Otto Ernst
Vom geruhigen Leben
Otto Ernst

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Appelschnut und die Philosophie

Denkt euch einen wunderbaren Sommertag und einen Garten, der mit seinem grünen Rasen, seinen Obstbäumen, seinen turmhohen Kastanien, Akazien und Ulmen in einem Meer von Sonne treibt und dem es vollkommen gleichgültig zu sein scheint, zu welchen Ufern ihn die träumende Flut des Lebens trägt. . . . Denkt euch in diesem Garten eine Laube und in der Laube einen närrischen Menschen, der diesem Treiben widerstehen will und sich verankert hat an schweren, dickleibigen Büchern und an einem Tintenfaß, das wie ein unförmlicher schwarzer Fels aus der Sonnenflut emporragt . . . . Und riesige Ulmen und zarte Syringen und schwebende Schmetterlinge und stille Rosen schwimmen an ihm vorüber und singen im Traume: Uns ist's gleich, wohin es geht. Sie singen natürlich sehr leise; aber er hört es wohl. Aber gottlob hat er strengen Befehl gegeben, daß ihn niemand störe, weil es ein sehr schweres und sehr wichtiges Werk ist, an das er sich festgeschmiedet hat. . . . Und wie er eben über Kants Schematismus der reinen Verstandesbegriffe nachdenkt, schwimmen zwei große, sonnenhelle Augen vorüber und singen: Uns ist's gleich, wohin es geht. Die Augen gehören zu einem Gesichtchen, und das Gesichtchen gehört zu einem kleinen Mädchen Namens Roswitha. Der Mann in der Laube hat ihr den Namen Appelschnut gegeben, weil ihr ganzes kinderdummes Frätzchen einmal aussah wie ein runder rotbäckiger Apfel, der weiter nichts zu thun hat, als zwischen grünen Blättern zu schaukeln, mit der Sonne Versteck zu spielen und zu wachsen. Inzwischen ist der Apfel gewachsen und hat angefangen – was man so nennt –: zu denken; er hat sozusagen schon Gesichtszüge bekommen, und zwei emsige Augen sind unaufhörlich an der Arbeit, um Mund und Nase Aufklärung zu verbreiten. Gleichwohl hat Roswitha den Namen Appelschnut behalten, und wenn man erst hört, welcher unerhörten Dummheiten sie noch fähig ist, dann wird man das auch ganz gerechtfertigt finden. So tritt sie jetzt an den denkenden Menschen in der Laube heran und sagt:

»Pappa, wenn wir 'ne neue Wohnung kriegen, mit 'm Garten mein ich un mit 'm Birnbaum, un wenn dann welche 'runterfallen – die darf ich doch aufsammeln, nich?«

Was soll nun der denkende Mensch in der Laube dazu sagen? Die Frage steht mit dem Schematismus der reinen Verstandesbegriffe in keinem, aber auch gar keinem Zusammenhange! Er macht denn auch ein Gesicht, das zu der Tiefe seiner Gedanken in keinem Verhältnis steht und fragt:

»Wie? Was willst du?«

Der Mund und die zwei Augen wiederholen ihre Frage, und mit finsterer Stirn versetzt der Mann:

»Ja, ja – aber du mußt mich jetzt nicht stören, hörst du?«

»Nein,« verspricht das kleine Mädel und taucht wieder unter im Sonnenschein. Es sind reine Verstandesbirnen; aber ihr schmecken sie schon.

Kant sagt:

»In allen Subsumtionen eines Gegenstandes unter einen Begriff muß die Vorstellung des ersteren mit dem letzteren gleichartig sein, d. i. der Begriff muß dasjenige enthalten, was in dem darunter zu subsumierenden Gegenstande vorgestellt wird: denn das bedeutet eben der Ausdruck: ein Gegenstand sei unter einem Begriffe enthalten.«

Sehr wahr. Aber die Sonnenflut schwemmt wieder die beiden Augen heran, und unter den beiden Augen klingt etwas wie:

»Pappa: diese Gießkanne kann doch auch 'n Bett sein, nich?«

»Wie? was?«

»Ach, meine Puppe is jetz schon so groß, un nu kann sie doch nich mehr in der Wiege liegen, nich? un nu soll sie in Bett liegen, un nu hab ich doch kein Bett, un nu kann doch auch die Gießkanne mal 'n Bett sein, nich?«

Kann man die Vorstellung einer zerbrochenen Gießkanne unter den Begriff Bett subsumieren? Nein. Aber wer weiß, ob nicht die Gießkanne eigentlich ein Bett und das Bett eigentlich eine Gießkanne oder beide Dinge keins von beiden sind, da wir ja das Ding an sich nicht erkennen können? Also . . .

»Ja, Pappa?«

»Ja ja, die Gießkanne kann ein Bett sein! Nun sollst du mich aber nicht mehr stören!«

»Nein!« verspricht das kleine Mädel und zerfließt wieder in Sonnenschein.

»Nun sind aber reine Verstandesbegriffe, in Vergleichung mit empirischen (ja überhaupt sinnlichen) Anschauungen ganz ungleichartig und können niemals in irgend einer Anschauung angetroffen werden. Wie ist nun die Subsumtion der letzteren unter die erste, mithin die Anwendung der Kategorie auf Erscheinungen möglich, da doch niemand sagen wird: diese, z. B. die Kausalität, könne auch durch Sinne angeschauet werden und sei in der Erscheinung enthalten?«

Ich – der findige Leser wird bereits geahnt haben, daß der geheimnisvolle Fremde in der Laube kein anderer sei als ich – ich also verfolge gerade den Gedanken, daß der Mensch die Kategorie der Kausalität in die Erscheinungen legt wie Appelschnut ihr Kind in die Gießkanne – als auch schon da, wo das transzendentale Schema sein sollte, wieder die beiden runden Augen sind.

»Pappa, woher kommen eigenlich die kleinen Kinder?«

Ja, das ist auch so ein Fall, wo die Menschen zwei Vorgänge durch Kausalität verbinden, obgleich doch in den Erscheinungen kein Begriff der Kausalität enthalten ist. Es stimmt aber immer.

»Pappa!«

»Ja ja! Das kannst du jetzt noch nicht verstehen; das lernst du, wenn du groß bist.«

»M! Nächstes Jahr, nich? Denn bin ich doch groß, nich?«

»Nein, nächstes Jahr bist du noch nicht groß.«

»Wie groß bin ich denn nächstes Jahr?«

»So groß vielleicht.«

»M. Ich weiß, was ich thu: ich trink fix Milch, denn werd ich ganz größer!«

»Ja, das thu nur. Aber jetzt darfst du mich nicht wieder stören!«

»Nein. – – Weiß du was, Pappa?«

»Na?«

»Ich bin Rudi ganz böse.«

»So? Warum denn?«

»Wenn ich sag: der Storch soll bei uns 'n Baby bringen, denn sagt er immer: Nein, bei uns, un wenn ich denn sag: Nein, bei uns, denn sagt er immer immer wieder: Nein, bei uns. Das soll er doch garnich, nich? Der Storch soll doch bei uns 'n Baby bringen, nich?«

»Das glaub ich nicht, Appelschnut. Ich glaube, er bringt eins bei Rudi.«

Appelschnut wird sehr nachdenklich. Und dann spricht sie aus der Tiefe ihrer Sehnsucht heraus:

»Junge, ich möcht, das Fenster bleibte mal nachts bei mir offen; vielleich bringt der Storch uns dann 'n Baby, un denn sucht er, wo das kleinste Bett is, un denn legt er das gerade in mein Bett!! Meinst, ich bring das denn in eure Schlafstube? Nee! Wenn es schreit, denn mach ich sch–sch–sch–, denn wird es wohl bis morgens ruig sein. Da weck ich euch nich ers um!«

Was soll ich euch sagen, meine Freunde? Bücher, Kant und Tintenfaß sind schon weit, weit fortgetrieben und schwimmen im transcendenten Äther, und mein Kopf treibt wie ein kleiner Kinderkopf auf der Welle des Sommertags und läßt sich heben und läßt sich sinken und summt vor sich hin: Mir ist es gleich, wohin es geht.

Liebe und Ehe. Diese gewaltigen, schreckens- und schönheitsvollen Territorien – man sollte nicht glauben, welchen Raum sie in einem Kinderköpfchen einnehmen und was sie da für harmlos-ebene Fluren sind. Da lösen sich die schwierigsten und verworrensten Dinge glatt und leicht. Schon mit drei Jahren bekundete Appelschnut die Absicht zu heiraten, wenn sie groß sei, und zwar stand es für sie außer allem Zweifel, daß sie einmal ihren Bruder Erasmus heiraten werde. Als ihr dann jemand erklärte, daß man seinen Bruder nicht ehelichen könne, rief sie verzweiflungsvoll: »Wen soll ich denn aber bloß heiraten!« Diese Frage ist inzwischen ihrer Lösung näher gerückt. Rudi, der Nachbarssohn, ein allerliebster kleiner Blondkopf und ihr ständiger Spielgefährte, hat bis jetzt die meisten Aussichten auf ihre Hand. Aber wer kann dem Flattersinn der Weiber trauen? Im Seebade lernte Appelschnut Gustav kennen, Gustav aus München. Sie sehen und sie lieben war für Gustav eins. Schon am dritten Tage ihrer Bekanntschaft trat Gustav vor seine Eltern hin mit der Frage: »Wenn ich groß bin, darf ich doch Roswitha heiraten, nicht wahr?« und erhielt das Jawort seiner Eltern. Auch Roswitha erklärte: »Gustav soll mein Vater werden.« (»Vater« hier so viel wie »Gatte«.) Meine Frau zeigte sich sehr bestürzt und machte ihr ernstliche Vorhaltungen. »Was ist das?« rief sie aus. »Gustav soll dein ›Vater‹ werden? Was wird denn aus Rudi? Ich denke, der soll dein ›Vater‹ werden!«

Appelschnut schürzte verächtlich die Lippen.

»Der will ja was anderes werden! Der will ja Eisenbahnmann werden.«

Dieselbe Anpassung wie vom Vater sein hat sie löblicherer Weise auch vom Mutter sein; sie betrachtet es als Beruf. Aber – und hier muß ich nun leider dem »Verein zur öffentlichen Hebung der Moralität bei den Mitmenschen« einen furchtbaren Schreck einjagen – sie betrachtet das Ideal des Mutterwerdens vollkommen unabhängig vom Heiraten. Sie hat lange geschwankt, ob sie Schneiderin oder Mutter werden wolle. Schneiderin, wenn man's bedenkt, ist ja sehr schön: man kann sein ganzes Leben lang Puppenkleider machen. Was wunder, daß Roswithen daher ein Stein vom Herzen fiel, als ihre Mutter ihr eines Tages erklärte, daß sich beides sehr wohl vereinigen lasse.

»O ja!« rief Appelschnut glückselig. »Was werd ich denn erst, Mamma?«

»Na, zuerst wirst du wohl Schneiderin.«

»O ja, un denn werd ich Mutter! Grade so wie Fräulein Annie, nich? [Frl. Annie ist unsere Schneiderin.] Die is auch Schneiderin, un nu wird sie bald Mutter, nich?«

Meine Frau hatte Mühe, ihr die Richtigkeit dieser Folgerung auszureden und Frl. Annies Ruf vor Schaden zu bewahren.

Ach, armer Gustav aus München, deine Sachen stehen schlecht! Du kannst nicht täglich zur Stelle sein, um deinen Vorteil wahrzunehmen, wie Rudi. Da kommt er um die Ecke durch den Garten geschlendert; sein goldblonder Lockenkopf ist wie Sonnenfunken, die sich auf grünem Meeresspiegel wiegen. Roswitha eilt jubelnd davon und umschlingt ihren Rudi, dem sie ganz böse ist.

»Mein süßer Rudi!«

Rudi ist ein männlich-herber Charakter; er erwidert nur mit einem halblauten »–switha?« Er ist überdies wieder mit einer Untersuchung beschäftigt. Er hat irgend etwas in der Hand, das er, wie alles, was er Auffallendes findet, beguckt, befühlt, behorcht und endlich mit der Zunge prüft. Er ist eine ausgesprochene Gelehrtennatur und führt mit Appelschnut zuweilen sehr tiefsinnige Gespräche. So hat er ihr u. a. die Überzeugung beigebracht: Wenn ein Regenwurm sterbe, dann gebe es Regen. Er verfügt denn auch schon über einen angemessenen Gelehrtenstolz. Eines Tages fragte er seine erwachsene Schwester:

»Du, Sabine, was war das man noch, was in der Schachtel von der Apotheke war?«

»Pulver.«

»Nein!«

»Pillen?«

»Nein!!«

»Kapseln?«

»Ja, aber was war das man noch?«

»Junge, ich versteh dich nicht.«

»Was so ist!« Und er zeichnete auf ein Stück Papier ein länglich-rundes Etwas.

»Ein Ei?«

»Nein!!!«

»Ach – meinst du vielleicht eine Ellipse?« fragte die Schwester zweifelnd.

»Ja, eine Ellipse!« schrie Rudi, und im nächsten Augenblick war er im Garten bei Appelschnut.

»Roswitha, weißt du, was 'ne Ellipse ist?«

»Nee,« versetzte Appelschnut mit herzlicher Entschiedenheit.

»O Roswitha,« rief Rudi mit Entrüstung, »wie bist du dumm! Du weißt nicht mal, was 'ne Ellipse ist!«

Da Appelschnut nun einen Gefährten hat, ist der Grund für mein Nichtsthun eigentlich hinfällig, und ich versuche denn auch, das transzendentale Schema wieder in Sicht zu bekommen und zu entern. Zu meiner großen Freude werde ich aber bald durch ein erregtes Gespräch wieder gestört.

»Ich bin doch älter,« ruft Rudi.

»Nein!«

»Doch!«

»Nein! Sieh mal, du bis doch fünf, nich? Un wenn wieder Sommer is, denn is mein Geburtstag, un denn bin ich auch fünf.«

»Denn bin ich sechs,« versetzt Rudi mit schnöder Kälte.

»Nein!«

»Doch!«

»Denn wer' ich auch sechs!«

»Denn werd' ich sieben.«

»Pfui, Rudi! – Pappa, Rudi will immer älter sein als ich.« Sie ist dem Weinen nahe.

»Ja, Schätzchen, das ist nun einmal so. Dagegen ist nichts zu machen.«

»Er soll aber nich älter sein!«

»Dscha–!«

Damit ist der eheliche Zwist wieder da. Jede Überlegenheit gesteht sie ihm zu; nur daß er älter und größer ist als sie, das ist für ihr Kraftbewußtsein ein unverwindbarer Schmerz. Empfand es doch ihre dreizehnjährige Schwester noch mit einem sanften Neide, daß ihr Bruder größere Stiefel tragen dürfe als sie; war sie doch überglücklich und stolz, als der Schuhmacher endlich erklärte, Kinderstiefel paßten ihr jetzt nicht mehr, sie müsse jetzt »Damennummer« tragen. Irre ich mich nicht, so kommt im Leben der Frauen eine Zeit, wo diese Schmerzen verstummen.

Rudi ist zur Rechten gegangen und Appelschnut zur Linken. Wenn aber Rudi sich einbildet, daß Appelschnut um einen Spielgefährten verlegen sei, dann irrt er sich: sie tanzt mit ihrem Schatten. Mit wunderlichen Kapriolen springt sie umher und bemerkt mit Vergnügen, daß der schwarze Schalksnarr ihr alles nachmacht. Sie scheint diesen Kameraden, des Menschen getreusten Gesellen und Persifleur, erst heute so recht kennen zu lernen.

»Was machst du denn da?« frag ich sie.

»Ich spiegel mich in der Erde.«

»So!«

Im nächsten Augenblick schießt sie wie ein Pfeil in die äußerste Ecke des Gartens. Eine Henne auf ihrem Beet! Auf Appelschnuts Blumenbeet! Diese Keckheit!

»Hast du sie weggejagt?«

»Ja. Die kommen immer wieder, die sind so frech, die Hühner! Aber wenn sie nu wiederkommen, weiß, was ich denn thu?«

»Na?«

»Denn schleich ich mich ganz leise hin un denn mach ich mit einmal ›Huuu!!!‹ Denn meinen sie, ich bin 'n Tiger, un denn werden sie bange un laufen weg.«

Man darf hieraus jedoch nicht schließen, daß Appelschnut ein Tigerherz im Busen trüge. Eines Tages lief sie mit meiner Frau um die Wette. Nach wenigen Schritten blieb sie stehen und ließ ihre Mutter ans Ziel gelangen. Meine Frau markierte einen großen Siegesjubel. Appelschnut aber wandte sich heimlich zu mir und sagte mit listig-lustigem Augenzwinkern: »Ich wollt' ihr mal 'ne Freude machen!«

Sieht das einem Tiger ähnlich?

Und als sie eines Tages auf meinem Schreibtisch eine Tüte bemerkte, da fragte sie vorsichtig:

»Was hast du mir man noch versprochen?«

»Was ich dir versprochen habe? Das weiß ich nicht.«

»Das fängt mit'n ›i‹ an.«

»Fängt mit einem ›i‹ an? Was ist das?«

»'n Bonbon!!«

Ach soo! Das wird wieder eine verbesserte Orthographie sein! Sie erhielt also einen Hustenbonbon; als sie aber mit dem Bonbon im Schnabel davongesprungen war zu ihrem Rudi, kam sie nach einigen Minuten wieder und rief:

»Du Pappa, weiß du was? Rudi hat noch nie in sein ganzes Leben geschmeckt, wie 'n Hustenbonbon schmeckt!«

Da aber der Vorrat an Bonbons erschöpft war, so konnte dem Erkenntnisdurste Rudis des Forschers kein Genüge geschehen. Als Appelschnut jedoch drei Tage später wieder einen Hustenbonbon bekam, war sie in drei Sprüngen an der Thür.

»Wo willst du denn hin?«

»Rudi bringen! Du weiß ja doch!«

Ich frage euch: welcher Tiger thut denn das? Welcher Dichter bringt einen Lorbeerkranz, der ihm gehört, zu seinem Kollegen und sagt: »Da, nimm du ihn!?« Es kommt ja wohl vor, aber gewiß nicht oft.

Ich hebe wieder den Blick und sehe die beiden tief Entzweiten in inniger Umschlingung auf dem Rasen sitzen und angelegentlichen Spieles pflegen. Und habt ihr einmal zugesehen, wenn zwei Kinder an einem Sommertage auf grünem Rasen unter Bäumen spielen? Habt ihr bemerkt, daß gleich die Sonne dabei ist und mitspielt, sie am Öhrchen zupft, ihnen die Locken durcheinander wirrt, die Hand auf den Kopf legt und ihnen tief in die Augen schaut? Habt ihr bemerkt, daß die Gräser und Blumen sich recken und einander über die Schulter sehen, um zuzuschauen, und daß die alten Ulmen und Kastanien sich innerlich – natürlich nur innerlich – schütteln vor Lachen und einander mit den Zweigen anstoßen und flüstern: Du, schau mal die beiden an!? Und nicht zu vergessen die Vögel! Kinder und Vögel sind Geschwister; sie sind des gleichen warmen und behenden Bluts. Darum hüpfen und springen und zwitschern in gemessenem Umkreis alle geflügelten Gäste unseres Gartens mit, wie fremde Kinder, die anfangs von ferne zuschauen und sich nicht ganz herantrauen, aber endlich mit fortgerissen werden in den Kreis der Freude.

Ja, Appelschnut ist gewiß ein Geschwister der Vögel; sie geht eigentlich nie; sie hüpft und tanzt ihre Lebensbahn dahin. Auch jetzt kommt sie herangehopst, und während sie mit mir spricht, tanzt sie ununterbrochen vor mir herum.

»O Pappa, wir spielen so fein!« (Hops, hops!)

»Ja? Was spielt ihr denn?«

»Wir spielen Schutzmann un Dieb (hops!) Rudi is der Schutzmann (hops!), un ich bin der Dieb (hops!). Un denn fragt er mich erst, wie ich heiß (hops!) un denn, wo ich wohn' (hops!) und denn (hops!) was ich gestohlen hab. Un denn sag ich das immer schnell, sons hält er mich fest, un das mag ich nich (hops!). Du mags doch auch nich so lange beim Schutzmann sein, nich Pappa?« (hops, hops!)

»Nein, das mag ich auch nicht.«

»Weißt du was, Pappa?«

»Na?«

»Wenn nu wieder Weihnach'n kommt, denn woll'n wir es mal in Garten feiern, nich?«

»Das wird wohl nicht gehen, Appelschnut.«

»Worum nich?«

»Weihnachten ist im Winter, und dann ist es kalt draußen, und dann liegt der Garten voll Schnee.«

»Och, man zu, Pappa, laß es Weihnach'n mal ganz warm sein!«

Wundert's euch, daß Appelschnut mir solche Dinge zutraut? Kinderseele ist Märchenland. Wollte sie doch einmal geraden Wegs über die Ostsee gehen und die untergehende Sonne holen. Das Kindermädchen hatte gesagt: »Geh nur hin und hol sie!« – Da stand Appelschnut schon mit Stiefeln und Strümpfen bis an die Knie im Wasser, gläubiger als Petrus, da ihn der Herr auf den Wellen gehen hieß, aber auch nasser. Inzwischen ist Roswitha ein paar Jahre älter geworden, und am Strande der Nordsee hatte sie diesen Sommer schon geographischere Gedanken. Sie war dabei, mich bis an den Hals mit Sand zu bedecken, und ich glaubte sie ganz mit diesem Vorhaben beschäftigt, als sie plötzlich nachdenklich übers Meer blickte und mich fragte:

»Wo is eigenlich Amerika?«

Ich zeigte nach Westen, wo immer etwas Amerika liegt.

»Ich seh nix«, sagte Appelschnut.

»Das kannst du auch nicht sehen, das ist ganz weit weg. Wenn man dahin will, muß man zehn Tage lang mit einem Schiff fahren und auf dem Schiffe essen und trinken und wohnen und schlafen – zehn mal schlafen!«

»Uuuha!!«

»Ja.«

»Ich mag aber nich in Amerika sein.«

»Nein? Warum nicht?«

»Da sind I–aner.«

»Ja, Indianer sind freilich da.«

»Die fressen Menschen.«

»Ach nein, das thun sie wohl nicht. Es sind auch noch viele andere Menschen da, ebensolche wie wir.«

»Ja, die kämpfen sich mit den I–anern.«

»Ja, mitunter; aber immer kämpfen sie nicht.«

»Nein! Sie müssen ja auch mal was essen!«

Nach einer Weile entrang sich ihrer Brust ein sehnsüchtiger Seufzer:

»Junge, ich möcht', ich könnt' fliegen!«

»So?«

»Ja, wenn denn 'n Menschenfresser kämte, denn flögte ich einfach auf 'n Baum.«

»Ja, aber hier bei uns giebt es ja gar keine Menschenfresser.«

»Nein! Wenn hier 'n Menschenfresser herkommt un er will mich auffressen, denn sag ich das einfach zu'n Schutzmann, denn bringt er ihn auf die Wache, nich? Das muß er doch auch, nich? Wenn er Menschen frißt, denn is er doch ungezogen, nich?«

»Sehr ungezogen!«

Ich hänge noch der Erinnerung an jenes Strandidyll nach und sehe stillen Herzens, wie mein sonnengoldener Garten weit ins grüne Sonnenmeer der Nordsee entschwimmt und verschwimmt – als ich schon wieder durch laute Klagerufe aus meinen Träumen aufgejagt werde. Appelschnut mit ihrer Puppe Ursula auf dem Arme kommt weinend und in großer Erregung herbeigestürzt.

»Pappa huhuuu, nu spielen wir so schön Mutter un Kind huhuuu, un ich bin die Mutter huhuuu, un Ursula is das Kind huhuuu, un nu will Rudi nich der Vater sein huhuuu –«

»Ja – das ist ein schwieriger Fall. La recherche de la paternité est interdite!«

»Huuu, was sagst duuuu?«

»Ja, das war Französisch, das kannst du noch nicht verstehen.«

»Doch, huuu, das kann ich doch, huuu!«

Alles darf man Appelschnut sagen, nur nicht, daß sie etwas nicht könne. Sie kann tatsächlich sich selbst das Kleidchen anziehen und die Stiefel zuknöpfen. Und wenn man sie nur gewähren ließe, dann könnte sie noch viel mehr: durchgegangene Pferde einfangen, Wagners Tristan und Isolde spielen, Eisenbahnwagen schieben und Seezunge à la Richelieu zubereiten. Ja, als Rudi sie eines Tages wieder eigensinnig und schnöde verlassen hatte wie Theseus die Tochter des Minos und ich heimlich zu meiner Frau sagte: »Sie weiß noch nicht, wie man Männer fesselt«, da rief sie eifrig: »Doch, das kann ich doch!« – denn hören kann sie auch. Sie weiß zwar nicht, was »Männer fesseln« ist; aber sie kann es.

»Also Französisch kannst du auch, Roswitha?«

»Ja huhuuu!«

»Was kannst du denn?«

»Ich kann huhuuu französisch zähl'n huhuuu!«

»Ach, dann zähl doch mal, das möcht' ich auch lernen!« Ich suche ihr Taschentuch, find es auch, aber in keinem geeigneten Zustande. Sie scheint den Garten damit reingemacht zu haben. Ich trockne ihre Thränen also mit meinem Tuch, und schluchzend und mit einem ergreifenden Leidensgesichte zählt sie französisch.

»Öng, döng, tröng, kratter, ßäng, ßieß!«

»Wahrhaftig, Appelschnut kann Französisch!« Ich versuche, es nachzumachen und stolpere dabei entsetzlich über sämtliche Sprachwerkzeuge. Und Appelschnut lacht; ausschütten will sie sich vor Lachen! Also lachen kann Appelschnut auch, lachen, wenn noch ein dicker Tropfen im Augenwinkel sitzt! Appelschnut, du kannst viele Künste; aber in einer Sekunde weinen und lachen, das ist doch deine schönste Kunst.

»So, jetzt geh nur wieder und spiel, und wenn Rudi nicht will, dann laß ihn laufen; er kommt von selbst wieder. Darum mußt du nicht gleich weinen.«

»Nein,« versetzt sie mit nachdenklicher Zustimmung. »Er is ja noch so klein un dumm; er weiß das noch nich besser«.

Und als getröstete Strohwitwe hüpft sie davon – Rudi hat sich seinen Vaterpflichten durch die Flucht entzogen und ist nicht mehr zu erschauen.

Ich werde mich nun doch wieder an die Arbeit begeben. Eigentlich gehört es sich doch durchaus nicht, daß ein erwachsener, großjähriger Schriftsteller einen ganzen Tag mit Kindern verspielt.

Mit großer Mühe und Sorgfalt schlage ich meine Bücher wieder auf. Da trifft mein Ohr ein seltsam, wundersam lockender Ton.

»Komm?! Komm?!« ruft eine zarte, schmeichelnde Stimme.

Ich blicke auf und sehe Roswitha vor einem Blumenbeete hocken. Ich nähere mich unbemerkt.

»Komm?! Komm?!« ruft sie liebevoll, wie man einem Hund oder einer Katze ruft, die sich nicht herangetrauen. Endlich entdeck ich, daß ihr schmeichelnder Ruf einem Schmetterlinge gilt, der auf einer Blume sitzt. Jetzt bemerkt sie mich.

»Pappa,« ruft sie, »dieser Schmetterling is'n komischer Mensch! Ich ruf immerlos, er soll kommen; aber meinst, er kommt? Rührt sich ganich!«

»Ja – das kann ich ihm nicht verdenken.«

»Pappa, krieg ihn mal!«

Nee, fällt mir nicht ein. Ich bin doch keine Zensurbehörde.

»Man zu, Pappa!«

»Er mag nicht gefangen sein, Appelschnut. Du magst doch auch nicht in der Waschküche eingesperrt sein, nicht wahr?«

»Man zu, Pappa, ich will ihn auch ganich in die Waschküche einsperren –«

Inzwischen kommt Rudi herbeigesprungen mit einer großen, frohen Kunde. Polly hat sich wiedergefunden! Polly ist wieder da!

Darüber vergißt Appelschnut alle Schmetterlinge der Welt!

»Wo ist er? Wo? Wo?«

»Da unterm Strauch«, sagt Rudi.

Richtig! Ganz tief unter den Rhododendron hat der Schalk sich versteckt! Acht Tage lang hat er dagesessen und sich nichts merken lassen! Und dabei sieht er uns mit seinen klugen Pudelaugen an, als ob gar nichts geschehen wäre. Drei Tage lang haben Rudi und Roswitha ihn gesucht, und der Strolch hat sich nicht vom Platze gerührt, obgleich er vier Räder unterm Leibe hat! Ist das ein Schlingel! Welch ein Wiedersehen! Welch ein Küssen und Drücken und Umarmen und Streicheln!

»Du hast Polly wohl sehr lieb, Appelschnut!«

»Ja!« seufzt sie in tiefer Andacht.

»Wen hast du denn mehr lieb: Polly oder mich?« frage ich sie.

Sie denkt einen Augenblick nach.

»Beide gleich,« versetzt sie.

Ich kehre geknickt zu Immanuel Kant zurück. Was bleibt uns nach solchen Enttäuschungen Besseres als die Philosophie?

Und es wird eine große Stille. – Eine lang andauernde Stille. – Eine unheimliche Arbeitsstille. – Ich werde schließlich doch wohl nicht umhin können, die transzendentalen Schemata reiner Verstandesbegriffe nach der Ordnung der Kategorien Revue passieren zu lassen. Also:

»Das reine Bild aller Größen (quantorum) vor dem äußeren Sinne ist der Raum –«

Diese Stille aber erscheint mir höchst bedenklich. Diese Stille stört mich. Wenn zwei Kinder im Garten sind, muß man doch etwas hören!! Ich höre aber nichts!! Das ist verdächtig. Wenn Kinder still sind, so ist das stets verdächtig. Ich muß unbedingt einmal nachsehen. –

Aber ich finde sie nicht. Zu sehen sind sie auch nicht. Das ist mehr als verdächtig. Plötzlich hör ich in meiner Nähe gedämpftes Sprechen – holla: der Wigwam! An den hab ich ja gar nicht gedacht! Appelschnuts Bruder Erasmus hat mit einer anderen gelegentlichen Rothaut zusammen einen Wigwam aus Holzstangen und Fußmatten errichtet. In diesem Wigwam hocken Rudi und Roswitha innig vereint wie Paul und Virginie. Paul ist Krämer und verkauft schwarze Gartenerde in Tüten; Virginie bereitet diese schwarze Gartenerde mit ausgiebigen Quantitäten Wasser zu einem reichlichen Mahl für Polly. Und da der Raum im Wigwam, wie man sich denken kann, beschränkt ist, so hat Virginie mit einem Teil ihres Körpers und mit ihrer weißen Schürze in der Suppe Platz genommen.

»Appelschnut –! Allmächtiger! Wie siehst du aus!«

Die beiden machen ein Gesicht wie Adam und Eva, als sie »die Stimme des Herrn im Garten hörten« und das Paradies verloren war. Appelschnut macht Augen von einem unerhörten Durchmesser und studiert andauernd mein Gesicht: Ist er wirklich böse, oder thut er nur so. Es ist ihr dabei offenbar nicht bekannt, daß sich um ihr rechtes Auge ein großer, kräftig gezeichneter Ring von Gartenerde zieht und wie ein Monokle ausschaut.

»Aber Appelschnut – was wird die Mama sagen!«

Hier muß ich einschalten, daß nämlich dies der einzige Punkt ist, in dem unsere elterlichen Erziehungsprinzipien auseinandergehen. Meine Frau dringt auf unentwegte Reinlichkeit und hat recht damit; ich aber habe für die Wäsche nicht zu sorgen und urteile deshalb weit großherziger. Für mich hat ein Gesichtchen, das mir eifrig eine Geschichte erzählt und dabei nicht ahnt, daß unter dem Näschen ein furchtbarer Schnauzbart sitzt, etwas Unendlich-Rührendes in seiner naiven Schmutzigkeit. Ich finde die mancherlei Arten von Tätowierung, die dabei vorkommen, so unendlich interessant! Man bekommt immer neue Dessins zu sehen! Wie köstlich wirkt auf solch einer rot und weißen Wange ein Schönheitspflästerchen, wie hebt es den Teint, vorausgesetzt, daß noch Teint zum Heben vorhanden und nicht alles Schönheitspflästerchen ist. Wie geheimnisvoll erscheint auf solch einer kleinen Stirn der genaue Abdruck von fünf aufwärts gerichteten Fingern, und – das ist das Herrlichste –: wie pikant, wie punktualistisch pikant ist ein unbewußter Fleck gerad auf der Nasenspitze. Das giebt dem ganzen menschlichen 25pfünder etwas Unternehmend-Übermenschliches, etwas Erobererhaftes, das bereit ist, mit der Nase voran durch allen Staub und Schmutz der Welt zu gehen . . . .

Aber du wirst doch hinein müssen in die Wäsche, Appelschnut! Das ist das Los des Schönen auf der Erde! Ich ziehe sie aus dem Wigwam hervor und kann, wie ich sie vollends besehe, nicht umhin, abermals auszurufen: »Appelschnut, mein Gott, wie siehst du aus!«

»Och, das is nich so schlimm!« meint sie. »Das kann mal spazier'n (passieren)!«

»So! Das erzähl nur der Mama! Laß dich nur ja nicht vor den Leuten sehen!«

»Och, das schad't nix! Ich genier mich nich so!«

Appelschnut, das ist sehr großzügig von dir gedacht; aber wir müssen doch hinein vor das Ober-Schürzen-Gericht. Ich gehe mit als Rechtsbeistand und werde auf Freisprechung, mindestens aber auf mildernde Umstände und Anrechnung des Monokles plädieren.

Die Affaire läuft denn auch recht glimpflich ab; die »Mamma« muß sich auch auf die Lippen beißen, und ein Richter, der sich auf die Lippen beißt, hat seine größten Schrecken verloren. Leider aber zeigt sich bald, daß Appelschnut noch etwas Schlimmeres auf dem Kerbholz hat.

Vor dem offenen Fenster der Speisekammer, als welche im Keller gelegen ist, stand in der Kühle des Morgens eine Schüssel mit Apfelmus, bestimmt, die Freuden des nächsten Diners zu erhöhen. Als indessen die Magd die zierlich bemalete Schüssel stellen wollt' auf den Tisch zur leckeren Freude der Herrschaft, siehe, da fand sie entsetzt im köstlich-goldenen Breie langgezogene Spuren von einem gefingerten Tiere. Appelschnut, Appelschnut! Die Suppe im Wigwam beschmutzte nur dein Gewand; aber dieses Apfelmus befleckt dein Inneres! Der Verbrecher wird – wie es in den Zeitungen heißt – mit seinem Opfer konfrontiert und erkennt bleich und schlotternd die Handschrift im Apfelmus als die seinige an.

»Hat Rudi mitgenascht?«

»Ja.«

»Wer hat denn zuerst gesagt: Wir wollen mal von dem Apfelmus essen?«

»Ich.«

Ist es nun nicht ein Jammer, daß man sie dafür nicht küssen darf? Im Gegenteil: man muß ihr noch das Kompot entziehen; denn der Mensch, der sein Apfelmus antezipiert, der hat es gehabt: das ist Naturgesetz. Wenn wir Erwachsenen uns als Anstifter zu einer Schandthat bekennen – ich sage ja: wenn wir es thun – dann haben wir als Kompot doch wenigstens das süße Gefühl einer anständigen Handlung. Nicht einmal das hat Appelschnut. Wenn ich sie jetzt küsse, bezieht sie es auf die Apfelmusprobe! Weil ich aber nicht leiden kann, daß eine schöne That unbelohnt bleibe, und weil ich dem »Verein zur öffentlichen Hebung der Moralität bei den Mitmenschen« so schrecklich gern eins vor die Magengrube versetze, deshalb sei hier der edlen Handlung Roswithens ein Denkmal gesetzt in den Worten:

Appelschnut,
am Tage, da du vom Apfelmuse stahlst,
obwohl du vom Apfelmuse stahlst,
warst du ein riesig anständiger Kerl.

Leider verfehlt die Strafe der Apfelmusentziehung jeden Effekt, weil noch während des Mittagessens ein unvergleichlich stärkerer Reiz in Appelschnuts Seele fällt. Was kann das sein? Was ist stärker als Apfelmus und Schlagsahne, Schokolade und Fruchtbonbons? Ich will es euch sagen, mit einem Worte will ich es euch sagen, mit einem Worte, das nur vier Laute enthält. Und wenn ich es gesagt habe, werdet ihr mir alle zustimmen. Wie also heißt das, was stärker ist als Ananas-Pralinés und Kirschentorte? Es heißt

»Sand«.

Schon während der Suppe kommt die Kunde, daß der übliche Lieferant soeben eine Ladung Sand gebracht habe und die große Sandkiste im Garten bis an den Rand gefüllt sei. Von jetzt an sitzen Roswitha und Hertha nur noch halb auf dem Stuhle, und Schuberts Müllerbursche mit seiner »Ungeduld« ist gegen sie ein phlegmatischer Niederländer. Die Größeren wahren schon mehr die Dehors; denn eigentlich ist ja der Sand ein Spielzeug »für die Kleinen«. Während des Nachtisches hängen zehn Augen an unseren Gesichtern, um den die Tafel aufhebenden Blick aufzufangen. Als ich von dem Satze: »Ihr könnt jetzt hinausgehen,« das Wort »Ihr« gesprochen habe, stauen sich bereits drei in der Thüröffnung, die zugleich hinauswollen.

Draußen angelangt, schwingt sich Roswitha in die Sandkiste, umarmt eine möglichst große Menge des köstlichen Stoffes und ruft: »Mein süßer Sand, bist du da? Du bist mein geliebter Sand!« Hertha beginnt mit dem Kuchenbacken; Irene läßt den Sand durch die Finger gleiten, und Gertrud und Erasmus stehen mit wohlwollendem Interesse, aber entschieden mit Haltung dabei; denn schließlich ist ja der Sand ein Spielzeug für die Kleinen. Ich weiß nicht, welche geheime Naturkraft hier waltet: aber nach 10 Minuten sind noch drei Nachbarskinder bei der Sandkiste, darunter ein 15 jähriger mit einer Baßstimme, sieben feinen schwarzen Härchen auf der Oberlippe und Ironie in den Blicken. Mit den Händen in der Tasche und einem Anflug von Großjährigkeit um die Mundwinkel blickt er auf den Sand herab und sagt: »Wie die kleinen Krabben sich amüsieren!« Die übrigen Großen schließen sich seiner gereiften Beobachtung an und wenden sich ab; denn der Sand ist etwas für die Kleinen.

Von keinem Menschen auf der weiten Welt kann man verlangen, daß er sich unmittelbar nach dem Diner mit erkenntnistheoretischen Untersuchungen beschäftige. Hab ich also schon den ganzen Vormittag mit Sommervögeln und Sonntagskindern verbummelt, so darf ich mich nun erst recht in Duft und Schein des Junitages betten und jenen Phantasien Audienz geben, die an solchem Tage nach dem Mahle durch unser Hirn taumeln, als wenn sie alten Burgunder getrunken hätten. In seltsam bunter Reihe umtanzen mich Gedanken und Gestalten, einander bei der Hand fassend in unendlicher Reihe:

Wir winden, winden einen Kranz –
Wir schmieden, schmieden eine Kette –

und plötzlich tauchen zwei liebe kleine bekannte Gesichterchen auf, und als ich die Augen vollends aufmache, stehen Hertha und Roswitha Hand in Hand vor mir, Hertha als Klägerin, Roswitha als Verklagte.

»Vater, diese Puppe ist Roswithas Kind, und nun ist es an Blutvergiftung gestorben, und wir wollen es begraben im Sand, und nun will Roswitha nicht weinen! Das muß sie doch, nicht, Vater?«

»Nee!« lacht Appelschnut. »Was 'n Unsinn, nich Pappa? Worum soll ich denn nu bloß weinen? Das macht doch Spaß, nich Pappa?«

Liebes Hertha-Kind – deine Schwester Appelschnut spricht eine andere Sprache als wir. Ihr Geist unterscheidet schon den »Soldaten aus Pappe« und den »Soldaten aus Wirklichkeit«, ihr Herz aber noch nicht.

Aber das Begräbnis muß ich mir ansehen. Man kann nicht sagen, daß sie die Sache tragisch nähmen. Vielmehr greifen sie das Geschäft so fröhlich an wie gut bezahlte Leidtragende. Bald aber machen sie den Übergang, den auch ich als Knabe stets zu machen pflegte, den Übergang vom Puppenspiel zum Menschenspiel. Appelschnut produziert mit großer Begeisterung den Einfall, sich selbst begraben zu lassen. Sie kann sich das leisten. Als sie aber zur Hälfte mit Sand bedeckt ist, richtet sie sich auf und macht Miene, aus der Kiste herauszuklettern.

»Roswitha, was willst du?« ruft Hertha. »Bleib doch liegen!«

»Nein, ich muß mal –!« erklärt Roswitha mit kühler Selbstverständlichkeit.

Das überwindet freilich Tod und Grab. – – – – – – – – – – – –

Bald darauf legt sich mir ein Ärmchen um den Hals. Es ist Appelschnut; sie hat inzwischen über den Tod nachgedacht. Denn sie fragt:

»Pappa, die kleine Therese ist doch nu tot, nich?«

Therese ist ein Kind aus der Schulbekanntschaft ihrer Schwestern.

»Ja, Therese ist tot.«

»Un nu kommt sie doch in die schwarze Erde, nich?«

»Ja.«

»Pappa«, – hier geht Appelschnut seltsamer Weise wieder zum Tanz über – »Pappa, wenn ich tot bin (hops!) un wenn sie mich in die schwarze Erde eingraben wollen (hops!), weiß, was ich denn thu?«

»Nun?«

»Denn strampel ich einfach mit den Beinen (hops!), daß die schwarze Erde wieder von mir abfällt (hops, hops!) Aber weiß, was ich thu? Ich mach die Augen nich auf (hops!) nee. Sons kommt mir ja all der schwarze Sand in die Augen (hops!) Das thus Du doch auch nich, was?«

»Nein, ich mach die Augen zu.«

Und danach schließen Hertha und Roswitha sich dem Spiel der andern an. Da mach ich die merkwürdige Beobachtung, daß jetzt 11 Kinder um die Sandkiste vereinigt sind. Auch Gertrud und Erasmus backen mit Feuereifer Sandtorten und Napfkuchen, und der Ironiker mit der schüchtern behaarten Oberlippe hat sich eine weiße Schürze vorgebunden und verkauft sie mit Begeisterung.

So macht der Sand aus fünfzehnjährigen Kindern fünfjährige, so vermag er selbst Kinder noch zu verjüngen. Er beschäftigt unsere heitersten Kräfte: unsere Phantasie, unsere Willkür. Willig bequemt er sich in tausend Formen, willig lassen seine Gebilde sich zerstören und immer wieder neu gestalten. Bauen kann man mit ihm, bauen! Bauen ist der Menschen sehnsüchtigstes Spiel: die Schwere zu überwinden und Tempel und Paläste aufzuschichten, die nach oben streben und nach oben weisen. Das ist der Menschheit ewiges Glück, daß sie nach oben will. Alles Große, Liebe, Schöne – nur eines will es: nach oben. Und am schönsten, seligsten baut es sich aus Luft und aus Sand; denn sie sind leicht beweglich wie des Menschen Traum. Aber nicht trocken darf der Sand sein, sonst zerrinnt er ohne Gestalt. Feuchtigkeit muß ihn zusammenballen zum Gebilde. Und

Nicht mit süßen
Wasserflüssen
Zwang Prometheus unsern Leim;
Nein, mit Thränen,
Drum im Sehnen
Und im Schmerz sind wir daheim.

Ja, Thränen sind gut: sie machen Festen und Burgen aus dem Sand, mit dem wir bauen. –

»Kinder, laßt uns eine große Burg bauen mit Türmen und Thoren, mit Wällen und Gräben und Fenstern und Lauben! Ihr wißt schon, wie ich's meine:

Zwar die Ritter sind verschwunden,
Nimmer klingen Speer und Schild;
Doch dem Wandersmann erscheinen
Auf den altbemoosten Steinen
Oft Gestalten zart und mild.«

»O ja, ja, ja! Eine Burg bauen! Eine Burg!«

Und jetzt spielen zwölf im Sande.

Haha, wer will mir jetzt noch einen Vorwurf machen? Wenn der Mensch sich nützlich beschäftigt, so kann man nicht mehr von ihm verlangen. Wenn ich Vernunftkritik treibe, dann kann ich keine Burgen bauen, nicht wahr? Nun also! Wenn ich Burgen baue, kann ich also auch keine Vernunftkritik treiben. Das ist sonnenklar.

Und so verrinnt der Tag, und als der Abend gekommen ist, hat Appelschnut doch etwas gefangen: einen Sonnenkäfer, und Erasmus hat ihn in ein Glas gethan. Wie manchen Tag schon hab ich vom Fenster aus Appelschnut auf dem Jagdpfade gesehen, auf den Fußspitzen gehend, die Händchen in größter Spannung gespreizt und die Vögel beschleichend. Sie will ihnen ganz gewiß nichts thun; sie will nur einen haben, mit dem sie spielen kann, wenn Rudi nicht da ist. Aber die Vögel begreifen das nicht und fliegen immer davon. Eines Tages rief Appelschnut sogar mit schmerzlicher Entschiedenheit:

»Mamma, wann kochen wir mal wieder Leim?«

»Leim? – Wozu das denn?«

»Den mach ich denn auf 'n Zweig, un denn setzen sich die Vögel darauf, un denn kleben sie fest, un denn kleb ich sie einfach wieder ab, un denn hab ich Vögel.«

Aber nun hat sie wenigstens ein Sonnenkäferchen, und das zeigt sie beglückt der Mutter, die sie zu Bette bringt.

»Aber auf dem kalten, harten Glas mag das Käferlein nicht sitzen. Wollen wir es nicht auf eine Blume am Fenster setzen?«

»Ach nein, Mama, dann fliegt es ja weg!«

»Aber wenn er in dem Glas sitzen muß, dann ist er die ganze Nacht traurig und denkt: ›O die böse Roswitha! Sie hat mich in dies schreckliche Glas eingesperrt!‹ Wenn du ihn aber auf die Blume setzest, dann denkt er: ›O die süße Roswitha, sie hat mich freigelassen!‹«

Appelschnut steht plötzlich aufrecht im Bettchen.

»Laß ihn man wieder raus!« sagt sie.

Und dann legt sie sich wieder nieder, steckt den Daumen in den Mund und saugt an ihm und an dem Bewußtsein einer guten That.

»Mamma, sing mal das Lied von der Lilie un der Rose!«

Und meine Frau beginnt Schuberts herrliches »Wiegenlied«, ein Lied, das älteste, gramerfüllteste Menschenkinder zur Ruhe singen kann, ein Lied, um das der ganze Friede eines kindlichen, geruhigen und goldenen Zeitalters weht.

»Schlafe, schlafe, holder, süßer Knabe,
Leise wiegt dich deiner Mutter Hand.
Sanfte Ruhe, milde Labe
Bringt dir schwebend dieses Wiegenband.«

»Mamma, ich bin gar kein Knabe, un ich lieg auch ganich in der Wiege; aber das macht nix.«

Gott erhalte dir, mein Kind, diese Überlegenheit über den Hosenknopfrealismus.

Wenn man aber glaubt, daß Appelschnut nun schliefe, dann wendet sie sich noch einmal um und fragt:

»Mamma. wie kommen eigenlich die Sterne immer aus der Luft raus un wieder rein?« oder:

»Pappa, woher kommt eigenlich die Natur?« oder:

»Mamma, solche Adern mit Blut drin, solche wie ich hab, die haben doch alle Menschen, nich?« oder:

»Pappa, Sand is doch aus Stein gemacht, nich?« oder:

»Mamma, der Soldat, weiß du wohl, den wir heute gesehen haben, der vor sein kleines Haus stand, weiß du wohl, das war doch 'n wirklicher, nich? Das war doch gakein ausgestopfter, nich?« oder:

»Pappa, als die Welt noch ganich angefangen hatte, was für 'n Tag war da eigenlich?« oder:

»Mamma, wie hießte eigenlich das Nashorn, wenn es kein Horn auf der Nase hätte?«

Endlich schläft Appelschnut aber doch, und wir schleichen behutsam aus dem Gemach, wo zwei glückliche Sonnenkäfer wohnen.

Ich aber gehe hinunter in mein stilles Arbeitszimmer und lege diesen Tag zwischen die Tage meiner Arbeit, wie man wohl eine Primel oder eine Anemone zwischen die Blätter der Kritik der reinen Vernunft legt.

Unter dem Druck der Zeit wird die Blume ihr natürliches Leben verhauchen; die Blätter des Buches fangen ihren Duft und ihre Farben auf. Eines Tages aber, nach Jahren vielleicht, schlägst du gedankenvoll das Buch wieder auf – und sinnend starrst du auf die vergessene Blume. Und staunend siehst du, daß in ihren Blättern neues Leben wirkt, überirdisches Leben: sie ist auferstanden in einem verklärten Leibe, und sie umzittert ewiger Duft.

Spät ist's vielleicht und du schon alt, und einsam hausest du in deinem Gemach und suchst auf den Blättern eines Buches mit alten Augen und zitterndem Finger die Wahrheit. Und wieder findest du die Blume. Und aus zukünftigen Gedanken und vergangenen Gestalten, aus lächelnder Wehmut und glückseligen Thränen, aus Sehnsucht und Erinnerung rundet sich dir in enger Kammer des Lebens unermessener Kranz.

*           *
*

O Kranz meines Lebens, wie tief empfind ich deine Blütenfülle!


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