kinn und sagte entschuldigend: »Die Stoppeln sind lang, es ist ja Sonnabend. Aber nun müssen Sie in die Bucht kommen und müssen eine Köhlersuppe mit essen.«

Da war alles wie vor langen Jahren – damals, als er das erstemal zu dem Köhler gekommen, war er ein Kind gewesen und der Köhler ein Mann in dem Alter, wie jetzt er selber; und es war, als wenn die Jahre nicht gewesen. Er bückte sich und trat in die Bucht; da brannte in der Mitte zwischen drei großen Steinen das Feuer, an den Wänden entlang waren die Kästen, in welchen der Köhler und seine Hulpen ihre Sachen aufbewahrten, auf denen als Betten mit Moos und Heu ausgestopfte Säcke lagen. Er setzte sich. »Rechts von der Tür, das ist unser Ehrenplatz,« sagte der alte Mann zu ihm. Dann holte er aus dem Kasten den großen Eisenkessel vor, füllte ihn aus dem Eimer vor der Tür mit Wasser und setzte ihn auf die Steine über dem Feuer, holte das große runde Zehnpfundbrot, zog seinen Taschenknief; und wie er den Knust abgeschnitten hatte, fragte er mit schlauem Blinzeln: »Suppe oder Knust?« »Erst Suppe, dann Knust,« antwortete lachend Herr Steinbeißer. Es fiel ihm plötzlich auf, daß er lachte. »Das ist das Richtige,« erwiderte der Köhler. Dann fuhr er fort und erzählte, daß er sich jetzt immer Butter halte für die Suppe, denn den Rindertalg könne er nicht mehr so recht vertragen, auch habe er ein Huhn bei sich und schlage immer ein Ei hinein, er wolle sich doch auch pflegen auf seine alten Tage, man müsse etwas davon haben, wenn man so lange lebe. Inzwischen zerbrach er die geschnittenen Brotscheiben und warf sie in den großen irdenen Napf, holte die Butter vor, schnitt ein tüchtiges Stück ab und tat es dazu und wartete, daß das Wasser im Kessel kochen sollte. »Wissen Sie noch, junger Herr,« erzählte er, »damals hatte ich noch meine alte Schüssel, vor kurzem hat sie mein Bengel zerschlagen, das sind nun wohl auch schon so zwanzig Jahre her, wie die Zeit vergeht! – in der stand das Vaterunser von oben nach unten in Kreisen herumgeschrieben. Sie sagten immer: Geheiligt werde dein Name esse ich noch mit.« »Sie sind doch zufrieden?« fragte Steinbeißer. »Weshalb soll ich nicht zufrieden sein? Da wäre ich ja undankbar! Meine Kinder sind versorgt, auch meine Kindeskinder sogar, ich bin gesund unberufen und kann noch meiner Arbeit vorstehen, was will man mehr?« Hier begann der Kessel zu kochen, er nahm ihn mit den bloßen Händen vom Feuer, goß das Wasser über die Brotschnitten, stellte ihn fort, holte dann mit listigem Gesicht ein Ei, schlug es auf und tat es in die rauchende Suppe. Die Schale warf er vor die Tür, wo sich das Huhn eifrig auf sie losstürzte.

Nun holte er zwei hölzerne Löffel, reichte den einen Herrn Steinbeißer, behielt den andern, rückte ihm die Schüssel auf dem Fußboden zurecht und sagte: »Bedienen Sie sich nur erst, junger Herr, ich esse dann nachher; inzwischen wird der Knust geröstet.« Und während Herr Steinbeißer aß, legte der andere einen Rost über das Feuer, bestrich den Knust mit Butter und Mete ihn. Dabei sprach er allerlei: »Ja, junger Herr, Sie sind nun auch grau geworden, das macht das Stubenleben. Sie können wohl alles haben, was Sie sich wünschen, aber ein jeder Stand hat seine Last, ein jeder Stand hat seine Plage. Wenn wir tot sind, dann sind wir alle gleich, und dann ist es einerlei, ob wir reich gewesen sind oder arm. Sie können ja nun alle Tage Braten essen, aber deshalb schmeckt Ihnen die Köhlersuppe dazwischen doch auch einmal gut.«

Drei helle Schläge, dann ein kurzes helles Trommeln tönten durch den Wald. »Das ist meine Enkeltochter,« sagte der Alte, »die bringt mir das Brot für die Woche«; er ging an die Hillebille, das ist ein astloses Buchenbrett, das frei aufgehängt wird, und schlug mit dem Schlägel dagegen, es war die Antwort auf die Zeichen der Großtochter. »Nun ist sie in einer Viertelstunde hier,« sagte der Alte.

Inzwischen war auch der Knust geröstet, und Herr Steinbeißer verzehrte ihn mit Genuß. Da stand plötzlich ein großer Hirsch mit stattlichem Geweih vor der Tür, den Kopf zurückgeworfen und sichernd. »Hans, willst du dich auch dem jungen Herrn zeigen?« rief ihm der Köhler zu; der Hirsch sah nach ihm hin, die Anwesenheit des Fremden schien ihn zu stören, er wendete sich ruhig und majestätisch, zeigte seine Blume und ging langsam zwischen die Bäume. »Vor uns hat das Wild keine Furcht, uns kennen sie am Geruch, besonders die Hirsche,« erklärte der Köhler. »Dieser da kommt alle paar Tage und sieht in die Bucht, ob ich auch da bin, er hat mir schon viel Spaß gemacht. Das Vieh ist nicht so unvernünftig, wie man denkt.«

Plötzlich sah er aus der Tür, murmelte eine Entschuldigung und nahm seine Schürstange. Der Wind hatte sich etwas gewendet; Herr Steinbeißer folgte ihm, wie er zum Weiler ging; er verstopfte ein Loch mit Rasen und stieß ein anderes durch.

Nun kam die Enkeltochter über den Hai. Sie war eine blühende junge Frau, im Mantel trug sie ein Kind sorgsam eingewickelt, das mit großen blauen Augen ins Weite sah, auf dem Rücken hatte sie in einer Kiepe die Sachen für ihren Großvater: Brot, Butter, auch ein Stück Speck und Wurst. »Sehen Sie, was ich für Zugebröte habe,« sagte lachend der Alte, indem er seinem Gaste Speck und Wurst zeigte.

Die junge Frau setzte sich still auf den Stufen vor der Tür und reichte dem Kinde die Brust. Das Kind suchte mit dem Mündchen, verzog das Gesicht zu einem ungeduldigen Schreien, die Mutter half ihm ruhig nach, es bohrte sein Näschen in die Brust und saugte mit hörbarem Behagen. Glücklich blickte die junge Frau nieder; im Sonnenschein leuchteten die kleinen Härchen auf dem runden Kopfe des Kindes. Dann bog sie das Haupt etwas zurück, es war, als ob sie sich ganz dem Kinde hingeben wollte. Die beiden Männer standen schweigend da, der Großvater hatte mit glücklichem Gesicht die schwarzen Hände gefaltet; zwei Tränen kamen ihm aus den Augen und zogen langsam rinnend eine weiße Bahn durch das rußige Gesicht. Der Hund lag zu den Füßen der jungen Frau, den Kopf auf den Pfoten, als ob er durch die friedlichste Stellung, welche er hatte, die heitere Glückseligkeit des anmutigen Bildes vollenden wollte.

»Der wird kein Köhler mehr,« sagte der Alte, »unser Beruf stirbt aus. Aber der liebe Gott hat die Welt groß geschaffen, und wenn einer arbeiten kann und ordentlich ist, so findet er immer seinen Ort.«

Der Kleine setzte ab und machte eine Pause, indem er zu dem niedergebeugten Gesicht der Mutter aufsah. Sie tupfte ihm mit dem Finger auf das Näschen, die Bäckchen, das Kinn; sein Mund verzog sich zu einem breiten Lachen, es blieb einen Augenblick stehen; das Gesicht verfinsterte sich und ein kleines Aufstoßen folgte, dann kam das Lachen wieder; »du, du,« sagte die Mutter, er lachte laut; dann drehte er sich, als wollte er die beiden Männer ansehen; nach einem kurzen prüfenden Blick wendete er sich zurück und mit sachlicher Miene suchte er wieder nach der Stelle, wo er trinken konnte.

»Ja, so ein kleines Kind ist man nun auch einmal gewesen,« sagte gerührt der riesengroße schwarze Alte; die Enkeltochter, welche bis jetzt immer ruhig gesessen, lachte laut und rief: »Dich möchte ich nicht so haben, du würdest mich schön schwarz machen.« Auch das Kleine schien erstaunt zu sein, es hörte wieder mit Trinken auf und sah prüfend zum Großvater hinüber. »Ja, das ist freilich lange her,« sagte der und kratzte sich den Kopf, »nun legen sie mich bald in den Sarg, und dann geht's unter die Erde.« Die Enkelin sprach zu dem Kinde: »Hör nur, was der Großvater schwatzt! Der spielt noch einmal Ball mit den Knochen von uns allen!« »Ja, ja,« seufzte der Alte, »sterben müssen wir Menschen; schön ist es ja hier oben, aber wenn mich der liebe Gott haben will, dann will ich ihm gerne folgen; zu fürchten brauche ich mich ja nicht. Nur, wenn ich ihn um etwas bitten dürfte, dann möchte ich gern hier sterben, in meiner Bucht, weil ich doch nun mein ganzes Leben im Wald gewesen bin, denn wie ich erst zehn Jahre alt war, da hat mich mein Vater schon als Hulpe mitgenommen.«

Als Herr Steinbeißer nach Hause zurückwanderte, da wurde ihm zum ersten Male in seinem Leben klar, daß wir nicht nur für uns leben, sondern Doppelgänger von uns in der Meinung der andern Menschen haben, die wohl ein eigenes Leben führen mögen; er bedachte sich, daß manches Leiden kommen kann, wenn man diese Tatsache nicht beachtet, und daß mancher unbegreifliche menschliche Erfolg entsteht, wenn der Doppelgänger besonders liebenswürdig gestaltet ist. Und als er das eingesehen hatte, da fühlte er zu seinen alten Pflichten eine neue: ein solcher Mann wie der Köhler durfte doch nicht enttäuscht werden; und wenn nun alles zutage kam, wie es damals bei dem Tode des Bruders gewesen war, so wußte er jetzt, was er zu tun hatte: er mußte das schöne Bild des Doppelgängers schonen. Aber eine jede Pflicht gibt eine Begrenzung, jede Begrenzung macht uns ruhiger, denn am ruhigsten sind wir dann, wenn alle unsere Gedanken eine bestimmte und feste Bahn laufen. So fühlte er sich denn wieder als fester und bestimmter Mann, als er endlich den Weg zurück abwärts schritt, der ihn zu seinem Haustor leitete.

Inzwischen hatte seine Gattin eine wichtige Auseinandersetzung mit ihrer Tochter gehabt, welche in Schmerzen auf ihrem Bett lag, den gebrochenen Fuß in starrem Verband, und in ohnmächtigen Sätzen sich beklagend über das ärgerliche Mißgeschick.

Die Mutter saß aufrecht und steif am Bett, in allgemeinen Reden und Sprüchen zur Geduld ermahnend. »Du denkst ja gar nicht an mich bei deinen Worten, du denkst an ganz anderes,« rief ihr die Tochter ungeduldig zu. Die Mutter erschrak und beugte sich über sie. »Laß mich, beuge dich nicht zu mir,« sagte die Tochter.

»Ich kenne ja deinen Haß gegen mich; ich weiß nicht, wodurch ich ihn verdient habe, und ich mag es auch nicht wissen, denn seit Jahren schon hast du selber dich mir fern gestellt. Aber bezwinge dich wenigstens der Leute wegen, das muß ich dir befehlen; denn zu bitten habe ich ja nichts mehr von meiner Tochter,« antwortete die Mutter.

Angelika sah ihr ins Gesicht und sprach: »Weshalb hast du deinen zweiten Mann geheiratet?«

»Was willst du damit sagen?« fragte mit bebender Stimme die Mutter.

Angelika wendete ihr Gesicht zur Wand und suchte ein Schluchzen zu unterdrücken. Die Mutter nahm eine ihrer Hände, welche willenlos auf der Bettdecke lagen, hielt sie fest, und sprach: »Ich weiß es ja nicht, was zwischen uns getreten ist; und vielleicht bin ich selber schuldig, weil ich zu zurückhaltend war, um dich zu fragen; aber gegen ihr Kind sollte eine Mutter wohl nicht zurückhaltend sein, sie müßte auch ihren Stolz aufopfern, das habe ich nicht getan.« Plötzlich warf Angelika ihren Kopf herum, die Tränen überströmten ihr Gesicht, sie schlang den freien Arm um den Hals der Mutter. Mit einem Male aber nahm sie den Arm zurück, zog ihre Hand aus der Hand der Mutter, wendete das Gesicht wieder zur Wand und sprach: »Ich will nicht einem augenblicklichen Gefühl nachgeben, ich würde mich zur Mitschuldigen machen.«

»Zur Mitschuldigen?«

»Gestern hat ein Mann um meine Hand angehalten, ein Mann, den ich achte, und den ich – liebe; ich darf ihm ja nicht folgen, das wäre ehrlos von mir!«

»Ehrlos?«

»Ich würde ihn ja mit hineinziehen in – in unsere Familie!«

Die Mutter erhob sich in höchster Bestürzung und sagte: »Was ist das? Was liegt vor? Wovon sprichst du?«

Der Ausdruck im Gesicht der Mutter war so echt, daß Angelika erschrak; es wurde ihr klar, daß ihre Mutter nichts wußte von dem, auf das sie anspielte. »Verzeihe mir, Mutter,« schrie sie, »ich bin krank, ich weiß nicht, was ich rede.« Aber die Mutter faßte sie am Handgelenk und zwang sie, ihr in die Augen zu sehen, indem sie wiederholte: »Wovon sprichst du?«

»Nun, von deiner Heirat mit diesem Mann,« antwortete Angelika trotzig.

Die Mutter setzte sich wieder und sprach: »Ich bin ja niemandem Rechenschaft schuldig über meine Handlung, und am wenigsten dir. Indessen, ich brauche auch nichts zu verschweigen, es ist wohl besser für dich, wenn ich erzähle. Aber bedenke, daß ich erzähle, was eine Mutter ihrer Tochter sonst nicht erzählt, und schäme dich, daß du mich dazu zwingst; vielleicht wird dein hartes Gemüt erweicht, wenn du dich schämst.«

Und nun begann sie von ihrer Jugendzeit zu berichten, wie schon seit der Kindheit Heinrich Steinbeißer eine Neigung zu ihr gehabt, wie sie in unbegreiflicher kindischer Verblendung, obwohl sie sich ihm freundlich gesinnt fühlte, ihn doch immer abgestoßen, selbst gekränkt habe, was denn auf das ehrgeizige und stolze Gemüt des jungen Mannes schlimm wirkte.

»Du kennst ihn nicht,« unterbrach sie sich. »Ich habe noch keinen solchen Menschen gesehen, in ihm ist die reinste und selbstloseste Güte harter Stolz geworden.«

Heinrich Steinbeißer verschloß sich immer mehr, und nur wer ihn ganz genau kannte, der konnte seine wirklichen Gefühle verstehen. Dies Zurückweichen, während sie doch wußte, daß er sie liebte, erzeugte in ihr einen kindischen Trotz; sie ließ sich die Werbungen Kurts gefallen, den sie immer nur als einen liebenswürdigen Knaben betrachtet hatte, welcher durch eine starke Hand geführt werden mußte.

»Wie? Mein Vater ein Knabe, der geführt werden mußte?« rief Angelika aus.

»Du hast ihn nicht selber gekannt. Er gehörte zu den Menschen, die oft sehr lästig sind, solange sie bei uns verweilen, aber in der Erinnerung außerordentlich gewinnen.«

Die Mutter erzählte weiter und beschrieb ihre damalige Seelenverfassung so gut sie konnte. Sie hatte niemanden gehabt, dem sie sich anvertrauen mochte, der ihr das eigene Innere erklärte; aber ein unerfahrenes blutjunges Mädchen versteht sich selber nicht. Kurt war ihr angenehm, sie konnte mit ihm spielen, er ging auf alle ihre törichten Wünsche ein, und der Groll Heinrichs machte ihr Freude. So sagte sie denn, bei einer ganz zufälligen Gelegenheit, die für beide unerwartet kam, gedankenlos zu Kurt das bindende Wort. Heinrich reiste damals ab, seiner Studien wegen, wie er sagte.

»Er war mir nachher immer ein treuer Freund,« fuhr sie fort, »und ohne ihn hätte ich manches nicht so nehmen können, wie es nötig war. Ich kann dir ja nicht mehr über deinen Vater sagen, aber das wenigstens sollst du wissen, daß ich nie zu ihm aufblicken konnte; zu deinem Stiefvater habe ich immer aufgeblickt.«

Dann kam der plötzliche Tod. Kurt hatte viel Geld verbraucht in kurzer Zeit, Heinrich brachte mit großen Opfern alles wieder ins gleiche. Dann, nach Jahresfrist, heiratete er die Witwe seines Bruders.

»Aber es stand etwas zwischen uns,« sagte sie, indem sie tief errötete. »Ich weiß es nicht, was es war; indessen, ich habe mir immer gedacht, daß ich ihn damals zu tief verletzt hatte, daß er nun mit allem Willen die Scheu nicht verwinden konnte, die er vor mir empfand. Ja, es war Scheu. Wenn er mir die Hand reichen wollte, plötzlich zuckte er zurück.« Sie sprach leise und verbarg das erglühende Gesicht in den Händen. »Vergiß nicht, was es mich kostet, so zu dir zu sprechen. Er ist mir immer nur der Freund gewesen, nie der Gatte.«

Nun war es still im Zimmer. Nach einer langen Zeit fuhr die Mutter fort:

»Ich weiß, daß gestern der Landrat mit dir gesprochen hat. Prüfe dich, ob nicht eine Unvernunft, ein Hochmut oder eine Lust zu Grausamkeit in dir ist. Was eine Frau Unrechtes begeht, das rächt sich schwerer, wie das Unrecht der Männer, denn für einen Mann ist es ja manches Mal Pflicht, ein Unrecht zu tun.« Sie stand schnell auf und verließ das Zimmer.


 << zurück weiter >>