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Der Bericht von dem soeben begangenen Verbrechen, der von der Hauptpolizei sofort drahtlos sämtlichen Amtsstellen übermittelt wurde, unterbrach das erste Vorverhör der vermeintlichen »Haken-Mary« durch Inspektor Montrose. Roger Warrens Weisung entsprechend, war Audrey Murdock schließlich in das Zimmer des Inspektors geführt worden, wodurch seine Besprechung mit Kommissar Marsh über das Verschwinden James Murdocks in der Hauptstadt abgekürzt wurde.
Da man Warrens Kommen erwartete, stellte der Inspektor nur wenige Fragen.
»Wie heißen Sie?«
»Audrey Murdock«, war die Antwort.
Die beiden Beamten wechselten erstaunte Blicke. Ihre Überraschung war um so begreiflicher, als sie sich gerade darüber unterhalten hatten, ob es nicht ratsam wäre, die junge Dame dieses Namens zu verhaften, falls sich nicht der Verbleib ihres Vaters sehr bald herausstellte.
Veranlassung zu einer solchen Maßnahme bot die Tatsache, daß man Audrey Murdocks Fingerabdrücke auf der Waffe festgestellt hatte, mit der Gusset, was nunmehr außer Frage stand, von Murdock erschossen worden war. Dazu kam der an sich nebensächliche, aber in diesem Falle höchst belastende Umstand, daß Audrey Warrens Befehl, nicht vor der Ankunft der beiden höheren Beamten das Bibliothekzimmer ihres Vaters zu betreten, mißachtet hatte. Ihr Verhalten mußte dem Verdacht Raum geben, daß sie beabsichtigt hatte, den von ihrem Vater benutzten Revolver in Sicherheit zu bringen.
Dieser Verdacht wurde noch dadurch weiter verstärkt, daß sie von Warren bei seiner Rückkehr in das Bibliothekzimmer im Gespräch mit ihrem Vater vorgefunden worden war, was der gewissenhafte junge Detektiv in seinem Bericht mit aller Genauigkeit vermerkt hatte.
Ein weiteres Verdachtsmoment lieferte die Aussage der echten »Haken-Mary« Inspektor Montrose gegenüber, nach welcher Audrey Murdock die Waffe unter einem höchst merkwürdigen Benehmen in den Schreibtisch ihres Vaters getan hatte. Soweit Inspektor Montrose orientiert war, mußte er annehmen, daß Audrey die Waffe aus der Murdockschen Villa entfernt hatte, um sie in einem unbeobachteten Moment in der Schreibtischschublade zu verstecken.
»Das ist nicht der Name, unter dem Sie verhaftet worden sind, nicht wahr?« fragte Inspektor Montrose weiter.
Audrey schüttelte den Kopf. Sie fand keine Worte. Ihre Totenblässe flößte Inspektor Montrose und Kommissar Marsh eine gewisse Besorgnis ein. Aber für sie handelte es sich, genau so wie vorher für den verhaftenden Beamten, in allererster Linie um die Ausübung und Erfüllung ihrer Amtspflichten.
Auf der anderen Seite machte Audrey den Eindruck, als ob sie sich verstellte, ein Eindruck, der durch die Eleganz ihres Abendkleides, mit dem sie doch nur ihrem Verlobten hatte eine besondere Freude machen wollen, erhöht wurde. Auch ihre Offenheit und Schüchternheit schien gemacht.
»Wer hat Sie verhaftet?« fragte Inspektor Montrose.
Ihre weißen Lippen waren kaum imstande, den Namen auszusprechen.
»Roger Warren.«
»Wegen was?«
»Mord«, flüsterte sie kaum hörbar.
Abermals wechselten Inspektor Montrose und Kommissar Marsh bedeutungsvolle Blicke. In dem Lachen des Inspektors lag eine Härte, die das junge Mädchen noch mehr verschüchterte. Aber hatte nicht auch in Rogers Blicken eine ähnliche Härte gelegen?
Inspektor Montrose flüsterte mit Kommissar Marsh: »Warren ist wirklich ein famoser Kerl. Er hat sich von der Person doch nicht einfangen lassen. Sie ist ganz weg in ihn, und ich hatte schon Angst, er würde nicht standhalten. Aber im Gegenteil. Er hat sogar uns noch übertrumpft und sie zu allererst festgenommen.«
»Stimmt,« entgegnete Kommissar Marsh, »lassen Sie uns mal sehen, was wir 'rauskriegen, bis er kommt. Sie ist zwar seine Gefangene, und er hat vom Chef seinen Extraauftrag; aber ich denke mir, es wird ihm nur lieb sein, wenn seine Feststellungen sich mit Ihren decken. Meinen Sie nicht auch?«
»Der Mord hat in Ihrem Revier stattgefunden,« sagte Inspektor Montrose und erhob seine Stimme, »ich bin für den ganzen Distrikt verantwortlich, auch dem Chef gegenüber. Wessen Gefangene sie ist, wird wenig auf sich haben, zumal der Chef ja weiß, daß ich dabei war, Murdock zu verhaften, wovon doch Warren keine Ahnung hat. Und ich werde ihm auch nichts davon sagen, bis es der Chef persönlich für richtig hält.«
»Schön. Ich werde mich ebenfalls danach richten«, erklärte Kommissar Marsh.
»Wann bedienen Sie sich des Namens ›Haken-Mary‹?« fragte der Inspektor Audrey Murdock.
»Wie bitte? Ich verstehe nicht.«
Montrose sah sie verdutzt an. Mit solcher kindlichen Unschuldsmiene brauchte sie sich wirklich nicht zu verstellen.
»Sind Sie bereits früher einmal in Haft gewesen?«
Audrey schüttelte den Kopf.
»Ich denke, Ihr Name, ich meine, Sie sind der Polizei als ›Haken-Mary‹ längst bekannt, was? Und Ihre Personalien befinden sich bei den Akten.«
»Ich – ich – ich weiß wirklich nicht.«
Inspektor Montrose kochte. Er griff in die Schublade des Schreibtisches, an dem er saß, und zog die Pistole heraus, die er sich in Murdocks Abwesenheit aus seinem Bureau geholt hatte.
»Sie kennen diesen Revolver, nicht wahr?« fragte er eindringlich weiter.
»Ja.«
»Sie haben ihn in der Hand gehabt?«
»Nur ein einziges Mal.«
»Und bei dieser Gelegenheit haben Sie mit der Waffe geflüstert und ihr lächelnd zugenickt, nicht wahr?«
Audrey wurde blutrot vor Scham. In dies Gefühl aber mischte sich eine bange Scheu, die sich unter den mitleidslosen durchbohrenden Blicken des Inspektors zum furchtbarsten Entsetzen steigerte. Genau so mitleidslos hatten sie Warrens Augen angesehen, als er die Hermesstatue durch die Glastür geschmettert hatte, und sie unter Schutzmann Sanders eisernem Griff zum ersten Male mit einem Namen angeredet worden war, den sie nie zuvor gehört hatte.
»Wollen Sie mir nicht antworten?« sagte der Inspektor scharf, aber doch ohne schneidende Härte, denn er gedachte seiner eigenen fünf Töchter, und wie unsagbar traurig es doch wäre, wenn eine von ihnen je in eine so verzweifelte Situation kommen sollte wie dieses sich vor Furcht windende Menschenkind.
Audrey nickte.
Montrose war starr. Er hatte bestimmt mit einem Nein gerechnet. Also verstellte sie sich doch.
»Also Sie haben sie in der Hand gehabt und mit ihr geredet, ja?«
Audrey bemühte sich, abermals mit dem Kopf zu nicken.
»Was haben Sie gesagt, und was hatte es zu bedeuten?«
Woher er seine Kenntnis hatte, war Audrey schleierhaft, wenn ihr auch seine letzte Frage verständlicher erschien als alles, was sich bisher begeben hatte.
Aber eine Antwort auf Inspektor Montroses Frage war gleichbedeutend mit einem Wortbruch, und wäre es auch nur ein Wortbruch dem Manne gegenüber gewesen, der in dieser furchtbaren Nacht seinem heiligen Liebesschwur meineidig geworden war. Das würde sie nicht übers Herz bringen, komme, was da kommen mochte.
Audrey gewann einen Aufschub, als ein Polizeibeamter an die Tür klopfte:
»Kommissar Roxey ist am Telephon. Er muß Sie sprechen. Im 28. Revier ist eine Schießerei und ein Einbruch gewesen. Einer der Verbrecher ist entwischt mit – – –«
Die Tür schloß sich, und Audrey hörte in ihrer Benommenheit nicht mehr den Rest der Worte. Kommissar Marsh war Inspektor Montrose nachgegangen. Audrey blieb allein mit der Krankenpflegerin. Fünf Minuten später kam der Befehl von Inspektor Montrose: »Ins Gefängnis bringen! Wenn Warren kommt, bestellen Sie ihm, sie wäre jetzt meine Gefangene!«