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23.
»Nehmt sie fest! Es ist die Haken-Mary!«

Es tut mir ja so leid, daß Harry Gregory mit Mr. Murdock zurückgefahren ist«, erklärte Edith Winthrop. »Ich muß es dir gestehen, Audrey, aber ich halte Gregory für einen ganz besonderen Menschen.«

Audrey lächelte. »Die Geschmäcker sind verschieden, besonders, was die Männer betrifft. Harry hat ganz sicher glänzende Aussichten für die Zukunft. Er ist ja Papas Kompagnon. Aber ich kann beim besten Willen nicht mehr in ihm sehen als Sie zum Beispiel in Freddy Carrington. Freddy hat mir übrigens neulich gebeichtet, daß er ganz ›wild‹ auf Sie ist.«

Jetzt lächelte Mrs. Winthrop. Audreys Äußerung schien ihr ihren Plan wesentlich zu erleichtern. Sie wußte, daß Gregory »wild« auf Audrey war, viel, viel »wilder« als Freddy Carrington auf sie. Gregorys Blicke, mit denen er Audrey so verliebt verfolgte, waren der jungen Witwe selbstverständlich nicht entgangen.

»Ich war noch sehr jung, als ich Bill Winthrop heiratete, den ›Eskimo-Bill‹, wie ihn seine Freunde nannten«, gestand sie geschwätzig. »Meine Mutter war damals todsterbenskrank. Sie hatte geschuftet und sich abgerackert, um mir eine gute Erziehung zu geben. Sie wollte nicht, daß ich ohne jeden Rückhalt in der Welt stand. Als dann Mr. Winthrop kam und um mich anhielt, was sollte ich machen? Ich habe ihn geheiratet, und wir waren schließlich auch ganz glücklich miteinander. – Aber, liebste Audrey, was Sie auch immer im Leben tun mögen, heiraten Sie niemals um des lieben Geldes willen. Mr. Winthrop war ein idealer Ehemann. Ich konnte von ihm alles haben, was ich nur von ihm wollte. Aber die Liebe war in ihm ertötet, eingefroren in Alaska. Er war wirklich der ›Eskimo-Bill‹, als ich ihn im Alter von achtundfünfzig Jahren heiratete. Er wollte sein Leben ›genießen‹, aber nach anderthalb Jahren starb er. Ich denke natürlich daran, mich eines Tages wieder zu verheiraten, aber ich nehme nur einen Mann, den ich wirklich liebe. Und dieser Mann ist Harry Gregory. Wollen Sie mir dabei helfen?«

»Von ganzem Herzen gern«, gab Audrey wiederum lächelnd zur Antwort. »Horch! Mir scheint, Roger Warren ist zurückgekommen. Er war mit Wachtmeister auf Wache. Papa hat ihn gebeten, auf mich aufzupassen, bis er von Washington zurück ist. Er ist furchtbar nervös seit der Geschichte neulich abend. Mr. Warren hat Papa das Leben gerettet, Sie wissen ja. Leider hatte Papa seine Pistole in seinem Bureau, als der Einbrecher ihn überfiel. Ich habe sie heute in seinem Pult entdeckt. Er hatte mir nämlich ein neues Halsband für Wachtmeister besorgt. Ich lasse beim Juwelier eine silberne Platte mit seinem Namen machen.«

Audrey wurde wieder blutrot bei der Erinnerung an ihr verliebtes Spiel mit der Waffe. Als Roger Warren ins Zimmer trat, legte sie den Zeigefinger an die Lippen, zum Zeichen, daß Mrs. Winthrop nichts verraten solle. Das Kaminfeuer brannte hell in dem niedrigen Raum, und sein Widerschein spielte über die Holzdecke und die getäfelten Wände hin.

Audrey konnte sich kaum beherrschen, Warren nicht entgegenzufliegen.

»Ich habe Wachtmeister in die Hundehütte gesperrt«, sagte Warren. »Er ist nicht recht in Ordnung. Zuerst wollte er gar nicht mit mir gehen. Als wir dann draußen waren, wurde er ein bißchen vergnügter. Ach ja, morgen muß ich wieder in die Stadt zurück. Ich habe nur Urlaub für die eine Nacht bekommen, und das war schon besonders nett von meinem Vorgesetzten. Wir haben in unserer Abteilung schrecklich viel zu tun. Aber Wachtmeister wird schon gut auf Sie aufpassen, bis Ihr Vater wieder da ist.«

»Müssen Sie wirklich zurück?« Audreys Stimme klang sehr betrübt.

»Aber natürlich muß er, Kind,« sagte die junge Witwe, die Warrens Situation sofort übersah, »und ich muß auch wieder fort. Ich könnte es hier draußen überhaupt nicht solange aushalten. Ich stürbe vor Langeweile. Wissen Sie was? Kommen Sie morgen mit mir nach New York und bleiben Sie die Nacht bei mir. Wir könnten ein bißchen tanzen gehen. Ich weiß ein entzückendes Lokal. Den ›Klub Versailles‹. Erinnern Sie sich an Mr. Le Mar? Aber gewiß doch, Audrey, den jungen Mann, den ich in Paris kennengelernt habe und der so glänzend tanzt.«

*

Warren befand sich auf der Jagd nach Gregory. Gregory hatte den Landsitz verlassen. Also mußte er ihm in die Stadt folgen. Das war seine Pflicht und Schuldigkeit. Auf der anderen Seite hatte er versprochen, Audrey zu beschützen. Das beste war wirklich, wenn Audrey auch in die Stadt fuhr. Warren mußte ihr allerdings versprechen, daß er mit ihr im »Klub Versailles« tanzen würde. Bis zum Abend sollte sie mit Mrs. Winthrop zusammen sein, mit ihr Einkäufe machen, Mittag essen und in irgendeine Nachmittagsvorstellung gehen.

Warren machte pflichtschuldigst seinen persönlichen Rapport beim Polizeichef. »Ich habe eine Einladungskarte für ›Masken-Mickys‹ Lasterhöhle. Tadellos graviert«, sagte er und zeigte sie vor. »Gregory wird bestimmt dort sein, hat mir Mrs. Winthrop versichert. Das macht die ›gesellschaftliche‹ Position!«

»Wenn Sie können, räumen Sie binnen vierundzwanzig Stunden auf mit der ganzen Gesellschaft. Ich fürchte, die Geschichte wird sonst von anderer Seite eher besorgt. Oder haben Sie vielleicht Lust, daß Ihnen irgendeine Distriktswache Ihren Braten vor der Nase wegschnappt? Das ginge denn doch wohl gegen unsere Ehre, was? Aber sie sind scharf hinter der Bande im ›Klub Versailles‹ her, verdammt scharf.«

Warren fuhr nach Hause und warf sich in seinen Gesellschaftsanzug. Die Legitimationsmarke steckte er in die Tasche seiner Frackhose. Die Pistole samt Futteral ließ er in der geräumigen Tasche seines leichten Überziehers verschwinden.

Er holte die beiden Damen in einer Autodroschke ab. Vor dem Eingang zu dem Restaurant sah er eine ihm nicht unbekannte Erscheinung in Uniform. Das Auto hielt, er bat die Damen, vorauszugehen, und ging über die Straße, um ein paar Worte mit Schutzmann Sanders zu reden.

»Nanu, Sie hier unten in der Stadt? Ich habe Ihnen übrigens noch immer nicht dafür danken können, daß Sie mir neulich nacht so gut geholfen haben. Aber sagen Sie mir mal, was ist das hier eigentlich für eine Sorte Klub?«

»Sie sind ja heute mächtig in Wichs,« grinste Sanders, »kein Mensch würde ahnen, wer Sie sind. Ich bin für ein, zwei Tage hier im Revier. Tatsache ist, daß unser Inspektor Wind bekommen hat, daß das Lokal hier ein tadelloses Schlupfloch ist. Ausgehoben soll es nicht werden, aber wir sollen aufpassen. Wollen Sie reingehen?«

»Nur für ein paar Tänze mit meinen Damen. Wenn Sie irgend etwas hören sollten, bitte ich Sie, sofort reinzukommen. Ich weiß zwar nicht, ob es nötig sein wird, aber wenn ich Sie brauchen sollte, schlage ich eine Scheibe entzwei oder schieße.«

»Ich passe auf«, erklärte Sanders, und Warren wußte, daß er sich auf ihn verlassen konnte.

Warren verschwand hinter der Eingangstür. Edith und Audrey waren nicht zu sehen. Eine Garderobiere erklärte ihm, daß die Damen im Foyer auf ihn warteten. Roger Warren legte Hut und Mantel ab. Beides war im Nu in der Garderobe verschwunden. Ein Kerl mit einem richtigen Galgengesicht überreichte ihm die Garderobenmarke. Warren hatte sich noch kaum umgedreht, als ihm einfiel, daß er seine Waffe in der Überziehertasche hatte steckenlassen. Sollte er sie sich holen? Der Kerl mit dem Galgengesicht hatte sich durch eine hintere Tür entfernt und sie offen gelassen. Warren ärgerte sich über sich selbst, aber er ging nicht zurück. Er war ohne Revolver. Sanders hatte ihm bedeutet, daß Inspektor Montrose den Klub stark in Verdacht hatte. Die Einladung für Mrs. Winthrop und »ihre Freunde« war von dem »Masken-Micky« ausgegangen, und Micky war, wenn er auch nicht so intim mit Gregory stand, wie Warren annahm, ein höchst fauler Junge, ob er nun Mrs. Winthrop in Paris das Tanzen beigebracht hatte oder nicht.

Warren begab sich in das Hauptfoyer und wartete ungeduldig auf Audreys Erscheinen. Er war alarmbereit. Seine Nerven waren gespannt wie Saiten, und seine sämtlichen Sinne so wach, wie die Wachtmeisters, als er Gregory gewittert hatte.

Ein lang herabwallender purpurroter Vorhang bewegte sich. In dem ganzen Raum wehte kein Lüftlein. Wieso bewegte sich der Vorhang?

Warrens scharfen Blicken konnte die heimliche Kräuselbewegung nicht entgehen. Zuerst durchfuhr ihn ein Schreck. Das war nicht mehr als menschlich. Hinter dem Vorhang befand sich ein Mann. Warren und diese verborgene Gestalt waren die einzigen Lebewesen in dem ganzen Foyer, wohin der Detektiv auch seine Blicke wandte.

Seine Gedanken schossen blitzschnell zurück zu dem Rencontre mit Gusset, seiner ersten Begegnung mit Gregory und zu Audreys Befürchtungen, die sie ihm enthüllt hatte. Gregory mußte wissen, daß Warren hierherkommen wollte, denn er hatte sich ja ebenfalls mit Mrs. Winthrop verabredet. Hatte dieser geschmeidige Fuchs gewittert, daß Warren seinen Verbrechen auf der Spur war, und einen seiner Kumpane beauftragt, ihm aufzulauern und dann ungesehen und unbehindert durch irgendeinen rückwärtigen Ausgang zu verschwinden?

Mit der gleichen Schnelligkeit, mit dem ihm der Verdacht gekommen war, erhärtete er sich für ihn zur Gewißheit. Der Halunke hinter dem Vorhang wich nicht. Worauf wartete er noch?

In diesem Augenblick erschien Audrey. Sie war das reine Engelsbild in ihrem jugendlichen Kleid, das ihre Figur halb verschleierte und halb enthüllte. Ihre Augen leuchteten auf, als sie Roger erblickte.

Abgerissene Töne der Orchestermusik, das Schlürfen tanzender Füße auf dem Parkett, halb gedämpftes Stimmengeschwirr und Lachen tönte aus dem großen Saal an sein Ohr. Der Knall eines Pfropfens traf Warrens überspanntes Trommelfell wie ein dröhnender Pistolenschuß.

Audrey Murdocks Ohren hörten von neuem die Flöten Pans, des nimmer Sterbenden, aber es war für sie heute eine reine Musik voll froher Gewißheit. Ihre suchenden Blicke galten niemand anders als Roger allein, während seine starren Augen nicht auf sie gerichtet waren. Vor einem Augenblick war er erschrocken gewesen, aber jetzt packte ihn ein Entsetzen, nicht um seinet-, sondern um Audreys willen.

Die Gestalt hinter dem schweren Purpurvorhang hatte Form gewonnen. Der Mann konnte Warren nicht sehen, und die Vermutung des Detektivs machte einer neuen Gewißheit Platz, als sich bei dem nächsten Kräuseln der Portiere deutlich die Bewegung abzeichnete, mit der er nach einer Waffe griff.

Diese Waffe richtete sich nicht auf Roger Warren. Sie zielte nach der Seite des Vorhangs, die dem Tanzraum am nächsten war. Sie beherrschte den Weg, den Audrey jetzt nehmen mußte.

»Komm,« rief Audrey, »Edith will auf Gregory warten. Ich brenne ja so darauf, mit dir zu tanzen, zum erstenmal!«

Warren winkte ihr zu. Dicht neben ihm stand eine kleine Hermesfigur.

Audrey wandte sich und ging auf Warren zu. Der schwere Vorhang war barmherzig genug, sie für einen Augenblick vor jedem Blick zu verbergen. Der Mann dahinter hob in der gleichen Sekunde seine Pistole.

Roger Warrens Hand griff zur Seite. Er hatte noch eine einzige, kleine Sekunde Zeit. Die Mündung der Waffe schwankte auf und nieder, als ob der verborgene Mörder noch unentschlossen war, ob er abdrücken sollte oder nicht.

Diese Verzögerung nutzte Warren aus. Er packte die Hermesstatue und schwang sie über Audreys Kopf, als ob er sie damit niederschlagen wollte.

Audrey fuhr entsetzt zurück. Die plötzliche Veränderung ließ sie vor Schreck erstarren. Der Mann, den sie liebte, hatte sich zum dämonischen Mörder gewandelt.

Der Arm, mit dem er seine improvisierte Waffe schwenkte, senkte sich. Die Figur flog in seitlicher Richtung und fuhr krachend durch die Eingangstür. Mit dem anderen Arm riß Warren Audrey zu sich heran und stellte sich vor sie, um sie mit seinem eigenen Leibe zu schützen.

Das stille Foyer hallte wider von dem Aufschlag der Hermesfigur, die draußen auf die Straße fiel, wo Schutzmann Sanders, irgendeines Signales von Warren gewärtig, herumschlenderte. Das Klirren der Glasscherben auf den Marmorfließen der Treppe schreckte selbstverständlich auch das Personal auf. Ein Diener in Livree stürzte gerade auf die Straße hinaus, als Schutzmann Sanders mit einem langgezogenen Pfiff auf seiner Signalpfeife in das Lokal stürzte.

Die weit offene Tür enthüllte natürlich der Gesellschaft drinnen die Gestalt des Schutzmannes. Die blaue Uniform, die blanken Knöpfe, das blinkende Polizeischild auf der Brust und an der Mütze, das entschlossene Gesicht, der Polizeiknüppel an seinem Arm, die Pistole in seiner Hand, alles war das sichtbare Symbol dafür, daß das Gesetz auf dem Plan erschienen war.

Die Gäste waren in ihrem ersten Schrecken wie betäubt. Aber die Panik über den Eintritt eines Polizeibeamten legte sich, als man die beiden Gestalten in üblicher Gesellschaftstoilette neben Sanders stehen sah. Aber dann folgte eine gewaltige Überraschung, als Warren mit eisig kaltem Tone den Befehl gab:

»Nehmt sie fest!«

Er deutete auf Audrey. Die Pistole hinter dem Vorhang schwankte hin und her. Sie schien sich zu senken. Aber in dem Augenblick, indem Sanders Audrey beim Arm packte und sie wieder in Sicht trat, schnellte die Waffe wieder empor.

Warren deckte Audrey zum zweiten Male mit seinem Körper.

»Abführen! Wegen Mordes! Es ist die ›Haken-Mary‹ Mallory. Sie ist bekannt. Bestellen Sie Inspektor Montrose, Warren habe es so angeordnet, Warren von der Zentrale! Hier ist meine Marke! 'raus mit ihr! Rasch!«

Die Gäste waren vom Tisch aufgestanden oder hatten ihren Tanz unterbrochen. Wie eine Flutwelle strömten sie dem Ausgang zu. Stimmengekreisch und schrille Rufe erhoben sich und versanken wieder in dem allgemeinen Gemurmel, das der Verhaftung der »Haken-Mary« folgte.

Dem Signalpfiff des Schutzmann Sanders waren zwei Schutzleute gefolgt. Sie hatten keine Sekunde Zeit verloren und stürmten jetzt durch die Tür. Warren wies auf seine Polizeimarke und rief, mit einer Geste auf die gaffenden Zuschauer:

»Zurückhalten! Niemand durchlassen! Weiter nichts! Wir haben, was wir gesucht haben.«

Im gleichen Augenblick sprang er auf den Vorhang zu. Der Mann dahinter war verschwunden. Warren sah weiter nichts als einen leeren Gang. Er konnte nur noch ein paar flüchtige Schritte aus dem Dunkel des Korridors heraus vernehmen. Er folgte dem Fliehenden nicht, sondern stürzte an der Gästeschar, die in den Saal zurückgedrängt wurde, vorüber zur Garderobe.

Er fing gerade noch einen Blick Audreys auf, als sie Sanders durch die zerbrochene Tür in die Nacht hinauszog. Die Verzweiflung und das Entsetzen in ihren Augen machten ihm das Herz bitter schwer.

Der Mann mit dem Galgengesicht stand wieder in seiner Koje. Sein Atem keuchte, als ihm Warren die Garderobenmarke hinschob. Aber Warren achtete nur auf Audrey und sah ihn zuerst überhaupt nicht. Würde er je wieder etwas anderes sehen als den unsagbar trostlosen Blick, der zwischen tiefstem Schmerz und Liebe schwankte, bis er in noch unsagbarerem demütigem Hilfeflehen erstarb?

Roger Warren griff nach seinem Mantel und tastete die Taschen nach seinem Revolver ab. Die Waffe war nicht mehr da.

Der Mann hinter dem Klapptisch bückte sich mit einem boshaften Seitenblick und hob sie vom Boden auf. Die Worte, die er dann sprach, retteten ihm das Leben und brachten Warren wieder ins Gleichgewicht. Für einen Augenblick glaubte sich der junge Detektiv dem Manne gegenüber zu sehen, den er vor kaum achtundvierzig Stunden in der Murdockschen Villa erschossen hatte.

»Die ›Haken-Mary!‹ Hahaha!« Das halberstickte Wahnsinnslachen klang doppelt grauenvoll. »Was, Mr. Warren, selbst ein Weibsstück aus der ›guten alten Zeit‹ kann Sie nicht zum Narren machen, he? Sie haben recht! Es war die ›Haken-Mary!‹ Ich hab' sie gut gekannt. Kennen Sie mich nicht?« Seine Stimme sank herab zu einem gespenstischen Flüsterton.

Warren starrte ihn an. Die zurückgedrängte Herzensqual zermarterte ihm das Gehirn.

»Sehen Sie mich an!« flüsterte der andere weiter. »Ich bin Benny Smart! Haken-Marys Schatz, als ich noch Droschkenkutscher in der Siebenten Avenue war! Gute, alte Zeit! Aber sie denkt, sie gehört jetzt zu den feinen Leuten, haha, hahaha! Seit sie mit dem Kerl, dem Murdock zusammenlebt! Kennen Sie ihn vielleicht nicht? Das ist ein Verbrecher, alle neune, der richtige Kegelkönig! Und sie ist nicht besser als er! Ich habe sie heute abend kommen sehen. Mich kennt sie natürlich nicht mehr! Natürlich nicht! Und der andere Kerl, der Gregory, dieser Zylinderfatzke ist auch ein Verbrecher. Und der ›Masken-Micky‹ und die ganze Bande von der ›Alten Mühle‹. Na, ich kann Ihnen Geschichten erzählen! Lauter Gauner. Wie die ›Haken-Mary!‹ Aber Ihnen ist sie doch nicht entwischt! Wissen Sie noch, wie Sie sie das erstemal erwischt haben? An der 37. Straße, wie sie Ihren Kollegen hingeschmissen hat und auf ihm rumgetrampelt ist? Hahaha!«

Er sah sich ängstlich um. »Gregory muß gleich hier sein. Er hat eine Dame bei sich, heute. Ein feiner Braten. Donnerwetter, die hat Brillanten! Aber wissen Sie was, nehmen Sie sich ein Auto. Und los! Gleich hier vorne 'raus! Wenn Gregory sieht, daß ich mit Ihnen rede, kommen wir beide hier nicht lebendig weg. Ich drücke mich durch den Hintereingang. Ich nehme mir eine andere Droschke, aber wir treffen uns –«

Er zischte Warren noch ein paar Worte ins Ohr und war verschwunden. Der Detektiv packte seinen Revolver und begab sich auf die Straße hinaus. Als er in eine Autodroschke stieg, kam Gregory um die Ecke. Er sah aber nur noch, wie Warren die Gardine vor das Fenster zog. Gregory machte nur eine kurze Verbeugung und ging dann in das Lokal hinein. Die zerbrochene Tür schien ihn zu erstaunen. Warren sauste davon. Er wollte Gregory in den Glauben versetzen, daß Audrey mit ihm im Auto war.

Sanders führte James Murdocks Tochter erst bis zum nächsten Polizeitelephon, beorderte einen Wagen und brachte sie dann unter dem Johlen einer neugierigen Menge zur Polizeistation des Distriktes.

Warren sah sich außerstande, ihr zu folgen und ihr zu erklären, daß der drohende Schlag, den er gegen sie geführt hatte, ebenso wie sein Verhaftsbefehl, weiter nichts zu bedeuten gehabt hätten als eine unvermeidliche List, mit der er sie vor der tödlichen Kugel des »Haha-Benny« gerettet hatte. Er mußte sie schon für ein Weilchen in dem unverdienten Gewahrsam lassen. Ihr Leben war so wenigstens außer Gefahr. Sobald er mit dem Halbverrückten, der dies ihm über alles teure Leben bedroht hatte, gesprochen haben würde, wollte er zu ihr, sie befreien und die Gründe aufklären, die ihn zu der schrecklichen Maßnahme und zu der noch schrecklicheren Anschuldigung des Mordes gezwungen hatten. Und sie mußte ihm Glauben schenken, wenn sie erst erfuhr, welches Verhängnis über ihr geschwebt hatte. Während er mit größter Schnelligkeit zu dem Treffpunkt fuhr, den ihm Benny Smart genannt hatte, fiel ihm ein, daß dieser Mann ein Halbbruder des »Mappen-Gusset« war, den er bei Murdock im Zimmer erschossen hatte.

Benny würde sich bestimmt einstellen. Also mußte auch er am Platze sein. Er mußte vor allem diese jüngste und schärfste Spur auf seiner Jagd nach Gregory und dem »Masken-Micky« verfolgen. Seine Ahnungen hatten ihn also nicht betrogen.


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