Otto Ernst
Vom geruhigen Leben
Otto Ernst

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Heimkehr in die Stadt

(Aus einem Briefe.)

Lieber Edgar!

Wenn ich nun ein Nachbeter und gedankenloser Mensch wäre, so würde ich folgendermaßen anfangen:

»Aus der köstlichen Frische und Schönheit des ländlichen Aufenthalts, aus der Umgebung friedlicher und harmloser Menschen zurückgekehrt in den schwülen, giftigen Brodem der Großstadt mit ihrem gierenden Hasten und Jagen und –« . . .

na – und so weiter.

So pflegt man doch zu schreiben, nicht wahr? Nun, ich denke garnicht daran, zu »pflegen«. Erstens, weil jeder schöngeistige Hausknecht so etwas behauptet, und zweitens, weil es eine niederträchtige Heuchelei ist.

Drei Vierteljahre thun sie sich gütlich an den Freundlichkeiten der Großstadt; dann gehen sie, auf die Großstadt schimpfend, für drei Monate auf die Berge oder ans Meer, springen über Gletscherspalten oder backen Sandkuchen, kehren dann in die Großstadt zurück und wundern sich, daß sie braune Backen haben, die Gänseleber wieder viel besser vertragen als zuvor und so recht mit neuen Kräften auf die Großstadt schimpfen können.

Halt, meine Verehrten: das ist nicht in der Ordnung!

Steigt ein Vierteljahr lang täglich zehnmal auf den Stintfang, rudert dann bis Blankenese hinunter und laßt zur Abwechslung regelmäßig auf dem Heiligengeistfelde einen Drachen steigen, anstatt in Kontors und Nachtcafés zu sitzen, und ihr werdet staunen über eure braunen Backen und eure grünen Triebe!

Scherz beiseite: auch ich finde, daß es doch besser ist, ins Berner Oberland oder ans Nordmeer zu gehen. Ich gebe nicht zu, daß auch nur ein Mensch die reine, unberührte Natur und ihre kulturentrückte Größe mit innigerem Herzen liebte als ich. Wenn einem das Herz glüht und blüht zwischen Felsenwänden und aus der Meerflut, wenn es einem schwillt und sich dehnt im Angesicht der stillen Heidewelt, dann bin ich's. Ich liebe das Gebirge, ich liebe das Meer, ich liebe den Wald, ich liebe vielleicht am meisten den verschwiegenen Weg in Feld und Weide, wo Natur sich zu mir gesellt und ein Stück Weges mit mir wandelt in den Abend hinein . . . ich liebe die Welt und trage ihre sieben Farben in meiner Seele.

An dich, du wunderbare Welt,
Du Schönheit ohne End',
Auch ich schreib' meinen Liebesbrief
Auf dieses Pergament.

Froh bin ich, daß ich aufgeblüht
In deinem runden Kranz.
Zum Dank trüb' ich die Quelle nicht
Und lobe deinen Glanz.

sag' ich mit dem Meister Gottfried von Zürich. Also: Ein runder Kranz ist's, nicht ein kleiner Kranzausschnitt von drei Monaten Sommerfrische! Ihr sollt nicht undankbar sein gegen die Großstadt!

Edgar, du, der du an meinem Arme so oft die breiten Blumenpfade der Großstadt gewandelt bist, auch du, Edgar, machtest in deinem letzten Schreiben gewisse Andeutungen von dem »Brodem«. Edgar – alter Tartüffe!

Soll ich dir die Schlemmergefühle zurückrufen, mit denen wir auf den dicken Teppichen der Zivilisation umherflaniert sind? Sieh, ich kehre eben jetzt aus der Sommerfrische zurück in die runden, weichen Arme meiner Hammonia. Stelle dir nur vor, du fährst in den Bahnhof einer Großstadt ein. Schon die Miene des Dienstmannes, der an der Wagenthür wartet, sagt dir: du wirst erwartet, du wirst empfangen, du bist willkommen. Deine Koffer werden dir abgenommen und befördert, wohin du willst. Du siehst dich um: eine ragende, eisendröhnende Halle mit bunten Glasfenstern, ein weiter, hallender Tempel der raumbezwingenden Gottheit. Du willst ins Freie: die ganze Anlage ist so klar, so einfach, so übersichtlich; zuvorkommende Schilder, höfliche Plakate zeigen dir so deutlich den Weg, daß alles nervöse Irren und Verirren dir erspart bleibt; die allgegenwärtige Hand der Kultur geleitet dich sorglich hinaus. Du willst in die Stadt fahren –

Freund, gedenke der Fahrgelegenheiten in der Sommerfrische. Du willst mit einem schweren Koffer abreisen; dein Wirt erklärt mit Grinsen, daß er seine Wagen und Pferde schon vergeben habe; die Bauern der nächsten fünf Dörfer bemerken, daß sie ihre Pferde zur Ernte gebrauchen – das ist ihr gutes Recht – aber sie grinsen dabei vor Vergnügen, das ist überflüssig. Du findest endlich einen, der seine Pferde nicht braucht; er fährt dich; du fragst nach dem Preise, und dieser unverdorbene Landbewohner streckt dir die biedere Rechte entgegen und fordert für eine Stunde Weges mit erstaunlicher Sommerfrische nichts als 20 Mark. Er grinst dabei wieder in unnötigster Weise. Du wagst die schüchterne Bemerkung, daß dir der Preis etwas hoch vorkomme, worauf der idyllische Mann mit jener erwähnten Art des Lächelns bemerkt, du könntest ja ein andermal mit einem andern fahren.

Zurück, zurück, teurer Freund, in die Großstadt! Also: du trittst vom Bahnhof ins Freie, du zwinkerst in dem hellen Sonnenlicht einmal mit den Augen, und drei Droschken fahren vor, obwohl du nicht schielst. Du wirst eben auch hier erwartet. Du engagierst nur einen Kutscher und die andern beiden sind wohlerzogen genug, nicht zu schimpfen. Dein Kutscher bedient dich mit Gewandtheit und Höflichkeit, und die Fahrt geht los. Wie in einem Kahn auf freundlich bewegter Welle fährst du über die Flut des Großstadttreibens wohlig und leicht dahin. Du bist in der Menge – und doch allein in deinem hübschen rollenden Häuschen. Du gleitest über der Menge dahin mit Gefühlen der Unnahbarkeit, und was hindert dich, daß du dich für einen König hältst, der es schon lange nicht mehr nötig hat, zu regieren, und den die Menge nur deshalb nicht grüßt und bejubelt, weil er sich auch ohne das sehr wohl fühlt?!

Du willst aussteigen und bezahlen. Du brauchst dich nicht über eine unverschämte Forderung zu ärgern. Die Taxameteruhr zeigt dir, was du schuldest, und grinst nicht. Du zahlst und während du dem Manne ein Trinkgeld in die Hand drückst, scheint ein Segenswunsch für dich und deine nachgeborenen Geschlechter seine Züge zu verschönen. . . .

Hier seh ich dich wieder ironisch lächeln über meine Dankbarkeit für gute Behandlung durch Kellner, Kutscher, Kondukteure u. s. w. Es ist wahr, wenn ein Schaffner mich mit der echten Höflichkeit des Herzens um meine Fahrkarte bittet, dann werde ich weich, sage: »Hier, mein Herr!«, präsentiere ihm meine Cigarrentasche, betrachte während der ganzen Fahrt diesen gebildeten Mann als meinen Freund und begrüße ihn, wo er erscheint, mit einem liebevollen Blick des Einvernehmens. Ich bin so empfindlich gegen »Behandlung«, selbst im feinsten Restaurant ist mir das Erfreulichste eine delikate Bedienung, und eine diskrete Zuvorkommenheit kann mich zu sehr guten Weinen hinreißen. Und – gieb einmal acht darauf: Je größer die Stadt und je höher die großstädtische Civilisation entwickelt ist, desto mehr bildet sich mit Notwendigkeit – eine solidarische Höflichkeit nicht nur – nein, Freundlichkeit, Milde, fast möcht' ich sagen: Güte heraus, und nur die hoffnungslosesten Hotel-Esel behandeln noch den Gast à 20 Mark schlechter als den à 1000 Mark, um recht bald Pleite zu machen. Weil ihre 1000 Mark-Höflichkeit eben auch nicht die echte ist. Du weißt auch, mein Edgar, wie fabelhaft unangenehm ich werden kann bei schlechter Behandlung. Und das halt' ich für das rechte Prinzip im großstädtischen Verkehr. Laßt uns, meine Brüder, wo wir zu Hunderttausenden beisammen wohnen, das schwere Leben uns leicht machen, indem wir einander tragen und ertragen in Höflichkeit und Güte, laßt uns zuvorkommend sein gegen Oberkellner, damit wir Nachsicht von ihnen erfahren; laßt uns aber auch, sobald ein Mensch nur den Versuch zu einer rüpelhaften Miene macht, ihm den schuldigen Thaler so nahe unter die Nase halten, daß er die Faust wittert.

Du bist vor einem Wäscheladen abgestiegen, weil du deine Bekleidung in etwas erneuern möchtest – –

Freund! Rufe dir zurück, was es bedeutet, auf dem Lande einen Kragen oder eine Bluse deiner Frau waschen zu lassen! Bedenke, daß die alte Waschfrau, die für die Kurorte des betreffenden Regierungsbezirks die »feine Wäsche« übernimmt, deinem Dienstboten kaltlächelnd erklärt, daß sie Kragen und Blusen in 14 (vierzehn) Tagen schicken werde. Bedenke, daß sie nach 14 Tagen nicht kommen, daß dann deine Frau hingeht, die Wäsche in unverändertem Zustande vorfindet und von der Wäscherin die Versicherung erhält, daß sie sich bemühen werde, die Wäsche ausnahmsweise nach weiteren 14 Tagen zu liefern. Bedenke, daß nach diesen 14 Tagen die Wäsche keineswegs eintrifft, daß du dann selbst hingehst und sie günstigenfalls in eingeweichtem Zustande vorfindest, ungünstigenfalls aber bis zur Unkenntlichkeit gebügelt und mit jenen rostroten Fleckchen gesprenkelt, die den Forellen so gut stehen; daß die biedere alte Waschfrau sich alsdann für Gesteiftes und Ungesteiftes die gleichen steifen Preise bezahlen läßt und dich auf deine ernstlichen Vorhaltungen mit der Bemerkung entläßt, vornehme Leute nähmen überhaupt so viel Wäsche in die Sommerfrische mit, daß sie nicht waschen zu lassen brauchten.

In einer einzigen Straße bietet die Großstadt dir in schimmernden Läden alles, dessen du bedarfst. Du magst eintreten, wo du willst: du wirst erwartet, du bist willkommen. Mit dem freundlichsten Gesicht von der Welt verkaufen dir diese Menschen das beste, was sie haben. Parbleu! Ich begreife diese prickelnde Lust der Frauen, zu kaufen, so lange sie Geld in der Tasche oder den Blanko-Kredit ihres Mannes im Herzen fühlen! »Ich werde dies nehmen« oder »Schicken Sie mir das in meine Wohnung« – das spricht sich so leicht, so angenehm, gerade bei den feinsten Sachen. Wenn es dir Freude macht, so kannst du dich zum Bettler kaufen und brauchst nur ein paar Schritte darum zu gehen, ja brauchst nicht einmal das. Man ladet dich ein, in einem kostbaren Sessel Platz zu nehmen und breitet vor dir die Schätze Ophirs aus. Du machst eine abfällige Handbewegung, und das ganze Personal ist sofort derselben Meinung. Du wirst von lauter Menschen bedient, die denselben Geschmack haben wie du und diesen Geschmack bewundern, die deine Gestalt für die wohlgebildetste halten, die sie je bekleiden durften, und die (und hier mit Recht!) erklären, daß deine Gattin in jedem Kleide aussehe wie eine Königin, in den teuersten wie eine Kaiserin. Vielleicht ist aber doch nicht alles, was du wünschest, im Erdgeschoß zu finden, und du mußt dich schon – so bedauerlich es ist – in ein oberes Stockwerk »bemühen«. Man öffnet die Thür und du besteigst den Fahrstuhl; aber zum Glück sind darin ein üppiger Divan, ein paar amüsante Journale und ein Spiegel, um Männern und Frauen die Sekunden zu vertreiben. All dieser Komfort ist dein, du hast Anspruch auf ihn, du bist Abonnent aller großstädtischen Erleichterungen des Lebens und du bist es in Berlin wie in Hamburg, in Wien wie in Paris, in London wie in Rom: der Großstädter ist ein Bürger aller Welten. Und selbst wo er nichts kauft, geleitet man ihn mit diskreten Verbeugungen zum Ausgange und entläßt ihn mit höflichem Gruß. Die Gesichter, die man hinter seinem Rücken macht, sieht er nicht, und wenn er sie sich vorstellt, so ist es für die gleichmütige Seele des Großstädters nur ein Vergnügen mehr.

Du trittst wieder hinaus auf die Straße und übergiebst dich dem Strom der Menge. Ich weiß ja nicht, ob du es auch so machst; aber wenn ich in einer fremden Stadt weile, halte ich mir alle freund- und verwandtschaftlichen Anerbietungen von Führung durch die Stadt mit Nachtquartier, Morgenkaffee, Mittagessen und Abendbrot langgestreckten Armes fern, wenn sich nicht – was noch sicherer ist – ein vollkommenes inkognito aufrecht erhalten läßt. Besonders pflege ich mich in der Erfindung sinnreicher Einwände zu erschöpfen, wenn ich es mit jener Art von Freunden zu thun habe, die den Gast in jeglicher Minute unterhalten zu müssen meinen, selbst während des Mittagsschlafes. Edgar, giebt es denn wohligere Lust, als sich tagelang steuerlos treiben zu lassen auf der ewig bewegten, ewig blinkenden und doch aus der Tiefe ewig geheimnisvoll brausenden Flut des Großstadtlebens? Fühlen wir nicht hier, daß das Element, das sich »Menschheit« nennt, daß es trotz alledem und alledem unser Element ist und daß wir in ihm leben, weben und sind? Mitten in dieser Menge, die uns in unserer einsamen Zelle so oft ein grauenhaftes Antlitz gezeigt, die uns wie eine millionenfüßige Bestie erschien, wenn blöde Schaulust, blöder Haß und blöde Liebe sie zusammentrieb, ja, der wir geflucht und von der wir uns im innersten Wesen loszutrennen gemeint: mitten in dieser lauten, wirbelnden Menge hebt die einsam dahinwandelnde Seele ein stummes Frohlocken an, und die unbewegten Lippen singen den Jubelgesang: Ja, wir sind doch ein Großes, Starkes und Schönes, wir Menschen, und werden doch einst größer werden und stärker und schöner, und fahren doch zu lichteren Gestaden! Und soviel Gemeinheit in dieser Menge ist und soviel Dummheit (die eigentliche Gemeinheit im Weltwesen!) und soviel wir selbst in eigenster Person zu wünschen übrig lassen: Alles in allem genommen und alle Thoren und alle Weisen, alle Edlen und alle Hallunken, alle Helden und alle Hanswurste mit zwei ehrlichen Armen zusammengefaßt, ist es doch eine liebe Bande, mit der wir durch einen Ursprung und ein Schicksal unlöslich verbunden sind! Und liebtest du in diesen Augenblicken nicht das Gigerl, das sich über die Bügelfalte seiner Hosen freut, wie den Arbeitslosen, der unter einer unsichtbaren, melancholischen Last dahinschleicht, den »Heldenvater«, der mit dem Blick des fluchenden Lear in den Himmel starrt, wie den Kaufmann mit den diebes- und feuerfest schließenden Lippen, der eben zur Börse geht, um einen großen Posten Feuerwaffen nach China zu verhandeln und der sich zu dieser Feier mit einem moralfesten Zylinder geschmückt hat? Gehst du nicht mit weit geöffnetem, liebendem Herzen durch das Gartenviertel der Stadt, wo die Menschen Sonne, Blumen und Vogel haben, wie durch die schwarzen Arbeiterhöfe der letzten Vorstadt, wo die Kinder bei ihren Abendspielen zuweilen wohl den bleichen Mond, doch nie die tröstlich schöne Sonne sehen – gehst du nicht mit gleich begreifendem Herzen vorüber an donnernden Maschinenhallen und tausendfach bewimpelten Häfen, wo die Arbeit glänzt und klingt gleich einem Feste, wie an den ewig verhangenen totäugigen Palästen des Milliardenviertels, des unzugänglichen Peking, wo der arme, übersatte Reichtum sich selbst anödet und Inzucht treibt? So viel, so viel giebt uns die Großstadt, das mit einer Seele zu umspannen und in ein Herz zu fassen ist. Kannst du zweifeln, ob die Großstadt uns reicher mache als das ausgedehnteste Rittergut im Kranze meilentiefer Wälder?

Und sehen wir ab von der alles verstehenden Liebe – ist hier nicht Fülle der Schönheit für den Genießenden? Soll ich dich – um nur von den Ländern deutscher Zunge zu reden – an Wien erinnern und an die Ringstraße, diese unbeschreiblich schimmernde Perlenkette am Halse einer Königin? Soll ich dich an München erinnern, das dir zu jeder Maß Bier ein Juwel der Gotik, der Renaissance, des Rokoko, des Barock serviert, ganz nach Belieben!? An Dresden, das einen großen Garten von Bäumen und einen großen Garten von Palästen hat, die sich im Elbstrom spiegeln, aber zu stolz sind, ihres Spiegelbildes zu achten? An Berlin, dessen festliche »Linden«, dessen ganze Friedrichstraße ein Gesicht tragen, als zöge jede Viertelstunde ein großer Friedrich ein nach siebenjährigem Kriege? Oder an unser Hamburg, wo du, vom Hafen heraufkommend, in der Seele noch den Blick in jenseitige Welten, eintrittst in die Vorstadt des schäumenden Vergnügens, die am dunklen Abend von der herrlichen Straßenbahn wie von einer sieben Stunden langen, in allen wunderschönen Farben glühenden und sprühenden Riesenschlange durchzogen wird? Oder wo in später Nacht, wenn der tote Mond durch tote Straßen geht, jahrhundertalte Kaufmannshäuser und Speicher mit seltsamen Profilen in bleiernstille Kanäle hinunterstarren und oben aus den Luken die Winden hervorragen wie lange Prokuristennasen, die nächtlichen Einbruch wittern? Gedenkst du noch, Freund, wie wir siebzehnjährig, achtzehnjährig nächtens so oft durch die eigentümliche Romantik dieser Straßen mit ihren düsteren Kirchen und Patrizierpalästen gewandert sind, aus dem Theater kommend, die Empfängniswonnen von sieben Tragödien und sieben Symphonien in der Brust, und wie wir in jedem schwarzen Schatten, der quer über den Weg lag, einen Dahingestreckten zu sehen vermeinten, einen Mann im schwarzen Domino mit einem Stilett in der Brust? Sage, Freund, können grünere Phantasien und Illusionen wachsen aus Teich und Anger eines vergessenen Dörfchens, als sie uns gediehen unter den drohenden Steinmassen und den dröhnenden Glocken von St. Petri und St. Katharinen? Unsere Jugend war ein Idyll zwischen Steinmauern und Eisenpfeilern, und noch gestern, als ich durch vertraute Straßen heimwärts schlenderte, genoß ich dieses Idyll in seinen verglühtesten Farben und seinen verlorensten Klängen.

Und als ich wieder daheim war und in meinen alten Stuhl und in meinen abendlichen Traum versunken war, da klang wieder die Musik aus dem obersten Stock meines Hauses. Eine alte, vornehme, sanfte Dame spielt dort oben. Es ist Musik, wie sie in alten, hohen, dunklen Patrizierräumen mit langen dunklen Vorhängen in letzter Dämmerung klingt, in Räumen, in denen ein altes hohes Leid, eine große, adelige Schuld umgeht.

Seltsam, wie solche Musik, durch die Mauern und Böden eines Hauses gedämpft, zu unserer innersten Seele spricht. Hast du's je empfunden? Es ist wie redende Erinnerung. Suchst du mit dringendem Blick das Gesicht der Erinnerung, so stammelt sie abgebrochene Laute und verschwindet; aber wenn du die Augen schließest und sie hinter dichten steinernen Schleiern spricht, redet sie willig und lange zu dir. Ich wohnte einst in einem Hause, in dessen Keller sich eine Fuhrmannsschenke mit einer Spieldose befand. In der Nähe war diese Spieldose gewiß so infam wie jede andere ihres Geschlechtes; aber in mein Zimmer hinauf klang sie wie Harfen, die mir das verklungene Lied meines Lebens sangen.

Ich trete auf den Balkon und sehe im Spiegel der Glasthür das gewohnte liebe Bild: ein hingehauchtes, schwebendes Bild von einer ernsten Kirche, einem großen Platz und einem breiten Kanal, und über Platz und Kanal und Kirche eine große Ruhe und eine erhabene Freiheit wie nach einem Tag des Sieges. Sage, Freund, wo auf dem Lande kann ich solch eine Glasthür haben?

Ich setze mich. Hinter der kleinen Säulengallerie auf dem Dache des gegenüberliegenden Hauses steht am hellen Himmel der Mond, blaß, tiefäugig und in sich gekehrt wie ein unbeachteter Poet. Unsere Blicke verketten sich, und ich höre das ewige Brausen der großen Stadt.

Es ist eines Stromes Brausen.

Ihr kleingläubigen Menschen, die ihr euch verlassen wähnt, wenn das Leben weitergeht, die ihr so unnötig jammert und klagt, wenn das fröhlich kreisende Leben fröhlich gebiert, die ihr Angst, Beklemmung, Tod und Untergang fühlt, während die erfindungsreiche Menschenseele Neues ersinnt, Neues bildet. Neues genießt und aber Neues ahnt! Ist denn Kultur nicht auch Wille der Natur? Sind wir denn nicht Natur und könnten wir etwas gegen ihren Willen? Fürchtet ihr wirklich, der Natur könnten die Ideen ausgehen, wenn sie so rastlos weiterproduziert? Meint ihr, daß sie für Glück nicht freieres Glück hätte, für Frieden nicht tieferen Frieden, für Treue nicht echtere Treue, für Reinheit nicht lichtere Reinheit? Überallhin bringt das Menschenherz seine Poesie, der Menschengeist seine heitere, trauliche Flamme mit. Auch im Wirbel des Großstadtlebens ist Ruhe und Schönheit, Reinheit und Friede, Glück des Besitzes und der Hoffnung.

Ihr habt den ganzen Tag das Rauschen der Großstadt im Ohre und hört es nicht. Schließt einen Augenblick die Augen und thut die Ohren auf. Hört ihr's nun?

Es ist eines Stromes Brausen. Es ist kein sinnloser Wirbel und Schwall: es ist ein rastloses Vorwärts, ein unterbrochener Drang ins Weite. Er trägt uns von dannen und trägt uns einst ins Meer. Ins freie Meer.


 << zurück weiter >>