Paul Enderling
Der Fremdling
Paul Enderling

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Als Frau Kriebe ihren Mieter erblickte, schrie sie auf. »Wie sehen Sie aus!«

Peter ging achselzuckend an ihr vorüber in sein Zimmer. Als er vor den Spiegel trat, bemerkte er erst, wie abgerissen und verschmutzt Anzug und Wäsche war. Das unrasierte Gesicht und der Verband über der Stirn gab ihm fast etwas Verdächtiges.

Frau Kriebe ließ ihn nicht lange allein. Große Dinge waren passiert: Ein Einbruch in ihre Wohnung am hellichten Tag – und dann war die Polizei dagewesen, um ihn zu einem Verhör zu bestellen.

Peter dachte an die Warnung des Fremden und nickte nur gleichgültig.

Er schob die Frau aus dem Zimmer, kleidete sich um, rasierte sich und fühlte sich wieder wohler.

Erst als er fortging, bemerkte er einige Briefe auf seinem Tisch. Einer war schwarz umrandet. Er steckte sie alle in die Manteltasche, um sie auf der Fahrt zum Bankhaus Weiß zu lesen.

Aber er kam nicht zum Lesen. Er war doch viel zu abgespannt.

Da die Geschäftsräume der Bank geschlossen waren, ging Peter durch den Seiteneingang und ließ sich vom Fahrstuhl zum zweiten Stockwerk emportragen, zum Privatkontor des Chefs.

Der Kommerzienrat sprang bei seinem Anblick eifrig auf. Aber sein Gesicht hatte nicht mehr das überlegene Lächeln von damals. Er blickte Peter ernst und fast sorgenvoll an.

Peter schaute sich verwundert um. Die breiten Klubsessel standen noch immer um den wuchtigen Schreibtisch, als hielten sie mit ihm eine stumme Konferenz ab. Die goldene Zigarettendose des Bankiers mit dem eingravierten Schmetterling, der eine Kreuzung war, schimmerte auf dem grünen Tuch.

›Die Schmetterlinge!‹ dachte Peter mit flüchtiger Zärtlichkeit, ›wo sind sie geblieben? Erfroren im Schneegestöber, in Staub zerfallen – hier ist kein Raum für sie, höchstens bei der Konfektion ...‹

Er ließ sich in dem breiten Sessel nieder und nahm eine Zigarette, ohne sie anzuzünden. »Alles ist wie damals,« sagte er lächelnd.

Der Bankier blickte ihn verwundert an.

Peter dachte: ›Natürlich, wie sollte Weiß sich jenes Tages entsinnen? In der Zwischenzeit haben gewiß Hunderte hier gesessen, Wichtigere, Geschäftstüchtigere, Bedeutsamere als ich.‹ Und er sagte bescheiden: »Ich dachte an jenen Tag, als ich von der Bahn aus direkt zu Ihnen lief und Sie so freundlich waren, mich anzuhören.«

»Ich weiß, ich weiß.«

»Ich war damals wohl reichlich verworren?« fragte Peter, und sein Lächeln bekam wieder etwas Hilfloses.

Der Bankier lachte, aber es klang gezwungen. »Das waren Sie. Aber inzwischen werden Sie ja wohl einiges zugelernt haben.«

»Das habe ich.«

»Sagten Sie damals nicht, daß Geld Allmacht ist?«

»Ja. Und Sie antworteten: Es ist Ohnmacht. Ich habe es nie vergessen. Jeder Tag hat es mir bestätigt.«

»Wie schade, daß Sie mir damals nicht glaubten. Sie hätten sich viele Umwege ersparen können.«

»Nein,« sagte Peter fest. »Kein Mensch kann einem anderen Umwege ersparen. Das ist meine heiligste Überzeugung. Alles muß durchlebt werden. Und es ist gut so.«

»Möglich. Die Menschheit würde sich vielleicht zu schnell entwickeln. Aber es freut mich immerhin, mein junger Freund, daß diese Zeit nicht ergebnislos an Ihnen vorübergegangen ist.«

»Das ist sie wahrlich nicht.«

»Auch an mir nicht.« Wieder nahm der Bankier eine Photographie vom Schreibtisch und blickte sie an. »Meinem Sohn geht es schlecht. Die letzten Berichte aus Heluan klingen recht trostlos. Er hat die besten Pfleger der Welt, die ersten Ärzte, die teuersten Kurorte zur Verfügung – das meinte ich wohl damals damit, als ich Geld Ohnmacht nannte.«

Er stellte das Bild zurück und sagte in sachlichem Ton: »Nun aber zu unsern Geschäften. Sie wollen sicherlich wissen, warum Ihre Anordnungen in den letzten Wochen nicht ausgeführt wurden?«

»Ja.«

»Das liegt daran, daß Ihr Konto erschöpft ist.«

Peter stand auf. »Das ist nicht möglich.«

»Natürlich nur das, was flüssig war, obgleich auch das ein hübscher Goldstrom war, den Sie durch das große Sieb laufen ließen. Die Liegenschaften in Peru sind so gut wie unangerührt. Ihr Ertrag wäre auch nach deutschen Begriffen kaum zu erschöpfen. Was haben Sie da übrigens für eine Narbe?«

»Ein kleiner Eisenbahnunfall,« sagte Peter ruhig und nahm wieder Platz.

Der Bankier ließ die Akten bringen und blätterte darin. Endlich teilte er ihm mit, daß die alte Regierung in Peru durch eine Militärrevolte gestürzt sei und daß die neue Regierung sich weigere, Guthaben von Ausländern, die nicht im Lande lebten, auszuzahlen. Er schloß: »Ein gesunder kaufmännischer Standpunkt, der nur durch ein paar gut gedrehte Schiffsgranaten erschüttert werden dürfte.«

Peter hörte ihn aufmerksam an.

»Das heißt also: Das Geld bliebe auf immer dort, wenn kein Einspruch erhoben wird.«

Weiß lachte.

»Getroffen. Sie werden ja wohl nicht der einzige sein, mit dem der neue Diktator dort so energisch umspringt. Immerhin müßten Ihre Ansprüche angemeldet werden. Bestimmen Sie also, was in dieser Angelegenheit geschehen soll.«

»Nichts,« sagte Peter nach einer Weile.

Weiß stutzte, tat dann aber so, als ob er das nicht gehört hätte. »Wir können die englischen Konsulate in Bewegung setzen. Schließlich sind Sie ja durch Ihren Vater englischer Untertan. Viel Neigung wird ja nicht vorhanden sein, da das Geld nicht in England bleibt. Aber irgendein Arrangement wird sich schon treffen lassen. Am einfachsten wäre es, wenn Sie nach Peru fahren und dort alles in eigener Person in die Wege leiten würden.«

»Nach Peru fahren?«

Peter fühlte sich beunruhigt und aus seiner langsam gewonnenen Sicherheit gedrängt. Nach Peru fahren, mitten in die Sonne hinein! Er dachte an Zuckerrohrfelder, an Kaffeeplantagen, an Bananenhaine, an wilde Orchideen, an die Herdfeuer halbwilder, scheuer Indianer ...

All das huschte vorüber wie zu schnell gedrehte Lichtbilder, und es verschwand ebenso schnell. Ernst blickte er in das Schneegestöber, das draußen vorüberwirbelte.

»Nun?« fragte der Bankier ungeduldig.

Peter antwortete ruhig: »Ich habe in Peru nichts zu suchen. Ich finde nicht einmal die Gräber meiner Eltern dort. Mein Vater liegt im untersten Stollen jenes Unglücksbergwerks. Das Grab meiner Mutter ist dort längst bei einem Erdbeben verschwunden. Nein, ich habe dort nichts zu suchen.«

»Erlauben Sie einmal,« unterbrach ihn Weiß aufgeregt. »Sie haben dort immerhin Ihr Vermögen zu suchen.«

Peter erhob sich.

»Gerade das suche ich nicht. Es soll dort bleiben, dort, wo es erarbeitet wurde. Es ist mir fremd. Es ist mir feindlich und wird mich nur peinigen.«

Der Bankier blickte in Peters verträumte Augen. Er sprang auf.

»Besinnen Sie sich, Mensch,« sagte er, ihn am Arm schüttelnd. »Kehren Sie in die Wirklichkeit zurück! Für die Reise und die anderen Unkosten gebe ich Ihnen Kredit. Allerdings nur hierfür. Retten Sie, was noch zu retten ist.«

»Das will ich ja gerade.«

Peters Lächeln hatte etwas Rätselhaftes, als er fortfuhr: »Ich will eben für mich retten, was noch zu retten ist ...«

»Meine Zeit ist knapp. Bestimmen Sie also, was in Ihrer Angelegenheit geschehen soll.«

»Nichts.«

»Nichts?«

»Nichts, lieber Herr Weiß. Und nun geben Sie mir Ihre Hand. Denn von nun an wird uns wohl nur der Zufall zusammenbringen.«

Verwirrt nahm Weiß die dargereichte Hand. »Und das ist alles?«

»Wissen Sie, als was ich jetzt hier herausgehe?« fragte Peter, noch immer die Hand des Bankiers haltend.

»Gewiß,« entgegnete dieser fast böse. »Als ein armer Mann.«

»Ich gehe davon wie einer, den man von einer großen Last befreit hat. Leben Sie wohl ...«

Kopfschüttelnd blickte der Geldmann dem Davongehenden nach. Er schnaufte eine Weile und schlug mit den Händen zornig auf den Tisch.

Dann griff er zum Haustelephon und befahl, Konto Trautmann zu löschen.

*

Das Laternenlicht fiel auf die Plakate, die den Belagerungszustand verkündigten. Peter trat zu den Angesammelten und las flüchtig von Versammlungsverboten und Militärgewalt. Schupobeamte kamen langsam herbei und forderten zum Weitergehen auf.

›Was macht Katzian jetzt?‹ fuhr es ihm einen Augenblick durch den Sinn, Aber der Gedanke an ihn verschwand, wie die Schneeflocken, die ihn umtanzten. Er vergaß ihn schon an der nächsten Ecke, wo das Schild eines Polizeibüros leuchtete.

Ohne nachzudenken, trat er ein und nannte seinen Namen.

Er wunderte sich über die Höflichkeit des Beamten und erwartete jeden Augenblick die Verhaftungsformel.

Statt dessen wurde ihm mitgeteilt, daß der ehemalige Kunstmaler Bruno Marek verhaftet worden sei, als er Schmuckstücke, die zweifellos von einem Einbruch herrührten, bei einem Trödler verkaufen wollte.

»Da Ihr Name und Ihre Adresse in seinem Notizbuch gefunden wurden, nebst Angaben, die auf Ihren Reichtum hindeuten, der uns übrigens auch bekannt ist, wollen Sie bitte angeben, ob es sich um Ihr Eigentum handelt.«

Er breitete eine Anzahl Ringe vor ihm aus, kostbare Ringe in allerlei Stilarten. Peter erkannte sie alle wieder. Aber sie waren ihm fremd und gleichgültig.

Er begriff nicht, daß er einmal an ihrer Pracht gehangen, daß ihm dies Funkeln und Sprühen einmal Schmuck seines Lebens gewesen war. Sie bedeuteten ihm nichts mehr.

»Diese Ringe stammen nicht aus meinem Besitz,« erwiderte er endlich.

»Sie kennen diesen Bruno Marek?«

»Nein,« sagte er nach kurzem Besinnen.

»Auch nicht seine Schwester, die Filmschauspielerin, Marie Marek?«

Einen Augenblick durchzuckte es Peter. Aber dann biß er die Zähne zusammen und antwortete mit einem Kopfschütteln.

Der Beamte sah ihn verwundert an. »Wollen Sie bitte unterschreiben.«

Peter nahm die Feder.

›Nun kommt die Verhaftung‹ dachte er, und er spürte eine tiefe Erschöpfung seiner Herr werden. Er bat um einen Stuhl und erklärte lächelnd: »Ich bin etwas angegriffen.« Dann unterschrieb er.

Der Beamte nahm das Protokoll an sich, legte die Ringe wieder in den Schrank zurück und wandte sich dem Schreibtisch zu.

»Liegt sonst noch etwas gegen mich vor?« fragte Peter nach einer Weile mühsam.

Der Beamte verneinte erstaunt.

»Dann kann ich also gehen?«

»Wenn Ihnen nun besser ist, bitte.«

Augenblicklich stand Peter auf und ging hinaus. Er vergaß sogar, sich zu verabschieden.

*

Aufs Geratewohl griff Peter in seine Manteltasche und er holte einen kleinen Brief heraus, dem ein feines leichtes Parfüm entstieg.

Betty Saßmann lud ihn in ihre Theaterloge zu der Neuinszenierung einer Mozartoper ein.

»Kommen Sie, ich bin in Sorge um Sie!« schloß der kurze Brief.

Er lächelte und war einen Augenblick glücklich darüber, daß die schöne Betty Saßmann um ihn in Sorge war.

Da die Einladung für den heutigen Abend galt, ging er, ohne zu zögern, nach dem Theater.

Beim Anblick der vielen Wagen und Menschen wäre er fast wieder umgekehrt, als Betty Saßmann, in einen kostbaren Abendmantel gehüllt, plötzlich vor ihm stand und ihn anstrahlte. »Wie lieb von Ihnen, daß Sie kommen.«

»Wie freundlich von Ihnen, daß Sie mich einluden! Ich wäre sonst nicht zu diesem Genuß gekommen.«

»Dann hätten Sie's ein andermal nachgeholt.«

»Nein. Das kann ich jetzt nicht mehr. Ich bin jetzt nämlich arm,« sagte er fröhlich.

Sie stutzte etwas und lachte dann, da sie es für einen Scherz hielt.

Er begrüßte ihren Vater und wurde zwei jungen Herren vorgestellt, die geometrisch abgemessene Verbeugungen machten. Schon eine Minute später hätte er sich ihrer Gesichter nicht mehr erinnern können.

Betty war von nervöser Lustigkeit. Während er hinter ihr mit dem alten Herrn die breite Treppe emporstieg, hörte er ihr Lachen, und er sah die koketten Blicke, die sie ihren Kavalieren zuwarf.

Er stellte fest, daß ihn dies nicht beunruhigte, und daß er sich ihrer Schönheit neidlos erfreuen konnte. Sie ging gut, wie wenig Frauen gehen. Es war mehr ein Schreiten von Leichtigkeit und erdloser Grazie. Sie sah so ganz anders aus als beim letztenmal. Lebte sie auch zwei Leben wie er einst?

Er blieb im Hintergrund der Loge und genoß eine Weile die kichernde Heiterkeit der Musik und die geschraubte Komik des altväterischen Textes der »Entführung aus dem Serail«. Leicht und fröhlich war alles: Die Dekoration, das Spiel der Menschen auf der Bühne und um ihn herum.

Betty trug neue Ohrringe: Zwei Tropfen aus Aquamarin. Auch ein Ring und die Armbanduhr trugen die gleichen Steine. Sicherlich war es wieder eine Garnitur.

Herr Saßmann, der breit und behaglich seinen Sessel ausfüllte, blickte von Zeit zu Zeit auf den Schmuck seiner Tochter und schmunzelte dann behaglich. ›Sie ist ihm ein Aushängeschild seines Reichtums,‹ dachte Peter, und der dicke Mann wurde ihm plötzlich unsympathisch.

Die laue Luft des Theaters schläferte ihn ein, so daß er auch der Musik nicht mehr zu folgen vermochte.

Er fragte seinen Nachbarn leise, wo sie nachher noch säßen. Er hätte eine wichtige Depesche aufzugeben.

Saßmann drückte ihm verständnisvoll die Hand und verriet ihm die neuesten Kurse.

Mitten im Akt verließ Peter Loge und Theater.

Er hielt draußen den Hut in der Hand und ließ sich den heißen Kopf vom Schneewind kühlen, ›Ich bin frei,‹ sagte er zu sich. ›Frei von meinem Reichtum, frei von allem Vergangenen, das mich quälte und herumwarf.‹

Er fühlte sich unbeschwert und wurde sich wieder seiner Jugend bewußt.

›Morgen gehe ich zur Akademie und lese die Stellenangebote durch ... Morgen beginne ich die Arbeit und werde wieder froh werden ... Und dann schreibe ich an Hanne ...‹

Es war merkwürdig, daß er jetzt an die ferne Hanne denken mußte. Wieviel Briefe hatte er nicht in Gedanken an sie geschrieben. Abgesandt war keiner: Es war nicht leicht, aus der Verwirrung seines Lebens heraus an ein Menschenkind wie Hanne zu schreiben ...

Langsam durchschritt er die nächtlichen Straßen, bis er die Müdigkeit wieder spürte und dem verabredeten Restaurant zustrebte.

Vor dem Eingang zögerte er noch, was sollte er in der Lichtflut und dem Musikrausch da drinnen? Aber es war wohl der letzte Tag in Berlin. So mochte es immerhin sein.

Es war eins der größten Lokale der großen Stadt, in einer Zeit des Überflusses erbaut, Luxus füllte das ganze Haus, das eigentlich ein Palast war. Saal an Saal war festlich geschmückt, und auch die Menschen, die hier lachend und genießend saßen, schienen ein Stück der großen Dekoration hier zu sein.

Langsam durchschritt Peter die musikdurchbrausten Räume. Die Mozartmelodien, die er mit sich genommen, wurden rasch von diesem stürmischen Tonstrudel weggespült.

Frauen lächelten ihm zu. Männer blickten ihm interessiert und aufmerksam nach. Er genoß beides bewußt.

Vor einem Springbrunnen war ein Teppich gebreitet. Dort tanzte eine Tänzerin nach der Melodie einer Geige, die er nicht sah.

Peter blieb stehen und schaute dem klug beherrschten Spiel der Glieder zu. Aber es sagte ihm nichts. Er dachte an einen Indianertanz in einem Dorfe Perus, und dies hier erschien ihm blaß und ausgeklügelt. Dennoch stimmte er in den Beifall der Zuschauer ein.

Die Tänzerin huschte an ihm vorbei und lächelte ihn an.

Er merkte es kaum, ging die bunte, breite Marmortreppe zum oberen Stockwerk empor und wurde von dem wilden Gebraus einer Zigeunerkapelle umbraust.

Betäubung und Rausch lag in der Luft und nahm für eine Weile auch ihn gefangen. Das Glitzern des sprühenden Nichts, das sich in den Kronleuchtern, den Weingläsern und den Juwelen ringsum fing, verwirrte auch ihn.

Neugierig betrachtete er die Verrenkungen des Geigers, seine gefetteten schwarzen Haarsträhnen und das virtuose Spiel dieser braunen Hände. Beifall brandete ringsum auf, Jauchzen und Zurufe.

Der Primas trat zu ihm und fragte nach seinen Wünschen, seiner Lieblingsmelodie. Peter wußte keine und ging verwirrt weiter, verfolgt von einer tollgewirbelten Carmen-Phantasie.

Er ging weiter, ohne die Gesellschaft zu suchen.

Allmählich verließ ihn der Aufschwung, und der Rausch der Stunde fiel von ihm ab. Er spürte die Hysterie in dem Genuß hier. Sie alle genossen, als fürchteten sie, daß jeden Augenblick eine dunkle Hand den Becher fortreißen und die Säle verdunkeln würde. Er glaubte auf verstörte Blicke zu stoßen und auf unruhige Aufgeregtheit.

Diese hier ahnten nicht, was »Lust« war, die hohe, heilige Lust, die Ewigkeit will. Sie hatten für Lust das fade Fremdwort »amüsieren«. Sie amüsierten sich, als gehörte es zu einem Programm, als sei es eine Arbeit, die unbedingt geleistet werden müsse, ob auch die Nerven darüber zerrissen. Hinter diesem Rausch saß schon die Ernüchterung und glotzte aus übernächtigten Augen.

Oder lag es nur an der Mattigkeit, die ihn langsam wieder überkam und seine Nerven empfindlich machte? Der kurze Aufschwung der Sinne fiel in sich zusammen wie das schäumende Getränk ringsum in den Gläsern.

Er sah sich plötzlich wieder im Schmutz der Straße liegen, mit der brennenden Kopfwunde, und er sah die beiden davonlaufen durch die trostlose Gasse des Fabrikorts und er sah Katzians verzweifeltes Gesicht beim Abschied. Was hatte er hier zu suchen?

Er machte kehrt, lief die Treppe herunter, daß er ins Stolpern kam und eilte dem Ausgang zu, als er angerufen wurde.

In einer Nische saßen Saßmanns mit ihren Bekannten.

Peter war im Grunde froh, zur Ruhe zu kommen, und nahm neben Betty Platz.

Sie sprachen von Mozart und seiner festlichen Kunst, die alle seine körperlichen Beschwerden überwunden hatte. Betty meinte, das Buch »Mozart als Erzieher« müsse noch geschrieben werden.

»Ja, das ist wohl das Wichtigste,« meinte er ironisch.

Sie verstand ihn sofort, lächelte verlegen und spielte mit ihren Ohrringen.

»Ich brauche nun einmal diese Lust. Ich muß auf der Welle liegen und mich tragen lassen können über alle Abgründe hinweg, von der glitzernden Welle.«

»Und Ihr Büro?«

Sie blickte vor sich hin.

»Ich tauge dort nicht hin. Ich merke, wie man dort über mich die Achsel zuckt.«

Sie sprach noch eine Weile von den strengen Komiteedamen und fragte nach Bankier Weiß, ohne eine Antwort abzuwarten.

Plötzlich wandte sich Peter zu ihr und sagte ernst:

»Sie sind zu schnell fahnenflüchtig geworden.«

Sie errötete und ärgerte sich darüber.

»Warum? weil ich bei Mozart zu Gast war und nun hier?«

»Seien Sie bei Ihrem Reichtum zu Gast!«

Sie fröstelte unter seinem Blick und raffte sich auf.

»Und Sie? Sind Sie nicht auch fahnenflüchtig geworden?«

»Ich bin nur verwundet.« Er wollte es lächelnd sagen, aber sein Blick verdunkelte sich, und er wiederholte matt: »Ja, ich bin wirklich verwundet ...«

Betty prüfte ihn lange. Ihre Augen bekamen einen weichen, zärtlichen Schimmer.

»Kann man Ihnen gar nicht helfen?« fragte sie leise.

Er antwortete schnell: »Nein. Man kann mir nicht helfen. Niemand kann auf Erden dem andern helfen. Diese Erkenntnis ist mein Gewinn aus dieser Zeit.«

Ein Zeitungsverkäufer ging am Tisch vorüber und verkaufte Extrablätter.

Herr Saßmann nahm eins und las es vor.

Anfangs hörte Peter nur halb zu. Als aber der Name jenes Fabrikorts an sein Ohr drang, in dem er sich von Katzian verabschiedet, lauschte er aufmerksam. Er mußte sich gegen die aufsteigende Erregung wehren wie gegen ein Fieber, das ihn siedendheiß überlief.

Saßmann las langsam und bedächtig in kühlem, sachlichem Ton. Aber aus jeder Zeile brüllte Aufruhr. Blutlachen breiteten sich aus. Schreie gellten und Schüsse knatterten ... Und dann kam die Stelle, wo Peter dem verblüfften alten Herrn das Blatt aus der Hand riß und stockend selber las.

Es hieß dort, daß der Führer der Extremisten, Gareis, auch unter dem Namen Katzian bekannt, bei dem Versuch, seine eigenen Leute von der Plünderung einer Bankfiliale zurückzuhalten, von ihnen erschlagen sei.

»Das kann nicht sein,« stammelte er.

»Was kann nicht sein?« fragte Saßmann erstaunt, und er nahm das Blatt wieder an sich.

»Es kann nicht sein,« wiederholte Peter und er suchte Bettys Blick, als könne sie ihm eine tröstliche Gewißheit geben. Er spürte den Schmerz in seinem Kopf wie einen jähen Ruck, ein bunter Feuerwirbel tanzte vor seinen Augen und riß ihn mit.

Lautlos brach er zusammen, mühsam gehalten von der zitternden Betty Saßmann, der die jungen Herren eifrig zu Hilfe sprangen.

*

Betty Saßmann sang mit leiser Stimme, und sie dämpfte die Begleitung. Ihre Stimme war ungeschult und unsicher, aber weich und anschmiegsam.

Es war Eichendorffs Lied aus dem »Taugenichts« in Schuberts Melodie. Sie sang nur die erste Strophe:

»Wer will in die Fremde wandern,
Der muß mit der Liebsten gehen.
Es jubeln und lassen die andern
Den Fremdling alleine stehen ...«

Hier hielt sie inne. Ihre weißen, gepflegten Hände glitten noch einmal über die Tasten. Der Ton verwehte.

Dann wandte sie sich um.

»Ist es nicht so, Hanne?«

Hanne saß in ihrem dunklen Trauerkleid am Fenster und neigte den braunen Kopf.

»Warum singst du nicht weiter?«

Betty stand vom Flügel auf und lief zu ihr. Sie lief auf den Zehenspitzen, obwohl der dicke Perserteppich ihre Schritte genug dämpfte. Sie kniete vor Hanne hin und sagte:

»Weißt du wirklich nicht, warum ich nur diese eine Strophe singe, kleine Hanne?«

Hanne blickte sie lächelnd an. »Es ist sonderbar, daß auch du »kleine Hanne« zu mir sagst. Außer dir haben es nur zwei gesagt, mein Bruder und Peter.«

»Nun ja, und ich, deine Schwester. Das haben wir doch ausgemacht.«

»Um meine Schwester zu sein, bist du viel zu schön, Betty. Keiner wird es mir glauben.«

»Das ist nicht wahr,« sagte Betty heftig. »Ich bin nur mit etwas mehr von diesem Plunder behängt. Aber ich reiße ihn ab.«

Und sie zerrte an den Ohrringen, an der Brosche und ihren Ringen und wußte gar nicht, womit sie anfangen sollte.

Erschrocken hielt Hanne ihre Hände fest.

»Habe ich dich zornig gemacht? Das wollte ich nicht. Und ich weiß ja auch, warum du nur die eine Strophe singst. Es ist die Antwort auf meine Frage, auf meine ewige Frage.«

Glücklich sprang Betty auf.

»Wie du mich verstehst! Nun fragst du nicht mehr, warum gerade Peter soviel Böses und Dunkles erleben mußte, warum er so einsam blieb?«

»Nein. Nun frage ich nicht mehr.«

Eine tiefe Röte überzog ihr Gesicht, und um ihrer Verwirrung Herr zu werden, sagte sie: »Hat er nicht eben gerufen?«

Beide gingen zur Tür des Nebenzimmers. Die größere Betty hatte den Arm um Hannes Schulter gelegt. Eine stille Liebkosung lag in ihrer Bewegung. Einen Augenblick lauschten sie angespannt, dann gingen sie wieder zu ihrem Platz am Fenster zurück.

»Also der Arzt hat gesagt, daß alle Gefahr vorüber ist?«

»Ja. Und du kannst dich auf den Geheimrat verlassen. Er ist kein Schönfärber. Er lehrt gern das Gruseln – mein Vater sagt, um sich ein bißchen wichtig zu machen.«

»Was waren das für Wochen, Betty! Und wie schlimm wären sie geworden, wenn wir dich nicht gehabt hätten!«

»Still, Hanne, wir wollen nicht mehr daran denken.«

Aber sie dachten doch beide daran.

Viele Wochen waren seit dem Augenblick vergangen, wo Peter mitten in dem musikerfüllten, eleganten Lokal zusammengebrochen war. Saßmanns Auto hatte ihn sofort in die Villa am Roseneck gebracht.

Als Betty an einem der nächsten Tage in Peters Wohnung in der Andenstraße erschien, hatte dort ein Mädchen in Trauerkleidung gesessen: Hanne, die vom Begräbnis ihres Bruders kam und auf Peter wartete, den einzigen Menschen, zu dem sie jetzt gehörte.

Betty hatte in Peters wilden Fieberphantasien oft genug ihren Namen gehört. Sie hatte nur einen kurzen Augenblick gezögert und dann Hanne in ihr Haus gebracht.

Lange hatte Peter bewußtlos gelegen, unbegreiflich lange für den Arzt, der nur die körperliche Wunde sah ...

»Hat er im Fieber nicht auch deinen Namen genannt?« fragte Hanne vorsichtig.

»Ja. Aber immer nur in Verbindung mit meinem Schmuck. Mit Onyx, Aquamarin, mit Chrysopras und Amethyst.«

Bettys Lippen zuckten wie in dem Nachfühlen eines überstandenen Schmerzes.

Aber sie bezwang sich tapfer und lachte sogar leise, als sie fortfuhr: »Er wollte mir den Schmuck immer fortreißen.«

Hanne nahm ihre Hände und drückte sie.

Ein schwaches Klingeln tönte durch die Stille. Beide fuhren auf.

»Geh nur, Hanne,« sagte Betty leise. »Er ruft dich ...«

Peter lag mit halbgeschlossenen Augen da. Er dachte: ›Vielleicht hab' ich alles nur geträumt, die Depesche aus Peru, die Erbschaft und alles, was dann kam. Die kleine Hanne ist ja wieder da mit ihren ernsten, sorgenden Augen ... Ich bin zu Hause ...‹

Aber da war ja das kostbare Bild an der Wand drüben und der Spiegel mit dem Kristallrahmen und Hannes Trauerkleid.

Wie verändert sie war! Er hatte sie eigentlich immer nur als Kind betrachtet. Nun sah er, daß sie ein junges Weib war, das soviel geben konnte ... soviel ...

Das erfüllte ihn mit Rührung und Glücksgefühl, aber auch einiger Unruhe.

Hanne blieb an der Tür stehen. »Wünschest du etwas?«

Nun öffnete er die Augen ganz groß und nahm ihr Bild in sich auf.

»Wie ist es möglich, daß du jetzt gerade kamst?« fragte er endlich. »Es ist doch wie ein Wunder.« Er schwieg eine Weile, ehe er fortfuhr: »Wie ist Richard gestorben?«

»Er machte ein frohes Gesicht bis zum Schluß. Er fühlte sich ja so erleichtert, der Ärmste.«

»Nicht weinen, Hanne!«

»Ich weine ja auch nicht.«

Er sann eine Weile angestrengt nach und sagte dann: »Weißt du noch, Hanne, wie ich damals mein Leben dichten wollte? Ich dachte, es würde ein heller, jubelnder Trompetenstoß werden, wie beim Beginn eines Turniers. Ich dachte, alle warteten auf mich, wenn ich in die Welt einreiten würde auf hohem Roß mit einer goldenen Schabracke.«

»Laß das, Peter!«

»Ich bin dicht an Abgründen gewandert und habe mit Feuerbränden gespielt, ohne es zu wissen. Und es ist ein Wunder, daß ich das Schlimmste an allem ertrug: Die Einsamkeit. O, wie einsam war ich all die Zeit!«

»Sprich nicht zuviel, Peter. Der Arzt sagt, du mußt dich ganz ruhig verhalten.«

Er schwieg gehorsam und blickte unruhig nach ihr herüber. Seine Hände tasteten über die Decke hin, als wollten sie zu ihr hingelangen.

Im Nebenzimmer klangen einige Akkorde vom Flügel. Dann stieg Bettys Stimme auf, aber diesmal laut und ungehemmt: »Wer in die Fremde will wandern ...«

Atemlos lauschte Peter. Als Betty schwieg, setzte er sich aufrecht.

»Ja, das war es. Ich war in der Fremde, als spräche ich eine andere Sprache als alle andern, und ich fand nicht den Weg zu dir.«

Plötzlich breitete er die Arme aus: »Wenn du mich aber noch lieb hast, Hanne ...«

Er stockte, verlegen und zitternd.

Hanne stand noch immer am Türpfosten, den ihre Hände umklammerten. Nun hob sie den Kopf und blickte ihn lächelnd an. Und ihr Lächeln und ihr Erröten machte sie wunderschön.

»Wenn du mich aber trotzdem noch lieben könntest, liebe Hanne,« begann er wieder, »so komm und gib mir die Heimat: Dich.«

»Ja,« sagte sie fest. Sie ging schnell zu ihm, der die Arme noch immer nach ihr gebreitet hielt. Und sie hinkte nur ganz wenig.

 

Ende


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